INHALT Editorial3 Benedict Andrews 4 Edward Bond 6 Lily Brett 10 Heiko Buhr 12 Pamela Carter 14 Gian Maria Cervo, Marius von Mayenburg, Albert Ostermaier, Rafael Spregelburd 16 Tankred Dorst/ Ursula Ehler 18 Bettina Erasmy 22 Werner Fritsch 24 Nikolaus Günter 28 Junges Programm 30 Anna Katharina Hahn 32 Noah Haidle 34 Peter Handke 38 Martin Heckmanns 44 Wolfram Höll 48 Stephan Kaluza 50 Fritz Krenn 52 Konstantin Küspert 54 Ingrid Lausund 56 Cesare Lievi 60 Mika Myllyaho 62 Christoph Nußbaumeder 64 Albert Ostermaier 68 Gesine Schmidt 72 Judith Schalansky 76 Akin E. Şipal 78 Rafael Spregelburd 80­ Impressum 1 EDITORIAL »Tolles Stück!« – so unmittelbar und so einfach fängt alles an. Nicht allzu häu- fig. Und doch immer wieder. Ein Stück lässt uns nicht mehr los, wir haben uns darin verfangen. Dann gilt es – weil wir ja den Funken weitertragen wollen in die Theater, auf dass möglichst erhellende (und möglichst viele) Inszenierungen entstehen, die unsere Sinne für Möglichkeiten eines anderen Lebens wachhalten –, dann gilt es also, in aller gebotenen Kürze die richtigen Worte zu finden für einen Text, der ja eigentlich zuerst nach szenischer Auffaltung strebt und nicht nach prägnanter Verknappung. Der allgegenwärtigen Durchlauferhitzung und Verknappung im Stückemarktgeschehen setzen wir mit unserem neuen Jahresprogramm, das Sie gerade in Händen halten, ein grafisch und inhaltlich entschleunigtes Magazinformat entgegen. Es bietet über Stückbeschreibungen hinaus Raum für Positionsbestimmungen und Projektskizzen, für Gespräche mit Autorinnen und Autoren und für Hintergründe, die einen Eindruck von der disparaten und distinkten Vielgestalt heutigen Schreibens für die Bühne verschaffen. Wir gratulieren Peter Handke zum 70. Geburtstag, Tankred Dorst und Ursula Ehler zur Verleihung des Deutschen Theaterpreises »Der Faust« für ihr Lebenswerk. Sie kommen in Interviews ausführlich zu Wort. Viele der vorgestellten neuen Stücke unserer Verlagsautorinnen und -autoren sind als Auftragsarbeiten entstanden. Das zeugt möglicherweise von einer wiedererstarkten Verankerung des Autors im sozialen Kunstprozess Theater. Wir halten am Anspruch fest, dass starke Stücke jenseits ihrer Uraufführung wahrgenommen werden müssen. Gleichzeitig gibt es Nachwuchsautoren zu entdecken: Nikolaus Günter, Wolfram Höll, Konstantin Küspert und Akin Şipal haben bemerkenswerte Verlagsdebüts vorgelegt. Wir werden ihre Arbeit langfristig begleiten. Mit Stücken von Benedict Andrews (Australien), Pamela Carter (GB) und Noah Haidle (USA) ergibt sich ein englischsprachiger Schwerpunkt. Und besonders hingewiesen sei neben einzelnen herausragenden Prosa-Dramatisierungen auch auf unser neues »Junges Programm« mit Angeboten für das Kinderund Jugendtheater. Und sollten einzelne Werke in unserem neuen Magazin noch immer zu knapp beschrieben sein, dann muss erst recht etwas möglichst Differenziertes, Kluges, Sinnliches aus ihnen gemacht werden: an Ihren Häusern. Viel Vergnügen beim Lesen und Entdecken! 2 3 INGRID L AUSUND Benedict Andrews Jeder Atemzug Originaltitel: Every Breath Deutsch von Maja Zade Eine Mittelschichtsfamilie wird anonym bedroht. Man engagiert einen jungen Security-Mitarbeiter, Chris, der von nun an die Nachbarschaft observiert. Ohne es zu wollen, erhält Chris Einblicke in intimste Familienangelegenheiten. Der Familienvater, ein renommierter Schriftsteller, seine Frau und die fast erwachsenen Zwillingskinder leben in gehobenem Wohlstand und gehen kultiviert miteinander um. Alle nutzen sie die Anwesenheit von Chris und verwickeln ihn mehr und mehr in ihre persönlichsten Ansprüche. Chris lässt sich hineinziehen in ein fatales Spiel um Liebe, Sex und offene Sehnsüchte. Die Frontlinien verlaufen unsichtbar. In einer kristallinen, aufgeladenen Sprache setzt Benedict Andrews in seinem ersten Stück eine fragile Familiensituation allmählich unter Druck. Mit der Kraft einer antiken Tragödie treten lange verschüttete Begierden ans Licht. Bis ein Unglück passiert und der bewaffnete Schutzengel unerwartete Seiten zeigt. (2 D, 3 H oder 3 D, 2 H) Uraufführung: 28. März 2012, Belvoir Street Theatre, Sydney Regie: Benedict Andrews Frei zur deutschsprachigen Erstaufführung Benedict Andrews ist einer der gefragtesten australischen Theaterregisseure seiner Generation und hat mit Klassiker-Bearbeitungen und Inszenierungen zeitgenössischer Stücke gleichermaßen auf sich aufmerksam gemacht. Als Regisseur hat er an Häusern wie der Sydney Theatre Company, dem Belvoir Street Theatre in Sydney, der Schaubühne in Berlin, dem Nationaltheater in Reykjavík, der English National Opera und dem Young Vic in London gearbeitet. Andrews ist Autor von Shakespeareund Tschechow-Bearbeitungen und eigenen Stücken. Leo: Ich hab geträumt, dass wir uns alle geliebt haben. Meine Frau, meine Kinder, Chris und ich. Es war fast dunkel. So als ob eine einzige Kerze an der Wand unserer Höhle geflackert hat. Wir haben uns ganz sanft geliebt. Ohne Scham. So wie man sich Eden vorstellt. In dem Traum haben wir uns Zeit genommen, damit es den anderen gut geht. Wir fühlen uns sehr gut. Voller Liebe. Uns fehlt nichts. (aus: Jeder Atemzug) 5 Foto: Eddijó Smynd Edward Bond Coffee Der Balanceakt »Ich arbeite auf der Landkarte der Zukunft« Deutsch von Brigitte Landes Originaltitel: The Balancing Act Deutsch von Brigitte Landes Edward Bond im Gespräch Krieg hat die Städte überzogen. Eine Frau ist mit ihrer kleinen Tochter in die Wälder geflohen. Weil vor langer Zeit jedwede Nahrung versiegt ist, sehnen Mutter und Tochter den Tod herbei. Auch Nold und Gregory, zwei Männer aus der Stadt, die sich in den Wäldern verirrt haben, können ihren Hunger nicht stillen. Bevor Nold zu seinem Haus zurückgehen kann, um die letzten Vorräte zu retten, hat sie der Krieg eingeholt. Aus Nold und Gregory werden Soldat und Kommandant eines Erschießungskommandos. Während die anderen in den täglichen Massenexekutionen ihren Zynismus ausleben, beginnt Nold zu revoltieren, als er unter den Opfern die beiden Frauen aus den Wäldern wiedererkennt. Er tötet seine Kameraden und Gregory und rettet damit Mutter und Tochter vor der Exekution. Edward Bonds radikales Kriegs- und Endzeitszenario setzt dort ein, wo eine Geschichte längst nicht mehr erzählt werden kann, weil mit der Zerstörung alles Menschlichen auch die Sprache in Frage gestellt ist. (3 D, 7 H) Die Welt ist in schlechtem Zustand. Sie ist aus dem Gleichgewicht geraten. Kriege, Bomben, zu viele Menschen, Militär. Viv will die Welt vor ihrer Zerstörung bewahren. Verbarrikadiert in einem alten Abbruchhaus bewacht sie die einzige Stelle, die die Welt noch zusammenhält. Ein größenwahnsinniger Bauleiter, für den Schokoladenkekse die letzte Bastion menschlicher Zivilisation sind, schafft Platz für »ein paar richtig hübsche Eigenheime«. Er ist ein Meister der Zerstörung, ein »Abrissexperte«. Kann Vivs Freund Nelson da noch etwas bewirken? Er übernimmt Vivs Mission und begegnet dabei den skurrilsten Gestalten. Einem einbeinigen Dieb, einer alten Frau, die von dem Bus überfahren wird, auf den sie seit Ewigkeiten gewartet hat, einer Sozialarbeiterin, welche die Hilflosigkeit der Menschen aufs tiefste verabscheut. Drehen jetzt alle durch? Der Versuch, die aus den Fugen geratene Welt zu retten, gerät zur Groteske. (4 D, 3 H) Edward Bonds Stücke erlebten jüngst eine Renaissance, die 2011 mit Saved (Gerettet) im Lyric Hammersmith und damit der ersten großen Produktion des Stückes auf einer Londoner Bühne nach 25 Jahren eingeleitet wurde. Kritik und Publikum waren begeistert angesichts der Aktualität und der aufrüttelnden Kraft des Bühnenklassikers, der bei seiner Uraufführung 1965 wegen der expliziten Gewaltdarstellung einen veritablen Theater- und Justizskandal auslöste. Heute lächelt Bond über diesen Urknall seiner Dramatikerkarriere: Seine Stücke seien stets als brutal beschrieben worden, dabei enthielten sie zusammen weniger Gewalt als eine einzige Folge einer gewöhnlichen TV-Serie. »Meine Stücke sind keine kommerziellen Produkte. Ich schreibe nicht für den Markt. Mit meinem Schreiben geht es mir um das Seelenheil.« – So klar und bestimmt, unzeitgemäß programmatisch und ungebrochen widerständig beschreibt der Dramatiker Bond sein ästhetisches Programm. Nach wie vor sei man von jeder gesellschaftlichen Gerechtigkeit weit entfernt. »Wir haben Gesetze, aber keine Gerechtigkeit.« Im Drama müsse es immer um soziale Gerechtigkeit gehen, sagte Edward Bond in einem Interview mit der britischen Zeitung The Guardian Anfang 2012. Theater sei als Gattung nach wie vor wie keine andere Kunstform dazu geeignet, gesellschaftliche Widersprüche bewusst werden zu lassen. Das erneute Interesse des britischen Theaters an den Stücken des 78-jährigen Dramatikers war uns Anlass für eine Begegnung mit dem sich nach wie vor politisch einmischenden Autor. Edward Bond, 1934 geboren, schrieb 1956 erste Gedichte und Stückentwürfe und trat 1960 einer Dramatikergruppe um John Osborne, Arnold Wesker und John Arden bei. 1962 wurde Bonds erstes Stück, The Pope’s Wedding (Die Hochzeit des Papstes), in London uraufgeführt. Sein zweites Theaterstück, Saved (Gerettet), provozierte einen der größten Skandale der britischen Theatergeschichte. Große Erfolge wurden Anfang der 1970er Jahre seine Lear-Bearbeitung und das Stück The Sea (Die See). In den darauffolgenden Jahrzehnten entstanden zahlreiche Stücke, Opernlibretti für Hans Werner Henze, Bond arbeitete an Theatern, für den Film (u.a. Mitarbeit am Drehbuch zu Antonionis Film Blow-up) und das Fernsehen. Edward Bond lebt in der Nähe von Cambridge. 6 Foto: holger-andre.de Uraufführung: 12. Mai 2000, Théâtre National de la Colline, Paris. Regie: Alain Françon Frei zur deutschsprachigen Erstaufführung Uraufführung: 13. Oktober 2003, Big Brum Theatre, Birmingham. Regie: Chris Cooper Frei zur deutschsprachigen Erstaufführung Nina Peters: In einer Rede, die Sie im Sommer 2012 vor Studenten der Ruhr-Universität in Bochum hielten, sagten Sie: »When you are walking on the stage, you walk on yourself.« Welche Rolle hat der Zuschauer im Theater? Edward Bond: Wir müssen zuerst verstehen, was Drama bedeutet. Das Drama selbst ist nicht kompliziert, es gibt nur viele falsche Vorstellungen davon, die beiseitegeräumt werden müssen, bevor man die Einfachheit sieht. Wir sind die »dramatische Gattung«: das heißt, wir werden uns unser selbst bewusst, indem wir unser Leben, von der Wiege bis zum Grab, dramatisieren. Die Mächtigen nutzen Ideologie, um diesen Prozess zu kontrollieren. Mir wird nachgesagt, dass ich Menschen dazu auffordere, ihr Selbstverständnis und das ihrer Gesellschaft auf den Kopf zu stellen, um die Realität anders zu sehen. Dabei ist das doch der Zweck von Theater. Die Bühne kann das auf eine formale und radikale Art und Weise tun. Meine Stücke spitzen die Probleme unserer Zeit zu krisenhaften Situationen zu. Krisen aber sind die Realität der Zuschauer. Und wenn Drama so etwas tut, dann ist die Bühne das Publikum und das Publikum die Bühne. Ihr Stück ›Coffee‹ spielt in Babi Yar, dem Ort in der Ukraine, an dem die Nazis ein Massaker verübten und nahezu die gesamte jüdische Bevölkerung von Kiew umbrachten. Um das Undenkbare zu erzählen, entwerfen Sie hier eine Grundsituation, in der sich der Zuschauer sofort wiederfindet. Sie sprachen einmal davon, dass es Ihnen nicht »Wir haben Gesetze, aber keine Gerechtigkeit. Im Drama muss es immer um soziale Gerechtigkeit gehen.« Edward Bond 7 EDWARD BOND darum gegangen sei, Opfer vor Maschinengewehren zu zeigen. Das wäre dann eine Hollywood-Sicht auf solche Stoffe, die Zuschauern eine Distanzierung von geschichtlichen Vorgängen ermögliche. Vielmehr ging es auch in diesem Stück darum, dem Zuschauer eine Distanzierungsmöglichkeit zu nehmen – durch Identifikation. Das Stück basiert auf einer wahren Begebenheit. Soldaten verbrachten den ganzen Tag damit, die Zivilbevölkerung in Reihen abzuknallen. Sie dachten, sie seien fertig, also kochten sie Kaffee. Aber es kamen weitere Lastwagen mit noch mehr Zivilisten, die getötet werden sollten. Ein Soldat ärgerte sich, er hatte genug gearbeitet und wollte Feierabend haben. Und deshalb – also aus einer Verärgerung heraus – schüttete er seinen Kaffee weg. Ich habe nicht das Massaker gezeigt, ich habe den Kaffee gezeigt. Wenn man sich vorstellen kann, dass ein ganzes Volk gekreuzigt wird, dann hat das auch mit dem von mir beschriebenen Vorgang um die Tasse Kaffee zu tun. Die Soldaten haben getötet, aber sie haben nicht gewusst, was sie tun. Das Stück greift den Kaffee heraus, um zu zeigen, was sie taten. Aber auch, was wir unserer Zukunft bereits antun. Der Soldat, der in seinem Stück den Kaffee wegschüttet, ist ein Extremist. Er ist in einer extremen Situation. Und die Zuschauer sind in einer extremen Situation, weil auch sie in der Pause ihren Kaffee schlürfen. Wenn ein Stück den Zuschauer in eine extreme Situation versetzt, dann begegnet er sich selbst – und er hat die Wahl. Diese Wahl entscheidet, wer man ist. Der Kaffee ist keine Entfremdung im Brecht’schen Sinne. Er erzählt vielmehr von einer menschlichen Situation. Brechts Verfremdung geht dem Problem aus dem Weg. Warum haben Sie entschieden, Babi Yar aus der Perspektive einer Kaffeepause zu beschreiben? Als Sie in den 50er Jahren mit Schreiben begannen, hatten Sie den Zweiten Weltkrieg erlebt, von Hiroshima erfahren, und diese Erfahrungen hatten Auswirkungen auf Ihr Schreiben bis heute. Sie haben einmal davon gesprochen, dass die letzte Szene von ›Coffee‹, die in einem Haus in einer ausgebombten Stadt spielt, einer Fotografie ähnelt von einer Welt, in der Sie als Schuljunge aufwuchsen. Ist das Nachkriegslondon Teil einer inneren Landschaft, die Sie noch immer betreten, wenn Sie ein Stück schreiben? Ich habe einmal eine Kurzgeschichte über eine bombardierte deutsche Stadt geschrieben, die auf einer wahren Begebenheit beruhte. Darin liefen einige alliierte Soldaten durch die Ruinen. Sie kamen zu einem Haus, in dem ein Fenster nicht zerstört worden war – das einzige unversehrte Fenster in der ganzen Gegend. Eine Frau stand auf einem Hocker und putzte das Fenster. Wie rechtschaffen, wie mutig, welch Standhaftigkeit! Nein, eben nicht. Einer der Soldaten warf einen Stein und schmiss das Fenster ein. Der Soldat, der den Kaffee Ausgebombt sein ist nicht meine innere Landschaft. Das wäre absurd. Die letzte Szene von Coffee ist so angelegt, als hätte die Welt den Krieg gerade vergessen, als wäre sie zur Normalität übergegangen und würde nun ihre Fenster wischen. Als ich anfing zu schreiben, hatte es zwei Weltkriege gegeben, es gab Auschwitz, Hiroshima – die Zivilisation schien zwei-, dreimal in der Woche zu ihrem Ende zu kommen. Wir wussten, dass wir umgeben waren von Problemen. Und deshalb gingen wir auch von der Vergangenheit aus, um über die Meinen Sie, das Stück ist wegen dieser Erzählperspektive bisher in Deutschland nicht gespielt worden? Ja. Deutsche Theatermacher greifen eher zu Kettensägen, als Stücke über eine Tasse Kaffee zu inszenieren. 8 weggeschüttet hat, wusste nicht, wer er war oder was er tat. Der Soldat, der den Stein schmiss, wusste genau, was Krieg, Massaker und Bomben bedeuteten. Die Frau, die das Fenster putzte, hat vielleicht ihr Spiegelbild im Fenster bewundert – aber sie wusste nicht, was sie tat. Drama unterbricht die korrupten Verbindungen zwischen Fühlen und Denken und entlarvt Ideologie als Lüge. Aber es muss angemessene Mittel dazu haben. Und wenn es sie hat, dann definiert es Menschsein neu. Gegenwart zu schreiben. Für jüngere Autoren liegen die Probleme in der Zukunft, aber sie dürfen nicht darüber schreiben. Die fünf Stücke von The Paris Pendat (Coffee ist eines davon, Anm. der Redakteurin) enden im Jahr 2077. Ich arbeite auf der Landkarte der Zukunft. Sie haben ein gutes Dutzend Stücke für ein junges Publikum geschrieben, etwa ›Die Kinder‹ oder ›Der Balanceakt‹. In ›Der Balanceakt‹ geht es um ein Mädchen, das glaubt, in einem Abrisshaus den Nabel der Welt gefunden zu haben. Die Hauptfigur, ein Abrissexperte, ist, wie alle Erwachsenen im Stück, offensichtlich inkompetent. Das Stück ist eine Farce, in der die Welt am Schluss auseinanderfällt. Wie reagieren Kinder auf so ein Stück? Der Balanceakt ist eine Farce über einen Abrissexperten, der Slums abreißt, damit neue City-Büros und Einkaufsmeilen gebaut werden können. Er ist ehrgeizig und möchte etwas wirklich Großes einreißen. Also beschließt er, die ganze Welt abzureißen. Einige meiner Stücke habe ich zunächst einmal für ein junges Publikum geschrieben – obwohl sie später auch vor Erwachsenen gespielt wurden. Ich sah mir einmal eine Vorstellung mit Kindern an. Die Erwachsenen sagten, meine Stücke seien zu anspruchsvoll für Kinder, weil die keine zehn Minuten still sitzen und sich konzentrieren könnten. Allerdings schauten die Kinder eine Stunde lang völlig konzentriert zu. Den Ausdruck in ihren Gesichtern hatte ich irgendwo schon einmal gesehen, aber ich konnte mich nicht erinnern wo. Ein paar Tage später erinnerte ich mich. Sie erinnerten mich an die Gesichter von hungernden Kindern in Afrika. Die hungernden Kinder wollten Essen. Und was wollten diese anderen Kinder? Sie hatten etwas gesehen und gehört, das sie so konzentriert dasitzen ließ, obwohl ihre Lehrer gesagt hatten, sie könnten keine zehn Minuten still sitzen. Sie hungerten nach etwas in unserer Konsumgesellschaft. war schockiert über ihre selbstgefällige, arrogante Art der Selbstverblendung. Sie hielten ihr Selbstmitleid für Mitgefühl für andere. Ein Berg verstellt ihre Türschwelle. Sie fürchten sich davor, die Türe zu öffnen, brüsten sich aber damit, durch das Schlüsselloch zu schauen. Es ist ein Nacht-und-Nebel-Theater. Weil es nicht weiß, wie es mit dem vergangenen Jahrhundert umgehen soll, kann es nicht mit der Zukunft umgehen. In der Tat ist das deutsche Theater besessen vom Krieg, der Krieg ist in seinem Unterbewusstsein. Seine Regisseure haben Angst vor Schauspielern. Sie trauen sich nicht, sie herauszufordern, ihnen Ausblicke zu geben, die zu weit führen würden. Also wird der Schauspielstil stylisch, perfekt, manieriert und bestimmt von Tradition. Und stattdessen versuchen Regisseure, Realität in überzeichneten Spielsituationen zu finden. Sie überdrehen, dehnen und schütteln sie, aber sie bleiben leer und halten Schauspieler wie Zuschauer davon ab zu erfahren, welche Bedeutung hinter dem Spiel steht. Das deutsche Theater hat Angst vor Menschen. Für wen schreiben Sie Ihre Stücke? Ich schreibe für die Toten, in Solidarität mit den Opfern des vergangenen und dieses Jahrhunderts, aber ich hoffe, dass die Lebenden mich hören. Das sage ich jetzt dem deutschen Theater. Es steht da, mit einer Tasse Kaffee in der Hand. Deutsch von Nina Peters Der Suhrkamp Verlag vertritt mehr als 30 Stücke von Bond, darunter auch die bisher weniger bekannten Stücke ›Coffee‹ sowie das Jugendstück ›Der Balanceakt‹, die frei sind für eine deutschsprachige Erstaufführung. Ihre Haltung gegenüber der aktuellen deutschen Theaterpraxis ist skeptisch, Sie polemisieren da gerne. Warum? Ich war einmal gemeinsam mit den wichtigsten Vertretern des deutschen Theaters auf einer Konferenz. Ich 9 INGRID L AUSUND Lily Brett Chuzpe Originaltitel: You Gotta Have Balls Aus dem Amerikanischen von Melanie Walz In Dramatisierungen von Eva Demski und Dieter Berner Ruth führt ein wohlgeordnetes und vielleicht etwas zu kontrolliertes Leben in New York. Sie kann nicht begreifen, dass ihr Vater Edek, vor wenigen Wochen erst von Melbourne zu ihr nach New York gezogen, weit davon entfernt ist, einen ruhigen Lebensabend zu verbringen. Und dass Lebensabend überhaupt der falsche Begriff ist für den munteren 87-Jährigen, der sich erst in Ruths Büro nützlich zu machen versucht und wenig später ein Verhältnis beginnt mit der – viel zu jungen, wie Ruth findet – Polin Zofia (69). Und damit nicht genug: Zusammen mit Zofia will Edek zum Entsetzen seiner Tochter ein »Klopse«-Restaurant eröffnen. Chuzpe ist Lily Bretts sprühender Roman über Väter und Töchter, polnische Küche und New Yorker Neurosen; eine Geschichte ernster Irrungen und komischer Wirrungen, erzählt mit genau der Mischung aus Witz, Wärme und Verstand, die Lily Bretts Stimme so unverwechselbar macht. Lily Brett wurde 1946 in Deutschland geboren. Ihre Eltern heirateten im Ghetto von Lodz, wurden im KZ Auschwitz getrennt und fanden einander erst nach zwölf Monaten wieder. 1948 wanderte die Familie nach Brunswick in Australien aus. Mit neunzehn Jahren begann Lily Brett für eine australische Rockmusik-Zeitschrift zu schreiben. Sie interviewte und porträtierte zahlreiche Stars wie Jimi Hendrix und Mick Jagger. Heute lebt die Autorin in New York. In regelmäßigen Kolumnen der Wochenzeitung »DIE ZEIT« hat Lily Brett diese Stadt porträtiert. Sie ist mit dem Maler David Rankin verheiratet und hat drei Kinder. Uraufführung: 22. November 2012, Theater in der Josefstadt, Wien Regie: Dieter Berner Frei zur deutschen Erstaufführung 333 Seiten. Geb. € 19,80 (978-3-518-41827-7) »Brett liefert ein präzises und oft komisches Porträt ihrer Gesellschaft und schließt sich selbst vom Spott nicht aus. Dies zusammen mit der Leichtigkeit ihrer Feder macht ›Chuzpe‹ zu einem Lesegenuss.« Frankfurter Neue Presse »Tiefsinnig und vergnüglich.« Badische Neueste Nachrichten Der Bestseller-Roman von Lily Brett liegt in zwei Dramatisierungen vor: Eva Demski hat aus Chuzpe ein eigenständiges Stück gemacht. Dieter Berners Dramatisierung orientiert sich stärker an der Erzählstruktur der Vorlage. Beide Fassungen sind verfügbar. »Das ist der Roman, auf den Brett-Fans lange gewartet haben … Eine schräge, herzerfrischende, jüdische New Yorker Komödie.« Sydney Morning Herald 10 Foto: Bettina Strauss 11 Heiko Buhr Minettis Blut oder Eine glänzende Vorstellung Ich feier mein Leben Großer Auftritt der beiden Theaterputzfrauen Martha und Lore. Täglich beseitigen sie in ›ihrem‹ Provinztheater die Verwüstungen, die die Vorstellung des vorigen Abends hinterlassen hat. Sie halten die Bretter sauber, die auch ihnen die Welt bedeuten. Lore auf der rechten, Martha auf der linken Bühnenseite. Sie sind Expertinnen ihres Fachs und sich ihrer Verantwortung für die Kunst überaus bewusst. Schließlich haben sie mit allen Großen der Theaterszene zusammengearbeitet. Ihr Verhältnis ist nicht spannungsfrei, das zeigt sich gleich. Das mag auch an ihren unterschiedlichen Karrieren liegen. Martha ist viel gereist, während Lore sich früh für ein »festes Ensemble« entschied. Beide hatten sie natürlich maßgeblichen Anteil an den Theaterrevolutionen des letzten Jahrhunderts. Sie wissen, wie man Shake- Ein 15-jähriger Schüler nimmt per Cybermobbing Rache an einem Lehrer, den er für seinen bevorstehenden vorzeitigen Abgang von der Schule verantwortlich macht. Dafür nutzt er Internetforen, in denen er das Gerücht streut, der Lehrer sei homosexuell und belästige Mitschüler. Das Denunzieren hat die gewünschte Wirkung, der Lehrer gerät in Bedrängnis. Und dem Schüler ist die Tat nicht nachzuweisen. Gleichwohl drängt es ihn, von der Ungerechtigkeit und Unangemessenheit seiner Behandlung, von seinen zerschlagenen und verbleibenden Perspektiven, von einem familiären und schulischen Umfeld, das ihn fortwährend in eine Opferrolle zu drängen versucht, zu erzählen. Heiko Buhr zeigt – unspektakulär und einfühlsam – die gleichermaßen hilflose wie raffinierte Revolte Monolog speare eigentlich zu rezitieren hat, sie verfügen über das Stilbewusstsein, das jungen Theaterleuten fehlt – davon sind sie felsenfest überzeugt. Lores und Marthas Wetteifern um das reinste Berufsethos, um den Status der ersten Putzkraft am Hause hat existenzielle Gründe: Beide müssen fürchten, bald eingespart zu werden. In einem plötzlichen solidarischen Akt entwickeln sie einen Plan zur finalen Abwicklung des neuen Intendanten. Der wird den Abend knapp überleben, doch im Scheitern finden die beiden schrulligen Grazien überraschend zueinander. Heiko Buhrs Theaterputzkomödie ist ein gefundenes Fressen für zwei reife, schräge Diven. (2 D) Frei zur Uraufführung Heiko Buhr, 1964 in Neumünster geboren. Nach der Lehre zum Bankkaufmann Studium der Germanistik und Philosophie in Kiel mit Abschluss Promotion. 1999 erhält Heiko Buhr für sein Werk Ausstand. Ein Schaustück den Heinz Dürr-Dramatikerpreis. Von 1999 bis 2009 arbeitete der Autor im Sozialwesen. Seit 2010 ist er freier Schriftsteller und Publizist. Heiko Buhr lebt in Kiel. 12 Foto: Martina Dahm Martha: Ich glaube, Lore, du hast dich doch ein bisschen in mich verliebt. Lore: Uns, Martha. Ich habe mich in uns verliebt. (aus: Minettis Blut) eines an sich durchschnittlichen Schülers, der immer darum bemüht war, unauffällig zu bleiben. Jede Schwäche wird bestraft, das ist die frühreife, fatale Erkenntnis dieses Jungen. Medial versiert, schlägt er gegen ein System zurück, das ihn, der sich doch immer anpassen wollte, plötzlich aussondern will. (1 H) Frei zur Uraufführung Kelvin: Immer schön unauffällig bleiben, das ist meine Devise. Bloß nicht auffallen. Jedenfalls nicht zu sehr. Einmal Opfer, immer Opfer. (aus: Ich feier mein Leben) Weitere Stücke Ausstand 2 D, 8 H, Nebenrollen UA: 10.12.2000, Deutsches Theater Berlin Regie: Bruno Klimek Abfall 2H UA: 3.3.2012, Kellertheater Winterthur Regie: Doris Strütt Buhrs Stücke Fabelland oder Rumpsteak für alle, Lebemänner und Die Zivilisten sind noch frei zur Uraufführung. 13 INGRID L AUSUND Pamela Carter fast ganz nah Originaltitel: almost near Deutsch von Hannes Becker Die Bildhauerin Louise arbeitet an ihrem Comeback, der Skulptur einer Gruppe von Soldaten, die bei einem Anschlag in Afghanistan ums Leben kamen. Während ihre Familie – der Ehemann, mit dem sie in Trennung lebt, und ihr neunjähriger Sohn – ihr zunehmend fremd wird, beginnt die Künstlerin eine Affäre mit Kevin, der sich »Prinzessin« nennt und der Louise Modell steht. Währenddessen scheint die Skulptur eine Zukunft vorwegzunehmen: Eine Gruppe von Soldaten, darunter auch der 22-jährige Kevin, der freiwillig zum Militär gegangen ist, blicken als Scheintote auf die Hügel der afghanischen Stadt, für deren Verteidigung sie gekämpft haben. Carter hat mit fast ganz nah ein packendes Stück politischer Literatur geschrieben, das Fragen nach der gesellschaftlichen Verantwortung des Einzelnen stellt. (3 D, 5 H) Uraufführung des Werkauftrags des Berliner Stückemarkts: 6. April 2013, Staatsschauspiel Dresden Regie: Elias Perrig in der ebene Originaltitel: skåne Deutsch von Hannes Becker Malin und Christian haben eine Affäre, aber beide haben auch Ehepartner und Kinder. Ihre Liebe scheint unmöglich, und so steht zu Beginn des Stückes ein Geständnis: Es ist Sonntag und im Kreise der beiden Familien, der Ehepartner sowie der Kinder, leisten Malin und Christian Abbitte. Sie geben minutiös Auskunft über Details ihrer kurzen Liebesgeschichte und beschwören gleichzeitig deren Ende. Pamela Carter entwirft in rhythmisierter Sprache und mit großem Humor ein Kammerspiel, eine große Seelenschau. Und während die Erwachsenen an die Grenzen ihrer Pflichten und selbstgesteckten Ziele kommen, scheinen die Jugendlichen, die ihre erste Liebe erfahren, souveräner und eigenständiger zu sein als ihre Eltern. (3 D, 4 H) Pamela Carter, geboren 1970 in Kendal (Nordengland), ist Autorin, Regisseurin und Dramaturgin. Sie lebt in London. Seit 2010 entwickelt sie zusammen mit den schwedischen Künstlern Goldin + Senneby Performances und Installationen. Mit in der ebene (Originaltitel: skåne) war sie eingeladen zum Berliner Stückemarkt 2012. Sie gewann den Werkauftrag des Berliner Stückemarktes in Kooperation mit dem Staatsschauspiel Dresden. kurt: du fährst jetzt hier weg, und ihr seht euch nie wieder. du nimmst nie wieder mit meiner frau kontakt auf. du hast meine familie heute zum letzten mal gesehen. wir haben zum letzten mal voneinander gehört. chris: so haben wir es vereinbart. kurt: malin? malin: das haben wir versprochen. kurt: jungs. verabschiedet euch von ingrid und siri. per: nein. (aus: in der ebene) Uraufführung: 27. Oktober 2011, Hampstead Theatre, London Regie: Tim Carroll Frei zur deutschsprachigen Erstaufführung 14 Foto: Simon Moore 15 Foto: Iko Freese Foto: Sebastián Freire Gian Maria Cervo Marius von Mayenburg Albert Ostermaier Rafael Spregelburd Call me God Aus dem Italienischen (Cervo) von Sabine Heymann, aus dem Spanischen (Spregelburd) von Klaus Laabs Foto: Francesco Galli Rafael Spregelburd Foto: Susanne Schleyer Marius von Mayenburg Im Oktober 2002 erschütterte eine Serie von Morden die USA. Ein Heckenschütze tötete aus einem Auto heraus scheinbar wahllos Passanten. Mindestens zehn Menschen fanden den Tod, ehe der Attentäter gestoppt werden konnte. Die Spekulationen über seine Motive reichten von Ehestreitigkeiten bis hin zu einer Verstrickung in islamistische Terrornetzwerke. Im November 2009 wurde der als »Beltway Sniper« bekannt gewordene Täter hingerichtet. Vier Dramatiker, der Italiener Gian Maria Cervo, die Deutschen Marius von Mayenburg und Albert Ostermaier und der Argentinier Rafael Spregelburd, nehmen diesen Fall zum Anlass für eine Beschäftigung mit der Identitätskrise der westlichen Demokratien. Wie definieren wir uns im Verhältnis zu anderen Kulturen und Religionen, woher kommt der diffuse Selbsthass unserer Gesellschaft, wie lassen sich Medien bei der Stilisierung von Amokläufern zu modernen Helden instrumentalisieren, wie viel Sicherheit brauchen wir, und wie viel Freiheit sind wir bereit dafür zu opfern? Das gemeinsame Werk der Autoren strebt keinen Ausgleich der verschiedenen Schreibstile an, sondern versucht, aus der Verschiedenartigkeit der Herangehensweise eine Vielfalt an Perspektiven auf das komplexe Thema zu gewinnen. (Besetzung variabel) Uraufführung: 4. November 2012, Romaeuropa Festival, Viterbo Münchner Premiere: 16. November 2012, Residenztheater Regie: Marius von Mayenburg Eine Koproduktion mit dem Teatro di Roma (Teatro Argentina), Romaeuropa Festival und dem Festival »Quartieri dell’arte« in Viterbo »Und das Merkwürdige ist, dass es uns nie überrascht. Als wüsste jeder auf Anhieb zehn gute Gründe, warum man uns attackieren sollte. Als gäbe es eine dumpfe Ahnung, dass wir nicht schuldlos sind. Als hätte jeder von uns schon mal dran gedacht, selbst eine Waffe zu nehmen und einfach reinzuballern in die Menschen, die nur so tun, als wär‘n sie ahnungslos. Wir wären überraschter, wenn uns keiner angreift.« Marius von Mayenburg 16 Albert Ostermaier Gian Maria Cervo Gian Maria Cervo, 1970 in Neapel geboren, Studium an der Universität Viterbo. Er übersetzt und inszeniert seit 1993 neben klassischen Autoren vor allem Gegenwartsdramatik (Kane, Beckett, Hamilton, Kushner u.a.). Seit 1997 ist er Festivalleiter des Theaterfestivals »Quartieri dell’arte« in Viterbo und schreibt eigene Texte. 2001/02 arbeitete er als Hausautor am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg. DramaturgieDozentur in Rom. Gian Maria Cervo lebt und arbeitet in Viterbo. Marius von Mayenburg, 1972 in München geboren, Studium der Altgermanistik, seit 1992 in Berlin. 1994 bis 1998 studierte er »Szenisches Schreiben« an der Hochschule der Künste. 1998 bis 1999 Dramaturgie-Mitarbeit an der DT-Baracke, Beginn der Zusammenarbeit mit Thomas Ostermaier, seit 1999 Dramaturg und Hausautor an der Schaubühne am Lehniner Platz. Regiearbeiten, Übersetzungen, eigene Stücke. Er zählt zu den international erfolgreichsten deutschsprachigen Dramatikern. Albert Ostermaier, geboren 1967, schreibt Lyrik, Prosa und Dramatik und lebt und arbeitet in München. Zusammenarbeit mit Regisseuren wie Andrea Breth, Lars Ole Walburg und Martin Kušej. 2011 kommen seine Stücke Aufstand und Halali zur Uraufführung. Albert Ostermaier wurde mit namhaften Preisen und Auszeichnungen geehrt, u.a. dem Kleist-Preis, dem Bertolt-BrechtPreis und 2011 mit dem WeltLiteraturpreis für sein literarisches Gesamtwerk (siehe auch Seite 69) Rafael Spregelburd, geboren 1970 in Buenos Aires, ist Dramatiker, Regisseur, Übersetzer und einer der wichtigsten Vertreter des zeitgenössischen argentinischen Theaters. Film- und Theaterschauspieler. 1994 Gründung einer eigenen Theaterkompagnie. Er erhielt über 40 argentinische und internationale Preise, zuletzt (2011) den Argentinischen Nationalpreis. Zahlreiche deutschsprachige Inszenierungen. 2012 ist er künstlerischer Leiter der »École des Maîtres«, einer Theaterakademie in italienischer, französischer, portugiesischer und belgischer Kooperation. 17 »Der Faust« an Tankred Dorst und Ursula Ehler Dramatiker der letzten Jahrzehnte. In der intensiven Zusammenarbeit mit seiner Frau Ursula Ehler gehört er zu den bekanntesten und produktivsten Theaterautoren Deutschlands.« – Wir gratulieren! Foto: Isolde Ohlbaum Der Deutsche Theaterpreis »Der Faust« 2012 wurde an Tankred Dorst und seine Frau und Co-Autorin Ursula Ehler verliehen. In der Begründung der Jury hieß es, Dorst sei einer der »wichtigsten deutschsprachigen »Wie können wir leben? Fragen alle Stücke meines Theaters: Welche Macht treibt uns zu unseren Taten und zu unseren Verbrechen, zu unserem Wahnsinn – welche dunkle Phantasiebewegung treibt uns schließlich in Krieg und in das Ende von allem? Nichts ist sicher, und die Wahrheit, um die wir uns lebend und schreibend bemühen, bleibt unauffindbar.« Tankred Dorst, 1983 Tankred Dorst, geboren am 19. Dezember 1925 in Sonneberg, Thüringen. Erste Stücke für ein StudentenMarionettentheater in den 50er Jahren in München. Anfang der 60er Jahre erste in der Folge viel gespielte Stücke für die große Bühne: Große Schmährede an der Stadtmauer und Die Kurve. Seitdem etwa 35 Stücke – seit 1972 meistens mit Ursula Ehler (in Bamberg geboren und aufgewachsen, Bibliotheksausbildung, Kunststu18 dium in München) –, vier Opernlibretti, drei Filme als Regisseur. Einige der Theaterstücke wurden und werden weltweit gespielt: Toller, Eiszeit, Merlin, Herr Paul, Fernando Krapp hat mir diesen Brief geschrieben und Ich, Feuerbach. Zahlreiche Literaturpreise, in Deutschland u.a. der Büchner-Preis. Lebt in München, verheiratet mit Ursula Ehler. »Menschen schreiben« Tankred Dorst über Merlin, über die virtuelle, globalisierte Welt und über die dramatische Kunst im technischen Zeitalter Wolfgang Hirsch im Gespräch mit Tankred Dorst Wolfgang Hirsch: Wie hat Ihnen die Premiere Ihres ›Merlin‹ in Weimar gefallen? Tankred Dorst: Normalerweise gehe ich gar nicht zu Premieren, sondern lieber zu Generalproben. Aber es war aus Termingründen nicht anders möglich. Was ich in Weimar gesehen habe, hat mir sehr gefallen. Es ist eine schöne Aufführung mit vielen Details. Wie der Zuschauer die Inszenierung aufnimmt, kann ich nicht beurteilen, weil ich das Stück zu gut kenne und nicht weiß, wie sich die Geschichte für jemanden fügt, der das komplette Stück nicht kennt. Es ist ja ein großer Steinbruch von Szenen, Momenten und Personen. (…) Komplett wird es nie gespielt – dazu ist es wohl zu lang. Alle Kürzungen sind, ob gewollt oder nicht, Interpretationen. Es ist immer die Frage, was dem Regisseur wichtig und unwichtig ist, und vielleicht hat er sich etwas ganz anderes vorgestellt als ich mir beim Schreiben. Man kann mit dem Stoff natürlich eine engere politische Haltung verbinden, wie es Christoph Hein in Die Ritter der Tafelrunde tut. Aber das war nicht die Absicht. Für mich ist Merlin ein Versuch, in Form eines Weltmärchens die Verhältnisse in der Welt als Ganzes darzustellen und nicht das politische Tagesgeschehen. Natürlich. Als ich mich mit dem Stück befasst habe, dachte ich, der wahre ›Merlin‹, der in die Zukunft sehen kann, muss vor 30 Jahren, als er es geschrieben hat, Tankred Dorst selbst gewesen sein. Er hat nicht nur den Runden Tisch geweissagt, sondern auch das Ende der Utopien. Geht Ihnen nicht, wenn Sie Ihr Stück an der inzwischen stattgehab- ten Geschichte abgleichen, ein Schauer über den Rücken? Na ja. Ein Stück schreiben ist ja mein Leben. Ich selbst will das gar nicht als Vision oder Utopie sehen, obwohl Utopien ein Thema in Merlin sind. Ich habe Aufführungen in Budapest, Prag und Kiew gesehen, wo für das Publikum das Hauptinteresse in der zusammenbrechenden oder nicht mehr geglaubten Utopie bestand. In diesen Ländern hat sich das, was ursprünglich gar nicht meine Hauptabsicht war, automatisch ergeben. Aber inzwischen verlief doch die Weltgeschichte derart, dass man den Utopien gegenüber außerordentlich skeptisch geworden ist. Und ich selber auch. Wir haben uns damals jedoch mit der Frage beschäftigt, wie das Leben denn möglich sein sollte ohne Utopie. Ich denke – mal so für mich: Der Mensch braucht eine Utopie. Er steht morgens auf und putzt sich die Zähne – und dann fängt die Utopie schon an. Welche Utopie können Sie empfehlen, nachdem der Sozialismus sich als untauglich erwiesen hat und der Kapitalismus gerade ebenfalls seine Zusammenbrüche feiert? Sie sagen es! Vielleicht werden die späteren Generationen fragen, was für ein schreckliches Jahrhundert das unsrige war, als utopische Gedanken, um die Welt zu verbessern, zu gewaltigen Katastrophen geführt haben. Im ›Merlin‹ mag der Teufel die Idealisten, weil sie ganze Völker in die Hölle geführt hätten. Ist das ein Reflex auf persönliche Lebenserfahrungen? »Wenn ich keine Menschen mehr im Kopf habe, kann ich vielleicht zur Textfläche übergehen.« Tankred Dorst 19 TANKRED DORST Natürlich, in gewisser Weise ist alles aus persönlichen Erfahrungen geschöpft. Aber diese ist nicht nur meine eigene, sondern die Lebenserfahrung von zwei, vielleicht drei Generationen im Krieg und Nachkrieg: dass das Böse und das Gute nicht einfach zu trennen sind. Als ich Merlin in Stockholm gesehen habe, hieß es in einem Pressegespräch, so ein Stück könne nur ein Deutscher schreiben, weil in Schweden das Böse gar nicht existiere. Aber schon aus dieser Feststellung blinzelt es ja hervor. Zwar haben die Schweden keinen Weltkrieg zu verantworten, doch nicht nur im Krieg, auch im täglichen Leben geschehen böse Dinge. Und das sind oft die, die uns am schärfsten berühren. eines über die 68er. Damals jedenfalls funktionierte Theater als Diskursort, wie es heute nur noch in selteneren Fällen gelingt. Es befindet sich nicht mehr in dieser Aufregung, mit politischen Argumenten um sich zu werfen. Während die Diskursebene heutzutage vielleicht eher in Blogs stattfindet. Verzeihen Sie mir bitte die Frechheit meines Vorsatzes, Sie nach dem Internet zu fragen! Ich kann nichts darauf antworten. Ich schreibe mit einem Kugelschreiber und bin auf medialem Gebiet ganz unwissend. Das heißt, Sie haben auch keine Freunde bei Facebook? Ihr Stück trägt deutlich experimentellen Charakter. Würden Sie sagen, dass es die Funktion der Bühne ist, einen Experimentierraum für das menschliche Miteinander, für menschliche Verhaltensweisen zu gewähren? So, wie Sie das sagen, klingt es für mein Ohr gut – speziell für dieses Stück, das eine Welt neben unserer wirklichen Welt ist und eine Welt abbildet, während sich unentwegt die eine an der anderen misst. Beim Schreiben eines solchen Stückes richtet sich der Blick auf die wirkliche Welt, wie ich sie einfügen kann – und umgekehrt. Die Spannung eines Theaterstücks beruht letztlich darauf, dass man sich mit dieser oder jener Figur identifizieren will – oder eben nicht. Vor der Uraufführung in Hamburg, als das Stück erst als Exposé vorlag, diskutierten Regisseur Peter Zadek und seine Leute, wer sich mit welcher Figur identifizieren wolle. Zu meiner Überraschung hat Zadek selbst nicht Merlin, den Zauberer, auserkoren, sondern Artus. Und der Dramaturg meinte, Parzival könnte man heute überhaupt nicht schreiben. Da dachte ich, gerade Parzival interessiert mich – außer Merlin – am allermeisten. Besitzt das Theater heute noch diese gesellschaftspolitische Kraft wie in den 70er und frühen 80er Jahren? Meine Zeit begann in den Sechzigern, als ich Toller geschrieben habe. Der Dichter Ernst Toller, der nach dem Ersten Weltkrieg eine Räterepublik gründen wollte, war für mich eine Identifikationsfigur – auch im Negativen, seinem mangelnden Realitätssinn, dieser Schwärmerei. Aber man sah, obwohl ich es früher geschrieben habe, das Stück als 20 Nein. Nur im wirklichen Leben. Aber wenn ich mir anschaue, dass Sie für ganz unterschiedliche theatrale Formen und Medien – von der Puppenbühne bis zum Fernsehspiel – gearbeitet haben: Wäre da nicht das Internet heute ein denkbares Medium für Ihre Arbeit? Ich schreibe fürs Theater. Solange man in diesem Beruf arbeitet, denkt man an szenische Abläufe, an Figurenkonstellationen. Die Stücke, die ich geschrieben habe, sind auf sehr verschiedene Weise benutzt worden, als Libretto, als Hörspiel, als Film. Aber Internet? Ich weiß es nicht, für das Technische bin ich nicht begabt. (…) Würden Sie das Internet in seiner Spezifik der künstlichen Wirklichkeit als einen Mythos des 21. Jahrhunderts bezeichnen wollen? Ein interessanter Gedanke. Nur kenne ich es zu wenig, um darüber zu urteilen. Ich hab’ das alles ja gar nicht, bin ein Urmensch sozusagen. Leben kann ich trotzdem. Wenn ich an meine Kindheit zurückdenke – ich bin ja vom Dorf –, da war das Leben nicht derart beherrscht von technischen Mitteln. Als ich 14 war, da ist man mit dem Floß gefahren oder hat sich Indianergeschichten erträumt. Das Leben war, in gewisser Weise, auch langweiliger als heute. Heute sind Industrien fieberhaft tätig, um die Zeit der Kindheit mit allen möglichen technischen Mitteln zuzudecken. Dabei denke ich, das Sich-Langweilen ist eigentlich etwas dem Menschen Nützliches. Inwiefern? Es setzt die eigene Fantasie in Bewegung. Wenn Maschinen tätig sind, um die Langeweile zu verscheuchen, führt das zu einer Verarmung. Leben wir in einer fantasielosen Zeit? Ja – oder die Fantasie bewegt sich auf anderen Gebieten. Technik, Naturwissenschaft … In keinem früheren Jahrhundert wäre uns ein solch ungeheuerlicher, die Welt verändernder Technikfortschritt widerfahren. Erschreckt Sie das? Vieles ist natürlich besser, als es früher war. Technisch, gesellschaftlich. Wir leben in einer sehr freien Welt, wenigstens in Mitteleuropa. Ursula Ehler und ich arbeiten seit 20 Jahren für ein Festival »Neue Stücke aus Europa«, so dass wir viel reisen. Da ist man, auf der Suche nach guten Stücken, mal für zwei Tage in Moskau, dann in Irland und im Kosovo. Da bemerke ich nicht, dass die Technisierung, die sogenannte Globalisierung der Welt die unterschiedlichen Kulturen einander uniform machte. Ich sehe allerdings, dass immer weniger Stücke geschrieben werden, die einen Anfang und ein Ende, die Personen und eine Story haben. Sondern? Dafür gibt es Arbeiten in der Art einer Performance. Man inszeniert kein neues Stück, sondern man inszeniert die Arbeit des Entstehens eines Stückes. Ich sehe viele Produktionen europaweit, die abstrakt räsonieren und sich entfernt haben von dem, was den Menschen eigentlich ausmacht – weil sie keine Geschichte haben. Ich will das nicht verallgemeinern, es ist nur eine subjektive Beobachtung. es das Theater überhaupt gibt, dass es wieder Geschichten über Menschen erzählt. Sofern es Talente gibt, die Menschen schreiben. Man schreibt ja nicht Sätze, sondern Menschen. Textflächen hätte man früher als dramaturgische Schwäche angesehen und gar nicht erst auf die Bühne gebracht. Auf einmal ist das gewollt. Theater ist ein Medium, das alles aufnimmt, durch die Mühle dreht und vielleicht wieder ausspuckt. Theater ist ein malmendes Medium. Textflächen haben mich nie verlockt. Wenn ich keine Menschen mehr im Kopf habe, kann ich vielleicht zur Textfläche übergehen. Woran arbeiten Sie? Vier Stücke möchte ich noch machen. Eines davon hat damit zu tun, dass ich, als ich vor vielen Jahren den Büchner-Preis bekommen habe, eine Rede über Georg Büchner halten sollte. Ich habe mir damals vorgestellt, es würde in einem Antiquariat ein Zettel auftauchen, auf dem in Büchners Handschrift das Wort »Aretino« stünde. Was für ein Stück könnte das sein? Büchner hat vermutlich kein Wort davon geschrieben. Meine Rede handelte von diesem nicht vorhandenen Stück. Jetzt habe ich den Entwurf meiner Rede wiedergefunden und mich gefragt: ›Warum hast du es damals nicht geschrieben?‹ Jetzt mache ich es. Es handelt übrigens auch vom Weltuntergang. Wenn ich die Schlagworte unseres Gesprächs bedenke, frage ich mich, woher Sie diesen Optimismus nehmen. Der tiefere Grund, weshalb viele andere keine Stücke über Menschen mehr schreiben, ist vielleicht, dass sie nicht mehr sagen können oder wollen, was das ist, die »Person«. Nur ein Konglomerat aus ganz verschiedenen, einander widersprüchlichen Eigenschaften? Wenn es den Menschen als fassbares Individuum mit einer Lebensverantwortung für alles, was er tut, nicht mehr gäbe, könnte es keine Stücke mehr über Personen geben. Dagegen schreibe ich an. Wenn wir Bildtelefon hätten, hätten Sie mich nicken sehen können. Das Modewort der Zeit heißt Textfläche. Wie erklären Sie sich das? Da könnten Sie mich jetzt auch nicken sehen. Eine Erklärung weiß ich nicht. Ich glaube, das Problem wird mit der Zeit abnehmen. Man wird wieder darauf kommen, solange Das Gespräch führte Wolfgang Hirsch am 29. Januar 2012 anlässlich der ›Merlin‹-Premiere in Weimar. Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Thüringischen Landeszeitung, Weimar 21 INGRID L AUSUND Bettina Erasmy Chapters An einem Freitag geht sie los. Vielleicht ist es auch ein Samstag. Die Woche über hatte sie noch gearbeitet. Jetzt richtet sie sich in ihrem neuen Leben auf der Straße ein, lebt fortan auf einem Sofa, mit Blick auf den Boulevard der Welt. Maja ernährt sich von Dingen, die sie findet und die ihr die Menschen geben, die Verkäuferin aus dem Supermarkt oder die Männer, die Maja mitnehmen und mit ihr schlafen. Bettina Erasmys Chapters beschreibt den Weg einer Frau, die ein Verbrechen begangen hat. Das Stück folgt dem Rhythmus eines Roadmovies, erzeugt Bilder wie aus einem amerikanischen Film. Es ist der Blick einer Aussteigerin, die ihre Umwelt minutiös erfasst, ein Protokoll eines Ausstiegs, ein Monolog mit vielen Stimmen. (1 D Mindestbesetzung, Besetzung flexibel) Bettina Erasmy wurde in Köln geboren und lebt heute in Berlin. Sie schreibt Prosa, Lyrik und Dramatik. Nach dem Studium der Germanistik, Philosophie und Anglistik in Köln und Vancouver/Kanada war sie als Dramatikerin und Regisseurin an verschiedenen Theatern tätig. Ihre Stücke wurden u.a. am Landestheater Tübingen, an der Berliner Volksbühne, an der Berliner Schaubühne, am Schauspielhaus Bochum, am Theater Basel oder den Ruhrfestspielen Recklinghausen aufgeführt. Zuletzt kam Dass wir Geister sind (2012) am Staatstheater Darmstadt zur Uraufführung. 2013 wird ihr Libretto der Oper Lola rennt an der Oper Regensburg uraufgeführt. Stücke – Eine Auswahl Frei zur Uraufführung Mein Bruder Tom 4 D, 4 H UA: 5.1.2008, Landestheater Württemberg Hohenzollern, Tübingen Regie: Thomas Krupa Dass wir Geister sind, Erasmys Stück, in dem die Familie sowie die Verlobte eines jungen Mannes über dessen Tod hinwegzukommen versuchen, wurde in der Spielzeit 2011/12 als Auftragswerk erfolgreich am Theater Darmstadt inszeniert. Das wollt ihr nicht wirklich 3 D, 4 H UA: 5.6.2010, Staatstheater Wiesbaden in Kooperation mit den Ruhrfestspielen Recklinghausen Regie: Tilman Gersch Supernova 3 D, 2 H UA: 20.11.2010, Staatstheater Darmstadt Regie: Hermann Schein »Nicht das Psychogramm einer durchschnittlichen Mittelstandsfamilie, nicht die Befindlichkeit der Dreißigjährigen interessiert Bettina Erasmy, sondern sie nimmt die weit größeren Fragen von Tod und Schicksal ins Visier.« Dass wir Geister sind 3 D, 4 H UA: 30.3.2012, Staatstheater Darmstadt Regie: Hermann Schein Frankfurter Allgemeine Zeitung über ›Dass wir Geister sind‹ 22 Foto: Jeanne Degraa 23 Werner Fritsch Nofretete – ein Projekt Sonnengesang (1350 v. Chr.) Immer schon hat mich der Ausdruck im Gesicht Nofretetes, der uns über Jahrtausende erhalten geblieben ist, fasziniert. Und immer noch gibt er uns Rätsel auf. Dieser Blick ist voller Weisheit, Sanftmut umspielt ihre Züge. Was für eine Frau war NOFRETETE, deren Name bedeutet: die Schöne kommt? Und welche Rolle spielen Nofretete und Echnaton für uns und unsere Welt heute? Werner Fritsch wurde 1960 in Waldsassen/ Oberpfalz geboren und lebt in Hendelmühle und Berlin. 1987 erscheint sein vielbeachteter Roman Cherubim. Zu seinen zahlreichen Stücken gehören Chroma, Hydra Krieg, Bach und Wondreber Totentanz oder auch die Monologe Sense, Jenseits, Nico. Sphinx aus Eis, Das Rad des Glücks und Magma, die auf der Bühne, für den Rundfunk oder fürs Kino realisiert wurden. Fritschs Monolog Mutter Sprache ist noch frei zur Uraufführung. 24 Historisch ist über Nofretete wenig bekannt. Mehr wissen wir über ihren Königsgemahl, den Pharao Echnaton. Immer entschiedener häufen sich, von Sigmund Freud bis Jan Assmann, Stimmen, die aufzeigen, dass der Ursprung unserer Kultur in Ägypten, im Monotheismus Echnatons liegt, der auf Moses (und die mit ihm über 400 Jahre in ägyptischer Gefangenschaft weilenden Israeliten) maßgeblichen Einfluss gehabt haben soll. Dem Spiegel war all das am 22. Dezember 2006 eine Titelgeschichte sowie eine Titelseite wert, die Echnaton, Nofretete und die Strahlen ihres Gottes Aton zeigt. Revolution in Ägypten: ein Herrscher zwischen Dichter und Diktator (auch Mao und Ghadaffi schrieben Gedichte), ein Religionsgründer im Zeichen des monotheistischen Fundamentalismus, eines religiösen Absolutheits- und Führungsanspruches – alles Folgen einer Vision, deren Aktualität und Leuchtkraft auch nach Jahrtausenden noch ungebrochen ist? Die Vision des Echnaton tritt auf als große Poesie in seinem Hymnus an die Sonne, seinem SONNENGESANG. Wie das Licht der Sonne alles mit Leben erfüllt, alles mit all-umfassender Liebe und Harmonie, so sind auch die Abbildungen, die Echnaton in Auftrag gab, erfüllt von der Zärtlichkeit zwischen ihm, Nofretete und ihren Foto: Isolde Ohlbaum Schön erscheinst du Im Horizonte des Himmels, Du lebendige Sonne, Die vom Anbeginn lebt. Du bist aufgegangen im Osthorizont Und hast jedes Land Mit deiner Schönheit erfüllt. Schön bist du, Groß und strahlend, Hoch über allem Land. Deine Strahlen umfassen die Länder Bis ans Ende von allem, Was du geschaffen hast. Kindern im Licht Atons. Auch kristallisieren sich utopische Entwürfe sozialer Gerechtigkeit (Maat) um die Figuren Nofretetes und Echnatons. Echnaton hat den gesamten ägyptischen Götterkreis um den Gott Amun in die Luft gesprengt und stattdessen einen einzigen Gott inthronisiert, den alle sehen können und der allen Lebenden seine Güte zuteilwerden lässt, den Gott Aton: die Sonne. Seine neue Religion ist nicht an im Tempel verborgenen und nur den Priestern zugänglichen Göttern orientiert, sondern am allen Sichtbaren: der Sonne, die zugleich konkret und transzendent ist. Echnaton, Nofretete und ihre Kinder sind des neuen Gottes erste und einzige Dichter und Hohepriester, sie haben darin, durchaus in der äygptischen Tradition, die Stellung von Göttern inne. – Wo aber, so fragt Nofretete im Monolog Echnaton, ist Aton, wo ist die Sonne, wenn es Nacht ist? Und Echnaton antwortet: In meinem Herzen. – Wo ist aber Aton jetzt, fragt sich nun im Monolog Nofretete angesichts der Mumie Echnatons, Da dieses Herz tot ist? Schon zu Lebzeiten Echnatons hatte sich gezeigt: Auch die Sonnen-Familie ist Leid und Tod unterworfen. Eine schwere Pestepidemie rafft viele Menschen hinweg und macht auch vor der königlichen Familie nicht halt: drei Töchter Nofretetes und Echnatons sterben. Echna- Er veröffentlichte außerdem Prosa wie zum Beispiel Steinbruch und Stechapfel und drehte u.a. die Filme Das sind die Gewitter in der Natur, Ich wie ein Vogel, Faust Sonnengesang. Seine Arbeiten wurden u.a. mit dem Robert-Walser-Preis, dem Hörspielpreis der Kriegsblinden, dem Else-LaskerSchüler-Preis ausgezeichnet. Für sein Hörspiel Enigma Emmy Göring erhielt er die Auszeichnungen: Hörspiel des Jahres 2006 und den ARD-Hörspielpreis 2007. ton zieht sich immer mehr in seine religiösen Visionen zurück, die er zugleich mit immer größerer Gewalt gegen Anhänger der alten Religion durchsetzt: er lässt Bilder der alten Götter zerstören! Nofretete im Kostüm des männlichen Mitregenten Semenchkare übernimmt die Staatsgeschäfte, die sie nach Echnatons Tod weiterführt. Irgendwann stirbt auch Echnaton. Das Volk zweifelt an der neuen Religion, die ihre Diener nicht vor dem Tod bewahren kann. Über die genaue historische Position Nofretetes kann nur gemutmaßt werden. Im Prisma ihrer Figur sollen sich in diesem Monolog die Fragen brechen, die uns, ausgelöst durch die Revolution Echnatons, heute noch bewegen. Wie steht die Revolution Echnatons heute vor uns, angesichts der Revolution des ägyptischen Volks?! Der Monolog NOFRETETE soll zwischen den Zeiten pendeln, aus der Gegenwart zurück in die Vergangenheit, die immer mehr zur Metapher der Gegenwart wird. Nicht lange nach dem Tod Echnatons reißt die alte Priesterelite erneut die Macht an sich. Nofretete wird aus allen Ämtern gedrängt. Im Monolog NOFRETETE steht sie neben der Mumie ihres Mannes. Das gemeinsame Leben, die gemeinsame Vision ziehen an ihr vorbei. War die Gewalt gerechtfertigt, um die neue Religion durchzusetzen? Waren die Tode der Töchter nicht Werner Fritschs Filme Faust Sonnengesang und Das sind die Gewitter in der Natur sind soeben in der filmedition suhrkamp erschienen. fes 33. 64 Seiten. € 29,90 (978-3-518-13533-4) 25 WERNER FRITSCH doch Zeichen des Zorns der alten Götter? Hat die neue Religion Atons Licht zu allen gebracht? Um welchen Preis? Der eine Gott, der Gläubige von Ungläubigen trennt, Gerechte von Ungerechten, war er nicht Anfang aller Entzweiung, aller Kriege? Die vielgestaltige Götterwelt der alten Religion, bot sie Heimat? Ich stelle mir vor: Licht auf Nofretetes Kopf, sonst Dunkel, aus dem von Zeit zu Zeit Stimmen kommen. Unten, aber das sieht man nicht gleich, liegt der mumifizierte Körper ihres Mannes Echnaton. Sie spricht zu ihm: Sie wirft mit ihren Worten Scheinwerfer ins Dunkel. Biographisches über ihre Liebe zu Echnaton, ihr Schwanken angesichts der Glaubensrevolution ihres Gattens, sie spricht über ihre gemeinsamen Kinder, deren Geburten und Tode, schließlich über den Tod Echnatons und den religiösen Rollback, der daraufhin durch die wiedererstarkte Priesterschaft des Amun eintrat ... Echnaton ist der erste Pharao, der sich nicht beim Niederschlagen seiner Feinde hat abbilden lassen, sondern zusammen mit seiner Frau und später mit ihren gemeinsamen Töchtern entweder bei der Anbetung Atons, der Anbetung der Sonne, oder in trautem privaten Zusammensein. Echnaton hat nicht nur eine eigene Religion, eine eigene Kunstrichtung, sondern auch noch eine eigene Stadt gegründet: Armana. Dort dichtet er, zusammen mit Nofretete – die, so wird vermutet, den Glauben an die Sonne als Gott sogar aus Afrika, dem Land ihrer Herkunft, mitgebracht hat – die große Hymne des Sonnengesangs. Der Monolog könnte so enden oder beginnen: NOFRETETE Dies ist ein Film aus der Zukunft Wenn Sand der Wüste mein Blut trinkt Wo auch immer New York steht Geschrieben in der Chronik des Nichts Aus Stein meines Herzens Hieroglyphen Nackt dereinst über dir im Licht Der Lapislazulibrandung deiner Iris Als Himmelsgöttin auf dem Innendeckel Deines Sarkophags ist dies Herz Gewogen von Unsterblichen geleitet In der Seligen Land diese Zunge Schweigt von der Muttersprache Der Messer jetzt mein Blut spricht Aus dem Himmel Finsternis Blues Falling down like hail über den Hudson hin In der Ferne Helikopter Autos Menschen Schlangen wie in Dantes Inferno Über die Eisengerippe der Brückenpfeiler Ins Jenseits dieses Traumes treibt Deine Mumie seit einer Ewigkeit In den Fluten der Lethe die Erde sieht Auf allen Kanälen wer sie die Mutter Überzieht mit Feuerzungen unstillbarer Wut Mit dem Magma des Zorns wie Pompeji wie Sodom Wie Ninive so taumelt jetzt Babel Die vielzüngige Königin der Huren Kehle Ist glatt wie Öl ihre Brüste Sind Türme trifft am ehesten ja Der Blitz spricht die Nacht Mit rauher Zunge vom Dornbusch Der brennt noch atme ich im Schlaf Blüht mein Glück kurz wie ein Flügelschlag Jetzt in Blitzen aus dem Blau Des ewigen Tags auf in dir o Türkis Des Todes Lichtkristall unserer Liebe Ein Stierschädel mein Sternzeichen Und der Schädel eines Widders Dein Sternzeichen bernsteingelb Im Museumsschrein der mein Gesicht Spiegelt einer Mumie Schrei Durch drei Jahrtausende Jenseits Des aufgerissenen Mundes Hieroglyphen aus Haar Getönt mit ausgebleichtem Blond Und es glitzert aus purem Gold Der Skarabäus ihres Lapislazuliamuletts Von Rot umrahmt und von Türkis Auf der Brust gegabelte Stöcke Gold mit blauen Ringen Wie um Schlangen zu fangen Im Jenseits Styx der Krokodile Unter der Stadt I awoke crying Mit zum Himmel emporgereckter Hand Warfst unser erstes Kind Mir die Sonne Auf den Kopf und sagte Wenn ich sterbe Nehme ich all mein Spielzeug mit Hilfst du mir einpacken Angesichts des Paradieses Auf einem Bild von Gauguin Fiel im Metropolitan Museum New York der Strom aus Und siehe Brusttrümmer Und Trümmer von Lippen Aus Armana im letzten Licht Des Tages durch die Glaskuppel Gerade noch zu erkennen Nofretete Heißt Die Schöne ist gekommen Die Sonne auf der Zunge Werner Fritsch, 2012 »Im Prisma ihrer Figur sollen sich in diesem Monolog die Fragen brechen, die uns, ausgelöst durch die Revolution Echnatons, heute noch bewegen. Wie steht die Revolution Echnatons heute vor uns, angesichts der Revolution des ägyptischen Volks?! Der Monolog NOFRETETE soll zwischen den Zeiten pendeln, aus der Gegenwart zurück in die Vergangenheit, die immer mehr zur Metapher der Gegenwart wird.« Werner Fritsch 26 27 INGRID L AUSUND Nikolaus Günter Wild ist der Wind oder Quadrophenia II Nikolaus Günter wurde 1976 in Kassel geboren. 1992 Umsiedlung mit seinen Eltern nach Pitschen/ Byczyna in Polen. 2001 tritt er der Berliner Off-Theater-Gruppe »Vereinstheater Deutschland« bei. Enge Arbeitsbeziehung zu dem Regisseur Jörg Reimer, der ihn bei zahlreichen Projekten (Düsseldorfer Schauspielhaus u.a.) zur Beratung hinzuzieht. Wild ist der Wind oder Quadrophenia II ist das Debüt von Nikolaus Günter als Dramatiker. Sie leben in der »jungen Stadt mit Tradition«: vier Jugendliche, ein Mädchen und drei Jungs, die nachts über Autos laufen und von einem anderen Leben träumen. Sie leben in einer Schlafstadt, sagt Jonathan, dessen Eltern sich einen Traum erfüllt und ein Eigenheim gebaut haben im Neubaugebiet. Jonathan, Pietsche und Helene brechen gemeinsam aus, verlassen die Provinz, ihre Schlafstadt, und fahren für ein paar Tage nach Berlin. Hier beginnt eine neue Freiheit und eine amour fou. Nur Toto fehlt. Als er sich im Jahr darauf über seinen Vater und dessen traditionelle Vorstellungen hinwegsetzt und erstmals mitkommt, mag er sich nicht einfügen in den Liebesrausch der Freunde. Er verschwindet für immer. Nikolaus Günter erzählt von einer Jugend in der Provinz mit sprachlicher Eindrücklichkeit und Humor als Erinnerung von Dreißigjährigen, die mit den Wunden der Vergangenheit leben müssen. (1 D, 3 H) Frei zur Uraufführung Pietsche: Aus mir muss nichts mehr werden, denn ich bin schon etwas. Du glaubst doch nicht im Ernst, dass es mir an Schulbildung fehlt, um nach Berlin zu ziehen. Jonathan: Stimmt Pietsch. Dealen kannste sicherlich auch hier. Häuser besetzen hundertprozentig auch. Pietsche: Ich deale nicht, du Rotweinpoet. Ich finanzier mir nur irgendwie meinen Lebensstil. Damit keiner irgendwann einmal sagen kann, ich hätte meine Eltern für mein konsequentes Leben zur Kasse gebeten. (aus: Wild ist der Wind oder Quadrophenia II) 28 Foto: Susanne Schleyer 29 JUNGES PROGRAMM Neben Ensemble-Stückentwicklungen und postdramatischen Projekt-Formen behaupten sich in den Spielplänen für das junge Publikum zunehmend auch starke Stücke von Autoren. Sie nehmen brisante Themen auf und fordern zur Auseinandersetzung mit Sprache, Form und szenischen Setzungen heraus. Sie stellen Kunst, nicht ein pädagogisches Konzept in den Vordergrund. Sie stellen Fragen, statt Antworten zu liefern. Mit Stücken von Etel Adnan, Nikolaus Günter, Martin Heckmanns, Christoph Nußbaumeder, Edward Bond, Dirk Dobbrow, Werner Fritsch und anderen versammelt das »Junge Programm« bei Suhrkamp ausgewählte, literarisch anspruchsvolle Stücke für das Kinder- und Jugendtheater. Hier eine Auswahl: Etel Adnan Wessen Ehre? Originaltitel: Crime of Honor Deutsch von Brigitte Landes Hussein liebt das »junge Mädchen«. So sehr, dass er bereit ist, für sie zu lügen und das gewünschte Alibi zu liefern. Nun selbst mit dem Vorwurf des Diebstahls konfrontiert, tritt Husseins traumatische Vergangenheit hervor. Adnans Stück beschreibt eine Extremsituation, die eine Parabel ist für die Zwänge und Abhängigkeiten menschlichen Zusammenlebens. (3 D, 1 H, Besetzung variabel) Frei zur deutschsprachigen Erstaufführung Dirk Dobbrow Legoland In Legoland treffen wir Jugendliche in einer Plattenbauhochhaussiedlung. Wie sie miteinander umgehen, ihre Wünsche, Ängste und Sehnsüchte, das beschreibt Dobbrow ohne jede Sentimentalität als eine nüchterne Bestandsaufnahme einer Gesellschaft, die vergessen hat, was soziale Gerechtigkeit oder Mitmenschlichkeit bedeutet. (4 D, 6 H) Nikolaus Günter Wild ist der Wind oder Quadrophenia II Nikolaus Günter erzählt von einer Jugend in der Provinz mit sprachlicher Eindrücklichkeit und Humor als Erinnerung von Dreißigjährigen, die mit den Wunden der Vergangenheit leben müssen (siehe auch S. 29). (1 D, 3 H) Frei zur Uraufführung Martin Heckmanns Kränk Ein alleinerziehender Vater im Konflikt mit seinem aufbegehrenden Sohn Ernk begegnet einer alleinerziehenden Mutter im Streit mit ihrer eigenwilligen Tochter Rosa. Die beiden Eltern lernen sich bei der Arbeit kennen und suchen die Affäre, die Kinder freunden sich an. Die Jugendlichen verweigern sich dem Gespräch mit ihren Eltern und erschaffen eine eigene Sprache. Zwei Generationen prallen aufeinander. (3 D, 2 H) Uraufführung: 11. März 2004, Schauspiel Frankfurt Regie: Simone Blattner Uraufführung: 28. Januar 2000, Kleist Theater, Frankfurt/Oder. Regie: Michael Funke Werner Fritsch Alles ein Kinderspiel Unsere Welt, gespiegelt im Spiel der Kinder: Mit dem frischen, unschuldigen und naiven Blick des Kindes ist Werner Fritschs Stück die Erkundung der Welt, die durch das Spiel des Kindes neu geschaffen wird. (2 D) Frei zur Uraufführung 30 Hermann Hesse Demian Die Geschichte von Emil Sinclairs Jugend Bühnenfassung von Daniela Löffner »Gerade Hesse, der mit ekstatischen Worten Geschichten von Ich-Findungen erzählte, eignet sich perfekt für das Jugendtheater.« Welt am Sonntag (2 D, 4 H) Uraufführung: 6. Mai 2010, Junges Schauspielhaus, Düsseldorf. Regie: Daniela Löffner Heidi von Plato Hampel und Trampel Hampel und Trampel wollen auf Weltreise gehen, allerdings sprechen tausend Gründe dagegen. Nach längerem Für und Wider fahren sie los, mit Herrn und Frau Schiss im Gepäck, aber ohne den Fernseher, die Wäscheschleuder und die Bücher (bis auf Alice im Wunderland). Vor allem aber packen sie Mamapuppe und Papapuppe wieder aus. Heidi von Platos Kinderstück ist eine wunderschöne poetische und lustige Geschichte darüber, was es bedeutet, größer zu werden. (2 D) Frei zur Uraufführung Gesine Schmidt liebesrap Vanessa und Yusuf sind ein Liebespaar aus Berlin-Neukölln. Beide sind 15 Jahre alt, er ist Türke, sie Deutsche. Gesine Schmidt hat die Jugendlichen ein halbes Jahr lang begleitet und aufgeschrieben, was sich in ihrem Leben ereignet hat: ihre Liebe, ihre Träume, Konflikte mit der Polizei, Schul- und Drogenprobleme, Streit in der Familie, Schwangerschaftsabbruch. Das Hörspiel liebesrap (DLF, 2010) war 2010 Hörspiel des Monats November und erhielt 2011 den Hörspielpreis Prix Marulić. Frei zur Uraufführung Dianne Warren Im Zeichen der Schlange Originaltitel: Serpant in the Night Sky Deutsch von Heide Liebmann Der Taxifahrer Duff bringt sein neues Mädchen Joy mit nach Hause. Die beiden möchten heiraten, allerdings gerät Joy in Konflikt mit Duffs Schwester und deren Verlobtem. Und Duffs Mutter geht eigene Wege. Dianne Warren entwirft starke Figuren und wunderbar leichte Dialoge in einer atmosphärisch starken Coming-of-age-Geschichte, die über die Grenzen von Liebe, über Gefühle und von Einsamkeit erzählt. (3 D, 3 H) Frei zur deutschsprachigen Erstaufführung Prosa-Empfehlungen für szenische Entdeckungen: Martin Heckmanns Konstantin im Wörterwald Konstantin heißt in Wirklichkeit anders, nur gefällt ihm dieser Name genauso wenig wie die »sogenannte Wirklichkeit«, die ihn umgibt. Der Junge lebt mit seiner Mutter in einem Reihenhaus, der Vater hat sich ohne Erklärung aus dem Staub gemacht. Und Konstantin stottert. Bis er eines Tages schreibend seine eigene Geschichte entwirft. Martin Heckmanns beschreibt in seinem entzückenden ersten Kinderbuch (erscheint 2013 im mixtvision Verlag, München) einen kindlichen Außenseiter, der mithilfe der Sprache seinen Weg findet. Anna Maria Jokl Die Perlmutterfarbe Ein Kinderroman für fast alle Leute Aus dem Schulranzen von »Maulwurf«, einem der beliebtesten Schüler in der A-Klasse, verschwindet ein Töpfchen mit selbstgemischter Farbe, der Perlmutterfarbe. Die ersten Verdächtigungen werden geäußert, das Misstrauen gegenüber der B-Klasse wächst, die Jagd nach einem Sündenbock beginnt. Nicht wegzudenken aus der Literatur des 20. Jahrhunderts ist dieser Roman über zwei deutsche Schulklassen Anfang der dreißiger Jahre, über Verrat und Freundschaft, Machtgier und Zusammenhalt. Raymond Queneau Zazie in der Metro Originaltitel: Zazie dans le Métro Aus dem Französischen von Eugen Helmlé Zazie lebt mit ihrer Mutter auf dem Land. Weil diese ein ungestörtes Liebeswochenende in Paris verbringen möchte, wird Zazie bei ihrem Onkel Gabriel in Paris geparkt. Bald wird es Zazie dort zu langweilig und sie erkundet die Stadt auf eigene Faust. 31 INGRID L AUSUND Anna Katharina Hahn Die letzte Stufe Ein Thema, das verdrängt wird und uns doch alle angeht: Über 80 Jahre ist sie alt und soll raus aus ihrem Haus, so wollen es ihre Tochter und der Schwiegersohn. Vernünftig soll sie sein und ins ›betreute Wohnen‹ gehen, einsehen, dass sie es allein nicht mehr schafft. Aber Lina Eisele hängt mit jeder Faser an jedem Stück in ihrem Haus. Wie nur soll sie sich verabschieden von den Möbeln und Bildern, die mit so vielen Erinnerungen verbunden sind? 14 Stufen nur hat die Treppe des Hauses, in dem Lina Eisele seit mehr als 50 Jahren lebt. Mittlerweile braucht sie eine halbe Stunde, um sie hinaufzusteigen. Auf der letzten Stufe muss sie sich niedersetzen und innehalten, denn sie ist an der letzten Stufe ihres Lebens angekommen. (1 D) Uraufführung des Auftragswerks: 28. Januar 2011, Theater Heilbronn Regie: Christian Marten-Molnár Die Schatzsucher In ihrem neuen Stück führt uns Anna Katharina Hahn in eine Reihenhaussiedlung am Rande der Großstadt. Die Siedlung, das Haus waren das große Glück und die Altersvorsorge für das Ehepaar Elli, Ende vierzig, und Tom, Anfang fünfzig, aber nun ist die Katastrophe da. Sie hat als Sachbearbeiterin ihre Stelle verloren, und mit seinem Gehalt als unterer Angestellter können sie den Kredit, mit dem das Haus finanziert ist, nicht mehr bedienen. So fassen sie den Entschluss, das Zimmer der Tochter, die gerade ausgezogen ist, zu vermieten. Auf ihre Anzeige hin meldet sich DER JUNGE MANN. Er scheint für sie die Lösung ihres Problems zu sein, mehr noch, die Verheißung für eine neue, bessere Zukunft. Doch wer ist DER JUNGE MANN, stimmen seine Geschichten und Versprechungen oder erzählt er nur das, was die Vermieter hören wollen? Immer mehr gerät das Paar in den Strudel ihrer Hoffnungen und Wünsche. (1 D, 2 H) Anna Katharina Hahn, geboren 1970, lebt in Stuttgart. Ihr Bestseller Kürzere Tage stand auf der Longlist für den »Deutschen Buchpreis« 2009 und auf der Shortlist für den Preis der »SWR-Bestenliste« und wurde 2010 mit dem Roswitha von Gandersheim-Preis und dem Heimito von Doderer-Preis ausgezeichnet. Zuletzt erschien ihr Roman Am Schwarzen Berg. »Es wird Zeit, hoch den Arsch, den eingeschrumpelten, und auf die dünnen Beine gestanden. Es gibt zwei Sorten alte Weiber, die einen werden fett, fressen sich Wampen und Krautstampfer an, Säue eben. Die anderen magern ab, bekommen eine Haut wie zerknülltes Butterbrotpapier und knochige Stelzen. Ziegen. Die Ziege stackst durch ihren Garten, denn da gibt’s noch was zu tun. Ziege bist du satt? Wovon sollt ich satt sein, sprang nur über Gräbelein, fand kein einzig Blättelein, mäh, mäh!« (aus: Die letzte Stufe) Uraufführung des Auftragswerks: 28. Februar 2013, Theater Heilbronn Regie: Axel Vornam »Meine Figuren sind wie Kordeln, die aus ganz vielen Fäden gedreht werden.« Anna Katharina Hahn 32 Foto: Sven Paustian 33 INGRID L AUSUND Noah Haidle Lucky Happiness Golden Express Deutsch von Brigitte Landes Das Lucky Happiness Golden Express ist ein billiges chinesisches Restaurant. Andrew, ein alter Mann, bestellt hier, assistiert von einem komischen Kellnerpaar, jeden Abend das Gleiche. Bis er eines Abends einen Schlaganfall hat. Im Krankenhaus kommt seine Familie zusammen, die beiden Töchter, Andrea und Thump, die sich gerne selbst reden hört und ihren Vater wegen einer Risikolebensversicherung und des zu erwartenden Erbes gerne schon jetzt tot sähe. Und schließlich Vivian, weißhaarig und schon verwirrt, die Mutter der Frauen und Andrews Liebe seines Lebens, die ihn und die Mädchen einst verließ. Noah Haidle erzählt in Rückblenden mit umwerfendem Witz, großartigen Figuren und mit Leichtigkeit von der Illusion des Glücks. (3 D, 2 H) Noah Haidle, geboren 1978 in Michigan, ist Dramatiker und Drehbuchautor und lebt in Michigan. Haidle studierte an der Princeton University und der Juilliard School und lehrte u.a. in Princeton. Er hat zahlreiche Stücke geschrieben, sein neuestes, Smokefall, wird im Frühjahr 2013 am South Coast Repertory Theatre uraufgeführt. Sein Drehbuch Stand Up Guys wurde 2012 mit Christopher Walken, Al Pacino und Alan Arkin in Hollywood verfilmt. Haidle hat zahlreiche Preise erhalten. 2009 wurde sein Erfolgsstück Mr. Marmalade am Staatstheater Karlsruhe deutschsprachig aufgeführt. Saturn kehrt zurück kam im Oktober 2012 am Staatstheater Nürnberg zur deutschsprachigen Erstaufführung. Skin Deep Song wird im Februar 2013 am Theater Essen uraufgeführt. Frei zur deutschsprachigen Erstaufführung ist What is the Cause of Thunder?. Frei zur Uraufführung Skin Deep Song Deutsch von Thomas Krupa Zwei Schwestern erzählen sich Witze. Neben ihnen liegen die Leichen ihrer Eltern, und draußen herrscht Krieg. Doch die Witze sind gut, und weil die jungen Frauen schon dabei sind, spielen sie sich gegenseitig die letzten Worte ihrer Eltern vor. Die Worte des skrupellosen Vaters, eines Königs, der sein Land in den Krieg führte, und der Mutter, die ihren Töchtern Mimi und Woden den »Skin Deep Song« vorsang, um ihnen die Furcht vor der Finsternis zu nehmen. Da steht Hal vor ihnen, ein junger Mann in Uniform, der desertiert ist und am Geburtstag des Vaters vor einem Jahr mit Mimi tanzte. Haidle schreibt über das Ende einer Welt, in der die Töchter die Lücke, die ihre Eltern hinterlassen haben, mit Witzen und Spielen von Leben und Tod füllen. Und über einen alten Mann mit Krone, einen Nachfahren von Shakespeares Lear, der auf die Trümmer seines ehemaligen Reiches blickt. (3 D, 2 H) »Und wir, das Publikum, erahnen die Stimmen, vernehmen die Poesie in den hochkonzentrierten Sätzen des Autors Noah Haidle – und sind verzaubert.« Nürnberger Zeitung anlässlich der deutschsprachigen Erstaufführung von ›Saturn kehrt zurück‹ Uraufführung: 1. Februar 2013, Grillo Theater, Essen Regie: Thomas Krupa 34 Foto: Susanne Schleyer 35 NOAH HAIDLE »Ich kann viel zu viele Worte über Beckett sagen« Noah Haidle im Gespräch Nina Peters: ›Mr. Marmalade‹ ist das erste Ihrer Stücke, das in Deutschland aufgeführt wurde, das war 2009 am Staatstheater Karlsruhe. Lucy ist die Hauptfigur, sie hat eine lebhafte Phantasie und einen Phantasiefreund, der Drogen nimmt und Lucy nicht besonders gut behandelt. Lucy ist vier Jahre alt. Wie kamen Sie dazu, über eine Vierjährige zu schreiben? mit meinem Leben machen.« Der Grund, warum ich für das Theater schreibe, hat sich über die Jahre immer wieder verändert, und heute glaube ich, dass das Theater den Menschen eine Möglichkeit bietet, um mit vereinter Aufmerksamkeit zusammenzukommen, und dass diese kollektive Aufmerksamkeit einem weltlichen Gottesdienst nahekommt. Noah Haidle: Glücklicherweise oder unglücklicherweise hat sich diese vierjährige Lucy aus ganz zweckmäßigen Umständen heraus ergeben. Ich war damals mit einer Schauspielerin zusammen, die sehr jung aussah und die mir sagte, dass sie immer davon geträumt habe, mit einem Tutu auf der Bühne zu stehen. Also habe ich dieses Stück für sie geschrieben. Ich würde gerne einen erhabeneren Inspirationsmoment nennen, aber ehrlich gesagt wollte ich sie einfach glücklich machen. Ich habe gehört, dass Jean-Paul Sartre Geschlossene Gesellschaft deshalb geschrieben hat, weil er mit drei Schauspielern befreundet war und nicht wollte, dass einer auf den anderen neidisch sei, weil der länger auf der Bühne stand als der andere. Also beschrieb er die Hölle als ein Wohnzimmer, das keiner verlassen kann. Und ich habe über ein vierjähriges Mädchen im Tutu geschrieben, um meiner Freundin eine Freude zu machen. Wenn ich versuche, Begriffe zu finden, die Ihren Stücken gerecht werden, dann sind das: die Balance zwischen Tragik und Komik, die komischen und schlagfertigen Dialoge, die eine wunderbare Leichtigkeit mit sich bringen auf der einen und Trauer und Schmerz auf der anderen Seite. Jede Figur scheint jemanden oder etwas verloren zu haben. Wissen Sie warum? Die gängige amerikanische Theaterpraxis scheint einem Bühnenrealismus zu folgen: Hatten Sie keine Sorge, dass Regisseure Lucy mit einem Kind besetzen würden? Nein. Jeder Beteiligte wäre dann sicher verhaftet worden. An welchem Punkt in Ihrem Leben wussten Sie, dass Sie für das Theater schreiben wollen? Und warum? Ich war 17 und hatte vorher nie ein Theaterstück gesehen. Und als ich es tat, dachte ich laut: »Das möchte ich 36 Ich habe mir nie überlegt, dass jede Figur irgendetwas oder irgendjemanden verlieren soll, und deshalb lautet die Antwort auch einfach: Ich habe keine Ahnung, warum. Ich habe nie Kritiken oder Kommentare zu meinen Stücken gelesen. Ich fürchte mich davor, mir eines Prozesses bewusst zu werden, der für mich ein privater ist und der auch nicht vollständig erklärt werden kann. Gabriel García Márquez hat einmal eine Besprechung zu Hundert Jahre Einsamkeit gelesen, in der stand, »Frauen sind die treibende Kraft für die Ordnung, Männer die treibende Kraft für die Unordnung«. Nachdem er das gelesen hatte, so García Márquez, habe er über Männer und Frauen nie mehr auf die gleiche Weise geschrieben. In ›Saturn kehrt zurück‹ sehen wir einen Mann in drei Lebensphasen, im Alter von 28, 58 und 88. In einer Regieanweisung schreiben Sie, »es sei in Ordnung, wenn die Männer auch mal gleichzeitig mit den anderen auf der Bühne seien«. Die Vergangenheit scheint immer präsent zu sein in Ihren Stücken und Ihren Figuren. Können Sie etwas über dieses Erzählverfahren sagen? Mit den Worten von Gram Parsons, einem Musiker, der Honky-Tonk und Rock ’n’ Roll zusammenbrachte: »Das Beste, was wir tun können, ist, von der Vergangenheit zu lernen und unser Leben so zu leben, so dass wir eines Tages zu eigenständigen Menschen werden, zu dem Zeitpunkt nämlich, wenn wir beginnen, die Dinge zu ändern: und nicht krank sind oder verfolgt von dem, was das Leben uns angetan hat. Wir haben den Vorteil, dass wir ganz genau Vorbilder dafür haben, was passieren kann, wenn Menschen es zulassen, dass das Leben sie so durcheinanderbringt und sie keinen Ausweg mehr sehen. Unsere Lebenszeit kann sehr schön sein, wenn wir so aufrecht sind, dass es keine Lügen mehr gibt oder Schatten, vor denen wir Angst haben … das erfordert sehr viel Arbeit, Wissen und Liebe.« Wollen Sie im Theater berührt werden? Ja, in erster Linie. Als Schriftsteller scheinen Sie nicht an einem glücklichen Ausgang Ihrer Geschichten interessiert zu sein, diese nehmen die denkbar schlimmste Entwicklung. Und die Figuren versuchen, mehr oder weniger erfolgreich, damit umzugehen. Ist es das, was Sie erzählen wollen? Ja. Viele Ihrer Stücke spielen in Grand Rapids in Michigan. Sie sind dort geboren worden und aufgewachsen. Was ist das für ein Ort, für Sie und für die Figuren in Ihren Stücken? Grand Rapids klingt wie ausgedacht. Eine Stadt aus einer amerikanischen Sitcom aus den 1950er Jahren. Lustigerweise gibt es dort keine Hasen. Das Land ist flach und sehr, sehr kalt, die Winter dauern mehr als fünf Monate. Es gibt ein Sprichwort: Kein Gras ist so grün wie das Gras in den Hinterhöfen deiner Kindheit. Ich bin nach 15 Jahren wieder nach Hause gezogen, um diesem bestimmten Gleichmut des Mittleren Westens, zu begegnen, dem lustigen Akzent (wie in dem Film Fargo), dem rauen Klima, das das Leben der Menschen hier bestimmt. Mit der Zeit hoffe ich, dass ich in Grand Rapids Stücke meiner Phantasie ansiedeln kann, so dass die Figuren sich überschneiden und Teil der anderen Stücke werden. So dass ich so einen imaginierten Grundbesitz schaffe, der allein mir gehört. Ich denke bei Ihren Stücken an Beckett. Können Sie zu ihm ein paar Worte sagen? Ich kann viel zu viele Worte über Beckett sagen. Aus unterschiedlichen Gründen wünschte ich, ich hätte nie von ihm gehört. Ich glaube, wenn man etwas wahrhaft Originäres schafft, nimmt man der Welt während des Schaffensprozesses etwas. Beckett hat sich so viel aus der Welt genommen, hat diesem einen Namen gegeben und es zu seinem eigenen gemacht. Und er nutzte das Theater, wie es genutzt werden sollte, ohne zu behaupten, das sei nun »echt«, sondern als eine plastische, gestaltbare Form, indem er Welten erschuf, die unserer ähnlich sind und die wir betrachten können, so wie Außerirdische die Menschen betrachten würden, wenn sie hier landeten. Becketts Genauigkeit und die Kontrolle, die er über Sprache ausübte, ist mathematisch, seine Ideen sind tief, ohne prätentiös zu sein, sein Humor umwerfend komisch, ohne anbiedernd zu sein. Für mich ist er einfach der größte Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. Ich lese fast zu viel in seinen Büchern und versuche zu lernen, was ich kann, aber das Problem mit dem Genie ist, dass man es nur nachahmen kann, aber nie lernen. Ich wünschte mir, ich hätte ihm einmal die Hand gegeben, mit ihm vier Stunden schweigend über Fisch zum Abendessen gesessen und mit ihm Billard gespielt und Schach und den Geruch der Räume geatmet, in denen er gelebt hat. Ich liebe ihn. Sie haben Szenisches Schreiben u.a. in Princeton University sowie Kenia und Uganda gelehrt. Was haben Sie von Ihren Studenten gelernt? Hoffnung. Im Oktober hatte ›Stand Up Guys‹, ein Hollywoodfilm mit Al Pacino, Christopher Walken und Alan Arkin, Premiere. Sie haben das Drehbuch geschrieben. Wie kam es dazu? Glück. Deutsch von Nina Peters 37 INGRID L AUSUND 70. Geburtstag am 6. Dezember 2012 Peter Handke Immer noch Sturm Das Jaunfeld, im Süden Österreichs, in Kärnten: Dort versammeln sich um ein »Ich« (oder steht es eher am Rande?) dessen Vorfahren: die Großeltern und deren Kinder, unter ihnen die eigene Mutter. Sie erscheinen ihm, da sie ihn bis in die Träume begleiten, in einer Vielzahl von Szenenfolgen, in denen sich die unterschiedlichsten Spiel- und Redeformen abwechseln – ein Panorama, das weit über alle literarischen Genres hinausreicht und sie sich zugleich anverwandelt. Im Peter Handkes Immer noch Sturm durchdringen sich Prosa und Drama, Theatralisches und Poetisches, Geschichtliches und Persönliches, und so wird am Ende doch fraglich, ob der überlebende Bruder der Mutter wirklich das letzte Wort hat: »Es herrscht weiterhin Sturm. Andauernder Sturm. Immer noch Sturm. Ja, wir haben das Unrecht begangen – das Unrecht, hier, gerade hier, geboren zu sein.« (Besetzung variabel) Peter Handke, 1942 in Griffen (Kärnten) geboren, lebt heute bei Paris. Zuletzt sind von ihm im Suhrkamp Verlag erschienen: Kali (2009), Die morawische Nacht (st 4108), Der große Fall (2011), Versuch über den Stillen Ort (2012). Immer noch Sturm wurde in »Theater heute« zum »Stück des Jahres 2012« gewählt. Die Uraufführungsinszenierung, eine Koproduktion zwischen den Salzburger Festspielen und dem Thalia Theater Hamburg, wurde eingeladen zu den Mülheimer Theatertagen 2012, das Stück erhielt den Mülheimer Dramatikerpreis 2012. Uraufführung: 12. August 2011, Salzburger Festspiele Regie: Dimiter Gotscheff Die schönen Tage von Aranjuez Ein Sommerdialog Personen: Eine Frau, namenlos, ein Mann, namenlos: das Paar schlechthin. Sie treffen sich, um über die Liebe zu reden, die erste Liebe, darüber, was Mann und Frau fühlen, wenn sie miteinander sind. Sie reden darüber, wie man über die Liebe redet. Und wer über die Liebe redet, der redet unweigerlich von der Natur, von der Geschichte – von dem, was dem Leben Sinn verleiht. Und wieder ein Sommer. Und wieder ein schöner Sommertag. Und wieder eine Frau und ein Mann an einem Tisch im Freien, unter dem Himmel. Ein Garten. Eine Terrasse. Unsichtbare, nur hörbare Bäume, mehr Ahnung als Gegenwart, in einem sachten Sommerwind, welcher, von Zeit zu Zeit, die Szenerie rhythmisiert. Der Tisch ist ein Gartentisch, ziemlich groß, und Mann und Frau sitzen sich da im Abstand gegenüber. Die beiden sind unauffällig sommerlich gekleidet, die Frau eher hell, der Mann eher dunkel, zeitlos der eine wie die andere. (1 D, 1 H) Uraufführung: 15. Mai 2012, Wiener Festwochen, Akademietheater Regie: Luc Bondy Deutsche Erstaufführung: Januar 2013, Berliner Ensemble Regie: Philip Tiedemann 38 Foto: Isolde Ohlbaum st 4323. 165 Seiten Geb. € 8,99 (978-3-518-46323-9) 70 Seiten. Klappenbrosch. € 12,99 (978-3-518-42311-0) 39 PETER HANDKE »Das Geheimnis des Schreibens sind für mich die Nebensachen« Peter Handke im Gespräch mit Thomas Oberender Thomas Oberender: Sie haben einmal gesagt, dass Sie als Erzähler relativ früh eine Scheu vor dem, was man die Tricks des Erzählens nennt, entwickelt haben, also vor dem, was Sie eben als das Handwerkliche beschrieben haben, das Virtuose, gut Gebaute im schematischen Sinne. Und dennoch erzählen Sie eine Geschichte, etwas Unerhörtes. Aber eben mit anderen Empfindlichkeiten, zu denen Sie uns ja auch verführen wollen. Diese Haltung, die Sie als Erzähler prägt, ist auch eine, die ich in Ihren Stücken, zumindest ab einem bestimmten Punkt, sehr stark empfinde – das geht eng einher mit Ihrer speziellen Auffassung vom Schauspieler, oder auch vom Augenblick, etwas, das eigentlich nicht zu schematisieren ist. Peter Handke: Ja, ich bin kein Stückeschreiber, kein Stückezimmerer, ich bin eigentlich ein Stümper. Aber mit einem großen Gefühl. Und das große Gefühl leitet mich zur Form – weil wenn Sie das Gefühl verraten, heißt das, dass Sie formlos werden. Ich habe kein System, wie man Stücke schreibt, hatte ich von Anfang an nicht. Es gibt ja bewundernswerte Dramatiker wie, um zurückzugehen im Jahrhundert, Arthur Miller und Tennessee Williams, oder Eugene O’Neill – das ist perfekt gezimmert, jeder Satz, jede Pause. Beckett weiß immer ganz genau: fünf Sekunden Pause. Mir ist das total … da erwacht die Anarchie in mir! Da denke ich: Wie kann man das so machen? Wie ein Zwölf-Ton-Musikstück von Webern oder Alban Berg hat Beckett seine Stücke geschrieben. Also das war einmal, und das gibt es ja immer noch. Beckett hat als Regisseur die einzelnen Schritte der Schauspieler auf Millimeterpapier notiert. Diese Fixierung seiner Weltvorstellungen ging sehr weit! 40 Jon Fosse schreibt ganz genauso. Stücke, die genau festgelegt sind, wie Sie sagen: Millimeterpapier, und das widerstrebt mir. In dem Sinne bin ich ein Amateur, vor allem was Theater betrifft, aber auch Prosa. Ich habe schon mein Modell, ich habe, wie Sie sagen, meine Geschichte, die habe ich schon. Aber die mache ich eigentlich unsichtbar. Nicht dass man die zertrümmern muss, aber die Story oder die Struktur dient eigentlich nur, wie ein Magnet, also ein Antimagnet, und ich gehe dann weg vom Magnetisieren, vom Magnet, umkurve das alles, und das erzeugt schöne Energien im Schreiben oder auch in den Figuren, in den Theaterverläufen. Das macht, glaube ich, das Epische meines Schreibens aus. Diese Umkurvungen der Magnetberge oder Magnetvorgebirge prägen die epische Form meiner Stücke ab Über die Dörfer. Kaspar war ein bisschen ein gezimmertes Stück. Aber im zweiten Teil, da war es mit dem Zimmern vorbei, da ist die Anarchie durchgebrochen, weil auch die Figur Kaspar selber durchdreht, wie man heute sagt, wird dann Traum und Schrei und alles eins. Die Grammatik verschwindet. Lautwerden, im Sprechen, wenn Sie so wollen. Da gab es einen Kritiker, der hat dann gleich geschrieben: »Peter Handke – Gesamtwerk auf ›ung‹«, weil alle Stücke mit ›ung‹ enden, denn es gab die drei Stücke Publikumsbeschimpfung, Weissagung und Selbstbezichtigung. Das fand ich lustig. Wenn ich Ihr Werk als Dramatiker betrachte, frappiert mich Ihre Erfinderkraft, nicht so sehr im Hinblick auf die Stoffe, sondern speziell der szenischen Formen, die etwas völlig Neues in die Welt gebracht haben – Stücke ohne Worte, ein Metatheater, das auf öffentlichen Redegattungen beruht, Traumspiele neuer Art. Nehmen wir die Sprechstücke … Ich meine, das war auch frech, Gott sei Dank. Ohne Frechheit gibt es keine Kunst, keine große Malerei. Man kann nicht von vornherein frech sein, aber im Tun kommt die Frechheit dazu. Und vor allem gegen Ende, wenn sie einem nicht total misslungen ist, die Reise zur Form hin, auf die man sich auf den Weg gemacht hat, dann tritt wie ein Engel die Frechheit, der Engel der Frechheit, dazu. Denk ich. Die verdanke ich wirklich im Wortsinn, und natürlich auch auf eine andere Weise, den Beatles und den Rolling Stones. Publikumsbeschimpfung und Selbstbezichtigung kamen aus dieser Intensität des puren Daseins im Diese Stücke konkreter Poesie verbinden Sprachkritik und Performance auf eine mich immer noch erstaunende Art, frech, sehr frech, und musikalisch. Sie sind natürlich auch existenziell. Mich hat immer beschäftigt, während ich im Theater sitze, was gleichzeitig noch alles passiert – dort auf der Straße, dort blickt einer oder dort fährt einer im Zug, und dort weint einer und wir sitzen dann da. Ich wollte diese Simultaneität. Ich bin ja immer ein Existenzmensch gewesen, um das Wort »Existenzialist« zu vermeiden. Publikumsbeschimpfung; das war schon ein ernsthaftes Stück. Sehr ernsthaft, ja. Wir sind keine Spaßmacher, hieß es darin, wenn ich mich recht entsinne. Der Engel der Frechheit. Das ist mir so hervorgekommen jetzt. Der tritt einem manchmal aus Ihren Texten entgegen. Genauso, wie er hineintritt. Andererseits sind diese repetitiven, sprachrhythmischen Stücke doch auch sehr streng, im Sinne einer gesetzten Form. »Sprechakte«, schon das Wort hat etwas Ernstes, nicht? Finden Sie? Ja, ich lass mich schon gehen, das stimmt. Das gehört unbedingt dazu, dass man sich gehenlässt, aber dann … den Moment darf man nicht verpassen, diesen Moment, dass man zurückgeht in die Struktur, in den Rhythmus, in das Hämmern, Seelenhämmern, oder wie man das nennen soll. Oder in den Glockenklang. Ihre Stücke, so scheint mir, zielen seit ›Über die Dörfer‹ stärker auf die Erfahrung solcher Momente. Die Stimmung, in der sich das alles ereignet, wird wichtig. ›Über die Dörfer‹ nannten Sie »dramatisches Gedicht«. Die Stücke laden ein zu einer Gegenwartsentdeckung, die ja zunächst die der Figuren auf der Bühne ist, ihrer Augenblicklichkeit. Und obwohl die Stimmung oder Gestimmtheit des Geschehens so wichtig wird, werden Ihre Formen und Gesten als Erzähler immer raffinierter, oszillieren stärker, spontaner. In einem Stück wie ›Das Spiel vom Fragen‹ mischen sich Momente der Selbstironie mit Anspielungen auf Raimund und Tschechow oder verschiedene Redeformate wie das Fragen oder Schmähen mit Phasen eines stummen Spiels. Als Sie dieses Stück schrieben, hatten Sie da ein komplett stummes Stück wie ›Die Stunde da wir nichts voneinander wussten‹, das ja erst drei Jahre später erschien, bereits als Vorsatz gefasst? Das hat mich immer beschäftigt, schon vorher. Das Mündel will Vormund sein war auch so ein stummes Stück. Das muss man dem Claus Peymann lassen, der 41 PETER HANDKE ja ein relatives, nicht unbeträchtliches Mundwerk hat. Es ist gerade das Paradox, dass er ausgerechnet in meinen stummen Stücken, für mich jedenfalls, den Gipfel seines – der Gipfel ist kein Kilimandscharo, aber es ist auch nicht nur ein kleiner Maulwurfshügel –, seines Handwerks erreicht hat. Seltsamerweise. (…) Wenn wir jetzt ein Stück nehmen wie ›Die schönen Tage von Aranjuez‹ – im Grunde ist es die minimalste Konstellation, die auf der Bühne denkbar ist: Zwei Schauspieler, die auf der Bühne sitzen und sprechen, kein Ortswechsel, kein Zeitsprung, die Zeit auf der Bühne ist die reale Zeit der Begegnung, es ist eine wortgewaltige Erzählung, ein Spiel um Fragen. Wie würden Sie das Drama dieser Begegnung beschreiben? Eigentlich ist es kein Drama, sondern ein »Sommerdialog«, wie es da steht. Aber natürlich spielt schon irgendetwas mit. Es geht schon um was. Wenn Sie Drama übersetzen in das Zeitwort: Es geht um was. Es geht schon um was zwischen den beiden. Aber ich könnte es nicht sagen. Ich habe keine Hintergedanken, wie Pinter sie in seinen Stücken hatte, immer spielen da Hinteroder Untergedanken mit. Die habe ich nie gehabt. Wenn der Mann plötzlich was anderes erzählt, war ich beim Schreiben ungeheuer erleichtert, dass es nicht mehr um Erotik geht. Natürlich geht es dann weiter um Erotik, aber es wird nicht mehr so benannt. Und manchmal will er ablenken, manchmal bringt ihn, was sie erzählt, dazu, etwas anderes zu erzählen – man weiß es nicht, ist es Ablenken oder … Ein Angriff. Ein Spiel, man weiß ja nie, was kommt. Es ist im Grunde nicht »gemacht«. Jedenfalls war ich froh, dass ich vom Thema immer wieder wegkonnte. Und dann war ich auch immer wieder froh, oder es war mir recht, wenn ich wieder habe zurückkommen können zur Geschichte, zu: »Was ist das – Mann und Frau? Wie geht das?« Aber der Rhythmus hat mir entsprochen, hat dem Schreiben, der Arbeit entsprochen, oder den Sätzen, wie Sie wollen. 42 Wie wichtig ist der Ort für so ein Stück? Es ist schon wichtig, dass man den Ort spürt oder ahnt. Ich wollte ihn nicht genau beschreiben. Deswegen habe ich ja gesagt: Mehr Ahnung als Gegenwart, in Anspielung auf Joseph von Eichendorff, den Roman. Ich meine, es könnte auch hier sein, wo wir zwei jetzt sitzen. Es müssen ja keine Säulen, keine Kolonnaden sein, es muss ja nicht diese Art Südstaatenarchitektur sein. Es muss auch kein Schaukelstuhl sein wie im Film von John Ford. Aber vielleicht, nicht? Es ist ja den Schauspielern und dem Regisseur überlassen, was die wegtun und dazutun. Es ist im Grunde eine scharfe Skizze, was ich mache. Skizziert, ja. Aber ich bin andererseits auch kein Textflächenhersteller. Das ist jetzt wahrscheinlich meine altmodische Seite, dass ich schon etwas durcherzählen möchte, durchskizzieren möchte, schon Figuren andeuten möchte. Und die kann man, aber muss man ja nicht ausmalen. Man kann sie ergänzen, ein bisschen, nicht ganz ergänzen. Wobei das ein Widerspruch wäre, »ganz ergänzen«, das ist ein, wie sagt man, Pleonasmus, glaube ich. Wobei ein Theatertext doch dafür da ist, dass wir ihn aussprechen, zu einer anderen Zeit, an einem anderen Ort, als sei das Geschehen hier und jetzt. Wie könnte man dieses Ausfüllen der Figur im Spiel offenlassen? Schauspieler ergänzen die Dialoge unvermeidlich mit ihrer Haltung, ihrer Präsenz. Ja, aber dieser Dialog ist eigentlich nicht dazu da, dass man ihn ganz ausfüllt, denke ich. Ich habe zum Beispiel Immer noch Sturm von Anfang an als ein Stück geschrieben. Immer noch Sturm, »Erster Akt …«. Es heißt Tragödie, »Tragödie in fünf Akten«, weil ich irgendwann einmal bemerkt habe, dass das mit den fünf Akten eigentlich stimmt, vor allem in der französischen Tragödie. Das ist genau der Rhythmus der Tragödie: Einleitung, dann der Konflikt, dann das Austragen, dann fast eine Versöhnung im vierten Akt und im fünften Akt das Ende, die Tragödie. Das ist einfach die natürliche Abfolge. Die haben genau erkannt, wie der natürliche Verlauf der Tra- gödien ist. Zwischendurch denkt man, es ist alles wieder gut. Und dann ist überhaupt nichts gut. So habe ich das auch erzählt. Ich habe gedacht, das stimmt eigentlich, so verlaufen Tragödien, wenn sie es wirklich sind, wenn sie nicht nur traurige Geschichten sind. Ein Trauerspiel ist ja wieder was anderes als eine Tragödie. Und so habe ich das Stück auch geschrieben: Immer noch Sturm. »Tragödie in fünf Akten«, »Erster Akt …«. Und dann habe ich gedacht, das schüchtert so ein, und das ist ja auch ein bisschen ranzig, wenn man das so schreibt, nicht? Dann habe ich alles weggetan, es steht nur »1, 2, 3, 4, 5« da. Auch »Tragödie« habe ich weggetan … In der Entstehungszeit des Stückes haben Sie mir damals einmal gesagt, durchaus erstaunt über sich selbst, dass Sie gerade ein richtiges Theaterstück schreiben. Mit richtigen Dialogen und klassischem Aufbau. Die Figuren sprechen ja selbst von ihr … (…) Ja, die sprechen selbst davon, weil es die Tragödie von Leuten ist, die gegen Tragödie sind – das ist das Entscheidende des Stücks. Viele Leute, die das Stück dann gesehen oder gelesen haben, sogar der Regisseur der Uraufführung, für den ich wirklich eine Art Zuneigung empfinde, der Gotscheff, hat gemeint: Das ist kein Stück, das ist Prosa. Weil ich alles weggetan habe, was an ein gebautes Stück erinnert. Und es ist auch nicht gebaut, es ist dahinphantasiert, aber kontrolliert phantasiert. Ja, das war auch so, ich hatte das ja auch so gedacht. Ich bin wirklich zwischen, nicht zwischen zwei Stühlen, sondern ich sitze am Boden zwischen zwei Kothurnen, weil ich weder ein gut gebautes Stück schreibe, wie man das kennt, noch Textflächen. Im Grunde komme ich mir als Stückeschreiber anachronistisch vor. Das stimmt, ich sage das nicht nur daher. Das Gespräch fand im April 2012 in Berlin-Nikolassee statt. Wir drucken einen Auszug aus dem Buch ›Die Arbeit des Zuschauers. Peter Handke und das Theater‹. Hg. von Klaus Kastberger und Katharina Pektor. Salzburg: Jung und Jung/ Theatermuseum Wien, 2012, das zur gleichnamigen Ausstellung (31. Januar 2013 bis 8. Juli 2013 im Österreichischen Theatermuseum Palais Lobkowitz in Wien) erscheint. »Das schönste Stück, das Handke je geschrieben hat. Die Kraft des Theaterstücks liegt in der Sprache, im ›Tonfall‹, in der Art und Weise, wie die Menschen sprechen, streiten, sich freuen oder trauern – und wie sie sich empören, auch, wie sie gehen, dasitzen oder niederstürzen.« Der Standard, Hans Höller über ›Immer noch Sturm‹ »Man müsste die beiden nur sitzen, sprechen und träumen lassen. Und wenn sie leichthüftig, fast schwebend saßen, klar, innig und geheimnisvoll sprächen und noch besser träumten – dann ergäbe sich auf der Bühne alles von allein.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, Gerhard Stadelmaier über ›Die schönen Tage von Aranjuez‹ 43 INGRID L AUSUND Martin Heckmanns Wir sind viele und reiten ohne Pferd Was ist eine »Bewegung« und wie und wohin bewegt sie sich? Wie kommt das Ich zum Wir? Wo muss Widerstand ansetzen und mit welchen Mitteln? So könnten die Ausgangsfragen für das Stück von Martin Heckmanns lauten, in dem der Künstler Knax eine Widerstandsgruppe aus Ideologen, Nihilisten und Revolutionsromantikern einer kritischen Prüfung unterzieht auf der Suche nach neuen Orientierungen, für die es sich zu leben und zu kämpfen lohnt. Wir sind viele und reiten ohne Pferd ist ein Sprachkunststück über erste und letzte Spielräume politischer Bewegungen, ein hellsichtiger, komischer und hintergründiger Kommentar auf aktuelle Protest-Aktivitäten. (4 Darsteller) Uraufführung des Auftragswerks: 20. Mai 2012, Staatstheater Stuttgart Regie: Marc Lunghuß Martin Heckmanns, geboren am 19. Oktober 1971 in Mönchengladbach, Studium der Komparatistik, Geschichte und Philosophie. Mit Schieß doch, Kaufhaus! wurde er in der »Theater heute«-Kritikerumfrage zum Nachwuchsautor des Jahres 2002 gewählt und gewann bei den Mülheimer Theatertagen 2003 für Schieß doch, Kaufhaus! und 2004 für Kränk den Publikumspreis. 2012 wurde ihm der Margarete-SchraderPreis für Literatur der Universität Paderborn zugesprochen. Heckmanns lebt als freier Autor in Berlin. Stücke – Eine Auswahl Schieß doch, Kaufhaus! Frankfurter Fassung 5 Personen UA: 9.5.2002, TiF/Staatsschauspiel Dresden in Koproduktion mit Theaterhaus Jena, Sophiensaele Berlin und Thalia Theater Hamburg Regie: Simone Blattner Kränk 3 D, 2 H UA: 11.3.2004, Schauspiel Frankfurt Regie: Simone Blattner Einer und Eine Heckmanns’ neues Stück Einer und Eine ist eine moderne Liebesgeschichte mit Hindernissen, die mit einer Zufallsbegegnung in einem Supermarkt beginnt. Zwei junge, frühverschrobene Geisteswissenschaftler in prekären Beschäftigungsverhältnissen verlieben sich wider besseres Wissen ineinander und locken einander aus der Reserve. Und trotz aller entmutigenden Erfahrungen und Rückschläge, gegen überkommene Vorstellungen von Glück und Beziehung und ihre Scheu überwindend erobern sich die beiden eine besondere Zweisamkeit – jedenfalls für Momente. Sprache steht dabei im Weg und muss durchkämpft werden. Zwei neunmalkluge Dämonen, die sich in der Bewertung des Geschehens nicht immer einig sind, mischen dabei als Glücksspielmacher kräftig mit, setzen das Paar immer wieder unter Außenweltdruck. Auch in seinem neuen, komischen und doppelbödigen Stück befragt Martin Heckmanns das Verhältnis zwischen privaten und kollektiven Glücksansprüchen. (2 D, 2 H) Uraufführung des Auftragswerks: 15. November 2012, Nationaltheater Mannheim Regie: Dominic Friedel Das wundervolle Zwischending 1 D, 2 H UA: 10.2.2005, Niedersächsisches Staatstheater Hannover Regie: Charlotte Roos Wörter und Körper 4 D, 7 H UA: 10.2.2007, Staatstheater Stuttgart Regie: Hasko Weber Kommt ein Mann zur Welt Mindestens 2 D, 3 H UA: 24.3.2007, Düsseldorfer Schauspielhaus Regie: Rafael Sanchez Vater Mutter Geisterbahn 1 D, 2 H UA: 6.5.2011, Staatsschauspiel Dresden Regie: Christoph Frick Jakob: Jetzt ist es eh zu spät für einen Beweis meiner Schlagfertigkeit. Ich sage besser nichts. Grete: Jetzt sagt er nichts. Das finde ich interessant. Er kann die Stille aushalten. Das ist mir wichtig. (aus: Einer und Eine) 44 Foto: Karoline Bofinger 45 MARTIN HECKMANNS Gegen die eigene Gemütlichkeit vorgehen Martin Heckmanns im Gespräch mit Beate Seidel Beate Seidel: Dein Stück beschäftigt sich mit einer der Widerstandsbewegungen des letzten Jahres, genauer der »Occupy«-Bewegung. Was interessiert dich daran? Martin Heckmanns: Allein das Wort Bewegung hat schon einen Sog, dass ich gerne dabei wär. Und im Anschluss sofort die Frage, wie eine Bewegung organisiert sein müsste, dass man sich ihr anschließt oder besser noch unterwirft, damit man wegkommt von seinen Privatproblemen und sich bewegen lässt von Fragen, die nicht immer nur das eigene Wohlbefinden betreffen. Ich finde auch die Selbstermächtigung der Sprecher bei Protest-Zusammenkünften interessant, für andere sprechen zu wollen, ohne den offiziellen Jargon zu beherrschen, und die Suche nach alternativen Ausdrucksformen. Da ist das Stück auch ganz schlicht eine Solidaritätsadresse. Denn darum geht es ja bei »Occupy« erst einmal, eine wachsende Öffentlichkeit herzustellen, die sich traut, neu und unfertig über diese großen Fragen nach Gleichheit und Gerechtigkeit nachzudenken. Ich fände es falsch, wenn sich das Theater als Versammlungsort nicht auch davon bewegen ließe. Worin liegt für dich in Betrachtung des stattfindenden Diskurses das dramatische, das bühnentaugliche Potential? Sitzen und miteinander reden sind ja erst einmal keine herausragend dramatischen Vorgänge. Das kann man gut sehen angesichts der Zeltlager in Frankfurt zum Beispiel. Aber demokratische Willensbildung ist wahrscheinlich immer weniger dramatisch als Königskämpfe. Das heißt ja nicht, dass man nur noch Familiendramen schreiben sollte oder Märchen vom bösen 46 König und vom armen Tropf. Es geht bei »Occupy« um die Besetzung öffentlicher Räume, und im Stück wird der öffentliche Raum Theater besetzt. Und es kommt die Frage auf, was das Theater leisten kann in diesen Debatten oder ob Kunst vielleicht eher stört in diesem Zusammenhang. Und dass auch noch der Widerstand gegen die Kunst in diesem Raum immer Kunst bleibt. Das ist ja ein alter Horror, dass Kunst so gerne Leben wäre oder Politik und doch immer Kunst bleibt. Oder die Wechselwirkungen zumindest unscharf bleiben. Und dann wird natürlich jeder, der in der Öffentlichkeit das Wort ergreift, zum Darsteller. Und wie sich ein Miteinander entwickelt aus diesen Einzeldarstellungen und wie dieses Miteinander aussehen könnte und wann sich Zuschauer eingeladen fühlen, das finde ich dann wiederum doch bühnenrelevante Fragen. Was leider fehlt für den dramatischen Konflikt, ist der eindeutig identifizierbare Gegenspieler der Bewegung. Das führt im Stück zu den Selbstzerstörungsprozessen, die ja auch recht häufig sind in Protestbewegungen und Künstlergruppen, wenn der Feind sich nicht wehrt oder sich nicht einmal angesprochen fühlt. Es gibt verschiedene Positionen in deinem Stück, ganz vereinfacht gesagt, stößt zum Chefideologen, der Widerstandsromantikerin und dem Sophistiker der »kritische Intellektuelle«, der die »Widerstandszelle« einer Prüfung in eigener Sache unterzieht. Gibt es eine Position, der du dich am nächsten fühlst? Mich interessiert eigentlich am meisten das Wir in dem Stück. Und auch die Protagonisten wehren sich ja immer wieder gegen ihre Typisierung und ihren Selbstoptimierungszwang. Das scheint mir für gegenwärtige Bewegungen auch eine zentrale Schwierigkeit, wie bei fortschreitender Individualisierung noch ein kraftvolles Miteinander entstehen kann, das PiratenPartei-Problem. Im Stück gibt es deshalb diese Suche nach Slogans und Ritualen und nach Formen, in denen ein Gefühl der Zusammengehörigkeit entsteht: singen, gemeinsam schweigen oder streiken. Spielen, als täte man nichts. Oder die Poesie als eine offene Form der gemeinsamen Suche nach einer lebendigen Sprache. Auch wenn damit vielleicht kein Staat zu machen ist. Gibt es deiner Ansicht nach gemeinsame Potentiale in den verschiedenen Bewegungen, die in den letzten Jahren an den Fugen der bestehenden Weltordnung gerüttelt, sie manchmal sogar verändert haben? Und worin liegen für dich die Unterschiede? Ich habe vor ziemlich genau zehn Jahren ein Stück über »Attac« geschrieben, und beim Wiederlesen war ich erstaunt, wie viele der damaligen Positionen sich heute bei »Occupy« wiederfinden lassen bis hin zu konkreten Forderungen wie der Transaktionssteuer. Auch diese Auseinandersetzungen und Abstufungen der Radikalität innerhalb der Bewegungen zwischen Reformern bis Anarchisten kehren in Variationen immer wieder, habe ich den Eindruck. Und dabei auch die Frage, wie stark man selbst involviert ist in das, was man gerade zu bekämpfen glaubt. Die Unterschiede in den Bewegungen liegen sicher in der persönlichen Betroffenheit. Globalisierung oder Finanzkrise betreffen den Bundesbürger anders als einen autoritären Herrscher der arabische Frühling. Das macht die Widersprüche hier abstrakter und die Bewegungen heterogener und auch kraftloser wahrscheinlich. Welche Rolle spielen solch prononciert politische Themen für dich beim Schreiben? Es kostet mich erst einmal Überwindung, Worte wie Transaktionssteuer oder Leerverkauf zu verwenden. Da geht es mir wie den Protagonisten im Stück oder denen der Bewegung, die ja auch zum größeren Teil eine geisteswissenschaftliche Herkunft haben. Aber ich finde es hier wie dort richtig, gegen die eigene Gemütlichkeit vorzugehen. So wie ich es richtig finde, dass das Schreiben sich schmutzig macht und zu seiner Unzulänglichkeit und Unfertigkeit steht in der Auseinandersetzung mit ökonomischen Prozessen, die ja selbst den Handelnden in diesen Prozessen ständig über den Kopf wachsen. Wenn es um Aufbruch gehen soll, muss auch der Text aufbrechen, und da kann ein Theaterstück nur Fragment werden, aber das Fragment ist ja immer auch Aufforderung, dass jeder weiter dran werkeln kann. Insofern bin ich der Dramaturgie hier in Stuttgart dankbar, auf das Thema gebracht worden zu sein, weil es das Schreiben zwingt, sich zu öffnen und sich auch wieder der Frage zu stellen, welche Hoffnungen denn überhaupt mit dem Theater oder der Literatur verbunden sind, die über Unterhaltung hinausgehen. Abdruck des gekürzten Interviews mit freundlicher Genehmigung des Schauspiel Stuttgart 47 Wolfram Höll Und dann Die Spur des Verschwindens Ewald Palmetshofer über ›Und dann‹ von Wolfram Höll »Vier Plattenbauten / drei Verlierlinge / zwei Kinder / ein Vater«, so könnte das Inventar aussehen dieses außergewöhnlichen Theatertextes. Es ist ein Rückblick auf eine Kindheit in einem ostdeutschen Neubaugebiet, der um Verlusterfahrungen kreist: den Verlust der Mutter, eines Landes, einer sozialen Rolle. Hölls Sprache ist lyrisch, rhythmisiert, und in seinem Sprachfluss ist eine Erzählung eingebettet, die durch die Perspektive des kindlichen Erzählers gekennzeichnet ist. Der Junge versucht, Begriffe erfindend, die Phänomene seiner Umgebung sprachlich zu fassen: Das Funkgerät des Vaters, die Plattenbauten und die Hausfassade gegenüber, an die der Vater Filme projiziert und so die Erinnerung an die Mutter lebendig hält; bis der älteste Sohn eine Entscheidung trifft. (Besetzung variabel) Jede Löschung hinterlässt eine Spur. Auf einer rein materiellen, phänomenalen Ebene ist dies vielleicht die wesentlichste Eigenart der mechanischen Schreibmaschine im Gegensatz zur elektronischen Textverarbeitung. Es gibt keine Löschtaste. Dass Wolfram Hölls Theatertext »UND DANN« typographisch eine Schreibmaschine zitiert – und zwar mit all ihren Unregelmäßigkeiten, den verrutschten Buchstaben, der variierenden Anschlagstärke, unterschiedlichen Wortabständen und ebendiesen Spuren der Löschung, den Mehrfachüberschreibungen –, ist auf der Ebene seines materiellen Erscheinens die zwingende Konsequenz dessen, dem sich der Text inhaltlich verpflichtet weiß: der Spur des Verschwindens. Ein Kind spricht. Es spricht von den Häusern, den Betonhäusern, den Steinen am Spielplatz – von Gletschern gebracht, vom Vater, von der Mutter, es spricht von Ausflügen in die Stadt, den Paraden, der Erinnerung an die Paraden, erinnert sich der Erinnerung. Das Kind spricht. Und die Spur einer Abwesenheit, eines Verlusts durchzieht das Sprechen – anfangs noch völlig namenlos, eine anonyme Ahnung. Diese Spur des Verlusts, der Unwiederbringlichkeit streift umher, irrt als immaterielles, fast spukhaftes Phänomen, tonloses Echo durch Hölls Text, ohne je zu einem Ding, einem Etwas, zu einem Objekt der Anschauung zu werden. Fehlen, Vermissen, Verlust und Tod sind nur indirekt als Störung, Fehler oder Irritation anwesend/abwesend. Sie beugen den Text, das Sprechen, ohne sich ihn ihm je zu spiegeln, ohne je als Gegenwart anzukommen. Als Foto: Agentur Standard Frei zur Uraufführung 48 Wolfram Höll, 1986 in Leipzig geboren, lebt in Bern. Nach dem Bachelor in Literarischem Schreiben am Schweizerischen Literaturinstitut Biel schließt er derzeit den Master in Scenic Arts Practice an der Hochschule der Künste Bern ab. Und dann wurde eingeladen zum Heidelberger Stückemarkt 2012 sowie zum Berliner Stückemarkt 2012. Höll erhielt in Heidelberg den Nachwuchspreis des Freundeskreises des Theaters Heidelberg und den Preis »Theatertext als Hörspiel« in Kooperation mit Deutschlandradio Kultur des Berliner Stückemarktes. stumme Spur liegen sie vielleicht am ehesten in den Zeilenumbrüchen, den Wortschöpfungen, vielleicht im Tippfehler, vielleicht in der Wiederholung, vielleicht im Spiel der Zahlen. Das Kind spricht, es erzählt und zählt die Plattenbauten, die großen Steine am Spielplatz, die Stockwerke und Klingelknöpfe, und ehe man sich’s versieht, ist man gefangen in einer Arithmetik des Verlustes, macht einen die Zahl traurig, verweist eine Drei immer auf die Vier, die leider nicht ist, und leidet die Zwei an der Drei, am Fehlen der Eins. Das Kind zählt, und kein Abzählreim ist zur Hand, der die Abwesenheit ungeschehen machen und das Verlorene zurückholen könnte, weil auch der Kinderreim an der Grenze des »... und raus bist du« endet. Selten hat mich ein Text so traurig berührt und in seiner klugen Zartheit so froh gemacht. Hölls »UND DANN« ist ein Text über das Erinnern – »Erinnern« im Sinne einer schwachen Kategorie, nicht als Habhaftwerden des Vermissten, moralische Aktivität, Verschleierung des Verlusts oder melancholisches Verweilen, sondern »Erinnern« als Spur des Todes im Leben: Das Du ist vom Sein ins Erinnert-Sein übergegangen. Der geliebte Mensch ist nicht mehr, und dann, dann ist der geliebte Mensch nichts anderes mehr als Erinnerung. In dieser Kluft, in diesem »UND DANN«, operiert Hölls Text. Und er tut dies mit beeindruckender sprachlicher Feinheit, mit Diskretion und wunderbarem Willen zur Form. Auszug aus einem Originalbeitrag für den Theatertreffen-Stückemarkt 2012 »Selten hat mich ein Text so traurig berührt und in seiner klugen Zartheit so froh gemacht«. Ewald Palmetshofer über ›Und dann‹ 49 Stephan Kaluza Weil ich es kann 3D Monolog für eine Darstellerin »Ist er schon gekommen?« In Erwartung, auf der Probebühne, die Operndiva, das Theatertier, schon mit siebzehn die erste Rolle, die Kundry in Bayreuth, in New York Salomé, als Norma in Mexico City, der Applaus in Petersburg und, und, und. Und jetzt wartet sie auf den Intendanten. Aber warum ist da Publikum, überhaupt, das Publikum, diese bildungsbeflissenen Bürger, was wissen die schon von der Kunst, dem Künstler, der Kunst des hohen C, einmal das hohe C, bitte schön. »Es geht ja nur um diesen einen Moment, in dem alles klappen muss, alles! Das zeichnet einen Profi aus, dass er das kann, dass er gut ist, wenns eben drauf ankommt.« Aber die Stimme versagt und der Intendant kommt nicht und die Geschichten der Diva sind irgendwie merkwürdig, nicht stimmig. Verletzungen werden sichtbar, etwas Bedrohliches mischt sich in die Situation, und sind wir wirklich in einem Theater und ringt hier wirklich eine große Künstlerin, eine hadernde Primadonna mit ihrem Seelenstriptease um ihre Künstlerexistenz? Eine große Rolle für eine Schauspielerin, ein Blick nicht hinter, sondern direkt mitten in die Kulissen und auf »die Bretter, die die Welt bedeuten«. (1 D) Frei zur Uraufführung Dass Menschen wie ich für Sie singen? Damit Sie sich an meinen Fähigkeiten erfreuen können, nur weil Sie es selbst nicht können? Und: dass ich singe, singen darf, weil die Kultur es mir erlaubt?, weil ich ja sonst einem anständigen Beruf nachgehen müsste, so einem wie dem Ihrigen; Sie Ärzte, Sie Anwälte, Sie Geschäftsmänner, Sie Banker, Sie Ingenieure, Sie Manager Ihrer eigenen Zweckmäßigkeit für andere, wie dumm Sie doch sind. Aber ich könnte Ihnen ja verzeihen, dass Sie etwas Sinnvolles, Nützliches tun, wenn Sie es nur nicht derart bewundern würden. Ihr Wohlwollen ist mein Heil, so darf ich mich entwickeln, eine gute Künstlerin werden, mich verfeinern, weil Sie es mir väterlich ermöglichen und mir mütterlich übers Haar streichen – aus purem Eigennutz. Möchte man doch denken. (aus: Weil ich es kann) Clara ist tot. Traurig macht das ihren Vater Albert schon, aber er findet, auch, weil seine Frau Bette endlich wieder aufgetaucht ist, dass es nun an der Zeit ist für einen Neuanfang. Darauf hat er 20 Jahre lang gewartet, seit sie damals einfach mit der gemeinsamen Tochter nach Amerika verschwand. Und auch Bette möchte mit der Vergangenheit aufräumen. Allerdings nicht so, wie Albert sich das vorgestellt hat. Die Realität, mit der sie ihn konfrontiert, ist das hässliche Gegenteil seiner Erinnerung an sich selbst als liebenden Vater. Bettes eigenes Geheimnis schließlich, das mit Claras Tod zusammenhängt, beleuchtet den Familienhorror aus einer dritten Perspektive. Stephan Kaluza bringt den Zuschauer dazu, immer wieder die Seiten zu wechseln, bis er am Ende gar nicht mehr weiß, zu wem er halten soll. (1 D, 1 H) Uraufführung: 26. Oktober 2012, Staatstheater Stuttgart Regie: Stephan Kimmig »Der Titel des Koversationsstücks verweist auf dessen formalen Reiz. Lustvoll wechselt der Autor, der auch ein renommierter Fotokünstler ist, die Perspektiven. Bild für Bild legt er die Tragödie einer Familie bloß. Sein Weitblick sperrt sich gegen Klischees.« Esslinger Zeitung, Elisabeth Maier »Wenn Kimmig das inszeniert, wird daraus etwas, das es in Deutschland und insbesondere in deutschen Dramaturgien nicht geben darf: Ein sauber geschriebenes, intelligentes, packendes Konversationsdrama. Achtung: Hier gibt es realistische, psychologisch durchgearbeitete Personen, die doch tatsächlich so sprechen, wie Menschen sprechen.« Frankfurter Rundschau, Peter Michalzik Stephan Kaluza studierte Kunst und Kunstgeschichte. Anschließend ergänzte er diese Studien an der Philosophischen Fakultät, Düsseldorf. Er lebt heute in Düsseldorf. Der Autor ist sowohl im Bereich der bildenden Kunst als auch in der Literatur tätig. In seinen Bildstücken inszeniert er Theaterstücke und Performances zu stillstehenden, simultan erlebbaren Bildern; u.a. wurden diese Interpretationen des Narrativen im Zendai Museum of Modern Art, Shanghai, im State contemporary Museum of Art, Seoul, im Museum of the Seam, Jerusalem, und im Künstlerhaus Bethanien, Berlin, ausgestellt. Atlantic Zero wurde im Mai 2010 am Düsseldorfer Schauspielhaus uraufgeführt. 50 51 INGRID L AUSUND Fritz Krenn Karl und Aloisia Krasser Fritz Krenn wurde 1958 im österreichischen Goldes, einem Landstrich im Süden der Steiermark, geboren. 1992 bekam er das 3sat-Stipendium des Ingeborg-Bachmann-Wettbewerbs zugesprochen. Der Autor zahlreicher Theaterstücke und Romane lebt und arbeitet in Graz. Karl Krasser ist ein älterer Herr, der anlässlich einer unangemeldeten Kontrolle seiner Kapitalanlagen im Tresorraum seiner Hausbank und in Begleitung seines ihm seit Jahrzehnten vertrauten Bankangestellten Hafner eine Lebensbilanz zieht. »Grauenvoll, diese Ersparnisse.« Akribisch beäugt Krasser die Öffnung der verschiedensten Schatullen, an jeder einzelnen von ihnen hängen Erinnerungen, gute wie schlechte. Krasser hat finanziell vorgesorgt, auch für seine Kinder. Doch der Haussegen hängt schon länger schief. Zerrüttungen werden angedeutet. Der Kassensturz wird zum Anlass dafür, dass Alois Krasser die Safekammern seines Herzens öffnet. Ganz allmählich zeigt sich ein großer Liebender, ein sensibler wie penibler Buchhalter von Verletzungen, ein Ingenieur mit Künstlerseele, ein bürgerlicher Lear mit großem Herzen. Sein Gegenpart ist der extrem wortkarge Kassierer Hafner. Fritz Krenns Stück bietet große Rollen für zwei reife Schauspieler. Eine tiefgründige und warmherzige Seelenauslotung – und ein Stück über ein großes Generationenproblem. (2 H, 1 D) Frei zur Uraufführung Hafner: Ich verstehe Ihre Frage nicht! Krasser: Die Einsamkeit, wie teuer ist die Einsamkeit? Kommt nie ein Kunde zu Ihnen und sagt: Geben Sie mir von meinem Sparbuch oder von meinem Konto eine bestimmte Summe, ich bin drauf und dran, mir die Sehnsucht zu kaufen oder mir den Hass, oder die Hinterlist, die Entzückung zu kaufen, eben eine Erfüllung. Ist Einsamkeit nicht auch ein begehrtes Gut? (aus: Karl und Aloisia Krasser) 52 53 INGRID L AUSUND Konstantin Küspert mensch maschine Diese Wissenschaftler gehen über Leichen. Jupiter, Ernö und Pasar dringen in ein Haus ein, entführen einen Mann, ER, und separieren, in einem provisorischen OP-Saal, sein Gehirn. Angeschlossen an eine Maschine wird ER weiterleben, und seine Umwelt ist fortan computergeneriert. Darauf haben die Wissenschaftler jahrelang hingearbeitet. Ihre Forschung ist ein Tasten nach dem ewigen Leben des Menschen. Oder zumindest nach lebensverlängernden Maßnahmen. Doch da ist noch SIE. Es war nicht geplant, dass diese Frau in der Nacht der Entführung neben ER liegen sollte. Und jetzt wird SIE zum Problem. Und dem ambitionierten Projekt geht das Geld aus. Die Kunden, die diese Idee kaufen sollen, zögern noch. Währenddessen wacht ER auf, und sein neues Leben beginnt. mensch maschine erzählt von den Machenschaften dreier egomanischer Wissenschaftler, die den Menschen in Zahlen, Fakten und abstrakte Fachbegriffe zerlegen. Küsperts Stück ist zu komisch und zynisch, um als Thriller durchzugehen, Küsperts bemerkenswerte Sprache bewegt sich entlang einer wissenschaftlichen Sprache, die ad absurdum getrieben wird. »Ein Glücksfall für die Stückauswahl der Autorenlounge«, schrieb das Hamburger Stadtmagazin anlässlich der Präsentation von mensch maschine bei »Kaltstart Hamburg« im Juni 2012. (Besetzung variabel) Frei zur Uraufführung Konstantin Küspert wurde 1982 in Regensburg geboren. Seit dem Studium der Germanistik, Philosophie, Politikwissenschaft und Theaterwissenschaft in Regensburg und Wien zahlreiche Theaterprojekte mit Claudia Bosse und Produktionen u.a. am Germanistentheater der Universität Regensburg, am Staatstheater Karlsruhe oder am HAU Berlin. Seit 2010 studiert Küspert an der Berliner Universität der Künste Szenisches Schreiben. »wir sind eine gruppe hochspezialisierter wissenschaftler – neurologen, neurochirurgen, anästhesisten, computerlinguisten, ITdesigner – und wir brechen in dein haus ein. der elektromotor ist fast nicht zu hören, während er die stifte in deinem türschloss in die richtige position vibriert. die tür ist auf, wir sind drin. laut unserer recherche liegt dein schlafzimmer im ersten stock.« (aus: mensch maschine) 54 Foto: Susanne Schleyer 55 INGRID L AUSUND Ingrid Lausund Tür auf, Tür zu Für Anneliz lief alles gut. Doch von einem Moment zum andern ist die Tür, durch die sie täglich ein und aus ging, für sie verschlossen. Auf der Suche nach einer Erklärung beginnt für sie eine emotionale Achterbahnfahrt aus Panik, Wut und Selbstzweifel. Mit dieser Frau, einer sprechenden Tür und einem Chor, dem aufgrund von Sparmaßnahmen gekündigt wurde und der durch eine 400-EuroAushilfskraft ersetzt werden musste, erzählt Ingrid Lausund ein Drama vom Drinsein, Draußensein, Dabeisein-Wollen. Ein kafkaeskes Szenario und eine musikalische und zugleich brüchige, von Fragmenten und aberwitzigen Ritualen durchzogene Sprache erzählen von der Willkür des Ausgeschlossenseins. Uraufführung: 24. November 2011, Theater Duisburg Regie: Ingrid Lausund Anneliz: Auf keinen Fall, um keinen Preis sollte man irgendjemand in den Arsch kriechen. (Pause) Wenn man aber in der Situation ist, in der das der einzige Ausweg ist, sollte man es immer noch nicht tun. (Pause.) Für den Fall, dass man sich entscheidet, es trotzdem zu tun, muss man sich darüber klar sein, dass die Selbstachtung dabei Schaden nehmen kann. (Pause.) Deshalb ist es sinnvoll, die Selbstachtung vorher abzulegen und sie erst zu einem späteren Zeitpunkt wieder in die eigene Persönlichkeit zu integrieren. (Pause.) Man sollte sich klarmachen, dass man sich dazu freiwillig entschieden hat, und das Ganze als eine flexible Problemlösungsstrategie betrachten. (Pause.) Man sollte unbedingt sicherstellen, dass man in den richtigen Arsch kriecht. (Pause.) Wenn man es dann tut, sollte man es konsequent, schamlos und effektiv tun. (Pause.) Den Rest des Tages sollte man sich frei nehmen. (aus: Tür auf, Tür zu) Ingrid Lausund, geboren in Ingolstadt, ist nach ihrem Schauspielund Regiestudium an der Gründung des Theaters Ravensburg beteiligt. 1999 Gastprofessur am Mozarteum in Salzburg. 2000 bis 2004 Hausautorin- und -regisseurin am Deutschen Schauspielhaus Hamburg, parallel inszeniert sie am Schauspiel Köln. Seit 2004 freie Autorin und Regisseurin. Gründung der Theaterproduktionsgesellschaft lausundproductions. Ingrid Lausund lebt in Berlin. Stücke – Eine Auswahl Hoimwärts nach Amerika 1 D, 2 H UA: 1998 am Theater Ravensburg Regie: Ingrid Lausund Hysterikon 3 D, 4 H UA: 25.3.2001, Deutsches Schauspielhaus Hamburg Regie: Ingrid Lausund Bandscheibenvorfall – Ein Abend für Leute mit Haltungsschäden 2 D, 3 H UA: 6.4.2002, Deutsches Schauspielhaus Hamburg Regie: Ingrid Lausund Konfetti! – Ein Zauberabend für politisch Verwirrte 2 D, 3 H UA: 14.2.2003, Deutsches Schauspielhaus Hamburg Regie: Ingrid Lausund Der Weg zum Glück 1H UA: 12.6.2004, Deutsches Schauspielhaus Hamburg Regie: Ingrid Lausund Benefiz – Jeder rettet einen Afrikaner 2 D, 3 H UA: 20.9.2009, Schauspielhaus Salzburg Regie: Ingrid Lausund Tür auf, Tür zu 1 D, 2 H UA: 24.11.2011, Theater Duisburg Regie: Ingrid Lausund Zeit – Die erschöpfte Schnecke wirft ihr Haus weg und flippt richtig aus 3 D, 2 H UA: 29.4.2012, Hamburger Kammerspiele (Koproduktion mit dem Theater Duisburg und lausundproductions) Regie: Ingrid Lausund 56 Foto: Oliver Bokern 57 INGRID LAUSUND »Selbstverantwortung – bis ins absurdeste Extrem« Ingrid Lausund im Gespräch Frank Kroll: Du hast gerade an den Hamburger Kammerspielen eine neue Inszenierung mit dem gleichermaßen knappen wie einprägsamen Titel ›Zeit – Die erschöpfte Schnecke wirft ihr Haus weg und flippt richtig aus‹ herausgebracht. Es geht um das Getriebensein in unserer Zeit, um den Stress, in dem wir leben, um Ausbruchsversuche und das Scheitern daran. Es ist ein wunderbarer Abend geworden, eine sehr musikalische Arbeit, finde ich, mit einem sehr eigenen Rhythmus. Vermutlich wird das Stück, anders als deine anderen, nicht nachinszeniert werden können. Ingrid Lausund: Es ist eine Textchoreographie, die sich so genau auf den Raum bezieht und auf die Bewegung, dass ich mir tatsächlich auch nicht vorstellen kann, wie man den Text davon lösen könnte. In einer Art und Weise, dass er dann noch Sinn macht. Lassen wir uns überraschen. Der Text ist auch in einer besonderen Weise, fast tabellarisch, notiert. Der Abend ist eine wahnsinnig genau gesetzte Choreographie, die Schauspieler sind permanent in Bewegung und haben jeweils nur Sekunden, um ihre Texte und neue Situationen und Haltungen zu setzen. Ich würde gern auf deine besondere Arbeitsweise kommen. Du arbeitest als Autorin und regelmäßig gleichzeitig auch als Uraufführungs-Regisseurin deiner Stücke. Wie beispielsweise Pollesch, Kater/Petras und andere auch. Wie geht das für dich zusammen bzw. – was ja vermutlich die größere Schwierigkeit bedeutet – wie hältst du beide Welten auseinander? Ist das nicht unendlich anstrengend, beide Berufe parallel auszuüben? Es ist ja nicht so, dass du deine Stücke mit den Schauspielern zusammen erarbeitest. Du bist ja tatsächlich beides: Vollzeit-Autorin und Vollzeit-Regisseurin. Wie kriegst du das unter einen Hut? (Lausund lacht.) Wie viele Zigaretten bedeutet das pro Tag? 58 Zu viele. Das war ja auch ein Grund, lausundproductions zu gründen. Wir sind ständig dabei zu gucken: Wie kann man Strukturen bauen, mit denen das besser unter einen Hut zu bringen ist. Tagsüber proben und nachts schreiben, das ist auf Dauer nicht so gesund. Wie geht das zusammen? Künstlerisch geht das total gut zusammen. Ich kann Sachen schreiben und, bevor ich mich völlig in etwas reinverkopfe, das alles mit Schauspielern ausprobieren. Ich kann Ideen sofort sehen, ohne dass ich sie komplett ausformulieren muss. Ich kann sofort sehen, ob das auf der Bühne überhaupt funktioniert. Etwas ausprobieren und entwickeln und probieren, das geht unheimlich gut zusammen. Aber zeitlich und gesundheitlich – geht’s eher nicht. Was ist lausundproductions und was hat euch dazu bewogen, diese compagnie zu gründen? lausundproductions ist ein Unternehmen, das ich mit meiner Bühnenbildnerin Bea von Pilgrim zusammen gegründet habe und das sehr eng mit dem Büro 313 hier in Berlin zusammenarbeitet. Das ist also eine Produktionsgesellschaft, um selbständig produzieren zu können – mit Koproduktionspartnern zusammen. Beispielsweise dem Theater Duisburg oder den Hamburger Kammerspielen. Das ist kein ideologisches Statement gegen das Stadttheatersystem, wir koproduzieren mit Stadttheatern. Wir haben nach der Zeit in Hamburg und Köln diese Struktur gefunden, um weiter Projekte miteinander zu entwickeln, und bauen jetzt das Netzwerk aus. Ich würde gern auf deine Stücke zurückkommen, in einem allgemeineren Sinn. Deine Figuren leiden an den gesellschaftlichen Verhältnissen und suchen doch die Lösungen für ihre Probleme immer nur in sich selbst. Sie versuchen sich zu optimieren, sie unterwerfen sich dem radikalsten Ego-Tuning bis hin zur freiwilligen Gehirnwäsche. Meine Figuren sind reflektierte Figuren, sie haben ein Bewusstsein über sich, ein Bewusstsein über Kompliziertheiten. Die haben auch ein Gefühl für Peinlichkeit und so eine Grundscham in sich. Ich glaube, dass die Komik, die man meinen Texten unterstellt, auch nur dann funktionieren kann, wenn man die Figuren in diesem Sinne ernst nimmt. Das sind sehr erwachsene Figuren, die ein klares Bewusstsein darüber haben, was sie gerade sagen. Dass die Figuren alle Antworten in sich selber suchen, hat etwas damit zu tun, dass es mir um zeitgenössisches Theater geht. Die großen Heils- und Glaubenssysteme sind ja weggefallen. Die ganz normale Grundforderung an jeden ist: Du bist für dein Glück selber verantwortlich. Jeder kann es schaffen. Eine Selbstverantwortung, die heute bis ins absurdeste Extrem gefordert ist. Du stellst uns als Zeitgenossen mit deinen Stücken eigentlich eine bittere Diagnose aus: Wir verfügen über ein extrem verfeinertes Instrumentarium an Selbstdiagnosemöglichkeiten, gleichzeitig scheitern schon kleinste Versuche, aus unseren Routinen auszubrechen. Das mit der bitteren Diagnose – das weiß ich gar nicht so sehr. Jedes meiner Stücke beschäftigt sich mit Menschen, die um etwas kämpfen. Aber das ist ja eigentlich nur das Wesen vom Drama (Lacht.). Wenn ich überlege, wie meine Stücke aufhören, finde ich eigentlich nicht, dass die Figuren verbittert sind. Das meinte ich auch nicht. Aber der gesellschaftliche Befund ist doch ein bitterer. Die Figuren hadern mit sich, geben sich nicht zufrieden, sind dabei ganz auf sich zurückgeworfen. Weit vor jeder Solidarisierung, vor jeder Möglichkeit, größere Veränderungen anzustoßen, weil sie so sehr mit sich beschäftigt bleiben. Ich sehs eher so, dass die einfach zu erwachsen sind, um sich in ein wasserdichtes Glaubenssystem zu begeben, dass es trotz aller Einsamkeiten, Peinlichkeiten und Kaputtheiten immer auch ein Trotzdem gibt. Gerade wenn ich an die Enden meiner Stücke denke. Benefiz: Es reichen 51 Prozent für eine Entscheidung, es müssen nicht 100 Prozent sein. Tür auf, Tür zu: Jetzt konzentrier ich mich mal auf mich, auch wenn alle Türen zugehen. Konfetti: Ganz viele gute Nachrichten zum Schluss. Ich sehe das gar nicht so hoffnungslos (Lacht.), aber natürlich gibt es auch keine Lösung in dem Sinne, dass jemand erschüttert wird und am Ende weiß, wo es langgeht. Aber es gibt ja auch, bis jetzt jedenfalls, keine Hauptfiguren in meinen Stücken. Dieses Trotzdem, das heißt ja Aufbegehren und Empörung. Gerade scheinen sich gesellschaftliche Bewegungen neu zu formieren. Interessiert dich das, verfolgst du das? Spielt das für dich eine Rolle? Siehst du deine Theaterarbeit auch in einem weiteren politischen Zusammenhang? Also so was wie Occupy? – Ich verfolge das. (Lange Pause.) Wenn ich etwas über Occupy schreiben würde, dann würde ich auch versuchen zu beschreiben, dass das Große und das Kleine zusammengehört, dass es um Leute geht, die auf einer Seite mit ihrem persönlichen Einsatz gesellschaftliche Veränderungen suchen, und dass diese Leute gleichzeitig ein Bewusstsein dafür haben, dass das T-Shirt, das sie anhaben, gut ausschaut. Wenn sie auf eine Demo gehen, wissen sie, was gut aussieht. Mich interessiert beides, der große pathetische Impuls und die anderen, kleinen, fiesen, egoistischen Impulse, die einfach immer dabei sind. Wir haben uns 2001 nach der Uraufführung von ›Hysterikon‹ kennengelernt. Wir hatten damals so eine gemeinsame Ahnung, die aus meiner Sicht weit übertroffen wurde. Worauf führst du den anhaltenden Erfolg deiner Stücke mit inzwischen weit über 100 Inszenierungen – nicht nur hierzulande – zurück? Könnte das etwas damit zu tun haben, dass du mit deinen Stücken eine Zeitstimmung triffst? Das weiß ich nicht. Irgendwas triffts wohl. Aber das kann man nicht wissen, wenn man schreibt. Den Nährwert bestimmen andere. Die Wirkung ist ja ein ganz eigenes Phänomen, was nichts damit zu tun hat, wie viel Arbeit man in etwas gesteckt hat. Ich glaube, die Stücke sind anfassbar genug, dass verschiedenste Regiekonzepte aufgehen können. Wenn man die Figuren ernst nimmt. Man muss Kruse nicht immer die Doofmütze aufsetzen. (Lacht.) INTER VIEW 59 INGRID L AUSUND Cesare Lievi Himmel Originaltitel: Cielo Deutsch von Annette Hunscha de Cordero Es soll ein Sinnbild sein, ein Zeichen für das neue Leben, das für den ehemaligen Professor und zukünftigen Pensionär mit 70 Jahren anbricht: Seine erste Pension holt er sich eigenständig von der Post ab. Den Kaffee in seiner Lieblingsbar trinkt der linke Intellektuelle und Bonvivant im Einklang mit der Welt. Es ist ein schöner Tag und da soll selbst der Stadtstreicher, den alle ›Himmel‹ nennen, sein Gast sein. Doch damit nimmt die Katastrophe ihren Lauf. Der Gast ist kein landläufiger Stadtstreicher, sondern ein Eindringling, der nichts mehr zu verlieren hat. (2 D, 2 H) Cesare Lievi wurde 1952 in Gargnano am Gardasee geboren. Der Regisseur und Autor promovierte in Philosophie mit einer Arbeit über »Trotzki und den Surrealismus«. Er gilt als einer der großen Poeten des Theaters. Erste Erfolge feierte er durch seine Schauspielinszenierungen (u. a. am Schauspiel Frankfurt, an der Schaubühne Berlin, dem Burgtheater Wien oder dem Thalia Theater Hamburg), bevor auch die Oper zu seiner zweiten Heimat wurde. So inszenierte er u.a. an der Metropolitan Opera New York und regelmäßig an der Mailänder Scala und der Oper Zürich. Mit seinen Stücken Fotografie eines Raums und Fremde im Haus war er zu Gast bei der Theaterbiennale »Neue Stücke aus Europa«. 2010/11 wurde er zum Leiter des Schauspiels am Teatro Nuovo Giovanni da Udine berufen. Frei zur deutschsprachigen Erstaufführung Stücke »Die Letzten müssen behandelt werden als die Letzten. Nie als die Ersten. Wenn du sie wie die Ersten behandelst, dann bringst du die natürliche Ordnung der Welt durcheinander, und die Konsequenzen daraus sind unvermeidlich katastrophal.« (aus: Himmel) Die Sommergeschwister (Fratelli d’Estate) Deutsch von Peter Iden 4 D, 4 H UA: 25.4.1992, Schaubühne Berlin Regie: Cesare Lievi Zweierlei Zeit (Festa d’Anime) Deutsch von Annette Hunscha de Cordero und Peter Iden 9 D, 6 H UA: 18.9.1999, Schauspiel Bonn Regie: Cesare Lievi »(…) Simpel und vertrackt zugleich, dabei von einer kompositorischen Grazie, wie sie typisch ist für Lievi, trifft sein Stück einen Nerv unserer Zeit.« Neue Zürcher Zeitung 60 Foto: Maurizio Buscarino Fotografie eines Raums (Fotografia di una stanza) Deutsch von Peter Iden 1 D, 2 H UA: 25.1.2005, Teatro Brescia Regie: Cesare Lievi Fremde im Haus (La Badante) Deutsch von Peter Iden und Annette Hunscha de Cordero 3 D, 2 H UA: 22.9.2007, Staatstheater Wiesbaden Regie: Cesare Lievi 61 Mika Myllyaho Panik Chaos Harmonie Männer am Rande des Nervenzusammenbruchs Originaltitel: Paniikki / Deutsch von Eeva Bergroth und Martina Marti Originaltitel: Kaaos Deutsch von Eva Bergroth und Martina Marti Originaltitel: Harmonia Deutsch von Eva Bergroth und Martina Marti Max und Joni, der Talkshow-Moderator – jeder meint, mit seiner eigenen Methode Leo besser helfen zu können. Der hat eines Abends an Max’ Tür geklopft, verwirrt, da ihn seine Freundin bat, einmal über gewisse Dinge in seinem Leben nachzudenken und dieses in Ordnung zu bringen. Ein Wettlauf zwischen Max und Joni beginnt, doch im Laufe der Zeit merkt das Trio, dass sie alle auf ihre gegenseitige Hilfe angewiesen sind. Wunderbar leicht und dennoch tiefgründig lotet diese Komödie echte und imaginäre Krisen des moder- Sofia ist Lehrerin, deren Schule vor der Schließung steht. Die Therapeutin Julia hat eine Beziehung mit einem ihrer Patienten. Die Journalistin Emmi, die Dritte im Bunde, kämpft für das Sorgerecht ihres Kindes. Durch Winter und Frühling begleitet das Stück die drei Freundinnen, die in dieser Zeit gewaltige Veränderungen durchmachen. Es sind diese Veränderungen, die die drei schließlich erkennen lässt, dass ihnen die Kontrolle über ihr eigenes Leben entglitten ist – etwas muss getan werden! Chaos ist, nach Panik, eine dunkle Komödie über Frauen in der heutigen Welt. Während sie versuchen, an einmal für richtig befundenen Werten festzuhalten, ringen sie mit den Problemen einer immer brüchiger und gleichgültiger werdenden Gesellschaft. Ihre Stärke ist ihre Freundschaft und der Halt, den sie sich gegenseitig geben. Und ihr Sinn fürs Lachen, auch wenn ihnen manchmal zum Heulen zumute ist. (3 D) Eine Auszeit nehmen! Das hatte sich Regisseur Olavi nach seiner letzten Inszenierung eigentlich vorgenommen ... Ein Urlaub ist nötiger denn je. Doch nun wird ihm ein einmaliges, verlockendes Angebot gemacht: Faust. Seine Partnerin und Bühnenbildnerin Sanna entwirft ein Glashaus, das perfekt zur Faust-Inszenierung passt. Olavi stürzt sich in die Arbeit, Sanna befürchtet seinen Herzinfarkt. Olavi fängt an, seine Arbeit, sein Leben und seine Beziehung neu zu bewerten! Faust wird zu einem Projekt mit dem Titel Harmonie, das Olavi selbst vorhat zu schreiben. Und dazwischen Produzent Aleksi, der einen Balanceakt bewältigen muss zwischen künstlerischen Ansprüchen und finanziellen Notwendigkeiten. – Was soll man tun, wenn die Arbeit der wichtigste Teil und beinahe einzige Inhalt des Lebens ist? Mit dieser sensiblen Komödie über Arbeit, Liebe und Ermüdung rundet Myllyaho seine Trilogie (Chaos, Panik, Harmonie) ab. (1 D, 2 H) Uraufführung: 16. Februar 2008, Ryhmäteatteri, Helsinki Regie: Mika Myllyaho Frei zur deutschsprachigen Erstaufführung Uraufführung: 10. September 2009, Ryhmäteatteri, Helsinki Regie: Mika Myllyaho Frei zur deutschsprachigen Erstaufführung nen Mannseins aus. Was wird heutzutage alles von den Männern verlangt? Kann Mann eins sein mit seinen Gefühlen? Kann er gleichzeitig erfolgreich und sensibel sein? Und worum geht es noch gleich in diesem Almodóvar-Streifen? (3 H) Uraufführung: 21. September 2005, Ryhmäteatteri, Helsinki Regie: Mika Myllyaho Frei zur deutschsprachigen Erstaufführung »›Panik‹ ist eine wunderbare Reise in den männlichen Kopf.« Valkeakosken Sanomat (zu: ›Panik‹) »›Chaos‹ ist deutlich düsterer und heftiger und gleichzeitig gesellschaftskritischer als ›Panik‹. Aber es ist auch amüsant (...) und in seinen Beobachtungen über Frauen erstaunlich genau.« Mika Myllyaho, 1966 geboren, gehört zu Finnlands führenden Regisseuren der jüngeren Generation und inszenierte bislang sowohl Klassiker als auch Werke der zeitgenössischen Dramatik. Als Leiter des Ryhmäteatteri in Helsinki profilierte er sich mit der Entwicklung neuer Theatertexte und alternativer Inszenierungsmethoden. Seit 2011 ist er Intendant des Finnischen Nationaltheaters in Helsinki. 62 Foto: Esa Leskinen Helsingin Sanomat (zu: ›Chaos‹) »›Harmonie‹ ist eine ausgezeichnete Beschreibung der Krise einer guten und liebevollen Beziehung.« Turun Sanomat (zu: ›Harmonie‹) 63 INGRID L AUSUND Christoph Nußbaumeder Mutter Kramers Fahrt zur Gnade Anita ist Witwe und lebt alleine in einem Haus, das von früheren Zeiten, dem gefestigten Leben mit ihrem Mann und ihrer Tochter erzählt. Ihre Tochter meldet sich seit Monaten nicht, und nun steht der erste Jahrestag des Todes ihres Mannes an, eines ehemals erfolgreichen Geschäftsmannes. Anitas Leben ändert sich, als ihr beim Einkauf eines Tages ein fremder Mann ihr Portemonnaie nachträgt, das er vorgibt gefunden zu haben. Nur steckt mehr hinter dieser scheinbar aufmerksamen Geste. Anita und Hudi, der freundliche Mann, ein arbeitsloser Bäcker, erleben eine späte Liebe. Und die Tochter, die in ihrer Heimatstadt eine Stelle als Leiterin der Agentur für Arbeit gefunden hat, steht überraschend vor der Tür. Wenig später wird in der Agentur für Arbeit ein Mann angeschossen, und dieser Fall beschäftigt sowohl die neue Leiterin als auch ihre Mutter Anita. In Christoph Nußbaumeders konzentriertem Kammerspiel zerbricht die scheinbar makellose, gesicherte bürgerliche Welt einer ehemaligen Lehrerin nach und nach. Anita lernt durch Hudi eine andere soziale Realität kennen und erfährt zugleich Dinge über ihre Familie, die sie zu einem Neuanfang zwingen. (3 D, 4 H) Uraufführung: Mai 2013, Ruhrfestspiele Recklinghausen Auftragswerk für das Schauspielhaus Bochum Regie: Heike M. Goetze Stücke – Eine Auswahl Mit dem Gurkenflieger in die Südsee 4 D, 9 H, Statisten UA: 3.6.2005, Landestheater Linz/ Ruhrfestspiele Recklinghausen Regie: Bernarda Horres Mindlfinger Goldquell 3 D, 6 H UA: 11.2.2006, Landestheater Linz Regie: Georg Schmiedleitner Liebe ist nur eine Möglichkeit 5 D, 6 H UA: 17.10.2006, Schaubühne am Lehniner Platz, Berlin Regie: Thomas Ostermeier Ich werde nicht sterben In meinem Bett Anna Politkowskaja gewidmet 1D UA: 17.5.2007, Schauspielhaus Bochum Regie: Burghart Klaußner Mörder-Variationen 1 D, 4 H UA: 10.5.2008, Schauspiel Köln Regie: Florian Fiedler Die Kunst des Fallens 4 D, 5 H UA: 3.6.2010, Schauspiel Köln Regie: Katja Lauken Eisenstein 4 D, 5 H UA: 26.9.2010, Schauspielhaus Bochum Regie: Anselm Weber Von Affen und Engeln 4 D, 6 H Frei zur UA Meine gottverlassene Aufdringlichkeit 1D UA: 18.9.2012, Sophiensaele, Berlin Regie: Bernarda Horres Christoph Nußbaumeder wurde 1978 in Eggenfelden (Niederbayern) geboren und lebt in Berlin. Nach Abitur und Zivildienst Fabrikarbeit bei einem Automobilhersteller in Pretoria (Südafrika). Studium der Rechtswissenschaften, Germanistik und Geschichte in Berlin. Nußbaumeders Stücke wurden u.a. bei den Ruhrfestspielen Recklinghausen, an der Berliner Schaubühne, am Nationaltheater Mannheim und am Schauspiel Köln uraufgeführt. Zahlreiche Inszenierungen erfuhr insbesondere sein Stück Eisenstein, das 2010 am Schauspielhaus Bochum uraufgeführt wurde. 64 Foto: Susanne Schleyer 65 CHRISTOPH NUSSBAUMEDER »Im Schmutz steckt mehr Leben« Christoph Nußbaumeder und Georg Ringsgwandl im Gespräch über ›Von Affen und Engeln‹ Christoph Nußbaumeder: Du hast mir, bevor ich ›Von Affen und Engeln‹ angefangen habe zu schreiben, ›Unter dem Milchwald‹ von Dylan Thomas als Hörspiel geschickt, die Aufnahme mit Richard Burton, ich kannte die vorher nicht. ›Under Milk Wood, A Play for Voices‹ … Ist für dich ein Spiel mit Klängen ein vorstellbares Ideal, wenn du über Bühnenmusik nachdenkst? Georg Ringsgwandl: Mir schwebt bei allem, was ich für die Bühne geschrieben habe, vor, dass es ein ineinander verflochtenes Gewebe von sprachlichen und klanglichen Elementen ist. Klanglich umfasst in dem Fall alles von Geräuschen bis zu Musik. Kein Sprechtheater mit auflockernd eingestreuten Songs, aber auch kein 66 Soundteppich mit kümmerlichen Texteinwürfen. Ein Bühnenwerk, bei dem das eine ohne das andere nicht vollständig ist. Ich muss bei Dylan Thomas immer an das Gedicht denken, das im Deutschen übersetzt ist mit ›Geh nicht so fügsam in die dunkle Nacht‹, in dem er sich gegen das Älterwerden und das Sterben auflehnt. Kann man sich wirklich dagegen auflehnen? Ich meine, das ist die einzige Chance, das Leben einigermaßen aufrecht zu führen. Der Tod reißt uns natürlich alle irgendwann, aber bis dahin muss man ihm was entgegensetzen. Sich von vornherein dem Nichts zu ergeben, führt zu Lebensentwürfen, denen ich nicht beiwohnen möchte. ›Von Affen und Engeln‹ ist ein Satz vorangestellt, »Für alle Narren auf verlorenem Posten«. Von dir gibt es ein Lied, das ich sehr mag, ›Kasperl oder Genie‹. Was ist deiner Meinung nach tragischer, jemand, der seine Ziele nie wirklich verwirklichen konnte, oder jemand, der tief fällt, nachdem er am süßen Duft des Erfolgs schnuppern durfte? Oder findest du Ehrgeiz prinzipiell verdächtig? Wirklich schlimm ist es, wenn jemand nicht die Möglichkeiten entwickeln kann, die in ihm stecken, weil die gesellschaftlichen Bedingungen oder eine Krankheit oder Sucht alles, was er/sie anfängt, im Keim ersticken. Das kann in der Tat tragische Ausmaße annehmen. Wenn jemand schon mal Erfolg hatte, gehört er bereits zu Gottes Lieblingen. Wenn es dann bergab geht, ist mein Mitleid beschränkt, es sei denn, es geht um die Opfer einer Diktatur. Was den Ehrgeiz angeht: Das ist eine gute Eigenschaft, solange sie sich auf ein akzepta- bles Ziel richtet und die Kollateralschäden im Rahmen bleiben. Und wann wird Scheitern als lustig, wann als traurig befunden? Ob Scheitern lustig oder traurig ist, hängt mehr vom Blickwinkel ab. Das gängige DSDS-Opfer empfindet seine Rückkehr in die Welt der Sozialhilfe zu Recht als traurig. Ich auch, aber aus anderem Grund: einem armen Wesen, das nie eine Chance hatte, wird öffentlich laut feixend und zynisch verkündet, dass es ein nichtswertiges, armes Wesen ist. Lustig kann das Scheitern bei jemandem sein, der beste Voraussetzungen hatte und sein Vorhaben durch Größenwahn und Maßlosigkeit vergeigte. Aber auch das kann man nur witzig finden, wenn man weit genug entfernt steht. Die Angestellten bei Karstadt hatten da eher weniger zu lachen. Lustiges Scheitern gibt es wahrscheinlich nur, wenn jemand im Buch oder auf der Bühne so tut, als würde er scheitern. Dann lachen wir aus Befreiung. Im Stück gibt es eine Figur, Bernd, der ist Ende 50 und Umsatzkontrolleur am Weihnachtsmarkt. Der steht in der Hierarchie der Beschäftigten ganz unten. Irgendwann kommt der Punkt, an dem er die Schnauze voll hat, und er zündet den großen Weihnachtsbaum an. Er verschafft sich sozusagen Luft durch Feuer. Kennst du solche Aggressionsattacken? Ja, kenne ich, aus Erfahrung. Ich habe vor Kurzem bei Tennessee Williams einen Satz gelesen, in einem Selbstinterview hatte er Folgendes notiert: »Für mich gibt es weder Bösewichte noch Helden, sondern nur richtige und falsche Wege, die der Mensch einschlägt – nicht aus freier Entscheidung, sondern aus Notwendigkeit oder unter dem Einfluss gewisser ihm unverständlicher Faktoren seines eigenen Innern, seiner Lebensumstände und seiner Herkunft.« Da spricht jemand, der sich ernsthaft mit der Welt beschäftigt hat. Du hast mich auf die Idee gebracht, das Stück hinter den Kulissen des Weihnachtsmarktes anzusiedeln, also Backstage, wenn man so will. Ich glaube, du hast gesagt, im Schmutz steckt mehr Leben. Das sind meine beschränkten Ausdrucksmittel. Solange die Dinge so laufen, wie es die herrschende Denkweise für gut befindet, wenn gutaussehende Menschen mit interessanten Berufen wohlhabend und harmonisch zusammenleben, gibt es ja keine Ungleichgewichte und keine Konflikte und damit keine Bewegung. Selbst im Fernsehfilm muss sich der Tierarzt erst in eine Gestütserbin verlieben, ehe seine Frau ein richtiges Fass aufmacht und die Quoten hochgehen. Im Schmutz gibt es die offensichtlicheren Dramen, weil hier die Leute um ihre blanke Existenz kämpfen, und zwar nicht im vornehm raunenden Seminarton, sondern im Klartext. Foto: Kerstin Groh Der Musiker und Schriftsteller Georg Ringsgwandl brachte seinen Freund Christoph Nußbaumeder auf die Idee, das Stück Von Affen und Engeln (frei zur UA) hinter den Kulissen eines Weihnachtsmarktes spielen zu lassen. In diesem Stück verdienen sich unter der strengen Aufsicht einer Marktleiterin, die die Gesetze des Kapitalismus verinnerlicht hat, prekär lebende Menschen als Wahrsager, Weihnachtsmann, Engel und Budenbetreiber ihr geringes Einkommen. Aber da diese modernen Tagelöhner nicht nur die Standmiete bezahlen, sondern die Chefin auch am Umsatz beteiligen müssen, regt sich Widerstand. Als ein junger Wissenschaftler, der auf dem Markt den Schlittschuhverleih betreut, seine Vision einer ökologischen Zeitenwende entwirft, scheint die Möglichkeit eines anderen, besseren Lebens auf. Ringsgwandl, der die Entstehung des Stückes von Anfang an begleitete, wird erstmals die Musik für ein Stück von Christoph Nußbaumeder schreiben. Ein paar Fragen zu seiner Musik zu Von Affen und Engeln und dazu, was es mit dem Scheitern der Figuren auf sich hat. Dr. Georg Ringsgwandl hängte mit 45 seinen Beruf als kardiologischer Oberarzt an den Nagel und widmete sich ganz dem Musikkabarett. Er steht seit über 30 Jahren auf der Bühne, schreibt Bühnenmusik und Theaterstücke. 67 INGRID L AUSUND Albert Ostermaier Schwarze Sonne scheine Bühnenbearbeitung nach dem gleichnamigen Roman Ostermaiers Monologstück erzählt von der scheinbar aussichtslosen Situation angesichts eines angekündigten Todes. Ein junger Mann, aufgewachsen in einem katholischen Internat in Bayern, der sein Leben darauf ausgerichtet hat, Schriftsteller zu werden, muss sich entscheiden zwischen sicherem Tod und ungewissem Überleben. Ein rasanter Thriller über die Verstrickungen zwischen priesterlichem Mentor und Schüler, Ärztin und Patient, Schreibberufung und Brotberuf. Ein erschütterndes Panorama moralisch-politischer Strukturen im Süden Deutschlands, in dem der Einzelne wenig, die Kirche alles zählt. Albert Ostermaier, geboren 1967, schreibt Lyrik, Prosa und Dramatik und lebt und arbeitet in München. Das 1995 im Bayerischen Staatsschauspiel München uraufgeführte Stück Zwischen zwei Feuern. Tollertopographie eröffnete Albert Ostermaiers Karriere als Theaterautor. Seine Stücke wurden u.a. am Nationaltheater Mannheim, am Berliner Ensemble und am Wiener Burgtheater gespielt und von namhaften Regisseuren inszeniert, u.a. von Andrea Breth, Lars-Ole Walburg und Martin Kušej. 2010 schrieb er das Libretto für die Oper Die Tragödie des Teufels als Auftragswerk der Bayerischen Staatsoper zusammen mit dem ungarischen Komponisten Péter Eötvös. Die Theaterstücke Aufstand und Halali kamen 2011 zur Uraufführung. Ebenfalls 2011 erschien sein Roman Schwarze Sonne scheine. Albert Ostermaier wurde mit namhaften Preisen und Auszeichnungen geehrt, u.a. dem Kleist-Preis, dem Bertolt-Brecht-Preis und 2011 mit dem Welt-Literaturpreis für sein literarisches Gesamtwerk. Uraufführung des Auftragswerks: 28. November 2012, Les Théâtres de la Ville de Luxembourg/Théâtre des Capucines Regie: Johannes Zametzer »Eine schier unglaubliche Geschichte, erzählt in tragikomischer Manier. Eine tollkühne Achterbahnfahrt durch alle Facetten eines unter Strom gesetzten Gehirns.« Herbert Grönemeyer »So ist ›Schwarze Sonne scheine‹ ein schönes, trauriges und hochnotkomisches, ein absurdes, ein verzweifeltes und warmes Buch geworden.« Frankfurter Rundschau 68 Foto: Anita Schiffer-Fuchs 287 Seiten. Geb. € 22,90 (978-3-518-42220-5) 69 ALBERT OSTERMAIER Was uns im Innersten angeht Aus der Laudatio von Dominique Horwitz zur Verleihung des ›Welt‹-Literaturpreises an Albert Ostermaier Illusionen, Fiktionen, Lebenslügen und gebrochene Perspektiven – wer sonst bietet in der aktuellen Literatur solche Möglichkeitsräume an? Albert Ostermaier ist ein Autor, der Gegensätze zusammendenkt und das Undenkbare in gewaltige Bilder verwandelt. Worüber man nicht sprechen kann, davon muss man sich ein Bild machen. Er findet die Wahrheiten, an denen Andere mit weit geschlossenen Augen vorbeischreiben. Wenn wir Schauspieler seine Worte in den Mund nehmen, habt ihr da unten noch lange daran zu schlucken. Was Albert Ostermaier schreibt, bedeutet eine spannungsreiche Überforderung des Lesers, der nur lesen will und nicht hören oder nur hören, aber nichts erkennen. Das ist sein Programm: Durch die Präzision seiner Sprache unsere verkühlten Herzen in Brand zu setzen – denn wir leben in kalten Zeiten – und alle unsere Sinne zu öffnen. Laut sollten seine Gedichte gelesen werden, und wer das tut, blickt in einen Spiegel, in dem gerade die letzte Szene eines film noir läuft. Vertrauen und Verrat, Liebe und Verlust – das sind die großen Themen Albert Ostermaiers. Er schreibt eine Literatur, die nur aus Abschieden zu bestehen scheint, aber das stimmt nicht – im Gegenteil: Es geht bei ihm immer um die Selbstbehauptung des Individuums, um die Würde des Zweifels und der Verzweiflung, vor allem um Bewahrung des Ich vor der schleimigen Vereinnahmung durch irgendeinen politischen, gesellschaftlichen oder ästhetischen Konsens. So arbeitet er seit Anfang an: Er hat sein erstes Theaterstück über Ernst Toller geschrieben, als niemand mehr etwas vom politischen Theater und schon gar nichts von gescheiterten Emigranten wissen wollte. Und sein jüngster Roman Schwarze Sonne scheine ist allein sprachlich so hoch komplex und ambitioniert, dass er nicht in die momentane Tiefebene der deutschen Literaturlandschaft passt. Das Paradoxe ist: Albert Ostermaier gilt, weil er Erfolg beim Publikum hat, für die Kritiker als modischer Autor, was hierzulande einem Todesurteil gleichkommt. Dabei macht er genau das Gegenteil dessen, was gerade Mode ist. Er folgt keinem literarischen Kompass. Verweigerung der Himmelsrichtung heißt geradezu prophetisch sein erster Gedichtband von 1988. »Hier habt ihr einen, auf den könnt ihr nicht bauen« – diese Haltung hat ihm sein Vorbild Bert Brecht mitgegeben. Gegen die Zeit, trotz aller Kritik und gegen den ästhetischen Konsens hat dieser Autor bislang 25 Theaterstücke und 10 Lyrikbände vorgelegt – eine erstaunliche Produktion für jemanden, der laut Münchner Gerüchten die meiste Zeit in Schumanns Bar oder beim Fußball verbringt. (…) Mit dem Roman ist in diesem Jahr etwas ganz Seltenes passiert. Er ist von allen in den höchsten Tönen gelobt worden. Sonst irren sich Kritiker manchmal, natürlich jeder mit anderen Argumenten, aber hier waren sich alle einig: Schwarze Sonne scheine ist riskant und provokativ, ein Drahtseilakt zwischen Wutgeheul und innerster Demut, mitreißend, abstoßend und sogar erschütternd. Da will einer raus aus allen familiären Verplanungen, raus aus dem ungeliebten Jurastudium, er will Dichter werden. Aber auf ihm lastet das Todesurteil einer Krankheit, die er gar nicht hat, die ihm eingeredet worden ist samt der möglichen Rettung – ein übles Komplott, das ihn noch tiefer in die Abhängigkeit von seinem Mentor treiben soll, einem katholischen Seelenfänger, den er eigentlich we- »Das ist sein Programm: Durch die Präzision seiner Sprache unsere verkühlten Herzen in Brand zu setzen – denn wir leben in kalten Zeiten – und alle unsere Sinne zu öffnen.« Dominique Horwitz zur Verleihung des ›Welt‹-Literaturpreises an Albert Ostermaier 70 gen dessen weltoffener Bildung bewundert und ihm vorbehaltlos vertraut. Bis er erfährt, dass er von ihm belogen und betrogen wurde. Das ist, meine Damen und Herren, die Geburt des Künstlers aus dem Geist des Verrats. Und der Künstler hat Recht, wenn er sich notwehrt – rücksichtslos privat und zugleich scharfsichtig bis an die Ränder unserer Welt. Auch unserer Vorstellungswelt. Wir wissen inzwischen, dass alles in diesem Buch wahr ist, und nichts an der Geschichte ist erfunden, aber das spielt für uns Leser keine Rolle. Wir merken, dass es hier einer ernst meint mit der Kunst und dem Leben und dass hier einer etwas zu sagen hat, was auch uns im Innersten angeht. Das kann nur große Literatur, und deswegen konnte die Jury auch gar nicht anders, als Albert Ostermaier mit dem Preis der »Literarischen Welt« auszuzeichnen. »Ohne schreiben hätte ich kaum leben können« Aus Albert Ostermaiers Dankesrede zur Verleihung des ›Welt‹-Literaturpreises Autobiografie ist Gewissensprüfung. Sie sucht Absolution, Erlösung. Autobiografie ist Kannibalismus, weil sie nach Menschen mit Fleisch hungert. Autobiografie ist Selbstverstümmelung, Häutung. Oder auch von allem das Gegenteil. Autoren verletzten permanent und notorisch ihre eigenen Persönlichkeitsrechte. Glauben wir statt an uns selbst an Lacan, konstruieren wir uns entlang einer »Linie der Fiktion«. Wir täuschen uns bewusst selbst, weil alles andere unseren Narzissmus kränken würde. Aber Narziss war ein armer Junge! Er ist an seinem Spiegelbild verhungert, verdurstet an seinem Durst, sich selbst zu lieben. Narziss hätte sich nie selbst als hässlich wahrnehmen können. Vielleicht hätte er dann auf sein Spiegelbild spucken und sich mit einem Schlag ins Wasser befreien können. Oder er wäre einfach in sich hineingesprungen, abgetaucht, bis er keine Luft mehr bekommen hätte, hochgeschossen wäre in die Selbsterkenntnis. Denn natürlich will, wer über sich schreibt, sich von sich befreien. Um diese Freiheit geht es ja beim Schreiben, dass man Ich schreibt, um nicht mehr ich sein zu müssen. Das gelingt aber nur beim Schreiben, beim Schreibakt selbst. Schreiben heißt, sich davon zu befreien, dass immer die anderen sagen, was und wer »Ich« oder »man« ist. Oder um es mit Kinski als Fitzcarraldo zu sagen: »Ich bin in der Überzahl!« (…) Man kann, möchte ich ihm antworten, ein Leben nicht ins Reine schreiben, es bleibt offen wie seine Fragen, die beantworteten und die ungestellten. Habe ich eine Autobiografie geschrieben? Ich habe einen Roman geschrieben. Ich wollte nichts so sehr wie einen Roman schreiben. Als könnte mein Leben ein Roman sein. Ich habe immer dafür gelebt zu schreiben. Ohne schreiben hätte ich kaum leben können, überleben können, so pathetisch und angreifbar das jetzt wieder tönen mag. »Denn natürlich will, wer über sich schreibt, sich von sich befreien. Um diese Freiheit geht es ja beim Schreiben, dass man Ich schreibt, um nicht mehr ich sein zu müssen.« Albert Ostermaier 71 INGRID L AUSUND Gesine Schmidt Expats in China Eidgenossen in Shanghai Während die USA und Europa in Schuldenkrisen versinken, boomt der Markt in China und gilt als Eldorado für Unternehmen. Auch die Schweiz ist im Chinafieber. China ist heute nach der Europäischen Union und den USA der drittgrößte Exportmarkt der Schweiz. 300 Schweizer Firmen sind mit rund 700 Niederlassungen und 126000 Angestellten im Reich der Mitte aktiv. Expatriates, kurz Expats, werden die Führungskräfte eines Unternehmens im Ausland genannt. Ein bis fünf Jahre bleiben die Entsandten, um neue Abteilungen oder Tochterunternehmen aufzubauen. Doch der Markt in China ist umkämpft und hat seine Besonderheiten. Der Erfolg des Expats hängt stark von seiner interkulturellen Anpassungsleistung ab. Interkulturelle Kompetenz ist die Fähigkeit, die eigene und fremde kulturelle Orientierung zu erkennen, zu reflektieren und zu benennen. Ai Weiwei spricht von »gewaltigen Voreingenommenheiten und naiven Urteilen im Verständnis der Welt von China als Ergebnis einer historischen ideologischpolitischen Entfremdung«. Wie spiegelt sich diese Fremdheit im beruflichen und privaten Alltag der Expats wider? Was passiert, wenn schweizerische und chinesische Kulturstandards aufeinandertreffen? Und beugt schnell erworbenes interkulturelles Know-how wirklich Missverständnissen vor oder produziert es sie erst? Verschwimmen in einer globalisierten Wirtschaft die kulturellen Differenzen oder werden sie verstärkt? Über die individuellen Biografien der Schweizer Expats und der chinesischen Geschäftspartner hinaus sollen Konzepte kultureller und nationaler Identitäten beleuchtet und hinterfragt werden. (Besetzung variabel) Uraufführung des Auftragswerks: 16. März 2013, Theater Basel Regie: Antje Schupp Frei zur deutschen Erstaufführung 72 Foto: Susanne Schleyer Werkübersicht Gemeinsam mit Andres Veiel entsteht 2005 das Dokumentartheaterstück Der Kick, das sich mit dem Mord an einem Jugendlichen in einem brandenburgischen Dorf beschäftigt. Die Uraufführungsinszenierung, eine Koproduktion des Berliner Maxim Gorki Theaters und des Theater Basel, und das Hörspiel werden mit mehreren Preisen ausgezeichnet. Auf der Grundlage von Interviews mit einem deutsch-türkischen Pärchen entsteht das Stück liebesrap. Das gleichnamige Hörspiel (DLF 2010) erhält u.a. den 1. Preis beim internationalen Wettbewerb Prix Marulic in Kroatien. liebesrap ist frei zur Uraufführung (1 D, 1 H). 2010 erlebt Schmidts Stück Die Russen kommen! am Staatstheater Nürnberg seine Uraufführung. Als Auftragswerk entstanden, thematisiert das Dokudrama die widersprüchlichen Integrationserfahrungen sogenannter Russlanddeutscher. 2011 folgt die Uraufführung von Oops, wrong planet! am Theater Basel. Im Stück kommen Autisten zu Wort, die uns teilnehmen lassen an ihrer speziellen Sicht auf unsere Welt. Das Stück wurde 2012 von DLF/WDR auch als Hörspiel produziert. Gesine Schmidt, 1966 in Köln geboren. Nach dem Studium der Komparatistik und Theaterwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum folgen Stationen als Dramaturgin am Schauspiel Frankfurt, dem Badischen Staatstheater Karlsruhe und dem Berliner Ensemble. Von 2004 bis 2006 arbeitet sie als Dramaturgin am Maxim Gorki Theater, Berlin. In der Spielzeit 2008/2009 ist Gesine Schmidt Dramaturgin am Deutschen Theater Berlin. Gesine Schmidt lebt als freie Autorin in Berlin. 73 GESINE SCHMIDT Auf der Suche nach dem Nahen im Fremden Gesine Schmidt im Gespräch Frank Kroll: Du hast seit deinem mit Andres Veiel zusammen verfassten Stück ›Der Kick‹ eine spezielle Form des Stückeschreibens weiterentwickelt: Wie gehst du dabei vor? Gesine Schmidt: Nach einer langen, intensiven Vorbereitungsphase, in der ich auch mit vielen Experten spreche, wähle ich sehr bewusst meine Interviewpartner aus, formuliere komplexe Fragen, um dann in der Begegnung alles wieder über Bord werfen zu können. Mit der Technik autobiografisch-narrativer Interviews lasse ich mich ganz auf die Perspektive meiner Protagonisten ein, die zunächst ohne äußere Lenkung ihre Geschichten erzählen. Das Eintauchen in die Erinnerung entwickelt zusätzlich eine eigene Logik und Handlungsstruktur, bei der sich die Kernthemen und unterbewussten Schichten wie von selber herausschälen. Oft sind das völlig neue Aspekte, die meine Erwartungshaltung konterkarieren. Das vertiefe ich dann im weiteren Gespräch. Aus den einzelnen Erzählungen meiner Protagonisten konstruiere ich zunächst in sich geschlossene Monologe, um das Substrat der Erzählung freizulegen, den individuellen Erzählstil zu fixieren und die charakteristischen Sprachmerkmale zu verdichten. Zuletzt werden dann diese monolithischen Blöcke nach zeitlichen und thematischen Bezügen miteinander verschnitten und in einen dramaturgischen Spannungsbogen gefasst. Deine Stücke entstehen oft als Auftragsarbeiten. Was ist zuerst da? Das Thema? Ein komplettes Stückkonzept? Oder eine noch diffuse Idee oder ein Gespür für das dramatische Potential eines bestimmten realen Phänomens? Das ist unterschiedlich. Es ist sinnvoll, sich ein Thema zu suchen, das einen realen Bezug hat zu dem Theater oder der jeweiligen Stadt. Die Russen kommen! ist aufgrund der Tatsache entstanden, dass in Nürnberg ca. 50000 Deutsche aus Russland mit ihren Familien leben. Das sind immerhin 10 Prozent der Einwohner, über die man jenseits der üblichen Allgemeinplätze wenig weiß. Bei 74 der Recherche zum liebesrap haben mich die türkischen Jugendlichen der 4. Generation interessiert, die nach den Brandbriefen der Berliner Schulen und den tendenziösen und pauschal abwertenden Thesen eines Roland Koch den laufenden Fernsehkameras »Meine Zukunft ist Hartz IV!« entgegenhielten. Zuerst ist das Interesse für ein relevantes Thema, eine Personengruppe da, über die ich mehr erfahren möchte. Dann folgt eine umfangreiche Recherche, danach kommen die Interviews, und erst dann gibt es das komplette Stückkonzept. Wenn ich schon vorher weiß, was und wie ich es erzählen will, brauche ich mich nicht auf die Reise in die Realität der Anderen zu begeben. Der Theaterkritiker Thomas Irmer hat kürzlich diese Strömung des »Neuen dokumentarischen Theaters«, die uns in den letzten Jahren in verschiedensten Ausprägungen begegnet ist, als Folgendes identifiziert: Gegenwart werde als unbekannt gesetzt, der politische Gestus heiße heute »erforschen statt belehren« und dies träfe auf ein widererstarktes Publikumsinteresse an Authentizität. Sind unsere Verhältnisse wirklich so kompliziert wie immer behauptet? weit, dass du die Figuren deiner Stücke in fiktive Handlungen verstrickst. Du erfindest beispielsweise keine Zuspitzungen. Warum nicht? Wäre das nicht auch denkbar? Die Auswahl und das Aufbrechen und Verschneiden der einzelnen Monologblöcke nach inhaltlichen und dramaturgischen Prinzipien ist bereits eine Zuspitzung von Wirklichkeit. Die Aufmerksamkeit wird gelenkt und irritiert, das heißt, es wird mit Erwartungshaltungen gespielt, die bestätigt, modifiziert oder enttäuscht werden. »Das Reale muss zur Dichtung werden, damit es gedacht werden kann. ›Fingere‹ heißt nicht zuerst vortäuschen, sondern formen«, sagt der französische Philosoph Jacques Rancière. Von daher handelt es sich bereits um dokumentarische Fiktion, die mit Erwartungen und Bedeutungen spielt, um neue Sichtweisen zu ermöglichen. Bisher waren die Wortbeiträge so stark, dass allein das Spiel mit der Sprache starke Bilder im Kopf provozierte, so dass eine zusätzliche fiktive Handlung den Eindruck eher verkleinert hätte. Das heißt aber keinesfalls, dass ich das grundsätzlich ausschließe. Du schreibst deine Stücke für Ensemble-Schauspieler. Welche Transformationen passieren da mit den Geschichten, die du recherchiert und in deiner Schreibwerkstatt wie gerade beschrieben literarisch verdichtet hast? Die modellhaften Konzepte und belehrenden Tendenzen der Autoren des Dokumentartheaters der 60er Jahre funktionieren heute nicht mehr. Unsere Wirklichkeit ist so vielschichtig und dynamisch geworden, dass selbst inzwischen das Wissen einzelner Experten nicht mehr genügt, ihre Komplexität zu erfassen. Spannend wird es für mich dann, wenn ich viele individuelle biografische Angaben und Wertvorstellungen sammle und miteinander konfrontiere. Über diese individuellen Erfahrungen erfahre ich mehr über Gesellschaften und ihre Strukturen als über die Reduktion von Realität, die einer Trivialisierung von Phänomenen gleichkommt. Die Anonymität schützt einerseits die Protagonisten, sie können offener sprechen, und der Zuschauer kann sich mehr auf das, was gesagt wird, konzentrieren. Und andererseits wird der Eindruck durch die künstlerische Verdichtung und durch den Aneignungsvorgang der Schauspieler intensiver, da er eine andere Konzentration bekommt. Mit einem Schauspieler erreiche ich mehr Authentizität auf der Textebene und gleichzeitig eine strukturelle und systemische Komponente durch die Spielebene. Dadurch gewinnt der Text eine Interpretationsebene hinzu, die vom Individuellen wieder auf das Ganze verweist. Also nah dran am Authentischen und weit weg vom eigentlichen Protagonisten. Ein nur scheinbarer Widerspruch, der dann, nur für mich, noch eine weitere Drehung bekommt, wenn später die wirklichen Protagonisten ihren Schauspielern begegnen. Deine Texte sind für mich auch deshalb von besonderer Qualität, weil du nicht einfach authentisches Material versammelst oder »interessante« Stimmen montierst, sondern dramatischliterarische Texte daraus machst. Du gehst dabei aber nicht so Ich will deine Stücke nicht auf einen gemeinsamen Nenner zwingen, aber auf mich wirkt es so, dass es in ihnen auf sehr verschiedene Weise immer wieder um Entwurzelungen oder Abkoppelungen geht. Ob nun in moralischer Form in ›Der Kick‹ oder ›liebesrap‹, ob in eher geografischer Weise in ›Die Russen kommen!‹, wo es ja um die Suche nach Heimat geht. In ›Schöner geht’s nicht‹ geht es um Entfremdung vom eigenen Körper. Eigentlich beschreibt auch ›Oops, wrong planet‹, dein Stück über Autisten, ein von der Mitte der Gesellschaft abgekoppeltes Paralleluniversum. Geht’s dir darum: das Fremde zu finden im Nahen? Ich würde das als die Suche nach dem Nahen im Fremden bezeichnen. Die Grenze zwischen Normalität und Abweichung, die gesellschaftlichen Kriterien dafür und ihre Abgrenzungssysteme erzählen viel über die Kultur unserer Gesellschaft. Deshalb interessieren mich die Menschen und Perspektiven hinter den Zuschreibungen der öffentlichen Wahrnehmung. Mit meiner Annäherung an das sogenannte Fremde und den biografischen Erzählungen meiner Protagonisten versuche ich, neue Aufmerksamkeitsfelder zu schaffen, um unsere Wahrnehmungsmuster und Urteile zu irritieren. Und ein Schweizer Jungmanager, den ich in Shanghai interviewt habe, hat es treffend auf den Punkt gebracht: »Ich habe hier die Chance, so vieles zu lernen, das generell anwendbar ist. Und ich mag Menschen unheimlich gern. Die Kultur, die Ästhetik, das ist alles sehr fremd, aber im Menschen findet man sich selber. Man muss durch ein ganz dichtes Dickicht durchgehen und endet dann wieder am Anfang des Kreises.« Welche Eindrücke und Pläne hast du aus Shanghai mitgebracht? Shanghai ist eine Boom-Town, eine dynamische Weltmetropole mit über 15 Millionen Einwohnern, in der Ost und West fusionieren. Ich bin einige Wochen dort gewesen und habe über 20 Interviews geführt. Bedingt durch die hohe Geschwindigkeit und den großen Druck, unter dem dort gearbeitet wird, hatte ich zahlreiche Speed- und LunchMeetings an den absurdesten Orten unter beachtlicher Geräuschkulisse und der krampfhaften Bemühung, die Technik des Stäbchenessens zu verfeinern. Trotz und vielleicht wegen alledem ist ein ungeheurer, vielschichtiger Materialberg von knapp 500 Seiten dabei herausgekommen, den ich gerade bearbeite. Meine Recherche in China hat mich so inspiriert, dass ich weitermachen werde. Nach den wirtschaftlichen Beziehungen werde ich mir die west-östlichen Liebesbeziehungen im Spannungsfeld gesellschaftlicher Veränderungen in beiden Kulturen ansehen. 75 INGRID L AUSUND Judith Schalansky Der Hals der Giraffe Ein Kleinstadtgymnasium in der ostdeutschen Provinz. Früher war es nach einer Widerstandskämpferin benannt, seit der Wende heißt es Charles-DarwinGymnasium, und jetzt soll es wegen Schülermangel geschlossen werden. An dieser sterbenden Schule in einer sterbenden Region unterrichtet Inge Lohmark Biologie und Sport. Sie ist streng. Gefühle zeigt sie nicht. Progressive Kollegen hasst sie, das optimistische Vertrauen auf Bildung verachtet sie. Inge Lohmark macht sich keine Illusionen, auch nicht über sich selbst. Sie wird alt. Ihre Tochter lebt weit weg. Ihr Mann hat seinen Beruf verloren und dilettiert als Straußenzüchter. Inge Lohmarks Liebe gilt nur der Biologie, den ehernen Gesetzen des Lebens und des Sterbens. Uraufführung: 8. Dezember 2012, Schauspiel Frankfurt Regie: Florian Fiedler Armin Petras inszeniert Der Hals der Giraffe im Juni 2013 am Maxim Gorki Theater Berlin. Aufführungen jeweils in den Fassungen der Theater. »Mich hat auch eine Frau interessiert, die keine Beziehung mehr hat. Sie hat einen Ehemann, von dem ist immer mal wieder die Rede, aber der taucht im ganzen Buch nicht auf. Dieser Ehemann züchtet Strauße, und das wiederum, finde ich, ist ein tolles Bild für das, was eben in Regionen passiert, wo eigentlich alle wegziehen und dann so eine Art Versteppung einsetzt und dann dadurch aber ganz absurde Dinge eben wieder angesiedelt werden wie eben Straußenfarmen. Von denen gibt es in Mecklenburg-Vorpommern tatsächlich einige. Den Tieren bekommt das Klima gut, und das passt natürlich erst einmal zu der Giraffe, aber auch zu diesem seltsamen Bild, dass alles auch auf einmal wieder möglich ist und wie beunruhigend das ist und wie grotesk und komisch auch.« Judith Schalansky Judith Schalansky, 1980 in Greifswald geboren, studierte Kunstgeschichte und Kommunikationsdesign. Ihr literarisches Debüt, der Matrosenroman Blau steht dir nicht, erschien 2008. Für ihren Atlas der abgelegenen Inseln und für Der Hals der Giraffe wurde sie unter anderem mit dem Preis der Stiftung Buchkunst (Die schönsten deutschen Bücher) ausgezeichnet. Sie lebt als freie Schriftstellerin in Berlin. st 4388. 222 Seiten. ca. € 9,99 (978-3-518-46388-8) Lohmark: »Die Kollegen kapierten einfach nicht, dass sie nur ihrer eigenen Gesundheit schadeten, wenn sie auf die Schüler eingingen. Dabei waren das nichts als Blutsauger, die einem jede Lebensenergie raubten. Sich vom Lehrkörper ernährten, von seiner Zuständigkeit und der Angst, die Aufsichtspflicht zu verletzen. Unentwegt fielen sie über einen her. Mit unsinnigen Fragen, dürftigen Eingebungen, unappetitlichen Vertraulichkeiten. Reinster Vampirismus.« (aus: Der Hals der Giraffe) 76 Foto: Susanne Schleyer 77 INGRID L AUSUND Akin E. Şipal Vor Wien Was für ein Leben ist das, zwischen oben und unten, zwischen Ost und West, zwischen Rausch und Rauschen? Es ist ein Leben im Jetlag. Als erfolgreicher Geschäftsmann lebt Erol ein Leben im Flugzeug, immer unterwegs zwischen zwei Orten, zwischen zwei Terminen und zwischen den Kulturen; immer aber spielt Istanbul eine zentrale Rolle. Alles perfekt, wäre da nicht das Rauschen, das ihn nie hat einschlafen, dafür aber immer pünktlich hat aufstehen lassen. Bis die Katastrophe eintritt. Erol wird entlassen, oder war es doch anders und er hat seine Entlassung nur provoziert, um endlich einen neuen Anfang zu finden, ein neues Leben? Die Frage ist, ob sein neues Leben, mit Familie in Amerika und doch auch wieder im Flugzeug, die erhoffte Lösung seiner Probleme ist. (2 D, 3 H) Frei zur Uraufführung Akin Şipal hat für sein Stück den vom Land Nordrhein-Westfalen und dem Westfälischen Landestheater bundesweit ausgeschriebenen Wettbewerb »In Zukunft« gewonnen. Aus der Begründung der Jury: »Ein Stück, das nicht nur versnotierte monologische Abschnitte mit klassischen dialogischen Szenen verbindet, sondern auch dramaturgisch überraschende Wendungen birgt. Es mischt auf subtile Weise die Themen Exil und Migration … Şipal verfügt über ein enormes Sprachvermögen und ein großes Entwicklungspotential.« Akin E. Şipal, 1991 in Essen geboren, aufgewachsen in Gelsenkirchen und Istanbul, studiert Film an der Hochschule für bildende Künste Hamburg mit den Schwerpunkten Regie und Drehbuch. Mit Vor Wien erscheint sein erstes Theaterstück bei Suhrkamp. Aylin: Ich würde sagen, es wird Zeit zu landen, Mr. Soner, finden Sie nicht auch? Erol: Bin ich, bin ich. Vor einiger Zeit bin ich gelandet. Aber wissen Sie, man hat die ganze Zeit diese Illusion vom Landen und man denkt sich: Mhm, wenn ich lande, dann ist alles anders, dann. Ist es klarer, ja? Aber … Aber diese Illusion vom Ankommen, das ist wie … wenn man ein Ziel erreicht hat. Man spürt eine 10-minütige Genugtuung und dann Dann muss es schon weitergehen. (aus: Vor Wien) 78 79 INGRID L AUSUND Rafael Spregelburd Luzid Originaltitel: Lucido Deutsch von Sonja und Patrick Wengenroth Lucas wird 25 und zur Feier des Tages lädt er seine Mutter Tété und seine ältere Schwester Lucrèce in ein exquisites Restaurant ein. Die Speisekarte enthält Ausgewähltes, der Kellner ist höflich und die Familie ausgesprochen glücklich. Was zunächst wie eine Familienidylle anmutet, degeneriert mit jeder Wiederholung der Szene zu einem Albtraum. Mutter und Tochter streiten ums Erbe. Der Kellner versenkt den Personalausweis von Lucas aus Versehen in kochendem Wasser. Anstatt vor einem Geburtstagskuchen sitzt der junge Mann vor dem Scherbenhaufen seiner Identität. Rafael Spregelburd beschreibt in seiner schnellen, schwarzen Tragikomödie eine Familie im Ausnahmezustand. Denn während Lucas in seinen »Klarträumen«, deren Inhalt er selbst bestimmen kann, versucht, sich eine glückliche Familie zu imaginieren, kehrt seine Schwester Lucrèce in der Realität nach Jahren der Abwesenheit nach Hause zurück. Schließlich gibt es aber noch eine andere Wirklichkeit, und die hat mit Tété zu tun. (2 D, 2 H) Uraufführung: 2. Dezember 2006, Sala La Planeta, Girona (Festival de Temporada Alta 2006) Regie: Rafael Spregelburd Frei zur deutschsprachigen Erstaufführung Rafael Spregelburd, geboren 1970 in Buenos Aires, ist Dramatiker, Regisseur, Übersetzer und einer der wichtigsten Vertreter des zeitgenössischen argentinischen Theaters. Spregelburd hat in maßgeblichen Filmen mitgespielt und ist einer der bekanntesten Schauspieler des Landes. 2012 ist er künstlerischer Leiter der »École des Maîtres«, einer Theaterakademie in italienischer, französischer, portugiesischer und belgischer Kooperation. 1994 gründete Spregelburd als Regisseur seine eigene Theaterkompanie »El Patrón Vázquez«, mit der er vorwiegend eigene Stücke inszeniert und international tourt. Er erhielt über 40 argentinische und internationale Preise, zuletzt 2011 den Argentinischen Nationalpreis für sein Stück Die Sturheit (La terquedad). Es ist der höchste Preis, den das Land Argentinien an einen Autor vergibt. Spregelburds Stücke wurden im deutschsprachigen Raum u.a. am Deutschen Schauspielhaus Hamburg, an der Berliner Schaubühne, an den Münchner Kammerspielen, am Theater Basel, am Staatstheater Stuttgart, dem Nationaltheater Mannheim, am Schauspiel Frankfurt sowie am Badischen Staatstheater Karlsruhe aufgeführt. Call me God, eine Gemeinschaftsarbeit mit Marius von Mayenburg, Albert Ostermaier und Gian Maria Cervo, wird am Bayerischen Staatstheater uraufgeführt (siehe Seite 17). Luzid wurde in Argentinien, Frankreich, Peru, Spanien und Italien erfolgreich inszeniert. »Man lacht viel in ›Luzid‹, und in dieser Inszenierung wird das pure Vergnügen deutlich, mit dem sich die Schauspieler diesem ›Schmierentheater‹ hingeben, das der Text zulässt. Gemeinsam mit den Zuschauern teilen sie das Vergnügen, sich auf eine intelligente Weise unterhalten zu lassen, denn genau das erlaubt Spregelburd.« ›art‹ anlässlich der Inszenierung von ›Luzid‹ am Pariser Théatre des Champs-Elysées im April 2012 80 Foto: Sebastián Freire 81 RAFAEL SPREGELBURD Katastrophengeschichten Rafael Spregelburd im Gespräch Als »Bewohner der Peripherie der Welt«, wie sich Rafael Spregelburd selbst beschreibt, ist der Argentinier ein scharfer Beobachter der Europäischen Union, deren politische und kulturelle Entwicklung der »fröhliche Pessimist« auch theatral reflektiert. Einige Fragen zu seinem viel gespielten Stück Die Dummheit, zu seiner Poetik und seinem bisher in Deutschland nicht aufgeführten Stück Luzid. Nina Peters: Das Stück ›Die Dummheit‹ war ein Teil deines siebenteiligen Werkkomplexes, der »Heptalogie des Hieronymus Bosch«. Du hast damit eine umfassende moderne menschliche Komödie geschrieben. Ist sie tatsächlich abgeschlossen? Rafael Spregelburd: Das Projekt der Heptalogie ist auf eine Art abgeschlossen mit den sieben Stücken über die Todsünden. Dennoch kommt es immer wieder dazu, dass dieses Schreiben von Zyklen an anderen Stellen meines Werkes zu Tage tritt. Mich interessiert die seltsame Intertextualität, die ein Autor zwischen den Welten seiner unterschiedlichen Stücke kreieren kann, als würde es sich um eine einzige Textfläche handeln. Alles, was ich entdeckt und gelernt habe im Verlauf der zwölf Jahre, die ich an diesem Zyklus geschrieben habe, ist auch in meinen zukünftigen noch ungeschriebenen Stücken gegenwärtig. Aber auch beispielsweise in Bizarra (einer theatralen Telenovela in zehn Episoden) oder in Alles, wo sich drei verschiedene Fabeln entspinnen. Oder bei dem, was ich gerade schreibe, eine lose Skizzenfolge über den Mythos vom Ende Europas. ›Die Dummheit‹ wurde weltweit nachgespielt und wird 82 in Deutschland auch in der Spielzeit 2012/2013 aufgeführt. Was ist das Besondere an diesem Stück? Die Dummheit ist der vierte Teil dieser Heptalogie und daher vielleicht, weil er sich genau im Zentrum dieses Projektes befindet, derjenige, der aus dem Komplex am höchsten herausragt. Sowohl aufgrund seiner Länge als auch wegen seiner Komplexität scheint es alle Forderungen dieser Heptalogie auf die Spitze zu treiben: eine bruchstückhafte Struktur, ein fehlgeleitetes symbolisches Wörterbuch (als ob die Chiffren der verloren gegangenen Moderne für uns schon nicht mehr zu entziffern sind), eine moralische Reflexion über die Intelligenz oder eher noch ihre Abwesenheit, eine politische Dimension (und zwar in der Art und Weise, in der gezeigt wird, dass die Realität eine künstliche Konstruktion im Dienste des »Status quo« ist und dass jeder Versuch, diese Konstruktion über den Haufen zu werfen, einen Versuch darstellt, die Realität zu verändern), eine kleinliche Kommunion zwischen unvereinbaren Ebenen der Sprache (die Hochkultur mit Elementen einer »niederen Kultur«: Fernsehserien treffen auf Theorien der Thermodynamik, komplexe mathematische Formeln auf das Melodrama), eine tiefgreifende Bastardisierung, ein gebündeltes Aufeinandertreffen von Humor und Melancholie und ein deliröser Geist von Freiheit: da es nun mal keinen Sinn macht, ein Stück zu machen, um den Zuschauern auf didaktische Art den Zuschauern zu zeigen, wie sie sich befreien sollen, kann man wenigstens versuchen, diese Freiheit im Schreiben selbst auszuüben und dann die Freude oder die Enttäuschung über das zu teilen, was diesem gesetzeswidrigen Akt entspringt. ›Die Dummheit‹ kreist um die Habgier von Menschen, auf hundert Seiten kommen, in Screwball-Geschwindigkeit, Menschen in Motels in mehreren Erzählsträngen zusammen. Das ist vor allem komisch, aber nicht nur. Die Einsamkeit der Menschen, ihre spirituelle Haltlosigkeit sind offensichtlich. Wie wichtig ist es für dich, dass die »Tragödie« der Figuren im Hintergrund sichtbar bleibt? Ich bin mir nicht sicher, ob wir die traurige, verzweifelte Komponente unbedingt »Tragödie« nennen müssen, die die 24 Figuren durchleben. Wir sollten uns vor Augen führen, dass die Tragödie nur eine Art ist, Fiktionales zu interpretieren. Angefangen bei Beckett, ist bis heute hinreichend bewiesen worden, dass das Schicksal des Menschen (der seine ganze Realität auf der Basiserfahrung seines eigenen Todes betrachtet) nicht nur tragisch ist, sondern auch zutiefst lächerlich. Ich habe mit Freuden gelernt, das Konzept der Tragödie gegen das Konzept der Katastrophe einzutauschen. Was genau meinst du damit? Wenn in der Tragödie eine kausale Verkettung von Ereignissen stattfindet, gibt es bei der Katastrophe Vorgänge, die in einer solchen Geschwindigkeit vonstattengehen, dass ihre Folgen den Ursachen voranzugehen scheinen. Die Aufgabe der Vernunft (also unsere Aufgabe) ist es, die Welt in Abfolgen von Ursache und Wirkung zu organisieren. Und genau dieser Imperativ der Vernunft lässt uns die Katastrophe als so verführerisch erscheinen: Es ist das pure Ereignis, der Wahnsinn der Vernunft, das Delirium der Geschehnisse. Und da lohnt es sich schon mal einen Blick darauf zu werfen, und sei es auch nur in dem Bereich, den wir »Fiktion« nennen. ›Luzid‹ ist ein konzentriertes, intimes Kammerspiel. Ein junger Mann hat Probleme mit seiner Identität, mit seiner Mutter … Und das ist zunächst einmal sehr komisch. Der Schluss bringt unerwartet eine neue Realitätsebene, auf die Komödie folgt die Tragödie. Wie ernst sollte man das Ende nehmen? So ernst, wie deine eigene Fähigkeit es dir erlaubt, Überraschungen zuzulassen. Ich glaube nicht, dass die melancholische Traurigkeit des Schlusses einen höheren Stellenwert hätte als der Humor, der ihm vorausgeht. Dennoch ist der Umstand, dass diese Traurigkeit uns völlig überraschend trifft, wesentlich, um in uns ein Gefühl der Verunsicherung hervorzurufen, das uns zwingt, die einzelnen Elemente der Handlung noch mal zu überdenken: Die Hinweise dieser Schilderung sind derart verborgen im Körper der Handlung von Luzid, dass sie uns im Moment ihres Erscheinens am Schluss des Stücks vorkommen, als kämen sie von einem anderen Planeten. Wie gesagt, die Tragödie ist nicht die Beschreibung eines unglücklichen Sachverhalts, sondern eine nichtkausale, in eine bestimmte Richtung verlaufende Organisation dieses Unglücks. Mir gefällt der Gedanke, dass meine Stück-Bastarde weder »Tragikomödien« noch »Komiktragödien« sind, sondern besser »Katastrophengeschichten«. Als du vor über zehn Jahren im deutschsprachigen Raum bekannt wurdest, warst du einer der erfolgreichsten Theatermacher in Argentinien, einem Land, dessen 83 RAFAEL SPREGELBURD Wirtschaftssystem gerade kollabiert war. Reizt es dich nicht, ein Stück über die Europäische Währungsunion zu schreiben? Ich versuche es. Mein neuestes Stück, Spam, behandelt auf periphere Weise die italienische Krise, aber es ist zugleich auch ein Stück über viele andere Sachen. In der École des Maîtres, in der ich derzeit in Italien Schauspieler aus verschiedenen Ländern unterrichte, reden wir über Strukturen von Katastrophen, Manierismen der Telenovelas und dem Mythos vom Ende Europas und unternehmen den Versuch, ein Stück über das zu entwickeln, was – genau genommen – der letzte Mythos ist, der in Europa erfunden wurde: der seines Verschwindens. Dieses Verschwinden ist in meinen Augen genauso mythisch wie seine Einheit. Europa verschwindet? In den Augen eines Fremden, eines Bewohners der Peripherie der Welt, eines Überlebenden der neolibe- ralen Modelle, die einem jetzt, augenscheinlich ohne Erfolg, die zentralen Länder beibringen, schien die Europäische Union einen unsichtbaren Pakt der Einheit und Harmonie mit einer einheitlichen Währung zu besiegeln. Aber das ist nur eine Illusion, ein monetäres Zeichen. Europa bedeutet viel mehr. Seine qualvollsten Epochen sind immer noch gegenwärtig im Blut der Kriege, mit denen seine Kartografie übersät ist, im unvermeidlichen Bumerang seines früheren Kolonialismus, in seiner fatalen Bestimmung einer Wirtschaft, die auf Konsum und Ausbeutung beruht. Und nichtsdestotrotz gibt es einen humanen Geist in diesem Integrationsplan eines geeinten Europa; einen Geist der Kooperation und Solidarität, einen Grad an Austausch von Erfahrungen, der – vielleicht – die Grenzen ausdehnen, die Verwünschungen Babels verlachen und das Zusammenleben der Völker veredeln könnte. Ich bin ein fröhlicher Pessimist, und aus diesem Widerspruch – vermute ich – speisen sich meine bastardisierten theatralen Reflexionen. Deutsch von Patrick Wengenroth Teté: Hallo, Doktor Rosso? … Können Sie mich zu ihm durchstellen? … Ja, ich weiß, dass er Sprechstunde hat, ich bin Teté, die Mama von seinem Klienten, von Lucas. … Gut, von seinem Patienten. Können Sie ihm sagen, dass es um Leben und Tod geht? … Hallo, Doktor Rosso. Sie kennen mich nicht, ich bin Teté. … Ja, die Mama von Lucas. … Ja, ich weiß schon, dass er da ist … und seine … Therapie macht. … Ja, und diese Sache mit den Klarträumen. … Ja, ja, dass er immer dasselbe träumt … das mit dem Restaurant ... Nein, nein, nein. Ich ziehe es vor, mit Ihnen zu sprechen. Ist er weit weg vom Telefon? Gut, hören Sie, was ich Ihnen sagen werde, machen Sie keine Gesten noch irgendetwas, denn Lucas wird sich erschrecken. Ich erzähle Ihnen, wie die Dinge sind, und Sie entscheiden, was wir ihm sagen und was nicht. 84 (aus: Luzid)