INHALT - Suhrkamp

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INHALT
Editorial3
Benedict Andrews
4
Edward Bond
6
Lily Brett
10
Heiko Buhr
12
Pamela Carter
14
Gian Maria Cervo, Marius von Mayenburg,
Albert Ostermaier, Rafael Spregelburd
16
Tankred Dorst/ Ursula Ehler
18
Bettina Erasmy
22
Werner Fritsch
24
Nikolaus Günter
28
Junges Programm
30
Anna Katharina Hahn
32
Noah Haidle
34
Peter Handke
38
Martin Heckmanns
44
Wolfram Höll
48
Stephan Kaluza
50
Fritz Krenn
52
Konstantin Küspert
54
Ingrid Lausund
56
Cesare Lievi
60
Mika Myllyaho
62
Christoph Nußbaumeder
64
Albert Ostermaier
68
Gesine Schmidt
72
Judith Schalansky
76
Akin E. Şipal
78
Rafael Spregelburd
80­
Impressum
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EDITORIAL
»Tolles Stück!« – so unmittelbar und so einfach fängt alles an. Nicht allzu häu-
fig. Und doch immer wieder. Ein Stück lässt uns nicht mehr los, wir haben uns darin verfangen. Dann gilt es – weil wir ja den Funken weitertragen wollen in die Theater, auf dass
möglichst erhellende (und möglichst viele) Inszenierungen entstehen, die unsere Sinne
für Möglichkeiten eines anderen Lebens wachhalten –, dann gilt es also, in aller gebotenen
Kürze die richtigen Worte zu finden für einen Text, der ja eigentlich zuerst nach szenischer
Auffaltung strebt und nicht nach prägnanter Verknappung.
Der allgegenwärtigen Durchlauferhitzung und Verknappung im Stückemarktgeschehen
setzen wir mit unserem neuen Jahresprogramm, das Sie gerade in Händen halten, ein
grafisch und inhaltlich entschleunigtes Magazinformat entgegen. Es bietet über Stückbeschreibungen hinaus Raum für Positionsbestimmungen und Projektskizzen, für Gespräche
mit Autorinnen und Autoren und für Hintergründe, die einen Eindruck von der disparaten
und distinkten Vielgestalt heutigen Schreibens für die Bühne verschaffen.
Wir gratulieren Peter Handke zum 70. Geburtstag, Tankred Dorst und Ursula Ehler zur
Verleihung des Deutschen Theaterpreises »Der Faust« für ihr Lebenswerk. Sie kommen
in Interviews ausführlich zu Wort. Viele der vorgestellten neuen Stücke unserer Verlagsautorinnen und -autoren sind als Auftragsarbeiten entstanden. Das zeugt möglicherweise
von einer wiedererstarkten Verankerung des Autors im sozialen Kunstprozess Theater. Wir
halten am Anspruch fest, dass starke Stücke jenseits ihrer Uraufführung wahrgenommen
werden müssen. Gleichzeitig gibt es Nachwuchsautoren zu entdecken: Nikolaus Günter,
Wolfram Höll, Konstantin Küspert und Akin Şipal haben bemerkenswerte Verlagsdebüts
vorgelegt. Wir werden ihre Arbeit langfristig begleiten. Mit Stücken von Benedict Andrews
(Australien), Pamela Carter (GB) und Noah Haidle (USA) ergibt sich ein englischsprachiger
Schwerpunkt. Und besonders hingewiesen sei neben einzelnen herausragenden Prosa-Dramatisierungen auch auf unser neues »Junges Programm« mit Angeboten für das Kinderund Jugendtheater.
Und sollten einzelne Werke in unserem neuen Magazin noch immer zu knapp beschrieben
sein, dann muss erst recht etwas möglichst Differenziertes, Kluges, Sinnliches aus ihnen
gemacht werden: an Ihren Häusern.
Viel Vergnügen beim Lesen und Entdecken!
2
3
INGRID L AUSUND
Benedict Andrews
Jeder Atemzug
Originaltitel: Every Breath
Deutsch von Maja Zade
Eine Mittelschichtsfamilie wird anonym bedroht. Man engagiert einen jungen
Security-Mitarbeiter, Chris, der von nun an die Nachbarschaft observiert. Ohne
es zu wollen, erhält Chris Einblicke in intimste Familienangelegenheiten. Der
Familienvater, ein renommierter Schriftsteller, seine Frau und die fast erwachsenen Zwillingskinder leben in gehobenem Wohlstand und gehen kultiviert
miteinander um. Alle nutzen sie die Anwesenheit von Chris und verwickeln ihn
mehr und mehr in ihre persönlichsten Ansprüche. Chris lässt sich hineinziehen in ein fatales Spiel um Liebe, Sex und offene Sehnsüchte. Die Frontlinien
verlaufen unsichtbar.
In einer kristallinen, aufgeladenen Sprache setzt Benedict Andrews in seinem
ersten Stück eine fragile Familiensituation allmählich unter Druck. Mit der
Kraft einer antiken Tragödie treten lange verschüttete Begierden ans Licht. Bis
ein Unglück passiert und der bewaffnete Schutzengel unerwartete Seiten zeigt.
(2 D, 3 H oder 3 D, 2 H)
Uraufführung: 28. März 2012, Belvoir Street Theatre, Sydney
Regie: Benedict Andrews
Frei zur deutschsprachigen Erstaufführung
Benedict Andrews ist einer der
gefragtesten australischen Theaterregisseure seiner Generation und
hat mit Klassiker-Bearbeitungen und
Inszenierungen zeitgenössischer Stücke gleichermaßen auf sich aufmerksam gemacht. Als Regisseur hat er
an Häusern wie der Sydney Theatre
Company, dem Belvoir Street Theatre in Sydney, der Schaubühne in
Berlin, dem Nationaltheater in Reykjavík, der English National Opera und
dem Young Vic in London gearbeitet.
Andrews ist Autor von Shakespeareund Tschechow-Bearbeitungen und
eigenen Stücken.
Leo: Ich hab geträumt, dass
wir uns alle geliebt haben.
Meine Frau, meine Kinder,
Chris und ich. Es war fast
dunkel. So als ob eine einzige Kerze an der Wand unserer Höhle geflackert hat.
Wir haben uns ganz sanft
geliebt. Ohne Scham. So wie
man sich Eden vorstellt. In
dem Traum haben wir uns
Zeit genommen, damit es
den anderen gut geht. Wir
fühlen uns sehr gut. Voller
Liebe. Uns fehlt nichts.
(aus: Jeder Atemzug)
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Foto: Eddijó Smynd
Edward Bond
Coffee
Der Balanceakt
»Ich arbeite auf der Landkarte der Zukunft«
Deutsch von Brigitte Landes
Originaltitel: The Balancing Act
Deutsch von Brigitte Landes
Edward Bond im Gespräch
Krieg hat die Städte überzogen. Eine Frau ist mit ihrer
kleinen Tochter in die Wälder geflohen. Weil vor langer Zeit jedwede Nahrung versiegt ist, sehnen Mutter
und Tochter den Tod herbei. Auch Nold und Gregory,
zwei Männer aus der Stadt, die sich in den Wäldern
verirrt haben, können ihren Hunger nicht stillen. Bevor Nold zu seinem Haus zurückgehen kann, um die
letzten Vorräte zu retten, hat sie der Krieg eingeholt.
Aus Nold und Gregory werden Soldat und Kommandant
eines Erschießungskommandos. Während die anderen
in den täglichen Massenexekutionen ihren Zynismus
ausleben, beginnt Nold zu revoltieren, als er unter den
Opfern die beiden Frauen aus den Wäldern wiedererkennt. Er tötet seine Kameraden und Gregory und rettet
damit Mutter und Tochter vor der Exekution.
Edward Bonds radikales Kriegs- und Endzeitszenario
setzt dort ein, wo eine Geschichte längst nicht mehr
erzählt werden kann, weil mit der Zerstörung alles
Menschlichen auch die Sprache in Frage gestellt ist.
(3 D, 7 H)
Die Welt ist in schlechtem Zustand. Sie ist aus dem
Gleichgewicht geraten. Kriege, Bomben, zu viele Menschen, Militär. Viv will die Welt vor ihrer Zerstörung
bewahren. Verbarrikadiert in einem alten Abbruchhaus bewacht sie die einzige Stelle, die die Welt noch
zusammenhält. Ein größenwahnsinniger Bauleiter, für
den Schokoladenkekse die letzte Bastion menschlicher
Zivilisation sind, schafft Platz für »ein paar richtig hübsche Eigenheime«. Er ist ein Meister der Zerstörung,
ein »Abrissexperte«. Kann Vivs Freund Nelson da noch
etwas bewirken? Er übernimmt Vivs Mission und begegnet dabei den skurrilsten Gestalten. Einem einbeinigen Dieb, einer alten Frau, die von dem Bus überfahren
wird, auf den sie seit Ewigkeiten gewartet hat, einer
Sozialarbeiterin, welche die Hilflosigkeit der Menschen
aufs tiefste verabscheut. Drehen jetzt alle durch? Der
Versuch, die aus den Fugen geratene Welt zu retten, gerät zur Groteske. (4 D, 3 H)
Edward Bonds Stücke erlebten jüngst eine Renaissance,
die 2011 mit Saved (Gerettet) im Lyric Hammersmith
und damit der ersten großen Produktion des Stückes
auf einer Londoner Bühne nach 25 Jahren eingeleitet
wurde. Kritik und Publikum waren begeistert angesichts der Aktualität und der aufrüttelnden Kraft des
Bühnenklassikers, der bei seiner Uraufführung 1965
wegen der expliziten Gewaltdarstellung einen veritablen Theater- und Justizskandal auslöste. Heute lächelt
Bond über diesen Urknall seiner Dramatikerkarriere:
Seine Stücke seien stets als brutal beschrieben worden,
dabei enthielten sie zusammen weniger Gewalt als eine
einzige Folge einer gewöhnlichen TV-Serie.
»Meine Stücke sind keine kommerziellen Produkte. Ich
schreibe nicht für den Markt. Mit meinem Schreiben geht
es mir um das Seelenheil.« – So klar und bestimmt, unzeitgemäß programmatisch und ungebrochen widerständig beschreibt der Dramatiker Bond sein ästhetisches
Programm. Nach wie vor sei man von jeder gesellschaftlichen Gerechtigkeit weit entfernt. »Wir haben Gesetze,
aber keine Gerechtigkeit.« Im Drama müsse es immer um
soziale Gerechtigkeit gehen, sagte Edward Bond in einem
Interview mit der britischen Zeitung The Guardian Anfang 2012. Theater sei als Gattung nach wie vor wie keine
andere Kunstform dazu geeignet, gesellschaftliche Widersprüche bewusst werden zu lassen. Das erneute Interesse
des britischen Theaters an den Stücken des 78-jährigen
Dramatikers war uns Anlass für eine Begegnung mit dem
sich nach wie vor politisch einmischenden Autor.
Edward Bond, 1934 geboren, schrieb 1956 erste Gedichte und
Stückentwürfe und trat 1960 einer Dramatikergruppe um John Osborne,
Arnold Wesker und John Arden bei. 1962 wurde Bonds erstes Stück, The
Pope’s Wedding (Die Hochzeit des Papstes), in London uraufgeführt. Sein
zweites Theaterstück, Saved (Gerettet), provozierte einen der größten
Skandale der britischen Theatergeschichte. Große Erfolge wurden Anfang
der 1970er Jahre seine Lear-Bearbeitung und das Stück The Sea (Die
See). In den darauffolgenden Jahrzehnten entstanden zahlreiche Stücke,
Opernlibretti für Hans Werner Henze, Bond arbeitete an Theatern, für den
Film (u.a. Mitarbeit am Drehbuch zu Antonionis Film Blow-up) und das
Fernsehen. Edward Bond lebt in der Nähe von Cambridge.
6
Foto: holger-andre.de
Uraufführung: 12. Mai 2000, Théâtre National de la Colline,
Paris. Regie: Alain Françon
Frei zur deutschsprachigen Erstaufführung
Uraufführung: 13. Oktober 2003, Big Brum Theatre,
Birmingham. Regie: Chris Cooper
Frei zur deutschsprachigen Erstaufführung
Nina Peters: In einer Rede, die Sie im Sommer 2012 vor
Studenten der Ruhr-Universität in Bochum hielten, sagten Sie: »When you are walking on the stage, you walk
on yourself.« Welche Rolle hat der Zuschauer im Theater?
Edward Bond: Wir müssen zuerst verstehen, was Drama
bedeutet. Das Drama selbst ist nicht kompliziert, es gibt
nur viele falsche Vorstellungen davon, die beiseitegeräumt werden müssen, bevor man die Einfachheit sieht.
Wir sind die »dramatische Gattung«: das heißt, wir werden uns unser selbst bewusst, indem wir unser Leben,
von der Wiege bis zum Grab, dramatisieren. Die Mächtigen nutzen Ideologie, um diesen Prozess zu kontrollieren.
Mir wird nachgesagt, dass ich Menschen dazu auffordere,
ihr Selbstverständnis und das ihrer Gesellschaft auf den
Kopf zu stellen, um die Realität anders zu sehen. Dabei
ist das doch der Zweck von Theater. Die Bühne kann das
auf eine formale und radikale Art und Weise tun. Meine
Stücke spitzen die Probleme unserer Zeit zu krisenhaften
Situationen zu. Krisen aber sind die Realität der Zuschauer. Und wenn Drama so etwas tut, dann ist die Bühne das
Publikum und das Publikum die Bühne.
Ihr Stück ›Coffee‹ spielt in Babi Yar, dem Ort in der Ukraine, an dem die Nazis ein Massaker verübten und nahezu
die gesamte jüdische Bevölkerung von Kiew umbrachten.
Um das Undenkbare zu erzählen, entwerfen Sie hier eine
Grundsituation, in der sich der Zuschauer sofort wiederfindet. Sie sprachen einmal davon, dass es Ihnen nicht
»Wir haben Gesetze, aber keine Gerechtigkeit. Im Drama muss
es immer um soziale Gerechtigkeit gehen.« Edward Bond
7
EDWARD BOND
darum gegangen sei, Opfer vor Maschinengewehren zu
zeigen. Das wäre dann eine Hollywood-Sicht auf solche
Stoffe, die Zuschauern eine Distanzierung von geschichtlichen Vorgängen ermögliche. Vielmehr ging es auch in diesem Stück darum, dem Zuschauer eine Distanzierungsmöglichkeit zu nehmen – durch Identifikation.
Das Stück basiert auf einer wahren Begebenheit. Soldaten verbrachten den ganzen Tag damit, die Zivilbevölkerung in Reihen abzuknallen. Sie dachten, sie seien
fertig, also kochten sie Kaffee. Aber es kamen weitere
Lastwagen mit noch mehr Zivilisten, die getötet werden
sollten. Ein Soldat ärgerte sich, er hatte genug gearbeitet und wollte Feierabend haben. Und deshalb – also aus
einer Verärgerung heraus – schüttete er seinen Kaffee
weg. Ich habe nicht das Massaker gezeigt, ich habe den
Kaffee gezeigt. Wenn man sich vorstellen kann, dass
ein ganzes Volk gekreuzigt wird, dann hat das auch mit
dem von mir beschriebenen Vorgang um die Tasse Kaffee zu tun. Die Soldaten haben getötet, aber sie haben
nicht gewusst, was sie tun. Das Stück greift den Kaffee
heraus, um zu zeigen, was sie taten. Aber auch, was wir
unserer Zukunft bereits antun.
Der Soldat, der in seinem Stück den Kaffee wegschüttet,
ist ein Extremist.
Er ist in einer extremen Situation. Und die Zuschauer
sind in einer extremen Situation, weil auch sie in der
Pause ihren Kaffee schlürfen. Wenn ein Stück den Zuschauer in eine extreme Situation versetzt, dann begegnet er sich selbst – und er hat die Wahl. Diese Wahl
entscheidet, wer man ist. Der Kaffee ist keine Entfremdung im Brecht’schen Sinne. Er erzählt vielmehr von einer menschlichen Situation. Brechts Verfremdung geht
dem Problem aus dem Weg.
Warum haben Sie entschieden, Babi Yar aus der Perspektive einer Kaffeepause zu beschreiben?
Als Sie in den 50er Jahren mit Schreiben begannen, hatten Sie den Zweiten Weltkrieg erlebt, von Hiroshima erfahren, und diese Erfahrungen hatten Auswirkungen auf Ihr
Schreiben bis heute. Sie haben einmal davon gesprochen,
dass die letzte Szene von ›Coffee‹, die in einem Haus in
einer ausgebombten Stadt spielt, einer Fotografie ähnelt
von einer Welt, in der Sie als Schuljunge aufwuchsen. Ist
das Nachkriegslondon Teil einer inneren Landschaft, die
Sie noch immer betreten, wenn Sie ein Stück schreiben?
Ich habe einmal eine Kurzgeschichte über eine bombardierte deutsche Stadt geschrieben, die auf einer wahren
Begebenheit beruhte. Darin liefen einige alliierte Soldaten durch die Ruinen. Sie kamen zu einem Haus, in
dem ein Fenster nicht zerstört worden war – das einzige unversehrte Fenster in der ganzen Gegend. Eine
Frau stand auf einem Hocker und putzte das Fenster.
Wie rechtschaffen, wie mutig, welch Standhaftigkeit!
Nein, eben nicht. Einer der Soldaten warf einen Stein
und schmiss das Fenster ein. Der Soldat, der den Kaffee
Ausgebombt sein ist nicht meine innere Landschaft.
Das wäre absurd. Die letzte Szene von Coffee ist so angelegt, als hätte die Welt den Krieg gerade vergessen,
als wäre sie zur Normalität übergegangen und würde
nun ihre Fenster wischen. Als ich anfing zu schreiben,
hatte es zwei Weltkriege gegeben, es gab Auschwitz, Hiroshima – die Zivilisation schien zwei-, dreimal in der
Woche zu ihrem Ende zu kommen. Wir wussten, dass
wir umgeben waren von Problemen. Und deshalb gingen wir auch von der Vergangenheit aus, um über die
Meinen Sie, das Stück ist wegen dieser Erzählperspektive
bisher in Deutschland nicht gespielt worden?
Ja. Deutsche Theatermacher greifen eher zu Kettensägen, als Stücke über eine Tasse Kaffee zu inszenieren.
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weggeschüttet hat, wusste nicht, wer er war oder was
er tat. Der Soldat, der den Stein schmiss, wusste genau,
was Krieg, Massaker und Bomben bedeuteten. Die Frau,
die das Fenster putzte, hat vielleicht ihr Spiegelbild im
Fenster bewundert – aber sie wusste nicht, was sie tat.
Drama unterbricht die korrupten Verbindungen zwischen Fühlen und Denken und entlarvt Ideologie als
Lüge. Aber es muss angemessene Mittel dazu haben.
Und wenn es sie hat, dann definiert es Menschsein neu.
Gegenwart zu schreiben. Für jüngere Autoren liegen die
Probleme in der Zukunft, aber sie dürfen nicht darüber
schreiben. Die fünf Stücke von The Paris Pendat (Coffee
ist eines davon, Anm. der Redakteurin) enden im Jahr
2077. Ich arbeite auf der Landkarte der Zukunft.
Sie haben ein gutes Dutzend Stücke für ein junges Publikum geschrieben, etwa ›Die Kinder‹ oder ›Der Balanceakt‹.
In ›Der Balanceakt‹ geht es um ein Mädchen, das glaubt, in
einem Abrisshaus den Nabel der Welt gefunden zu haben.
Die Hauptfigur, ein Abrissexperte, ist, wie alle Erwachsenen im Stück, offensichtlich inkompetent. Das Stück ist
eine Farce, in der die Welt am Schluss auseinanderfällt.
Wie reagieren Kinder auf so ein Stück?
Der Balanceakt ist eine Farce über einen Abrissexperten, der Slums abreißt, damit neue City-Büros und
Einkaufsmeilen gebaut werden können. Er ist ehrgeizig und möchte etwas wirklich Großes einreißen. Also
beschließt er, die ganze Welt abzureißen. Einige meiner
Stücke habe ich zunächst einmal für ein junges Publikum geschrieben – obwohl sie später auch vor Erwachsenen gespielt wurden. Ich sah mir einmal eine Vorstellung mit Kindern an. Die Erwachsenen sagten, meine
Stücke seien zu anspruchsvoll für Kinder, weil die keine
zehn Minuten still sitzen und sich konzentrieren könnten. Allerdings schauten die Kinder eine Stunde lang
völlig konzentriert zu. Den Ausdruck in ihren Gesichtern hatte ich irgendwo schon einmal gesehen, aber ich
konnte mich nicht erinnern wo. Ein paar Tage später
erinnerte ich mich. Sie erinnerten mich an die Gesichter von hungernden Kindern in Afrika. Die hungernden
Kinder wollten Essen. Und was wollten diese anderen
Kinder? Sie hatten etwas gesehen und gehört, das sie
so konzentriert dasitzen ließ, obwohl ihre Lehrer gesagt
hatten, sie könnten keine zehn Minuten still sitzen. Sie
hungerten nach etwas in unserer Konsumgesellschaft.
war schockiert über ihre selbstgefällige, arrogante Art
der Selbstverblendung. Sie hielten ihr Selbstmitleid für
Mitgefühl für andere. Ein Berg verstellt ihre Türschwelle. Sie fürchten sich davor, die Türe zu öffnen, brüsten
sich aber damit, durch das Schlüsselloch zu schauen.
Es ist ein Nacht-und-Nebel-Theater. Weil es nicht weiß,
wie es mit dem vergangenen Jahrhundert umgehen soll,
kann es nicht mit der Zukunft umgehen. In der Tat ist
das deutsche Theater besessen vom Krieg, der Krieg ist
in seinem Unterbewusstsein. Seine Regisseure haben
Angst vor Schauspielern. Sie trauen sich nicht, sie herauszufordern, ihnen Ausblicke zu geben, die zu weit
führen würden. Also wird der Schauspielstil stylisch,
perfekt, manieriert und bestimmt von Tradition. Und
stattdessen versuchen Regisseure, Realität in überzeichneten Spielsituationen zu finden. Sie überdrehen,
dehnen und schütteln sie, aber sie bleiben leer und halten Schauspieler wie Zuschauer davon ab zu erfahren,
welche Bedeutung hinter dem Spiel steht. Das deutsche
Theater hat Angst vor Menschen.
Für wen schreiben Sie Ihre Stücke?
Ich schreibe für die Toten, in Solidarität mit den Opfern
des vergangenen und dieses Jahrhunderts, aber ich hoffe, dass die Lebenden mich hören. Das sage ich jetzt
dem deutschen Theater. Es steht da, mit einer Tasse
Kaffee in der Hand.
Deutsch von Nina Peters
Der Suhrkamp Verlag vertritt mehr als 30 Stücke von
Bond, darunter auch die bisher weniger bekannten Stücke
›Coffee‹ sowie das Jugendstück ›Der Balanceakt‹, die frei
sind für eine deutschsprachige Erstaufführung.
Ihre Haltung gegenüber der aktuellen deutschen Theaterpraxis ist skeptisch, Sie polemisieren da gerne. Warum?
Ich war einmal gemeinsam mit den wichtigsten Vertretern des deutschen Theaters auf einer Konferenz. Ich
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INGRID L AUSUND
Lily Brett
Chuzpe
Originaltitel: You Gotta Have Balls
Aus dem Amerikanischen von Melanie Walz
In Dramatisierungen von Eva Demski und Dieter Berner
Ruth führt ein wohlgeordnetes und vielleicht etwas zu kontrolliertes Leben in
New York. Sie kann nicht begreifen, dass ihr Vater Edek, vor wenigen Wochen
erst von Melbourne zu ihr nach New York gezogen, weit davon entfernt ist,
einen ruhigen Lebensabend zu verbringen. Und dass Lebensabend überhaupt
der falsche Begriff ist für den munteren 87-Jährigen, der sich erst in Ruths
Büro nützlich zu machen versucht und wenig später ein Verhältnis beginnt mit
der – viel zu jungen, wie Ruth findet – Polin Zofia (69). Und damit nicht genug:
Zusammen mit Zofia will Edek zum Entsetzen seiner Tochter ein »Klopse«-Restaurant eröffnen.
Chuzpe ist Lily Bretts sprühender Roman über Väter und Töchter, polnische Küche und New Yorker Neurosen; eine Geschichte ernster Irrungen und komischer
Wirrungen, erzählt mit genau der Mischung aus Witz, Wärme und Verstand,
die Lily Bretts Stimme so unverwechselbar macht.
Lily Brett wurde 1946 in Deutschland geboren. Ihre Eltern heirateten
im Ghetto von Lodz, wurden im KZ
Auschwitz getrennt und fanden einander erst nach zwölf Monaten wieder. 1948 wanderte die Familie nach
Brunswick in Australien aus. Mit
neunzehn Jahren begann Lily Brett
für eine australische Rockmusik-Zeitschrift zu schreiben. Sie interviewte
und porträtierte zahlreiche Stars wie
Jimi Hendrix und Mick Jagger.
Heute lebt die Autorin in New York.
In regelmäßigen Kolumnen der Wochenzeitung »DIE ZEIT« hat Lily Brett
diese Stadt porträtiert. Sie ist mit
dem Maler David Rankin verheiratet
und hat drei Kinder.
Uraufführung: 22. November 2012, Theater in der Josefstadt, Wien
Regie: Dieter Berner
Frei zur deutschen Erstaufführung
333 Seiten. Geb. € 19,80
(978-3-518-41827-7)
»Brett liefert ein präzises und oft komisches Porträt ihrer Gesellschaft und
schließt sich selbst vom Spott nicht aus. Dies zusammen mit der Leichtigkeit
ihrer Feder macht ›Chuzpe‹ zu einem Lesegenuss.« Frankfurter Neue Presse
»Tiefsinnig und vergnüglich.« Badische Neueste Nachrichten
Der Bestseller-Roman von Lily
Brett liegt in zwei Dramatisierungen vor: Eva Demski hat aus
Chuzpe ein eigenständiges Stück
gemacht. Dieter Berners Dramatisierung orientiert sich stärker
an der Erzählstruktur der Vorlage.
Beide Fassungen sind verfügbar.
»Das ist der Roman, auf den Brett-Fans lange gewartet haben …
Eine schräge, herzerfrischende, jüdische New Yorker Komödie.«
Sydney Morning Herald
10
Foto: Bettina Strauss
11
Heiko Buhr
Minettis Blut
oder Eine glänzende Vorstellung
Ich feier mein Leben
Großer Auftritt der beiden Theaterputzfrauen Martha
und Lore. Täglich beseitigen sie in ›ihrem‹ Provinztheater die Verwüstungen, die die Vorstellung des vorigen
Abends hinterlassen hat. Sie halten die Bretter sauber,
die auch ihnen die Welt bedeuten. Lore auf der rechten,
Martha auf der linken Bühnenseite. Sie sind Expertinnen ihres Fachs und sich ihrer Verantwortung für die
Kunst überaus bewusst. Schließlich haben sie mit allen Großen der Theaterszene zusammengearbeitet. Ihr
Verhältnis ist nicht spannungsfrei, das zeigt sich gleich.
Das mag auch an ihren unterschiedlichen Karrieren liegen. Martha ist viel gereist, während Lore sich früh für
ein »festes Ensemble« entschied. Beide hatten sie natürlich maßgeblichen Anteil an den Theaterrevolutionen
des letzten Jahrhunderts. Sie wissen, wie man Shake-
Ein 15-jähriger Schüler nimmt per Cybermobbing
Rache an einem Lehrer, den er für seinen bevorstehenden vorzeitigen Abgang von der Schule verantwortlich
macht. Dafür nutzt er Internetforen, in denen er das
Gerücht streut, der Lehrer sei homosexuell und belästige Mitschüler. Das Denunzieren hat die gewünschte
Wirkung, der Lehrer gerät in Bedrängnis. Und dem
Schüler ist die Tat nicht nachzuweisen. Gleichwohl
drängt es ihn, von der Ungerechtigkeit und Unangemessenheit seiner Behandlung, von seinen zerschlagenen und verbleibenden Perspektiven, von einem
familiären und schulischen Umfeld, das ihn fortwährend in eine Opferrolle zu drängen versucht, zu erzählen. Heiko Buhr zeigt – unspektakulär und einfühlsam
– die gleichermaßen hilflose wie raffinierte Revolte
Monolog
speare eigentlich zu rezitieren hat, sie verfügen über
das Stilbewusstsein, das jungen Theaterleuten fehlt –
davon sind sie felsenfest überzeugt. Lores und Marthas
Wetteifern um das reinste Berufsethos, um den Status
der ersten Putzkraft am Hause hat existenzielle Gründe: Beide müssen fürchten, bald eingespart zu werden.
In einem plötzlichen solidarischen Akt entwickeln sie
einen Plan zur finalen Abwicklung des neuen Intendanten. Der wird den Abend knapp überleben, doch im
Scheitern finden die beiden schrulligen Grazien überraschend zueinander. Heiko Buhrs Theaterputzkomödie ist ein gefundenes
Fressen für zwei reife, schräge Diven. (2 D)
Frei zur Uraufführung
Heiko Buhr, 1964 in Neumünster geboren.
Nach der Lehre zum Bankkaufmann Studium
der Germanistik und Philosophie in Kiel mit
Abschluss Promotion. 1999 erhält Heiko Buhr
für sein Werk Ausstand. Ein Schaustück den
Heinz Dürr-Dramatikerpreis. Von 1999 bis
2009 arbeitete der Autor im Sozialwesen.
Seit 2010 ist er freier Schriftsteller und Publizist. Heiko Buhr lebt in Kiel.
12
Foto: Martina Dahm
Martha: Ich glaube, Lore, du hast dich doch ein bisschen in mich verliebt.
Lore: Uns, Martha. Ich habe mich in uns verliebt.
(aus: Minettis Blut)
eines an sich durchschnittlichen Schülers, der immer darum bemüht war, unauffällig zu bleiben. Jede
Schwäche wird bestraft, das ist die frühreife, fatale
Erkenntnis dieses Jungen. Medial versiert, schlägt er
gegen ein System zurück, das ihn, der sich doch immer anpassen wollte, plötzlich aussondern will. (1 H)
Frei zur Uraufführung
Kelvin: Immer schön unauffällig bleiben, das ist meine Devise.
Bloß nicht auffallen. Jedenfalls nicht zu sehr. Einmal Opfer, immer Opfer.
(aus: Ich feier mein Leben)
Weitere Stücke
Ausstand
2 D, 8 H, Nebenrollen
UA: 10.12.2000, Deutsches Theater Berlin
Regie: Bruno Klimek
Abfall
2H
UA: 3.3.2012, Kellertheater Winterthur
Regie: Doris Strütt
Buhrs Stücke Fabelland oder Rumpsteak
für alle, Lebemänner und Die Zivilisten sind
noch frei zur Uraufführung.
13
INGRID L AUSUND
Pamela Carter
fast ganz nah
Originaltitel: almost near
Deutsch von Hannes Becker
Die Bildhauerin Louise arbeitet an ihrem Comeback, der Skulptur einer Gruppe von Soldaten, die bei einem Anschlag in Afghanistan ums Leben kamen.
Während ihre Familie – der Ehemann, mit dem sie in Trennung lebt, und ihr
neunjähriger Sohn – ihr zunehmend fremd wird, beginnt die Künstlerin eine
Affäre mit Kevin, der sich »Prinzessin« nennt und der Louise Modell steht. Währenddessen scheint die Skulptur eine Zukunft vorwegzunehmen: Eine Gruppe
von Soldaten, darunter auch der 22-jährige Kevin, der freiwillig zum Militär
gegangen ist, blicken als Scheintote auf die Hügel der afghanischen Stadt, für
deren Verteidigung sie gekämpft haben.
Carter hat mit fast ganz nah ein packendes Stück politischer Literatur geschrieben, das Fragen nach der gesellschaftlichen Verantwortung des Einzelnen stellt.
(3 D, 5 H)
Uraufführung des Werkauftrags des Berliner Stückemarkts: 6. April 2013,
Staatsschauspiel Dresden
Regie: Elias Perrig
in der ebene
Originaltitel: skåne
Deutsch von Hannes Becker
Malin und Christian haben eine Affäre, aber beide haben auch Ehepartner und
Kinder. Ihre Liebe scheint unmöglich, und so steht zu Beginn des Stückes ein
Geständnis: Es ist Sonntag und im Kreise der beiden Familien, der Ehepartner
sowie der Kinder, leisten Malin und Christian Abbitte. Sie geben minutiös Auskunft über Details ihrer kurzen Liebesgeschichte und beschwören gleichzeitig
deren Ende.
Pamela Carter entwirft in rhythmisierter Sprache und mit großem Humor ein
Kammerspiel, eine große Seelenschau. Und während die Erwachsenen an die
Grenzen ihrer Pflichten und selbstgesteckten Ziele kommen, scheinen die Jugendlichen, die ihre erste Liebe erfahren, souveräner und eigenständiger zu
sein als ihre Eltern. (3 D, 4 H)
Pamela Carter, geboren 1970 in
Kendal (Nordengland), ist Autorin,
Regisseurin und Dramaturgin. Sie
lebt in London. Seit 2010 entwickelt
sie zusammen mit den schwedischen Künstlern Goldin + Senneby
Performances und Installationen.
Mit in der ebene (Originaltitel: skåne)
war sie eingeladen zum Berliner
Stückemarkt 2012. Sie gewann
den Werkauftrag des Berliner
Stückemarktes in Kooperation mit
dem Staatsschauspiel Dresden.
kurt: du fährst jetzt hier
weg, und ihr seht euch nie
wieder. du nimmst nie wieder mit meiner frau kontakt
auf. du hast meine familie
heute zum letzten mal gesehen. wir haben zum letzten
mal voneinander gehört.
chris: so haben wir es
vereinbart.
kurt: malin?
malin: das haben wir versprochen.
kurt: jungs. verabschiedet
euch von ingrid und siri.
per: nein.
(aus: in der ebene)
Uraufführung: 27. Oktober 2011, Hampstead Theatre, London
Regie: Tim Carroll
Frei zur deutschsprachigen Erstaufführung
14
Foto: Simon Moore
15
Foto: Iko Freese
Foto: Sebastián Freire
Gian Maria Cervo
Marius von Mayenburg
Albert Ostermaier
Rafael Spregelburd
Call me God
Aus dem Italienischen (Cervo) von Sabine Heymann,
aus dem Spanischen (Spregelburd) von Klaus Laabs
Foto: Francesco Galli
Rafael Spregelburd
Foto: Susanne Schleyer
Marius von Mayenburg
Im Oktober 2002 erschütterte eine Serie von Morden die USA. Ein Heckenschütze tötete aus einem Auto heraus scheinbar wahllos Passanten. Mindestens
zehn Menschen fanden den Tod, ehe der Attentäter gestoppt werden konnte. Die
Spekulationen über seine Motive reichten von Ehestreitigkeiten bis hin zu einer
Verstrickung in islamistische Terrornetzwerke. Im November 2009 wurde der
als »Beltway Sniper« bekannt gewordene Täter hingerichtet.
Vier Dramatiker, der Italiener Gian Maria Cervo, die Deutschen Marius von
Mayenburg und Albert Ostermaier und der Argentinier Rafael Spregelburd,
nehmen diesen Fall zum Anlass für eine Beschäftigung mit der Identitätskrise
der westlichen Demokratien. Wie definieren wir uns im Verhältnis zu anderen
Kulturen und Religionen, woher kommt der diffuse Selbsthass unserer Gesellschaft, wie lassen sich Medien bei der Stilisierung von Amokläufern zu modernen Helden instrumentalisieren, wie viel Sicherheit brauchen wir, und wie viel
Freiheit sind wir bereit dafür zu opfern? Das gemeinsame Werk der Autoren
strebt keinen Ausgleich der verschiedenen Schreibstile an, sondern versucht,
aus der Verschiedenartigkeit der Herangehensweise eine Vielfalt an Perspektiven auf das komplexe Thema zu gewinnen. (Besetzung variabel)
Uraufführung: 4. November 2012, Romaeuropa Festival, Viterbo
Münchner Premiere: 16. November 2012, Residenztheater
Regie: Marius von Mayenburg
Eine Koproduktion mit dem Teatro di Roma (Teatro Argentina),
Romaeuropa Festival und dem Festival »Quartieri dell’arte« in Viterbo
»Und das Merkwürdige ist, dass es uns nie überrascht. Als wüsste jeder
auf Anhieb zehn gute Gründe, warum man uns attackieren sollte. Als gäbe
es eine dumpfe Ahnung, dass wir nicht schuldlos sind. Als hätte jeder
von uns schon mal dran gedacht, selbst eine Waffe zu nehmen und einfach
reinzuballern in die Menschen, die nur so tun, als wär‘n sie ahnungslos.
Wir wären überraschter, wenn uns keiner angreift.« Marius von Mayenburg
16
Albert Ostermaier Gian Maria Cervo
Gian Maria Cervo, 1970 in Neapel
geboren, Studium an der Universität
Viterbo. Er übersetzt und inszeniert
seit 1993 neben klassischen Autoren vor allem Gegenwartsdramatik
(Kane, Beckett, Hamilton, Kushner
u.a.). Seit 1997 ist er Festivalleiter
des Theaterfestivals »Quartieri
dell’arte« in Viterbo und schreibt
eigene Texte. 2001/02 arbeitete er
als Hausautor am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg. DramaturgieDozentur in Rom. Gian Maria Cervo
lebt und arbeitet in Viterbo.
Marius von Mayenburg, 1972 in
München geboren, Studium der
Altgermanistik, seit 1992 in Berlin.
1994 bis 1998 studierte er »Szenisches Schreiben« an der Hochschule der Künste. 1998 bis 1999
Dramaturgie-Mitarbeit an der
DT-Baracke, Beginn der Zusammenarbeit mit Thomas Ostermaier, seit
1999 Dramaturg und Hausautor an
der Schaubühne am Lehniner Platz.
Regiearbeiten, Übersetzungen, eigene Stücke. Er zählt zu den international erfolgreichsten deutschsprachigen Dramatikern.
Albert Ostermaier, geboren 1967,
schreibt Lyrik, Prosa und Dramatik
und lebt und arbeitet in München.
Zusammenarbeit mit Regisseuren
wie Andrea Breth, Lars Ole Walburg
und Martin Kušej. 2011 kommen
seine Stücke Aufstand und Halali
zur Uraufführung. Albert Ostermaier
wurde mit namhaften Preisen und
Auszeichnungen geehrt, u.a. dem
Kleist-Preis, dem Bertolt-BrechtPreis und 2011 mit dem WeltLiteraturpreis für sein literarisches
Gesamtwerk (siehe auch Seite 69)
Rafael Spregelburd, geboren 1970
in Buenos Aires, ist Dramatiker,
Regisseur, Übersetzer und einer der
wichtigsten Vertreter des zeitgenössischen argentinischen Theaters.
Film- und Theaterschauspieler. 1994
Gründung einer eigenen Theaterkompagnie. Er erhielt über 40 argentinische und internationale Preise,
zuletzt (2011) den Argentinischen
Nationalpreis. Zahlreiche deutschsprachige Inszenierungen. 2012 ist
er künstlerischer Leiter der »École
des Maîtres«, einer Theaterakademie in italienischer, französischer,
portugiesischer und belgischer
Kooperation.
17
»Der Faust« an Tankred Dorst
und Ursula Ehler
Dramatiker der letzten Jahrzehnte. In der intensiven
Zusammenarbeit mit seiner Frau Ursula Ehler gehört er
zu den bekanntesten und produktivsten Theaterautoren
Deutschlands.« – Wir gratulieren!
Foto: Isolde Ohlbaum
Der Deutsche Theaterpreis »Der Faust« 2012 wurde an
Tankred Dorst und seine Frau und Co-Autorin Ursula
Ehler verliehen. In der Begründung der Jury hieß es,
Dorst sei einer der »wichtigsten deutschsprachigen
»Wie können wir leben? Fragen alle Stücke meines Theaters: Welche Macht treibt
uns zu unseren Taten und zu unseren Verbrechen, zu unserem Wahnsinn –
welche dunkle Phantasiebewegung treibt uns schließlich in Krieg und
in das Ende von allem? Nichts ist sicher, und die Wahrheit, um die wir uns
lebend und schreibend bemühen, bleibt unauffindbar.« Tankred Dorst, 1983
Tankred Dorst, geboren am 19. Dezember 1925 in Sonneberg, Thüringen. Erste Stücke für ein StudentenMarionettentheater in den 50er
Jahren in München. Anfang der 60er
Jahre erste in der Folge viel gespielte
Stücke für die große Bühne: Große
Schmährede an der Stadtmauer und
Die Kurve. Seitdem etwa 35 Stücke –
seit 1972 meistens mit Ursula Ehler
(in Bamberg geboren und aufgewachsen, Bibliotheksausbildung, Kunststu18
dium in München) –, vier Opernlibretti, drei Filme als Regisseur.
Einige der Theaterstücke wurden
und werden weltweit gespielt: Toller,
Eiszeit, Merlin, Herr Paul, Fernando
Krapp hat mir diesen Brief geschrieben und Ich, Feuerbach. Zahlreiche
Literaturpreise, in Deutschland u.a.
der Büchner-Preis. Lebt in München,
verheiratet mit Ursula Ehler.
»Menschen schreiben«
Tankred Dorst über Merlin, über die virtuelle, globalisierte Welt und
über die dramatische Kunst im technischen Zeitalter
Wolfgang Hirsch im Gespräch mit Tankred Dorst
Wolfgang Hirsch: Wie hat Ihnen die Premiere Ihres ›Merlin‹
in Weimar gefallen?
Tankred Dorst: Normalerweise gehe ich gar nicht zu Premieren, sondern lieber zu Generalproben. Aber es war aus
Termingründen nicht anders möglich. Was ich in Weimar
gesehen habe, hat mir sehr gefallen. Es ist eine schöne Aufführung mit vielen Details. Wie der Zuschauer die Inszenierung aufnimmt, kann ich nicht beurteilen, weil ich das
Stück zu gut kenne und nicht weiß, wie sich die Geschichte für jemanden fügt, der das komplette Stück nicht kennt.
Es ist ja ein großer Steinbruch von Szenen, Momenten und
Personen. (…) Komplett wird es nie gespielt – dazu ist es
wohl zu lang. Alle Kürzungen sind, ob gewollt oder nicht,
Interpretationen. Es ist immer die Frage, was dem Regisseur wichtig und unwichtig ist, und vielleicht hat er sich
etwas ganz anderes vorgestellt als ich mir beim Schreiben.
Man kann mit dem Stoff natürlich eine engere politische
Haltung verbinden, wie es Christoph Hein in Die Ritter der
Tafelrunde tut. Aber das war nicht die Absicht. Für mich
ist Merlin ein Versuch, in Form eines Weltmärchens die
Verhältnisse in der Welt als Ganzes darzustellen und nicht
das politische Tagesgeschehen.
Natürlich. Als ich mich mit dem Stück befasst habe, dachte ich, der wahre ›Merlin‹, der in die Zukunft sehen kann,
muss vor 30 Jahren, als er es geschrieben hat, Tankred Dorst
selbst gewesen sein. Er hat nicht nur den Runden Tisch geweissagt, sondern auch das Ende der Utopien. Geht Ihnen
nicht, wenn Sie Ihr Stück an der inzwischen stattgehab-
ten Geschichte abgleichen, ein Schauer über den Rücken?
Na ja. Ein Stück schreiben ist ja mein Leben. Ich selbst
will das gar nicht als Vision oder Utopie sehen, obwohl
Utopien ein Thema in Merlin sind. Ich habe Aufführungen
in Budapest, Prag und Kiew gesehen, wo für das Publikum
das Hauptinteresse in der zusammenbrechenden oder
nicht mehr geglaubten Utopie bestand. In diesen Ländern
hat sich das, was ursprünglich gar nicht meine Hauptabsicht war, automatisch ergeben. Aber inzwischen verlief
doch die Weltgeschichte derart, dass man den Utopien gegenüber außerordentlich skeptisch geworden ist. Und ich
selber auch. Wir haben uns damals jedoch mit der Frage
beschäftigt, wie das Leben denn möglich sein sollte ohne
Utopie. Ich denke – mal so für mich: Der Mensch braucht
eine Utopie. Er steht morgens auf und putzt sich die Zähne
– und dann fängt die Utopie schon an.
Welche Utopie können Sie empfehlen, nachdem der Sozialismus sich als untauglich erwiesen hat und der Kapitalismus
gerade ebenfalls seine Zusammenbrüche feiert?
Sie sagen es! Vielleicht werden die späteren Generationen
fragen, was für ein schreckliches Jahrhundert das unsrige
war, als utopische Gedanken, um die Welt zu verbessern,
zu gewaltigen Katastrophen geführt haben.
Im ›Merlin‹ mag der Teufel die Idealisten, weil sie ganze Völker in die Hölle geführt hätten. Ist das ein Reflex auf persönliche Lebenserfahrungen?
»Wenn ich keine Menschen mehr im Kopf habe,
kann ich vielleicht zur Textfläche übergehen.« Tankred Dorst
19
TANKRED DORST
Natürlich, in gewisser Weise ist alles aus persönlichen
Erfahrungen geschöpft. Aber diese ist nicht nur meine
eigene, sondern die Lebenserfahrung von zwei, vielleicht
drei Generationen im Krieg und Nachkrieg: dass das Böse
und das Gute nicht einfach zu trennen sind. Als ich Merlin
in Stockholm gesehen habe, hieß es in einem Pressegespräch, so ein Stück könne nur ein Deutscher schreiben,
weil in Schweden das Böse gar nicht existiere. Aber schon
aus dieser Feststellung blinzelt es ja hervor. Zwar haben
die Schweden keinen Weltkrieg zu verantworten, doch
nicht nur im Krieg, auch im täglichen Leben geschehen
böse Dinge. Und das sind oft die, die uns am schärfsten
berühren.
eines über die 68er. Damals jedenfalls funktionierte Theater als Diskursort, wie es heute nur noch in selteneren
Fällen gelingt. Es befindet sich nicht mehr in dieser Aufregung, mit politischen Argumenten um sich zu werfen.
Während die Diskursebene heutzutage vielleicht eher in
Blogs stattfindet. Verzeihen Sie mir bitte die Frechheit meines
Vorsatzes, Sie nach dem Internet zu fragen!
Ich kann nichts darauf antworten. Ich schreibe mit einem
Kugelschreiber und bin auf medialem Gebiet ganz unwissend.
Das heißt, Sie haben auch keine Freunde bei Facebook?
Ihr Stück trägt deutlich experimentellen Charakter. Würden
Sie sagen, dass es die Funktion der Bühne ist, einen Experimentierraum für das menschliche Miteinander, für menschliche Verhaltensweisen zu gewähren?
So, wie Sie das sagen, klingt es für mein Ohr gut – speziell
für dieses Stück, das eine Welt neben unserer wirklichen
Welt ist und eine Welt abbildet, während sich unentwegt
die eine an der anderen misst. Beim Schreiben eines solchen Stückes richtet sich der Blick auf die wirkliche Welt,
wie ich sie einfügen kann – und umgekehrt. Die Spannung
eines Theaterstücks beruht letztlich darauf, dass man sich
mit dieser oder jener Figur identifizieren will – oder eben
nicht. Vor der Uraufführung in Hamburg, als das Stück
erst als Exposé vorlag, diskutierten Regisseur Peter Zadek
und seine Leute, wer sich mit welcher Figur identifizieren wolle. Zu meiner Überraschung hat Zadek selbst nicht
Merlin, den Zauberer, auserkoren, sondern Artus. Und der
Dramaturg meinte, Parzival könnte man heute überhaupt
nicht schreiben. Da dachte ich, gerade Parzival interessiert
mich – außer Merlin – am allermeisten.
Besitzt das Theater heute noch diese gesellschaftspolitische
Kraft wie in den 70er und frühen 80er Jahren?
Meine Zeit begann in den Sechzigern, als ich Toller geschrieben habe. Der Dichter Ernst Toller, der nach dem Ersten Weltkrieg eine Räterepublik gründen wollte, war für
mich eine Identifikationsfigur – auch im Negativen, seinem
mangelnden Realitätssinn, dieser Schwärmerei. Aber man
sah, obwohl ich es früher geschrieben habe, das Stück als
20
Nein. Nur im wirklichen Leben.
Aber wenn ich mir anschaue, dass Sie für ganz unterschiedliche theatrale Formen und Medien – von der Puppenbühne
bis zum Fernsehspiel – gearbeitet haben: Wäre da nicht das
Internet heute ein denkbares Medium für Ihre Arbeit?
Ich schreibe fürs Theater. Solange man in diesem Beruf
arbeitet, denkt man an szenische Abläufe, an Figurenkonstellationen. Die Stücke, die ich geschrieben habe, sind auf
sehr verschiedene Weise benutzt worden, als Libretto, als
Hörspiel, als Film. Aber Internet? Ich weiß es nicht, für das
Technische bin ich nicht begabt. (…)
Würden Sie das Internet in seiner Spezifik der künstlichen
Wirklichkeit als einen Mythos des 21. Jahrhunderts bezeichnen wollen?
Ein interessanter Gedanke. Nur kenne ich es zu wenig, um
darüber zu urteilen. Ich hab’ das alles ja gar nicht, bin ein
Urmensch sozusagen. Leben kann ich trotzdem. Wenn ich
an meine Kindheit zurückdenke – ich bin ja vom Dorf –,
da war das Leben nicht derart beherrscht von technischen
Mitteln. Als ich 14 war, da ist man mit dem Floß gefahren
oder hat sich Indianergeschichten erträumt. Das Leben
war, in gewisser Weise, auch langweiliger als heute. Heute
sind Industrien fieberhaft tätig, um die Zeit der Kindheit
mit allen möglichen technischen Mitteln zuzudecken. Dabei denke ich, das Sich-Langweilen ist eigentlich etwas
dem Menschen Nützliches.
Inwiefern?
Es setzt die eigene Fantasie in Bewegung. Wenn Maschinen tätig sind, um die Langeweile zu verscheuchen, führt
das zu einer Verarmung.
Leben wir in einer fantasielosen Zeit?
Ja – oder die Fantasie bewegt sich auf anderen Gebieten.
Technik, Naturwissenschaft …
In keinem früheren Jahrhundert wäre uns ein solch ungeheuerlicher, die Welt verändernder Technikfortschritt widerfahren. Erschreckt Sie das?
Vieles ist natürlich besser, als es früher war. Technisch, gesellschaftlich. Wir leben in einer sehr freien Welt, wenigstens in Mitteleuropa. Ursula Ehler und ich arbeiten seit 20
Jahren für ein Festival »Neue Stücke aus Europa«, so dass
wir viel reisen. Da ist man, auf der Suche nach guten Stücken, mal für zwei Tage in Moskau, dann in Irland und im
Kosovo. Da bemerke ich nicht, dass die Technisierung, die
sogenannte Globalisierung der Welt die unterschiedlichen
Kulturen einander uniform machte. Ich sehe allerdings,
dass immer weniger Stücke geschrieben werden, die einen
Anfang und ein Ende, die Personen und eine Story haben.
Sondern?
Dafür gibt es Arbeiten in der Art einer Performance. Man
inszeniert kein neues Stück, sondern man inszeniert die
Arbeit des Entstehens eines Stückes. Ich sehe viele Produktionen europaweit, die abstrakt räsonieren und sich
entfernt haben von dem, was den Menschen eigentlich
ausmacht – weil sie keine Geschichte haben. Ich will das
nicht verallgemeinern, es ist nur eine subjektive Beobachtung.
es das Theater überhaupt gibt, dass es wieder Geschichten über Menschen erzählt. Sofern es Talente gibt, die
Menschen schreiben. Man schreibt ja nicht Sätze, sondern Menschen. Textflächen hätte man früher als dramaturgische Schwäche angesehen und gar nicht erst auf die
Bühne gebracht. Auf einmal ist das gewollt. Theater ist ein
Medium, das alles aufnimmt, durch die Mühle dreht und
vielleicht wieder ausspuckt. Theater ist ein malmendes
Medium. Textflächen haben mich nie verlockt. Wenn ich
keine Menschen mehr im Kopf habe, kann ich vielleicht
zur Textfläche übergehen.
Woran arbeiten Sie?
Vier Stücke möchte ich noch machen. Eines davon hat damit zu tun, dass ich, als ich vor vielen Jahren den Büchner-Preis bekommen habe, eine Rede über Georg Büchner
halten sollte. Ich habe mir damals vorgestellt, es würde in
einem Antiquariat ein Zettel auftauchen, auf dem in Büchners Handschrift das Wort »Aretino« stünde. Was für ein
Stück könnte das sein? Büchner hat vermutlich kein Wort
davon geschrieben. Meine Rede handelte von diesem nicht
vorhandenen Stück. Jetzt habe ich den Entwurf meiner
Rede wiedergefunden und mich gefragt: ›Warum hast du
es damals nicht geschrieben?‹ Jetzt mache ich es. Es handelt übrigens auch vom Weltuntergang.
Wenn ich die Schlagworte unseres Gesprächs bedenke, frage
ich mich, woher Sie diesen Optimismus nehmen.
Der tiefere Grund, weshalb viele andere keine Stücke über
Menschen mehr schreiben, ist vielleicht, dass sie nicht
mehr sagen können oder wollen, was das ist, die »Person«.
Nur ein Konglomerat aus ganz verschiedenen, einander
widersprüchlichen Eigenschaften? Wenn es den Menschen
als fassbares Individuum mit einer Lebensverantwortung
für alles, was er tut, nicht mehr gäbe, könnte es keine Stücke mehr über Personen geben. Dagegen schreibe ich an.
Wenn wir Bildtelefon hätten, hätten Sie mich nicken sehen
können. Das Modewort der Zeit heißt Textfläche. Wie erklären Sie sich das?
Da könnten Sie mich jetzt auch nicken sehen. Eine Erklärung weiß ich nicht. Ich glaube, das Problem wird mit der
Zeit abnehmen. Man wird wieder darauf kommen, solange
Das Gespräch führte Wolfgang Hirsch am 29. Januar 2012
anlässlich der ›Merlin‹-Premiere in Weimar.
Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Thüringischen
Landeszeitung, Weimar
21
INGRID L AUSUND
Bettina Erasmy
Chapters
An einem Freitag geht sie los. Vielleicht ist es auch ein Samstag. Die Woche
über hatte sie noch gearbeitet. Jetzt richtet sie sich in ihrem neuen Leben auf
der Straße ein, lebt fortan auf einem Sofa, mit Blick auf den Boulevard der Welt.
Maja ernährt sich von Dingen, die sie findet und die ihr die Menschen geben,
die Verkäuferin aus dem Supermarkt oder die Männer, die Maja mitnehmen
und mit ihr schlafen. Bettina Erasmys Chapters beschreibt den Weg einer Frau,
die ein Verbrechen begangen hat. Das Stück folgt dem Rhythmus eines Roadmovies, erzeugt Bilder wie aus einem amerikanischen Film. Es ist der Blick einer
Aussteigerin, die ihre Umwelt minutiös erfasst, ein Protokoll eines Ausstiegs, ein
Monolog mit vielen Stimmen. (1 D Mindestbesetzung, Besetzung flexibel)
Bettina Erasmy wurde in Köln
geboren und lebt heute in Berlin. Sie
schreibt Prosa, Lyrik und Dramatik.
Nach dem Studium der Germanistik,
Philosophie und Anglistik in Köln
und Vancouver/Kanada war sie als
Dramatikerin und Regisseurin an
verschiedenen Theatern tätig. Ihre
Stücke wurden u.a. am Landestheater Tübingen, an der Berliner Volksbühne, an der Berliner Schaubühne,
am Schauspielhaus Bochum, am
Theater Basel oder den Ruhrfestspielen Recklinghausen aufgeführt.
Zuletzt kam Dass wir Geister sind
(2012) am Staatstheater Darmstadt
zur Uraufführung. 2013 wird ihr
Libretto der Oper Lola rennt an der
Oper Regensburg uraufgeführt.
Stücke – Eine Auswahl
Frei zur Uraufführung
Mein Bruder Tom
4 D, 4 H
UA: 5.1.2008, Landestheater Württemberg Hohenzollern, Tübingen
Regie: Thomas Krupa
Dass wir Geister sind, Erasmys Stück, in dem die Familie sowie die Verlobte
eines jungen Mannes über dessen Tod hinwegzukommen versuchen, wurde in
der Spielzeit 2011/12 als Auftragswerk erfolgreich am Theater Darmstadt inszeniert.
Das wollt ihr nicht wirklich
3 D, 4 H
UA: 5.6.2010, Staatstheater
Wiesbaden in Kooperation mit den
Ruhrfestspielen Recklinghausen
Regie: Tilman Gersch
Supernova
3 D, 2 H
UA: 20.11.2010, Staatstheater
Darmstadt
Regie: Hermann Schein
»Nicht das Psychogramm einer durchschnittlichen
Mittelstandsfamilie, nicht die Befindlichkeit der
Dreißigjährigen interessiert Bettina Erasmy,
sondern sie nimmt die weit größeren Fragen von Tod
und Schicksal ins Visier.«
Dass wir Geister sind
3 D, 4 H
UA: 30.3.2012, Staatstheater
Darmstadt
Regie: Hermann Schein
Frankfurter Allgemeine Zeitung über ›Dass wir Geister sind‹
22
Foto: Jeanne Degraa
23
Werner Fritsch
Nofretete – ein Projekt
Sonnengesang (1350 v. Chr.)
Immer schon hat mich der Ausdruck im Gesicht Nofretetes, der uns über Jahrtausende erhalten geblieben
ist, fasziniert. Und immer noch gibt er uns Rätsel auf.
Dieser Blick ist voller Weisheit, Sanftmut umspielt ihre
Züge. Was für eine Frau war NOFRETETE, deren Name
bedeutet: die Schöne kommt? Und welche Rolle spielen Nofretete und Echnaton für uns und unsere Welt
heute?
Werner Fritsch wurde 1960 in Waldsassen/
Oberpfalz geboren und lebt in Hendelmühle und
Berlin. 1987 erscheint sein vielbeachteter Roman
Cherubim. Zu seinen zahlreichen Stücken gehören
Chroma, Hydra Krieg, Bach und Wondreber Totentanz oder auch die Monologe Sense, Jenseits, Nico.
Sphinx aus Eis, Das Rad des Glücks und Magma,
die auf der Bühne, für den Rundfunk oder fürs
Kino realisiert wurden. Fritschs Monolog Mutter
Sprache ist noch frei zur Uraufführung.
24
Historisch ist über Nofretete wenig bekannt. Mehr wissen wir über ihren Königsgemahl, den Pharao Echnaton.
Immer entschiedener häufen sich, von Sigmund Freud
bis Jan Assmann, Stimmen, die aufzeigen, dass der Ursprung unserer Kultur in Ägypten, im Monotheismus
Echnatons liegt, der auf Moses (und die mit ihm über
400 Jahre in ägyptischer Gefangenschaft weilenden
Israeliten) maßgeblichen Einfluss gehabt haben soll.
Dem Spiegel war all das am 22. Dezember 2006 eine
Titelgeschichte sowie eine Titelseite wert, die Echnaton, Nofretete und die Strahlen ihres Gottes Aton zeigt.
Revolution in Ägypten: ein Herrscher zwischen Dichter und Diktator (auch Mao und Ghadaffi schrieben
Gedichte), ein Religionsgründer im Zeichen des monotheistischen Fundamentalismus, eines religiösen
Absolutheits- und Führungsanspruches – alles Folgen
einer Vision, deren Aktualität und Leuchtkraft auch
nach Jahrtausenden noch ungebrochen ist? Die Vision des Echnaton tritt auf als große Poesie in seinem
Hymnus an die Sonne, seinem SONNENGESANG. Wie
das Licht der Sonne alles mit Leben erfüllt, alles mit
all-umfassender Liebe und Harmonie, so sind auch die
Abbildungen, die Echnaton in Auftrag gab, erfüllt von
der Zärtlichkeit zwischen ihm, Nofretete und ihren
Foto: Isolde Ohlbaum
Schön erscheinst du
Im Horizonte des Himmels,
Du lebendige Sonne,
Die vom Anbeginn lebt.
Du bist aufgegangen im Osthorizont
Und hast jedes Land
Mit deiner Schönheit erfüllt.
Schön bist du,
Groß und strahlend,
Hoch über allem Land.
Deine Strahlen umfassen die Länder
Bis ans Ende von allem,
Was du geschaffen hast.
Kindern im Licht Atons. Auch kristallisieren sich utopische Entwürfe sozialer Gerechtigkeit (Maat) um die
Figuren Nofretetes und Echnatons. Echnaton hat den
gesamten ägyptischen Götterkreis um den Gott Amun
in die Luft gesprengt und stattdessen einen einzigen
Gott inthronisiert, den alle sehen können und der allen Lebenden seine Güte zuteilwerden lässt, den Gott
Aton: die Sonne. Seine neue Religion ist nicht an im
Tempel verborgenen und nur den Priestern zugänglichen Göttern orientiert, sondern am allen Sichtbaren:
der Sonne, die zugleich konkret und transzendent ist.
Echnaton, Nofretete und ihre Kinder sind des neuen
Gottes erste und einzige Dichter und Hohepriester, sie
haben darin, durchaus in der äygptischen Tradition,
die Stellung von Göttern inne.
– Wo aber, so fragt Nofretete im Monolog Echnaton, ist
Aton, wo ist die Sonne, wenn es Nacht ist? Und Echnaton antwortet: In meinem Herzen. – Wo ist aber Aton
jetzt, fragt sich nun im Monolog Nofretete angesichts
der Mumie Echnatons, Da dieses Herz tot ist? Schon
zu Lebzeiten Echnatons hatte sich gezeigt: Auch die
Sonnen-Familie ist Leid und Tod unterworfen. Eine
schwere Pestepidemie rafft viele Menschen hinweg
und macht auch vor der königlichen Familie nicht halt:
drei Töchter Nofretetes und Echnatons sterben. Echna-
Er veröffentlichte außerdem Prosa wie zum
Beispiel Steinbruch und Stechapfel und
drehte u.a. die Filme Das sind die Gewitter
in der Natur, Ich wie ein Vogel, Faust Sonnengesang. Seine Arbeiten wurden u.a. mit
dem Robert-Walser-Preis, dem Hörspielpreis der Kriegsblinden, dem Else-LaskerSchüler-Preis ausgezeichnet. Für sein
Hörspiel Enigma Emmy Göring erhielt er
die Auszeichnungen: Hörspiel des Jahres
2006 und den ARD-Hörspielpreis 2007.
ton zieht sich immer mehr in seine religiösen Visionen
zurück, die er zugleich mit immer größerer Gewalt gegen Anhänger der alten Religion durchsetzt: er lässt
Bilder der alten Götter zerstören! Nofretete im Kostüm
des männlichen Mitregenten Semenchkare übernimmt
die Staatsgeschäfte, die sie nach Echnatons Tod weiterführt. Irgendwann stirbt auch Echnaton. Das Volk
zweifelt an der neuen Religion, die ihre Diener nicht
vor dem Tod bewahren kann. Über die genaue historische Position Nofretetes kann nur gemutmaßt werden.
Im Prisma ihrer Figur sollen sich in diesem Monolog
die Fragen brechen, die uns, ausgelöst durch die Revolution Echnatons, heute noch bewegen. Wie steht die
Revolution Echnatons heute vor uns, angesichts der
Revolution des ägyptischen Volks?! Der Monolog NOFRETETE soll zwischen den Zeiten pendeln, aus der Gegenwart zurück in die Vergangenheit, die immer mehr
zur Metapher der Gegenwart wird.
Nicht lange nach dem Tod Echnatons reißt die alte
Priesterelite erneut die Macht an sich. Nofretete wird
aus allen Ämtern gedrängt. Im Monolog NOFRETETE
steht sie neben der Mumie ihres Mannes. Das gemeinsame Leben, die gemeinsame Vision ziehen an ihr vorbei. War die Gewalt gerechtfertigt, um die neue Religion durchzusetzen? Waren die Tode der Töchter nicht
Werner Fritschs Filme Faust Sonnengesang und Das sind die Gewitter
in der Natur sind soeben in der filmedition suhrkamp erschienen.
fes 33. 64 Seiten. € 29,90
(978-3-518-13533-4)
25
WERNER FRITSCH
doch Zeichen des Zorns der alten Götter? Hat die neue
Religion Atons Licht zu allen gebracht? Um welchen
Preis? Der eine Gott, der Gläubige von Ungläubigen
trennt, Gerechte von Ungerechten, war er nicht Anfang
aller Entzweiung, aller Kriege? Die vielgestaltige Götterwelt der alten Religion, bot sie Heimat?
Ich stelle mir vor: Licht auf Nofretetes Kopf, sonst
Dunkel, aus dem von Zeit zu Zeit Stimmen kommen.
Unten, aber das sieht man nicht gleich, liegt der mumifizierte Körper ihres Mannes Echnaton. Sie spricht
zu ihm: Sie wirft mit ihren Worten Scheinwerfer ins
Dunkel. Biographisches über ihre Liebe zu Echnaton,
ihr Schwanken angesichts der Glaubensrevolution ihres Gattens, sie spricht über ihre gemeinsamen Kinder, deren Geburten und Tode, schließlich über den
Tod Echnatons und den religiösen Rollback, der daraufhin durch die wiedererstarkte Priesterschaft des
Amun eintrat ... Echnaton ist der erste Pharao, der sich
nicht beim Niederschlagen seiner Feinde hat abbilden
lassen, sondern zusammen mit seiner Frau und später
mit ihren gemeinsamen Töchtern entweder bei der Anbetung Atons, der Anbetung der Sonne, oder in trautem privaten Zusammensein. Echnaton hat nicht nur
eine eigene Religion, eine eigene Kunstrichtung, sondern auch noch eine eigene Stadt gegründet: Armana.
Dort dichtet er, zusammen mit Nofretete – die, so wird
vermutet, den Glauben an die Sonne als Gott sogar
aus Afrika, dem Land ihrer Herkunft, mitgebracht hat
– die große Hymne des Sonnengesangs. Der Monolog
könnte so enden oder beginnen:
NOFRETETE
Dies ist ein Film aus der Zukunft
Wenn Sand der Wüste mein Blut trinkt
Wo auch immer New York steht
Geschrieben in der Chronik des Nichts
Aus Stein meines Herzens Hieroglyphen
Nackt dereinst über dir im Licht
Der Lapislazulibrandung deiner Iris
Als Himmelsgöttin auf dem Innendeckel
Deines Sarkophags ist dies Herz
Gewogen von Unsterblichen geleitet
In der Seligen Land diese Zunge
Schweigt von der Muttersprache
Der Messer jetzt mein Blut spricht
Aus dem Himmel Finsternis Blues
Falling down like hail über den Hudson hin
In der Ferne Helikopter Autos Menschen
Schlangen wie in Dantes Inferno
Über die Eisengerippe der Brückenpfeiler
Ins Jenseits dieses Traumes treibt
Deine Mumie seit einer Ewigkeit
In den Fluten der Lethe die Erde sieht
Auf allen Kanälen wer sie die Mutter
Überzieht mit Feuerzungen unstillbarer Wut
Mit dem Magma des Zorns wie Pompeji wie Sodom
Wie Ninive so taumelt jetzt Babel
Die vielzüngige Königin der Huren Kehle
Ist glatt wie Öl ihre Brüste
Sind Türme trifft am ehesten ja
Der Blitz spricht die Nacht
Mit rauher Zunge vom Dornbusch
Der brennt noch atme ich im Schlaf
Blüht mein Glück kurz wie ein Flügelschlag
Jetzt in Blitzen aus dem Blau
Des ewigen Tags auf in dir o Türkis
Des Todes Lichtkristall unserer Liebe
Ein Stierschädel mein Sternzeichen
Und der Schädel eines Widders
Dein Sternzeichen bernsteingelb
Im Museumsschrein der mein Gesicht
Spiegelt einer Mumie Schrei
Durch drei Jahrtausende Jenseits
Des aufgerissenen Mundes
Hieroglyphen aus Haar
Getönt mit ausgebleichtem Blond
Und es glitzert aus purem Gold
Der Skarabäus ihres Lapislazuliamuletts
Von Rot umrahmt und von Türkis
Auf der Brust gegabelte Stöcke
Gold mit blauen Ringen
Wie um Schlangen zu fangen
Im Jenseits Styx der Krokodile
Unter der Stadt I awoke crying
Mit zum Himmel emporgereckter Hand
Warfst unser erstes Kind
Mir die Sonne
Auf den Kopf und sagte Wenn ich sterbe
Nehme ich all mein Spielzeug mit
Hilfst du mir einpacken
Angesichts des Paradieses
Auf einem Bild von Gauguin
Fiel im Metropolitan Museum
New York der Strom aus
Und siehe Brusttrümmer
Und Trümmer von Lippen
Aus Armana im letzten Licht
Des Tages durch die Glaskuppel
Gerade noch zu erkennen Nofretete
Heißt Die Schöne ist gekommen
Die Sonne auf der Zunge
Werner Fritsch, 2012
»Im Prisma ihrer Figur sollen sich in diesem Monolog die Fragen brechen,
die uns, ausgelöst durch die Revolution Echnatons,
heute noch bewegen. Wie steht die Revolution Echnatons heute vor uns,
angesichts der Revolution des ägyptischen Volks?!
Der Monolog NOFRETETE soll zwischen den Zeiten pendeln, aus der
Gegenwart zurück in die Vergangenheit, die immer mehr zur Metapher
der Gegenwart wird.« Werner Fritsch
26
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INGRID L AUSUND
Nikolaus Günter
Wild ist der Wind
oder Quadrophenia II
Nikolaus Günter wurde 1976 in
Kassel geboren. 1992 Umsiedlung
mit seinen Eltern nach Pitschen/
Byczyna in Polen. 2001 tritt er der
Berliner Off-Theater-Gruppe »Vereinstheater Deutschland« bei. Enge
Arbeitsbeziehung zu dem Regisseur
Jörg Reimer, der ihn bei zahlreichen
Projekten (Düsseldorfer Schauspielhaus u.a.) zur Beratung hinzuzieht.
Wild ist der Wind oder Quadrophenia II ist das Debüt von Nikolaus
Günter als Dramatiker.
Sie leben in der »jungen Stadt mit Tradition«: vier Jugendliche, ein Mädchen
und drei Jungs, die nachts über Autos laufen und von einem anderen Leben
träumen. Sie leben in einer Schlafstadt, sagt Jonathan, dessen Eltern sich einen Traum erfüllt und ein Eigenheim gebaut haben im Neubaugebiet. Jonathan, Pietsche und Helene brechen gemeinsam aus, verlassen die Provinz, ihre
Schlafstadt, und fahren für ein paar Tage nach Berlin. Hier beginnt eine neue
Freiheit und eine amour fou. Nur Toto fehlt. Als er sich im Jahr darauf über
seinen Vater und dessen traditionelle Vorstellungen hinwegsetzt und erstmals
mitkommt, mag er sich nicht einfügen in den Liebesrausch der Freunde. Er
verschwindet für immer.
Nikolaus Günter erzählt von einer Jugend in der Provinz mit sprachlicher Eindrücklichkeit und Humor als Erinnerung von Dreißigjährigen, die mit den Wunden der Vergangenheit leben müssen. (1 D, 3 H)
Frei zur Uraufführung
Pietsche: Aus mir muss nichts mehr werden, denn ich bin schon etwas. Du glaubst
doch nicht im Ernst, dass es mir an Schulbildung fehlt, um nach Berlin zu ziehen.
Jonathan: Stimmt Pietsch. Dealen kannste sicherlich auch hier. Häuser besetzen
hundertprozentig auch.
Pietsche: Ich deale nicht, du Rotweinpoet. Ich finanzier mir nur irgendwie meinen
Lebensstil. Damit keiner irgendwann einmal sagen kann, ich hätte meine Eltern
für mein konsequentes Leben zur Kasse gebeten.
(aus: Wild ist der Wind oder Quadrophenia II)
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Foto: Susanne Schleyer
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JUNGES PROGRAMM
Neben
Ensemble-Stückentwicklungen und postdramatischen Projekt-Formen behaupten sich in den Spielplänen für das junge Publikum zunehmend auch starke Stücke von Autoren. Sie nehmen brisante Themen
auf und fordern zur Auseinandersetzung mit Sprache, Form und szenischen Setzungen heraus. Sie stellen
Kunst, nicht ein pädagogisches Konzept in den Vordergrund. Sie stellen Fragen, statt Antworten zu liefern.
Mit Stücken von Etel Adnan, Nikolaus Günter, Martin Heckmanns, Christoph Nußbaumeder, Edward Bond, Dirk
Dobbrow, Werner Fritsch und anderen versammelt das »Junge Programm« bei Suhrkamp ausgewählte, literarisch
anspruchsvolle Stücke für das Kinder- und Jugendtheater. Hier eine Auswahl:
Etel Adnan
Wessen Ehre?
Originaltitel: Crime of Honor
Deutsch von Brigitte Landes
Hussein liebt das »junge Mädchen«. So sehr, dass er bereit
ist, für sie zu lügen und das gewünschte Alibi zu liefern.
Nun selbst mit dem Vorwurf des Diebstahls konfrontiert,
tritt Husseins traumatische Vergangenheit hervor. Adnans
Stück beschreibt eine Extremsituation, die eine Parabel ist
für die Zwänge und Abhängigkeiten menschlichen Zusammenlebens. (3 D, 1 H, Besetzung variabel)
Frei zur deutschsprachigen Erstaufführung
Dirk Dobbrow
Legoland
In Legoland treffen wir Jugendliche in einer Plattenbauhochhaussiedlung. Wie sie miteinander umgehen, ihre
Wünsche, Ängste und Sehnsüchte, das beschreibt Dobbrow
ohne jede Sentimentalität als eine nüchterne Bestandsaufnahme einer Gesellschaft, die vergessen hat, was soziale
Gerechtigkeit oder Mitmenschlichkeit bedeutet. (4 D, 6 H)
Nikolaus Günter
Wild ist der Wind oder Quadrophenia II
Nikolaus Günter erzählt von einer Jugend in der Provinz
mit sprachlicher Eindrücklichkeit und Humor als Erinnerung von Dreißigjährigen, die mit den Wunden der Vergangenheit leben müssen (siehe auch S. 29).
(1 D, 3 H)
Frei zur Uraufführung
Martin Heckmanns
Kränk
Ein alleinerziehender Vater im Konflikt mit seinem aufbegehrenden Sohn Ernk begegnet einer alleinerziehenden
Mutter im Streit mit ihrer eigenwilligen Tochter Rosa. Die
beiden Eltern lernen sich bei der Arbeit kennen und suchen die Affäre, die Kinder freunden sich an. Die Jugendlichen verweigern sich dem Gespräch mit ihren Eltern und
erschaffen eine eigene Sprache. Zwei Generationen prallen aufeinander. (3 D, 2 H)
Uraufführung: 11. März 2004, Schauspiel Frankfurt
Regie: Simone Blattner
Uraufführung: 28. Januar 2000, Kleist Theater,
Frankfurt/Oder. Regie: Michael Funke
Werner Fritsch
Alles ein Kinderspiel
Unsere Welt, gespiegelt im Spiel der Kinder: Mit dem frischen, unschuldigen und naiven Blick des Kindes ist Werner Fritschs Stück die Erkundung der Welt, die durch das
Spiel des Kindes neu geschaffen wird. (2 D)
Frei zur Uraufführung
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Hermann Hesse
Demian
Die Geschichte von Emil Sinclairs Jugend
Bühnenfassung von Daniela Löffner
»Gerade Hesse, der mit ekstatischen Worten Geschichten
von Ich-Findungen erzählte, eignet sich perfekt für das
Jugendtheater.« Welt am Sonntag (2 D, 4 H)
Uraufführung: 6. Mai 2010, Junges Schauspielhaus,
Düsseldorf. Regie: Daniela Löffner
Heidi von Plato
Hampel und Trampel
Hampel und Trampel wollen auf Weltreise gehen, allerdings sprechen tausend Gründe dagegen. Nach längerem
Für und Wider fahren sie los, mit Herrn und Frau Schiss
im Gepäck, aber ohne den Fernseher, die Wäscheschleuder und die Bücher (bis auf Alice im Wunderland). Vor allem aber packen sie Mamapuppe und Papapuppe wieder
aus. Heidi von Platos Kinderstück ist eine wunderschöne
poetische und lustige Geschichte darüber, was es bedeutet,
größer zu werden. (2 D)
Frei zur Uraufführung
Gesine Schmidt
liebesrap
Vanessa und Yusuf sind ein Liebespaar aus Berlin-Neukölln. Beide sind 15 Jahre alt, er ist Türke, sie Deutsche.
Gesine Schmidt hat die Jugendlichen ein halbes Jahr lang
begleitet und aufgeschrieben, was sich in ihrem Leben
ereignet hat: ihre Liebe, ihre Träume, Konflikte mit der
Polizei, Schul- und Drogenprobleme, Streit in der Familie,
Schwangerschaftsabbruch. Das Hörspiel liebesrap (DLF,
2010) war 2010 Hörspiel des Monats November und erhielt 2011 den Hörspielpreis Prix Marulić.
Frei zur Uraufführung
Dianne Warren
Im Zeichen der Schlange
Originaltitel: Serpant in the Night Sky
Deutsch von Heide Liebmann
Der Taxifahrer Duff bringt sein neues Mädchen Joy mit
nach Hause. Die beiden möchten heiraten, allerdings gerät
Joy in Konflikt mit Duffs Schwester und deren Verlobtem.
Und Duffs Mutter geht eigene Wege. Dianne Warren entwirft starke Figuren und wunderbar leichte Dialoge in einer atmosphärisch starken Coming-of-age-Geschichte, die
über die Grenzen von Liebe, über Gefühle und von Einsamkeit erzählt. (3 D, 3 H)
Frei zur deutschsprachigen Erstaufführung
Prosa-Empfehlungen für szenische
Entdeckungen:
Martin Heckmanns
Konstantin im Wörterwald
Konstantin heißt in Wirklichkeit anders, nur gefällt
ihm dieser Name genauso wenig wie die »sogenannte
Wirklichkeit«, die ihn umgibt. Der Junge lebt mit seiner Mutter in einem Reihenhaus, der Vater hat sich
ohne Erklärung aus dem Staub gemacht. Und Konstantin stottert. Bis er eines Tages schreibend seine
eigene Geschichte entwirft. Martin Heckmanns beschreibt in seinem entzückenden ersten Kinderbuch
(erscheint 2013 im mixtvision Verlag, München) einen kindlichen Außenseiter, der mithilfe der Sprache
seinen Weg findet.
Anna Maria Jokl
Die Perlmutterfarbe
Ein Kinderroman für fast alle Leute
Aus dem Schulranzen von »Maulwurf«, einem der beliebtesten Schüler in der A-Klasse, verschwindet ein
Töpfchen mit selbstgemischter Farbe, der Perlmutterfarbe. Die ersten Verdächtigungen werden geäußert, das Misstrauen gegenüber der B-Klasse wächst,
die Jagd nach einem Sündenbock beginnt.
Nicht wegzudenken aus der Literatur des 20. Jahrhunderts ist dieser Roman über zwei deutsche Schulklassen Anfang der dreißiger Jahre, über Verrat und
Freundschaft, Machtgier und Zusammenhalt.
Raymond Queneau
Zazie in der Metro
Originaltitel: Zazie dans le Métro
Aus dem Französischen von Eugen Helmlé
Zazie lebt mit ihrer Mutter auf dem Land. Weil diese
ein ungestörtes Liebeswochenende in Paris verbringen möchte, wird Zazie bei ihrem Onkel Gabriel in
Paris geparkt. Bald wird es Zazie dort zu langweilig
und sie erkundet die Stadt auf eigene Faust.
31
INGRID L AUSUND
Anna Katharina Hahn
Die letzte Stufe
Ein Thema, das verdrängt wird und uns doch alle angeht: Über 80 Jahre ist sie
alt und soll raus aus ihrem Haus, so wollen es ihre Tochter und der Schwiegersohn. Vernünftig soll sie sein und ins ›betreute Wohnen‹ gehen, einsehen, dass
sie es allein nicht mehr schafft. Aber Lina Eisele hängt mit jeder Faser an jedem
Stück in ihrem Haus. Wie nur soll sie sich verabschieden von den Möbeln und
Bildern, die mit so vielen Erinnerungen verbunden sind?
14 Stufen nur hat die Treppe des Hauses, in dem Lina Eisele seit mehr als 50
Jahren lebt. Mittlerweile braucht sie eine halbe Stunde, um sie hinaufzusteigen.
Auf der letzten Stufe muss sie sich niedersetzen und innehalten, denn sie ist an
der letzten Stufe ihres Lebens angekommen. (1 D)
Uraufführung des Auftragswerks: 28. Januar 2011, Theater Heilbronn
Regie: Christian Marten-Molnár
Die Schatzsucher
In ihrem neuen Stück führt uns Anna Katharina Hahn in eine Reihenhaussiedlung am Rande der Großstadt. Die Siedlung, das Haus waren das große Glück
und die Altersvorsorge für das Ehepaar Elli, Ende vierzig, und Tom, Anfang
fünfzig, aber nun ist die Katastrophe da. Sie hat als Sachbearbeiterin ihre Stelle
verloren, und mit seinem Gehalt als unterer Angestellter können sie den Kredit,
mit dem das Haus finanziert ist, nicht mehr bedienen. So fassen sie den Entschluss, das Zimmer der Tochter, die gerade ausgezogen ist, zu vermieten. Auf
ihre Anzeige hin meldet sich DER JUNGE MANN. Er scheint für sie die Lösung
ihres Problems zu sein, mehr noch, die Verheißung für eine neue, bessere Zukunft. Doch wer ist DER JUNGE MANN, stimmen seine Geschichten und Versprechungen oder erzählt er nur das, was die Vermieter hören wollen? Immer
mehr gerät das Paar in den Strudel ihrer Hoffnungen und Wünsche. (1 D, 2 H)
Anna Katharina Hahn, geboren
1970, lebt in Stuttgart. Ihr Bestseller
Kürzere Tage stand auf der Longlist
für den »Deutschen Buchpreis«
2009 und auf der Shortlist für den
Preis der »SWR-Bestenliste« und
wurde 2010 mit dem Roswitha von
Gandersheim-Preis und dem Heimito
von Doderer-Preis ausgezeichnet.
Zuletzt erschien ihr Roman Am
Schwarzen Berg.
»Es wird Zeit, hoch den
Arsch, den eingeschrumpelten, und auf die dünnen Beine gestanden. Es gibt zwei
Sorten alte Weiber, die einen
werden fett, fressen sich
Wampen und Krautstampfer
an, Säue eben. Die anderen
magern ab, bekommen eine
Haut wie zerknülltes Butterbrotpapier und knochige
Stelzen. Ziegen. Die Ziege
stackst durch ihren Garten,
denn da gibt’s noch was
zu tun. Ziege bist du satt?
Wovon sollt ich satt sein,
sprang nur über Gräbelein,
fand kein einzig Blättelein,
mäh, mäh!«
(aus: Die letzte Stufe)
Uraufführung des Auftragswerks: 28. Februar 2013, Theater Heilbronn
Regie: Axel Vornam
»Meine Figuren sind wie Kordeln, die aus ganz
vielen Fäden gedreht werden.« Anna Katharina Hahn
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Foto: Sven Paustian
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INGRID L AUSUND
Noah Haidle
Lucky Happiness
Golden Express
Deutsch von Brigitte Landes
Das Lucky Happiness Golden Express ist ein billiges chinesisches Restaurant.
Andrew, ein alter Mann, bestellt hier, assistiert von einem komischen Kellnerpaar, jeden Abend das Gleiche. Bis er eines Abends einen Schlaganfall hat. Im
Krankenhaus kommt seine Familie zusammen, die beiden Töchter, Andrea und
Thump, die sich gerne selbst reden hört und ihren Vater wegen einer Risikolebensversicherung und des zu erwartenden Erbes gerne schon jetzt tot sähe.
Und schließlich Vivian, weißhaarig und schon verwirrt, die Mutter der Frauen
und Andrews Liebe seines Lebens, die ihn und die Mädchen einst verließ.
Noah Haidle erzählt in Rückblenden mit umwerfendem Witz, großartigen Figuren und mit Leichtigkeit von der Illusion des Glücks. (3 D, 2 H)
Noah Haidle, geboren 1978 in
Michigan, ist Dramatiker und
Drehbuchautor und lebt in Michigan.
Haidle studierte an der Princeton
University und der Juilliard School
und lehrte u.a. in Princeton. Er hat
zahlreiche Stücke geschrieben, sein
neuestes, Smokefall, wird im Frühjahr 2013 am South Coast Repertory
Theatre uraufgeführt. Sein Drehbuch
Stand Up Guys wurde 2012 mit
Christopher Walken, Al Pacino und
Alan Arkin in Hollywood verfilmt.
Haidle hat zahlreiche Preise erhalten. 2009 wurde sein Erfolgsstück
Mr. Marmalade am Staatstheater
Karlsruhe deutschsprachig aufgeführt. Saturn kehrt zurück kam im
Oktober 2012 am Staatstheater
Nürnberg zur deutschsprachigen
Erstaufführung. Skin Deep Song wird
im Februar 2013 am Theater Essen
uraufgeführt. Frei zur deutschsprachigen Erstaufführung ist What is the
Cause of Thunder?.
Frei zur Uraufführung
Skin Deep Song
Deutsch von Thomas Krupa
Zwei Schwestern erzählen sich Witze. Neben ihnen liegen die Leichen ihrer Eltern, und draußen herrscht Krieg. Doch die Witze sind gut, und weil die jungen
Frauen schon dabei sind, spielen sie sich gegenseitig die letzten Worte ihrer
Eltern vor. Die Worte des skrupellosen Vaters, eines Königs, der sein Land in
den Krieg führte, und der Mutter, die ihren Töchtern Mimi und Woden den
»Skin Deep Song« vorsang, um ihnen die Furcht vor der Finsternis zu nehmen.
Da steht Hal vor ihnen, ein junger Mann in Uniform, der desertiert ist und am
Geburtstag des Vaters vor einem Jahr mit Mimi tanzte.
Haidle schreibt über das Ende einer Welt, in der die Töchter die Lücke, die ihre
Eltern hinterlassen haben, mit Witzen und Spielen von Leben und Tod füllen.
Und über einen alten Mann mit Krone, einen Nachfahren von Shakespeares
Lear, der auf die Trümmer seines ehemaligen Reiches blickt. (3 D, 2 H)
»Und wir, das
Publikum, erahnen
die Stimmen, vernehmen die Poesie
in den hochkonzentrierten Sätzen
des Autors Noah
Haidle – und sind
verzaubert.«
Nürnberger Zeitung anlässlich
der deutschsprachigen
Erstaufführung von ›Saturn
kehrt zurück‹
Uraufführung: 1. Februar 2013, Grillo Theater, Essen
Regie: Thomas Krupa
34
Foto: Susanne Schleyer
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NOAH HAIDLE
»Ich kann viel zu viele Worte
über Beckett sagen«
Noah Haidle im Gespräch
Nina Peters: ›Mr. Marmalade‹ ist das erste Ihrer Stücke, das
in Deutschland aufgeführt wurde, das war 2009 am Staatstheater Karlsruhe. Lucy ist die Hauptfigur, sie hat eine lebhafte Phantasie und einen Phantasiefreund, der Drogen
nimmt und Lucy nicht besonders gut behandelt. Lucy ist
vier Jahre alt. Wie kamen Sie dazu, über eine Vierjährige
zu schreiben?
mit meinem Leben machen.« Der Grund, warum ich für
das Theater schreibe, hat sich über die Jahre immer wieder verändert, und heute glaube ich, dass das Theater
den Menschen eine Möglichkeit bietet, um mit vereinter
Aufmerksamkeit zusammenzukommen, und dass diese
kollektive Aufmerksamkeit einem weltlichen Gottesdienst
nahekommt.
Noah Haidle: Glücklicherweise oder unglücklicherweise
hat sich diese vierjährige Lucy aus ganz zweckmäßigen
Umständen heraus ergeben. Ich war damals mit einer
Schauspielerin zusammen, die sehr jung aussah und die
mir sagte, dass sie immer davon geträumt habe, mit einem
Tutu auf der Bühne zu stehen. Also habe ich dieses Stück
für sie geschrieben. Ich würde gerne einen erhabeneren
Inspirationsmoment nennen, aber ehrlich gesagt wollte
ich sie einfach glücklich machen. Ich habe gehört, dass
Jean-Paul Sartre Geschlossene Gesellschaft deshalb geschrieben hat, weil er mit drei Schauspielern befreundet
war und nicht wollte, dass einer auf den anderen neidisch
sei, weil der länger auf der Bühne stand als der andere.
Also beschrieb er die Hölle als ein Wohnzimmer, das keiner verlassen kann. Und ich habe über ein vierjähriges
Mädchen im Tutu geschrieben, um meiner Freundin eine
Freude zu machen.
Wenn ich versuche, Begriffe zu finden, die Ihren Stücken gerecht werden, dann sind das: die Balance zwischen Tragik
und Komik, die komischen und schlagfertigen Dialoge, die
eine wunderbare Leichtigkeit mit sich bringen auf der einen
und Trauer und Schmerz auf der anderen Seite. Jede Figur
scheint jemanden oder etwas verloren zu haben. Wissen Sie
warum?
Die gängige amerikanische Theaterpraxis scheint einem
Bühnenrealismus zu folgen: Hatten Sie keine Sorge, dass Regisseure Lucy mit einem Kind besetzen würden?
Nein. Jeder Beteiligte wäre dann sicher verhaftet worden.
An welchem Punkt in Ihrem Leben wussten Sie, dass Sie für
das Theater schreiben wollen? Und warum?
Ich war 17 und hatte vorher nie ein Theaterstück gesehen. Und als ich es tat, dachte ich laut: »Das möchte ich
36
Ich habe mir nie überlegt, dass jede Figur irgendetwas
oder irgendjemanden verlieren soll, und deshalb lautet
die Antwort auch einfach: Ich habe keine Ahnung, warum. Ich habe nie Kritiken oder Kommentare zu meinen
Stücken gelesen. Ich fürchte mich davor, mir eines Prozesses bewusst zu werden, der für mich ein privater ist und
der auch nicht vollständig erklärt werden kann. Gabriel
García Márquez hat einmal eine Besprechung zu Hundert
Jahre Einsamkeit gelesen, in der stand, »Frauen sind die
treibende Kraft für die Ordnung, Männer die treibende
Kraft für die Unordnung«. Nachdem er das gelesen hatte,
so García Márquez, habe er über Männer und Frauen nie
mehr auf die gleiche Weise geschrieben.
In ›Saturn kehrt zurück‹ sehen wir einen Mann in drei Lebensphasen, im Alter von 28, 58 und 88. In einer Regieanweisung schreiben Sie, »es sei in Ordnung, wenn die Männer
auch mal gleichzeitig mit den anderen auf der Bühne seien«.
Die Vergangenheit scheint immer präsent zu sein in Ihren
Stücken und Ihren Figuren. Können Sie etwas über dieses
Erzählverfahren sagen?
Mit den Worten von Gram Parsons, einem Musiker, der
Honky-Tonk und Rock ’n’ Roll zusammenbrachte: »Das Beste, was wir tun können, ist, von der Vergangenheit zu lernen und unser Leben so zu leben, so dass wir eines Tages
zu eigenständigen Menschen werden, zu dem Zeitpunkt
nämlich, wenn wir beginnen, die Dinge zu ändern: und
nicht krank sind oder verfolgt von dem, was das Leben
uns angetan hat. Wir haben den Vorteil, dass wir ganz
genau Vorbilder dafür haben, was passieren kann, wenn
Menschen es zulassen, dass das Leben sie so durcheinanderbringt und sie keinen Ausweg mehr sehen. Unsere Lebenszeit kann sehr schön sein, wenn wir so aufrecht sind,
dass es keine Lügen mehr gibt oder Schatten, vor denen
wir Angst haben … das erfordert sehr viel Arbeit, Wissen
und Liebe.«
Wollen Sie im Theater berührt werden?
Ja, in erster Linie.
Als Schriftsteller scheinen Sie nicht an einem glücklichen
Ausgang Ihrer Geschichten interessiert zu sein, diese nehmen die denkbar schlimmste Entwicklung. Und die Figuren
versuchen, mehr oder weniger erfolgreich, damit umzugehen. Ist es das, was Sie erzählen wollen?
Ja.
Viele Ihrer Stücke spielen in Grand Rapids in Michigan. Sie
sind dort geboren worden und aufgewachsen. Was ist das für
ein Ort, für Sie und für die Figuren in Ihren Stücken?
Grand Rapids klingt wie ausgedacht. Eine Stadt aus einer
amerikanischen Sitcom aus den 1950er Jahren. Lustigerweise gibt es dort keine Hasen. Das Land ist flach und
sehr, sehr kalt, die Winter dauern mehr als fünf Monate. Es gibt ein Sprichwort: Kein Gras ist so grün wie das
Gras in den Hinterhöfen deiner Kindheit. Ich bin nach 15
Jahren wieder nach Hause gezogen, um diesem bestimmten Gleichmut des Mittleren Westens, zu begegnen, dem
lustigen Akzent (wie in dem Film Fargo), dem rauen Klima, das das Leben der Menschen hier bestimmt. Mit der
Zeit hoffe ich, dass ich in Grand Rapids Stücke meiner
Phantasie ansiedeln kann, so dass die Figuren sich überschneiden und Teil der anderen Stücke werden. So dass
ich so einen imaginierten Grundbesitz schaffe, der allein
mir gehört.
Ich denke bei Ihren Stücken an Beckett. Können Sie zu ihm
ein paar Worte sagen?
Ich kann viel zu viele Worte über Beckett sagen. Aus unterschiedlichen Gründen wünschte ich, ich hätte nie von
ihm gehört. Ich glaube, wenn man etwas wahrhaft Originäres schafft, nimmt man der Welt während des Schaffensprozesses etwas. Beckett hat sich so viel aus der Welt
genommen, hat diesem einen Namen gegeben und es zu
seinem eigenen gemacht. Und er nutzte das Theater, wie
es genutzt werden sollte, ohne zu behaupten, das sei nun
»echt«, sondern als eine plastische, gestaltbare Form, indem er Welten erschuf, die unserer ähnlich sind und die
wir betrachten können, so wie Außerirdische die Menschen
betrachten würden, wenn sie hier landeten. Becketts Genauigkeit und die Kontrolle, die er über Sprache ausübte,
ist mathematisch, seine Ideen sind tief, ohne prätentiös zu
sein, sein Humor umwerfend komisch, ohne anbiedernd
zu sein. Für mich ist er einfach der größte Schriftsteller
des 20. Jahrhunderts. Ich lese fast zu viel in seinen Büchern und versuche zu lernen, was ich kann, aber das
Problem mit dem Genie ist, dass man es nur nachahmen
kann, aber nie lernen. Ich wünschte mir, ich hätte ihm einmal die Hand gegeben, mit ihm vier Stunden schweigend
über Fisch zum Abendessen gesessen und mit ihm Billard
gespielt und Schach und den Geruch der Räume geatmet,
in denen er gelebt hat. Ich liebe ihn.
Sie haben Szenisches Schreiben u.a. in Princeton University
sowie Kenia und Uganda gelehrt. Was haben Sie von Ihren
Studenten gelernt?
Hoffnung.
Im Oktober hatte ›Stand Up Guys‹, ein Hollywoodfilm mit Al
Pacino, Christopher Walken und Alan Arkin, Premiere. Sie
haben das Drehbuch geschrieben. Wie kam es dazu?
Glück.
Deutsch von Nina Peters
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INGRID L AUSUND
70. Geburtstag am 6. Dezember 2012
Peter Handke
Immer noch Sturm
Das Jaunfeld, im Süden Österreichs, in Kärnten: Dort versammeln sich um ein
»Ich« (oder steht es eher am Rande?) dessen Vorfahren: die Großeltern und deren Kinder, unter ihnen die eigene Mutter. Sie erscheinen ihm, da sie ihn bis in
die Träume begleiten, in einer Vielzahl von Szenenfolgen, in denen sich die unterschiedlichsten Spiel- und Redeformen abwechseln – ein Panorama, das weit
über alle literarischen Genres hinausreicht und sie sich zugleich anverwandelt.
Im Peter Handkes Immer noch Sturm durchdringen sich Prosa und Drama, Theatralisches und Poetisches, Geschichtliches und Persönliches, und so wird am
Ende doch fraglich, ob der überlebende Bruder der Mutter wirklich das letzte Wort hat: »Es herrscht weiterhin Sturm. Andauernder Sturm. Immer noch
Sturm. Ja, wir haben das Unrecht begangen – das Unrecht, hier, gerade hier,
geboren zu sein.« (Besetzung variabel)
Peter Handke, 1942 in Griffen
(Kärnten) geboren, lebt heute bei
Paris. Zuletzt sind von ihm im Suhrkamp Verlag erschienen: Kali (2009),
Die morawische Nacht (st 4108),
Der große Fall (2011), Versuch über
den Stillen Ort (2012).
Immer noch Sturm wurde
in »Theater heute« zum
»Stück des Jahres 2012«
gewählt. Die Uraufführungsinszenierung, eine
Koproduktion zwischen
den Salzburger Festspielen
und dem Thalia Theater
Hamburg, wurde eingeladen zu den Mülheimer Theatertagen 2012, das Stück
erhielt den Mülheimer
Dramatikerpreis 2012.
Uraufführung: 12. August 2011, Salzburger Festspiele
Regie: Dimiter Gotscheff
Die schönen Tage von Aranjuez
Ein Sommerdialog
Personen: Eine Frau, namenlos, ein Mann, namenlos: das Paar schlechthin. Sie
treffen sich, um über die Liebe zu reden, die erste Liebe, darüber, was Mann
und Frau fühlen, wenn sie miteinander sind. Sie reden darüber, wie man über
die Liebe redet. Und wer über die Liebe redet, der redet unweigerlich von der
Natur, von der Geschichte – von dem, was dem Leben Sinn verleiht.
Und wieder ein Sommer. Und wieder ein schöner Sommertag. Und wieder eine
Frau und ein Mann an einem Tisch im Freien, unter dem Himmel. Ein Garten.
Eine Terrasse. Unsichtbare, nur hörbare Bäume, mehr Ahnung als Gegenwart,
in einem sachten Sommerwind, welcher, von Zeit zu Zeit, die Szenerie rhythmisiert. Der Tisch ist ein Gartentisch, ziemlich groß, und Mann und Frau sitzen sich da im Abstand gegenüber. Die beiden sind unauffällig sommerlich
gekleidet, die Frau eher hell, der Mann eher dunkel, zeitlos der eine wie die
andere. (1 D, 1 H)
Uraufführung: 15. Mai 2012, Wiener Festwochen, Akademietheater
Regie: Luc Bondy
Deutsche Erstaufführung: Januar 2013, Berliner Ensemble
Regie: Philip Tiedemann
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Foto: Isolde Ohlbaum
st 4323. 165 Seiten
Geb. € 8,99
(978-3-518-46323-9)
70 Seiten. Klappenbrosch.
€ 12,99
(978-3-518-42311-0)
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PETER HANDKE
»Das Geheimnis des Schreibens sind
für mich die Nebensachen«
Peter Handke im Gespräch mit Thomas Oberender
Thomas Oberender: Sie haben einmal gesagt, dass Sie
als Erzähler relativ früh eine Scheu vor dem, was man
die Tricks des Erzählens nennt, entwickelt haben, also
vor dem, was Sie eben als das Handwerkliche beschrieben haben, das Virtuose, gut Gebaute im schematischen
Sinne. Und dennoch erzählen Sie eine Geschichte, etwas
Unerhörtes. Aber eben mit anderen Empfindlichkeiten,
zu denen Sie uns ja auch verführen wollen. Diese Haltung, die Sie als Erzähler prägt, ist auch eine, die ich in
Ihren Stücken, zumindest ab einem bestimmten Punkt,
sehr stark empfinde – das geht eng einher mit Ihrer speziellen Auffassung vom Schauspieler, oder auch vom
Augenblick, etwas, das eigentlich nicht zu schematisieren ist.
Peter Handke: Ja, ich bin kein Stückeschreiber, kein
Stückezimmerer, ich bin eigentlich ein Stümper. Aber
mit einem großen Gefühl. Und das große Gefühl leitet
mich zur Form – weil wenn Sie das Gefühl verraten,
heißt das, dass Sie formlos werden. Ich habe kein System, wie man Stücke schreibt, hatte ich von Anfang an
nicht. Es gibt ja bewundernswerte Dramatiker wie, um
zurückzugehen im Jahrhundert, Arthur Miller und Tennessee Williams, oder Eugene O’Neill – das ist perfekt
gezimmert, jeder Satz, jede Pause. Beckett weiß immer
ganz genau: fünf Sekunden Pause. Mir ist das total … da
erwacht die Anarchie in mir! Da denke ich: Wie kann
man das so machen? Wie ein Zwölf-Ton-Musikstück
von Webern oder Alban Berg hat Beckett seine Stücke
geschrieben. Also das war einmal, und das gibt es ja
immer noch.
Beckett hat als Regisseur die einzelnen Schritte der Schauspieler auf Millimeterpapier notiert. Diese Fixierung seiner Weltvorstellungen ging sehr weit!
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Jon Fosse schreibt ganz genauso. Stücke, die genau
festgelegt sind, wie Sie sagen: Millimeterpapier, und
das widerstrebt mir. In dem Sinne bin ich ein Amateur, vor allem was Theater betrifft, aber auch Prosa.
Ich habe schon mein Modell, ich habe, wie Sie sagen, meine Geschichte, die habe ich schon. Aber die
mache ich eigentlich unsichtbar. Nicht dass man die
zertrümmern muss, aber die Story oder die Struktur
dient eigentlich nur, wie ein Magnet, also ein Antimagnet, und ich gehe dann weg vom Magnetisieren, vom
Magnet, umkurve das alles, und das erzeugt schöne
Energien im Schreiben oder auch in den Figuren, in
den Theaterverläufen. Das macht, glaube ich, das Epische meines Schreibens aus. Diese Umkurvungen der
Magnetberge oder Magnetvorgebirge prägen die epische Form meiner Stücke ab Über die Dörfer. Kaspar
war ein bisschen ein gezimmertes Stück. Aber im
zweiten Teil, da war es mit dem Zimmern vorbei, da
ist die Anarchie durchgebrochen, weil auch die Figur
Kaspar selber durchdreht, wie man heute sagt, wird
dann Traum und Schrei und alles eins. Die Grammatik
verschwindet.
Lautwerden, im Sprechen, wenn Sie so wollen. Da gab
es einen Kritiker, der hat dann gleich geschrieben: »Peter Handke – Gesamtwerk auf ›ung‹«, weil alle Stücke
mit ›ung‹ enden, denn es gab die drei Stücke Publikumsbeschimpfung, Weissagung und Selbstbezichtigung. Das
fand ich lustig.
Wenn ich Ihr Werk als Dramatiker betrachte, frappiert
mich Ihre Erfinderkraft, nicht so sehr im Hinblick auf
die Stoffe, sondern speziell der szenischen Formen, die
etwas völlig Neues in die Welt gebracht haben – Stücke
ohne Worte, ein Metatheater, das auf öffentlichen Redegattungen beruht, Traumspiele neuer Art. Nehmen wir die
Sprechstücke …
Ich meine, das war auch frech, Gott sei Dank. Ohne
Frechheit gibt es keine Kunst, keine große Malerei.
Man kann nicht von vornherein frech sein, aber im Tun
kommt die Frechheit dazu. Und vor allem gegen Ende,
wenn sie einem nicht total misslungen ist, die Reise zur
Form hin, auf die man sich auf den Weg gemacht hat,
dann tritt wie ein Engel die Frechheit, der Engel der
Frechheit, dazu. Denk ich.
Die verdanke ich wirklich im Wortsinn, und natürlich
auch auf eine andere Weise, den Beatles und den Rolling Stones. Publikumsbeschimpfung und Selbstbezichtigung kamen aus dieser Intensität des puren Daseins im
Diese Stücke konkreter Poesie verbinden Sprachkritik und
Performance auf eine mich immer noch erstaunende Art,
frech, sehr frech, und musikalisch.
Sie sind natürlich auch existenziell. Mich hat immer beschäftigt, während ich im Theater sitze, was gleichzeitig noch alles passiert – dort auf der Straße, dort blickt
einer oder dort fährt einer im Zug, und dort weint einer
und wir sitzen dann da. Ich wollte diese Simultaneität. Ich bin ja immer ein Existenzmensch gewesen, um
das Wort »Existenzialist« zu vermeiden. Publikumsbeschimpfung; das war schon ein ernsthaftes Stück.
Sehr ernsthaft, ja. Wir sind keine Spaßmacher, hieß es
darin, wenn ich mich recht entsinne.
Der Engel der Frechheit.
Das ist mir so hervorgekommen jetzt.
Der tritt einem manchmal aus Ihren Texten entgegen. Genauso, wie er hineintritt. Andererseits sind diese repetitiven, sprachrhythmischen Stücke doch auch sehr streng,
im Sinne einer gesetzten Form. »Sprechakte«, schon das
Wort hat etwas Ernstes, nicht?
Finden Sie? Ja, ich lass mich schon gehen, das stimmt.
Das gehört unbedingt dazu, dass man sich gehenlässt,
aber dann … den Moment darf man nicht verpassen,
diesen Moment, dass man zurückgeht in die Struktur,
in den Rhythmus, in das Hämmern, Seelenhämmern,
oder wie man das nennen soll. Oder in den Glockenklang.
Ihre Stücke, so scheint mir, zielen seit ›Über die Dörfer‹ stärker auf die Erfahrung solcher Momente. Die Stimmung, in
der sich das alles ereignet, wird wichtig. ›Über die Dörfer‹
nannten Sie »dramatisches Gedicht«. Die Stücke laden ein
zu einer Gegenwartsentdeckung, die ja zunächst die der
Figuren auf der Bühne ist, ihrer Augenblicklichkeit. Und
obwohl die Stimmung oder Gestimmtheit des Geschehens
so wichtig wird, werden Ihre Formen und Gesten als Erzähler immer raffinierter, oszillieren stärker, spontaner.
In einem Stück wie ›Das Spiel vom Fragen‹ mischen sich
Momente der Selbstironie mit Anspielungen auf Raimund
und Tschechow oder verschiedene Redeformate wie das
Fragen oder Schmähen mit Phasen eines stummen Spiels.
Als Sie dieses Stück schrieben, hatten Sie da ein komplett
stummes Stück wie ›Die Stunde da wir nichts voneinander
wussten‹, das ja erst drei Jahre später erschien, bereits als
Vorsatz gefasst?
Das hat mich immer beschäftigt, schon vorher. Das
Mündel will Vormund sein war auch so ein stummes
Stück. Das muss man dem Claus Peymann lassen, der
41
PETER HANDKE
ja ein relatives, nicht unbeträchtliches Mundwerk hat.
Es ist gerade das Paradox, dass er ausgerechnet in meinen stummen Stücken, für mich jedenfalls, den Gipfel
seines – der Gipfel ist kein Kilimandscharo, aber es ist
auch nicht nur ein kleiner Maulwurfshügel –, seines
Handwerks erreicht hat. Seltsamerweise. (…)
Wenn wir jetzt ein Stück nehmen wie ›Die schönen Tage
von Aranjuez‹ – im Grunde ist es die minimalste Konstellation, die auf der Bühne denkbar ist: Zwei Schauspieler,
die auf der Bühne sitzen und sprechen, kein Ortswechsel,
kein Zeitsprung, die Zeit auf der Bühne ist die reale Zeit
der Begegnung, es ist eine wortgewaltige Erzählung, ein
Spiel um Fragen. Wie würden Sie das Drama dieser Begegnung beschreiben?
Eigentlich ist es kein Drama, sondern ein »Sommerdialog«, wie es da steht. Aber natürlich spielt schon irgendetwas mit. Es geht schon um was. Wenn Sie Drama
übersetzen in das Zeitwort: Es geht um was. Es geht
schon um was zwischen den beiden. Aber ich könnte es
nicht sagen. Ich habe keine Hintergedanken, wie Pinter
sie in seinen Stücken hatte, immer spielen da Hinteroder Untergedanken mit. Die habe ich nie gehabt. Wenn
der Mann plötzlich was anderes erzählt, war ich beim
Schreiben ungeheuer erleichtert, dass es nicht mehr
um Erotik geht. Natürlich geht es dann weiter um Erotik, aber es wird nicht mehr so benannt. Und manchmal
will er ablenken, manchmal bringt ihn, was sie erzählt,
dazu, etwas anderes zu erzählen – man weiß es nicht,
ist es Ablenken oder …
Ein Angriff. Ein Spiel, man weiß ja nie, was kommt.
Es ist im Grunde nicht »gemacht«. Jedenfalls war ich
froh, dass ich vom Thema immer wieder wegkonnte.
Und dann war ich auch immer wieder froh, oder es war
mir recht, wenn ich wieder habe zurückkommen können zur Geschichte, zu: »Was ist das – Mann und Frau?
Wie geht das?« Aber der Rhythmus hat mir entsprochen, hat dem Schreiben, der Arbeit entsprochen, oder
den Sätzen, wie Sie wollen.
42
Wie wichtig ist der Ort für so ein Stück?
Es ist schon wichtig, dass man den Ort spürt oder ahnt.
Ich wollte ihn nicht genau beschreiben. Deswegen habe
ich ja gesagt: Mehr Ahnung als Gegenwart, in Anspielung auf Joseph von Eichendorff, den Roman. Ich meine, es könnte auch hier sein, wo wir zwei jetzt sitzen.
Es müssen ja keine Säulen, keine Kolonnaden sein, es
muss ja nicht diese Art Südstaatenarchitektur sein. Es
muss auch kein Schaukelstuhl sein wie im Film von
John Ford. Aber vielleicht, nicht? Es ist ja den Schauspielern und dem Regisseur überlassen, was die wegtun
und dazutun. Es ist im Grunde eine scharfe Skizze, was
ich mache. Skizziert, ja. Aber ich bin andererseits auch
kein Textflächenhersteller. Das ist jetzt wahrscheinlich
meine altmodische Seite, dass ich schon etwas durcherzählen möchte, durchskizzieren möchte, schon Figuren
andeuten möchte. Und die kann man, aber muss man ja
nicht ausmalen. Man kann sie ergänzen, ein bisschen,
nicht ganz ergänzen. Wobei das ein Widerspruch wäre,
»ganz ergänzen«, das ist ein, wie sagt man, Pleonasmus,
glaube ich.
Wobei ein Theatertext doch dafür da ist, dass wir ihn aussprechen, zu einer anderen Zeit, an einem anderen Ort,
als sei das Geschehen hier und jetzt. Wie könnte man dieses Ausfüllen der Figur im Spiel offenlassen? Schauspieler ergänzen die Dialoge unvermeidlich mit ihrer Haltung,
ihrer Präsenz.
Ja, aber dieser Dialog ist eigentlich nicht dazu da, dass
man ihn ganz ausfüllt, denke ich. Ich habe zum Beispiel
Immer noch Sturm von Anfang an als ein Stück geschrieben. Immer noch Sturm, »Erster Akt …«. Es heißt Tragödie,
»Tragödie in fünf Akten«, weil ich irgendwann einmal
bemerkt habe, dass das mit den fünf Akten eigentlich
stimmt, vor allem in der französischen Tragödie. Das
ist genau der Rhythmus der Tragödie: Einleitung, dann
der Konflikt, dann das Austragen, dann fast eine Versöhnung im vierten Akt und im fünften Akt das Ende, die
Tragödie. Das ist einfach die natürliche Abfolge. Die haben genau erkannt, wie der natürliche Verlauf der Tra-
gödien ist. Zwischendurch denkt man, es ist alles wieder
gut. Und dann ist überhaupt nichts gut. So habe ich das
auch erzählt. Ich habe gedacht, das stimmt eigentlich,
so verlaufen Tragödien, wenn sie es wirklich sind, wenn
sie nicht nur traurige Geschichten sind. Ein Trauerspiel
ist ja wieder was anderes als eine Tragödie. Und so habe
ich das Stück auch geschrieben: Immer noch Sturm. »Tragödie in fünf Akten«, »Erster Akt …«. Und dann habe ich
gedacht, das schüchtert so ein, und das ist ja auch ein
bisschen ranzig, wenn man das so schreibt, nicht? Dann
habe ich alles weggetan, es steht nur »1, 2, 3, 4, 5« da.
Auch »Tragödie« habe ich weggetan …
In der Entstehungszeit des Stückes haben Sie mir damals
einmal gesagt, durchaus erstaunt über sich selbst, dass
Sie gerade ein richtiges Theaterstück schreiben. Mit richtigen Dialogen und klassischem Aufbau.
Die Figuren sprechen ja selbst von ihr …
(…)
Ja, die sprechen selbst davon, weil es die Tragödie von
Leuten ist, die gegen Tragödie sind – das ist das Entscheidende des Stücks. Viele Leute, die das Stück dann
gesehen oder gelesen haben, sogar der Regisseur der
Uraufführung, für den ich wirklich eine Art Zuneigung
empfinde, der Gotscheff, hat gemeint: Das ist kein Stück,
das ist Prosa. Weil ich alles weggetan habe, was an ein
gebautes Stück erinnert. Und es ist auch nicht gebaut,
es ist dahinphantasiert, aber kontrolliert phantasiert.
Ja, das war auch so, ich hatte das ja auch so gedacht.
Ich bin wirklich zwischen, nicht zwischen zwei Stühlen,
sondern ich sitze am Boden zwischen zwei Kothurnen,
weil ich weder ein gut gebautes Stück schreibe, wie
man das kennt, noch Textflächen. Im Grunde komme
ich mir als Stückeschreiber anachronistisch vor. Das
stimmt, ich sage das nicht nur daher.
Das Gespräch fand im April 2012 in Berlin-Nikolassee statt.
Wir drucken einen Auszug aus dem Buch ›Die Arbeit des
Zuschauers. Peter Handke und das Theater‹. Hg. von Klaus
Kastberger und Katharina Pektor. Salzburg: Jung und Jung/
Theatermuseum Wien, 2012, das zur gleichnamigen Ausstellung (31. Januar 2013 bis 8. Juli 2013 im Österreichischen
Theatermuseum Palais Lobkowitz in Wien) erscheint.
»Das schönste Stück, das Handke je geschrieben hat. Die Kraft des
Theaterstücks liegt in der Sprache, im ›Tonfall‹, in der Art und Weise,
wie die Menschen sprechen, streiten, sich freuen oder trauern – und wie
sie sich empören, auch, wie sie gehen, dasitzen oder niederstürzen.«
Der Standard, Hans Höller über ›Immer noch Sturm‹
»Man müsste die beiden nur sitzen, sprechen und träumen lassen.
Und wenn sie leichthüftig, fast schwebend saßen, klar, innig
und geheimnisvoll sprächen und noch besser träumten –
dann ergäbe sich auf der Bühne alles von allein.«
Frankfurter Allgemeine Zeitung, Gerhard Stadelmaier über ›Die schönen Tage von Aranjuez‹
43
INGRID L AUSUND
Martin Heckmanns
Wir sind viele und reiten
ohne Pferd
Was ist eine »Bewegung« und wie und wohin bewegt sie sich? Wie kommt das
Ich zum Wir? Wo muss Widerstand ansetzen und mit welchen Mitteln? So könnten die Ausgangsfragen für das Stück von Martin Heckmanns lauten, in dem
der Künstler Knax eine Widerstandsgruppe aus Ideologen, Nihilisten und Revolutionsromantikern einer kritischen Prüfung unterzieht auf der Suche nach
neuen Orientierungen, für die es sich zu leben und zu kämpfen lohnt.
Wir sind viele und reiten ohne Pferd ist ein Sprachkunststück über erste und
letzte Spielräume politischer Bewegungen, ein hellsichtiger, komischer und hintergründiger Kommentar auf aktuelle Protest-Aktivitäten. (4 Darsteller)
Uraufführung des Auftragswerks: 20. Mai 2012, Staatstheater Stuttgart
Regie: Marc Lunghuß
Martin Heckmanns, geboren am
19. Oktober 1971 in Mönchengladbach, Studium der Komparatistik,
Geschichte und Philosophie. Mit
Schieß doch, Kaufhaus! wurde er in
der »Theater heute«-Kritikerumfrage
zum Nachwuchsautor des Jahres
2002 gewählt und gewann bei den
Mülheimer Theatertagen 2003 für
Schieß doch, Kaufhaus! und 2004
für Kränk den Publikumspreis. 2012
wurde ihm der Margarete-SchraderPreis für Literatur der Universität
Paderborn zugesprochen. Heckmanns lebt als freier Autor in Berlin.
Stücke – Eine Auswahl
Schieß doch, Kaufhaus!
Frankfurter Fassung
5 Personen
UA: 9.5.2002, TiF/Staatsschauspiel
Dresden in Koproduktion mit Theaterhaus Jena, Sophiensaele Berlin
und Thalia Theater Hamburg
Regie: Simone Blattner
Kränk
3 D, 2 H
UA: 11.3.2004, Schauspiel Frankfurt
Regie: Simone Blattner
Einer und Eine
Heckmanns’ neues Stück Einer und Eine ist eine moderne Liebesgeschichte mit
Hindernissen, die mit einer Zufallsbegegnung in einem Supermarkt beginnt.
Zwei junge, frühverschrobene Geisteswissenschaftler in prekären Beschäftigungsverhältnissen verlieben sich wider besseres Wissen ineinander und locken einander aus der Reserve. Und trotz aller entmutigenden Erfahrungen und
Rückschläge, gegen überkommene Vorstellungen von Glück und Beziehung und
ihre Scheu überwindend erobern sich die beiden eine besondere Zweisamkeit
– jedenfalls für Momente. Sprache steht dabei im Weg und muss durchkämpft
werden. Zwei neunmalkluge Dämonen, die sich in der Bewertung des Geschehens nicht immer einig sind, mischen dabei als Glücksspielmacher kräftig mit,
setzen das Paar immer wieder unter Außenweltdruck. Auch in seinem neuen,
komischen und doppelbödigen Stück befragt Martin Heckmanns das Verhältnis
zwischen privaten und kollektiven Glücksansprüchen. (2 D, 2 H)
Uraufführung des Auftragswerks: 15. November 2012, Nationaltheater Mannheim
Regie: Dominic Friedel
Das wundervolle Zwischending
1 D, 2 H
UA: 10.2.2005, Niedersächsisches
Staatstheater Hannover
Regie: Charlotte Roos
Wörter und Körper
4 D, 7 H
UA: 10.2.2007, Staatstheater
Stuttgart
Regie: Hasko Weber
Kommt ein Mann zur Welt
Mindestens 2 D, 3 H
UA: 24.3.2007, Düsseldorfer
Schauspielhaus
Regie: Rafael Sanchez
Vater Mutter Geisterbahn
1 D, 2 H
UA: 6.5.2011, Staatsschauspiel
Dresden
Regie: Christoph Frick
Jakob: Jetzt ist es eh zu spät für einen Beweis meiner Schlagfertigkeit. Ich sage
besser nichts.
Grete: Jetzt sagt er nichts. Das finde ich interessant. Er kann die Stille aushalten.
Das ist mir wichtig.
(aus: Einer und Eine)
44
Foto: Karoline Bofinger
45
MARTIN HECKMANNS
Gegen die eigene
Gemütlichkeit vorgehen
Martin Heckmanns im Gespräch mit Beate Seidel
Beate Seidel: Dein Stück beschäftigt sich mit einer der
Widerstandsbewegungen des letzten Jahres, genauer der
»Occupy«-Bewegung. Was interessiert dich daran?
Martin Heckmanns: Allein das Wort Bewegung hat
schon einen Sog, dass ich gerne dabei wär. Und im Anschluss sofort die Frage, wie eine Bewegung organisiert
sein müsste, dass man sich ihr anschließt oder besser
noch unterwirft, damit man wegkommt von seinen Privatproblemen und sich bewegen lässt von Fragen, die
nicht immer nur das eigene Wohlbefinden betreffen.
Ich finde auch die Selbstermächtigung der Sprecher
bei Protest-Zusammenkünften interessant, für andere
sprechen zu wollen, ohne den offiziellen Jargon zu beherrschen, und die Suche nach alternativen Ausdrucksformen. Da ist das Stück auch ganz schlicht eine Solidaritätsadresse. Denn darum geht es ja bei »Occupy« erst
einmal, eine wachsende Öffentlichkeit herzustellen, die
sich traut, neu und unfertig über diese großen Fragen
nach Gleichheit und Gerechtigkeit nachzudenken. Ich
fände es falsch, wenn sich das Theater als Versammlungsort nicht auch davon bewegen ließe.
Worin liegt für dich in Betrachtung des stattfindenden Diskurses das dramatische, das bühnentaugliche Potential?
Sitzen und miteinander reden sind ja erst einmal keine herausragend dramatischen Vorgänge. Das kann
man gut sehen angesichts der Zeltlager in Frankfurt
zum Beispiel. Aber demokratische Willensbildung ist
wahrscheinlich immer weniger dramatisch als Königskämpfe. Das heißt ja nicht, dass man nur noch Familiendramen schreiben sollte oder Märchen vom bösen
46
König und vom armen Tropf. Es geht bei »Occupy« um
die Besetzung öffentlicher Räume, und im Stück wird
der öffentliche Raum Theater besetzt. Und es kommt
die Frage auf, was das Theater leisten kann in diesen
Debatten oder ob Kunst vielleicht eher stört in diesem
Zusammenhang. Und dass auch noch der Widerstand
gegen die Kunst in diesem Raum immer Kunst bleibt.
Das ist ja ein alter Horror, dass Kunst so gerne Leben
wäre oder Politik und doch immer Kunst bleibt. Oder
die Wechselwirkungen zumindest unscharf bleiben.
Und dann wird natürlich jeder, der in der Öffentlichkeit das Wort ergreift, zum Darsteller. Und wie sich
ein Miteinander entwickelt aus diesen Einzeldarstellungen und wie dieses Miteinander aussehen könnte
und wann sich Zuschauer eingeladen fühlen, das finde ich dann wiederum doch bühnenrelevante Fragen.
Was leider fehlt für den dramatischen Konflikt, ist der
eindeutig identifizierbare Gegenspieler der Bewegung.
Das führt im Stück zu den Selbstzerstörungsprozessen,
die ja auch recht häufig sind in Protestbewegungen und
Künstlergruppen, wenn der Feind sich nicht wehrt oder
sich nicht einmal angesprochen fühlt.
Es gibt verschiedene Positionen in deinem Stück, ganz
vereinfacht gesagt, stößt zum Chefideologen, der Widerstandsromantikerin und dem Sophistiker der »kritische
Intellektuelle«, der die »Widerstandszelle« einer Prüfung
in eigener Sache unterzieht. Gibt es eine Position, der du
dich am nächsten fühlst?
Mich interessiert eigentlich am meisten das Wir in
dem Stück. Und auch die Protagonisten wehren sich
ja immer wieder gegen ihre Typisierung und ihren
Selbstoptimierungszwang. Das scheint mir für gegenwärtige Bewegungen auch eine zentrale Schwierigkeit,
wie bei fortschreitender Individualisierung noch ein
kraftvolles Miteinander entstehen kann, das PiratenPartei-Problem. Im Stück gibt es deshalb diese Suche
nach Slogans und Ritualen und nach Formen, in denen
ein Gefühl der Zusammengehörigkeit entsteht: singen,
gemeinsam schweigen oder streiken. Spielen, als täte
man nichts. Oder die Poesie als eine offene Form der
gemeinsamen Suche nach einer lebendigen Sprache.
Auch wenn damit vielleicht kein Staat zu machen ist.
Gibt es deiner Ansicht nach gemeinsame Potentiale in
den verschiedenen Bewegungen, die in den letzten Jahren
an den Fugen der bestehenden Weltordnung gerüttelt, sie
manchmal sogar verändert haben? Und worin liegen für
dich die Unterschiede?
Ich habe vor ziemlich genau zehn Jahren ein Stück über
»Attac« geschrieben, und beim Wiederlesen war ich erstaunt, wie viele der damaligen Positionen sich heute
bei »Occupy« wiederfinden lassen bis hin zu konkreten
Forderungen wie der Transaktionssteuer. Auch diese
Auseinandersetzungen und Abstufungen der Radikalität innerhalb der Bewegungen zwischen Reformern bis
Anarchisten kehren in Variationen immer wieder, habe
ich den Eindruck. Und dabei auch die Frage, wie stark
man selbst involviert ist in das, was man gerade zu bekämpfen glaubt. Die Unterschiede in den Bewegungen
liegen sicher in der persönlichen Betroffenheit. Globalisierung oder Finanzkrise betreffen den Bundesbürger
anders als einen autoritären Herrscher der arabische
Frühling. Das macht die Widersprüche hier abstrakter
und die Bewegungen heterogener und auch kraftloser
wahrscheinlich.
Welche Rolle spielen solch prononciert politische Themen
für dich beim Schreiben?
Es kostet mich erst einmal Überwindung, Worte wie
Transaktionssteuer oder Leerverkauf zu verwenden. Da
geht es mir wie den Protagonisten im Stück oder denen
der Bewegung, die ja auch zum größeren Teil eine geisteswissenschaftliche Herkunft haben. Aber ich finde
es hier wie dort richtig, gegen die eigene Gemütlichkeit vorzugehen. So wie ich es richtig finde, dass das
Schreiben sich schmutzig macht und zu seiner Unzulänglichkeit und Unfertigkeit steht in der Auseinandersetzung mit ökonomischen Prozessen, die ja selbst den
Handelnden in diesen Prozessen ständig über den Kopf
wachsen. Wenn es um Aufbruch gehen soll, muss auch
der Text aufbrechen, und da kann ein Theaterstück nur
Fragment werden, aber das Fragment ist ja immer auch
Aufforderung, dass jeder weiter dran werkeln kann. Insofern bin ich der Dramaturgie hier in Stuttgart dankbar, auf das Thema gebracht worden zu sein, weil es das
Schreiben zwingt, sich zu öffnen und sich auch wieder
der Frage zu stellen, welche Hoffnungen denn überhaupt mit dem Theater oder der Literatur verbunden
sind, die über Unterhaltung hinausgehen.
Abdruck des gekürzten Interviews mit
freundlicher Genehmigung des Schauspiel Stuttgart
47
Wolfram Höll
Und dann
Die Spur des Verschwindens
Ewald Palmetshofer über ›Und dann‹ von Wolfram Höll
»Vier Plattenbauten / drei Verlierlinge / zwei Kinder
/ ein Vater«, so könnte das Inventar aussehen dieses
außergewöhnlichen Theatertextes. Es ist ein Rückblick
auf eine Kindheit in einem ostdeutschen Neubaugebiet,
der um Verlusterfahrungen kreist: den Verlust der Mutter, eines Landes, einer sozialen Rolle. Hölls Sprache
ist lyrisch, rhythmisiert, und in seinem Sprachfluss ist
eine Erzählung eingebettet, die durch die Perspektive
des kindlichen Erzählers gekennzeichnet ist. Der Junge versucht, Begriffe erfindend, die Phänomene seiner
Umgebung sprachlich zu fassen: Das Funkgerät des Vaters, die Plattenbauten und die Hausfassade gegenüber,
an die der Vater Filme projiziert und so die Erinnerung
an die Mutter lebendig hält; bis der älteste Sohn eine
Entscheidung trifft. (Besetzung variabel)
Jede Löschung hinterlässt eine Spur. Auf einer rein materiellen, phänomenalen Ebene ist dies vielleicht die wesentlichste Eigenart der mechanischen Schreibmaschine
im Gegensatz zur elektronischen Textverarbeitung. Es
gibt keine Löschtaste. Dass Wolfram Hölls Theatertext
»UND DANN« typographisch eine Schreibmaschine zitiert – und zwar mit all ihren Unregelmäßigkeiten, den
verrutschten Buchstaben, der variierenden Anschlagstärke, unterschiedlichen Wortabständen und ebendiesen
Spuren der Löschung, den Mehrfachüberschreibungen –, ist auf der Ebene seines materiellen Erscheinens die
zwingende Konsequenz dessen, dem sich der Text inhaltlich verpflichtet weiß: der Spur des Verschwindens.
Ein Kind spricht. Es spricht von den Häusern, den
Betonhäusern, den Steinen am Spielplatz – von Gletschern gebracht, vom Vater, von der Mutter, es spricht
von Ausflügen in die Stadt, den Paraden, der Erinnerung an die Paraden, erinnert sich der Erinnerung. Das
Kind spricht. Und die Spur einer Abwesenheit, eines
Verlusts durchzieht das Sprechen – anfangs noch völlig namenlos, eine anonyme Ahnung. Diese Spur des
Verlusts, der Unwiederbringlichkeit streift umher, irrt
als immaterielles, fast spukhaftes Phänomen, tonloses
Echo durch Hölls Text, ohne je zu einem Ding, einem
Etwas, zu einem Objekt der Anschauung zu werden.
Fehlen, Vermissen, Verlust und Tod sind nur indirekt
als Störung, Fehler oder Irritation anwesend/abwesend.
Sie beugen den Text, das Sprechen, ohne sich ihn ihm
je zu spiegeln, ohne je als Gegenwart anzukommen. Als
Foto: Agentur Standard
Frei zur Uraufführung
48
Wolfram Höll, 1986 in Leipzig geboren, lebt in Bern.
Nach dem Bachelor in Literarischem Schreiben am
Schweizerischen Literaturinstitut Biel schließt er
derzeit den Master in Scenic Arts Practice an der
Hochschule der Künste Bern ab. Und dann wurde
eingeladen zum Heidelberger Stückemarkt 2012
sowie zum Berliner Stückemarkt 2012. Höll erhielt in
Heidelberg den Nachwuchspreis des Freundeskreises
des Theaters Heidelberg und den Preis »Theatertext
als Hörspiel« in Kooperation mit Deutschlandradio
Kultur des Berliner Stückemarktes.
stumme Spur liegen sie vielleicht am ehesten in den
Zeilenumbrüchen, den Wortschöpfungen, vielleicht im
Tippfehler, vielleicht in der Wiederholung, vielleicht im
Spiel der Zahlen.
Das Kind spricht, es erzählt und zählt die Plattenbauten, die großen Steine am Spielplatz, die Stockwerke
und Klingelknöpfe, und ehe man sich’s versieht, ist
man gefangen in einer Arithmetik des Verlustes, macht
einen die Zahl traurig, verweist eine Drei immer auf die
Vier, die leider nicht ist, und leidet die Zwei an der Drei,
am Fehlen der Eins. Das Kind zählt, und kein Abzählreim ist zur Hand, der die Abwesenheit ungeschehen
machen und das Verlorene zurückholen könnte, weil
auch der Kinderreim an der Grenze des »... und raus
bist du« endet. Selten hat mich ein Text so traurig berührt und in seiner klugen Zartheit so froh gemacht.
Hölls »UND DANN« ist ein Text über das Erinnern –
»Erinnern« im Sinne einer schwachen Kategorie, nicht
als Habhaftwerden des Vermissten, moralische Aktivität, Verschleierung des Verlusts oder melancholisches
Verweilen, sondern »Erinnern« als Spur des Todes im
Leben: Das Du ist vom Sein ins Erinnert-Sein übergegangen. Der geliebte Mensch ist nicht mehr, und dann,
dann ist der geliebte Mensch nichts anderes mehr als
Erinnerung. In dieser Kluft, in diesem »UND DANN«,
operiert Hölls Text. Und er tut dies mit beeindruckender
sprachlicher Feinheit, mit Diskretion und wunderbarem
Willen zur Form.
Auszug aus einem Originalbeitrag
für den Theatertreffen-Stückemarkt 2012
»Selten hat mich ein Text so traurig berührt
und in seiner klugen Zartheit
so froh gemacht«. Ewald Palmetshofer über ›Und dann‹
49
Stephan Kaluza
Weil ich es kann
3D
Monolog für eine Darstellerin
»Ist er schon gekommen?« In Erwartung, auf der Probebühne, die Operndiva, das Theatertier, schon mit siebzehn die erste Rolle, die Kundry in Bayreuth, in New
York Salomé, als Norma in Mexico City, der Applaus in
Petersburg und, und, und.
Und jetzt wartet sie auf den Intendanten. Aber warum
ist da Publikum, überhaupt, das Publikum, diese bildungsbeflissenen Bürger, was wissen die schon von der
Kunst, dem Künstler, der Kunst des hohen C, einmal
das hohe C, bitte schön. »Es geht ja nur um diesen einen
Moment, in dem alles klappen muss, alles! Das zeichnet
einen Profi aus, dass er das kann, dass er gut ist, wenns
eben drauf ankommt.«
Aber die Stimme versagt und der Intendant kommt nicht
und die Geschichten der Diva sind irgendwie merkwürdig, nicht stimmig. Verletzungen werden sichtbar, etwas Bedrohliches mischt sich in die Situation, und sind
wir wirklich in einem Theater und ringt hier wirklich
eine große Künstlerin, eine hadernde Primadonna mit
ihrem Seelenstriptease um ihre Künstlerexistenz?
Eine große Rolle für eine Schauspielerin, ein Blick nicht
hinter, sondern direkt mitten in die Kulissen und auf
»die Bretter, die die Welt bedeuten«. (1 D)
Frei zur Uraufführung
Dass Menschen wie ich für Sie singen? Damit Sie sich
an meinen Fähigkeiten erfreuen können, nur weil Sie
es selbst nicht können? Und: dass ich singe, singen darf,
weil die Kultur es mir erlaubt?, weil ich ja sonst einem
anständigen Beruf nachgehen müsste, so einem wie dem
Ihrigen; Sie Ärzte, Sie Anwälte, Sie Geschäftsmänner, Sie
Banker, Sie Ingenieure, Sie Manager Ihrer eigenen Zweckmäßigkeit für andere, wie dumm Sie doch sind. Aber ich
könnte Ihnen ja verzeihen, dass Sie etwas Sinnvolles,
Nützliches tun, wenn Sie es nur nicht derart bewundern
würden. Ihr Wohlwollen ist mein Heil, so darf ich mich
entwickeln, eine gute Künstlerin werden, mich verfeinern,
weil Sie es mir väterlich ermöglichen und mir mütterlich
übers Haar streichen – aus purem Eigennutz. Möchte
man doch denken.
(aus: Weil ich es kann)
Clara ist tot. Traurig macht das ihren Vater Albert
schon, aber er findet, auch, weil seine Frau Bette endlich wieder aufgetaucht ist, dass es nun an der Zeit ist
für einen Neuanfang. Darauf hat er 20 Jahre lang gewartet, seit sie damals einfach mit der gemeinsamen
Tochter nach Amerika verschwand. Und auch Bette
möchte mit der Vergangenheit aufräumen. Allerdings
nicht so, wie Albert sich das vorgestellt hat. Die Realität, mit der sie ihn konfrontiert, ist das hässliche Gegenteil seiner Erinnerung an sich selbst als liebenden
Vater. Bettes eigenes Geheimnis schließlich, das mit
Claras Tod zusammenhängt, beleuchtet den Familienhorror aus einer dritten Perspektive.
Stephan Kaluza bringt den Zuschauer dazu, immer
wieder die Seiten zu wechseln, bis er am Ende gar
nicht mehr weiß, zu wem er halten soll. (1 D, 1 H)
Uraufführung: 26. Oktober 2012, Staatstheater Stuttgart
Regie: Stephan Kimmig
»Der Titel des Koversationsstücks verweist auf dessen formalen Reiz.
Lustvoll wechselt der Autor, der auch ein renommierter Fotokünstler ist,
die Perspektiven. Bild für Bild legt er die Tragödie einer Familie bloß.
Sein Weitblick sperrt sich gegen Klischees.« Esslinger Zeitung, Elisabeth Maier
»Wenn Kimmig das inszeniert, wird daraus etwas, das es in Deutschland
und insbesondere in deutschen Dramaturgien nicht geben darf:
Ein sauber geschriebenes, intelligentes, packendes Konversationsdrama.
Achtung: Hier gibt es realistische, psychologisch durchgearbeitete Personen,
die doch tatsächlich so sprechen, wie Menschen sprechen.«
Frankfurter Rundschau, Peter Michalzik
Stephan Kaluza studierte Kunst und Kunstgeschichte.
Anschließend ergänzte er diese Studien an der Philosophischen Fakultät, Düsseldorf. Er lebt heute in Düsseldorf.
Der Autor ist sowohl im Bereich der bildenden Kunst als
auch in der Literatur tätig. In seinen Bildstücken inszeniert
er Theaterstücke und Performances zu stillstehenden,
simultan erlebbaren Bildern; u.a. wurden diese Interpretationen des Narrativen im Zendai Museum of Modern Art,
Shanghai, im State contemporary Museum of Art, Seoul,
im Museum of the Seam, Jerusalem, und im Künstlerhaus
Bethanien, Berlin, ausgestellt. Atlantic Zero wurde im Mai
2010 am Düsseldorfer Schauspielhaus uraufgeführt.
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INGRID L AUSUND
Fritz Krenn
Karl und
Aloisia Krasser
Fritz Krenn wurde 1958 im österreichischen Goldes, einem Landstrich
im Süden der Steiermark, geboren.
1992 bekam er das 3sat-Stipendium
des Ingeborg-Bachmann-Wettbewerbs zugesprochen. Der Autor zahlreicher Theaterstücke und Romane
lebt und arbeitet in Graz.
Karl Krasser ist ein älterer Herr, der anlässlich einer unangemeldeten Kontrolle seiner Kapitalanlagen im Tresorraum seiner Hausbank und in Begleitung
seines ihm seit Jahrzehnten vertrauten Bankangestellten Hafner eine Lebensbilanz zieht.
»Grauenvoll, diese Ersparnisse.« Akribisch beäugt Krasser die Öffnung der verschiedensten Schatullen, an jeder einzelnen von ihnen hängen Erinnerungen,
gute wie schlechte. Krasser hat finanziell vorgesorgt, auch für seine Kinder.
Doch der Haussegen hängt schon länger schief. Zerrüttungen werden angedeutet. Der Kassensturz wird zum Anlass dafür, dass Alois Krasser die Safekammern seines Herzens öffnet. Ganz allmählich zeigt sich ein großer Liebender,
ein sensibler wie penibler Buchhalter von Verletzungen, ein Ingenieur mit
Künstlerseele, ein bürgerlicher Lear mit großem Herzen. Sein Gegenpart ist der
extrem wortkarge Kassierer Hafner.
Fritz Krenns Stück bietet große Rollen für zwei reife Schauspieler. Eine tiefgründige und warmherzige Seelenauslotung – und ein Stück über ein großes
Generationenproblem. (2 H, 1 D)
Frei zur Uraufführung
Hafner: Ich verstehe Ihre Frage nicht!
Krasser: Die Einsamkeit, wie teuer ist die Einsamkeit? Kommt nie ein Kunde zu
Ihnen und sagt: Geben Sie mir von meinem Sparbuch oder von meinem Konto
eine bestimmte Summe, ich bin drauf und dran, mir die Sehnsucht zu kaufen
oder mir den Hass, oder die Hinterlist, die Entzückung zu kaufen, eben eine Erfüllung. Ist Einsamkeit nicht auch ein begehrtes Gut?
(aus: Karl und Aloisia Krasser)
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INGRID L AUSUND
Konstantin Küspert
mensch maschine
Diese Wissenschaftler gehen über Leichen. Jupiter, Ernö und Pasar dringen in
ein Haus ein, entführen einen Mann, ER, und separieren, in einem provisorischen OP-Saal, sein Gehirn. Angeschlossen an eine Maschine wird ER weiterleben, und seine Umwelt ist fortan computergeneriert. Darauf haben die
Wissenschaftler jahrelang hingearbeitet. Ihre Forschung ist ein Tasten nach
dem ewigen Leben des Menschen. Oder zumindest nach lebensverlängernden
Maßnahmen. Doch da ist noch SIE. Es war nicht geplant, dass diese Frau in der
Nacht der Entführung neben ER liegen sollte. Und jetzt wird SIE zum Problem.
Und dem ambitionierten Projekt geht das Geld aus. Die Kunden, die diese Idee
kaufen sollen, zögern noch. Währenddessen wacht ER auf, und sein neues Leben beginnt.
mensch maschine erzählt von den Machenschaften dreier egomanischer Wissenschaftler, die den Menschen in Zahlen, Fakten und abstrakte Fachbegriffe
zerlegen. Küsperts Stück ist zu komisch und zynisch, um als Thriller durchzugehen, Küsperts bemerkenswerte Sprache bewegt sich entlang einer wissenschaftlichen Sprache, die ad absurdum getrieben wird. »Ein Glücksfall für die
Stückauswahl der Autorenlounge«, schrieb das Hamburger Stadtmagazin anlässlich der Präsentation von mensch maschine bei »Kaltstart Hamburg« im Juni
2012. (Besetzung variabel)
Frei zur Uraufführung
Konstantin Küspert wurde 1982
in Regensburg geboren. Seit dem
Studium der Germanistik, Philosophie, Politikwissenschaft und
Theaterwissenschaft in Regensburg
und Wien zahlreiche Theaterprojekte
mit Claudia Bosse und Produktionen
u.a. am Germanistentheater der
Universität Regensburg, am Staatstheater Karlsruhe oder am HAU
Berlin. Seit 2010 studiert Küspert an
der Berliner Universität der Künste
Szenisches Schreiben.
»wir sind eine gruppe
hochspezialisierter wissenschaftler – neurologen,
neurochirurgen, anästhesisten, computerlinguisten,
ITdesigner – und wir
brechen in dein haus ein.
der elektromotor ist fast
nicht zu hören, während er
die stifte in deinem türschloss in die richtige position vibriert. die tür ist auf,
wir sind drin. laut unserer
recherche liegt dein schlafzimmer im ersten stock.«
(aus: mensch maschine)
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Foto: Susanne Schleyer
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INGRID L AUSUND
Ingrid Lausund
Tür auf, Tür zu
Für Anneliz lief alles gut. Doch von einem Moment zum andern ist die Tür, durch
die sie täglich ein und aus ging, für sie verschlossen. Auf der Suche nach einer
Erklärung beginnt für sie eine emotionale Achterbahnfahrt aus Panik, Wut und
Selbstzweifel. Mit dieser Frau, einer sprechenden Tür und einem Chor, dem
aufgrund von Sparmaßnahmen gekündigt wurde und der durch eine 400-EuroAushilfskraft ersetzt werden musste, erzählt Ingrid Lausund ein Drama vom
Drinsein, Draußensein, Dabeisein-Wollen. Ein kafkaeskes Szenario und eine
musikalische und zugleich brüchige, von Fragmenten und aberwitzigen Ritualen durchzogene Sprache erzählen von der Willkür des Ausgeschlossenseins.
Uraufführung: 24. November 2011, Theater Duisburg
Regie: Ingrid Lausund
Anneliz: Auf keinen Fall, um keinen Preis sollte man irgendjemand in den Arsch
kriechen. (Pause) Wenn man aber in der Situation ist, in der das der einzige Ausweg ist, sollte man es immer noch nicht tun. (Pause.) Für den Fall, dass man sich
entscheidet, es trotzdem zu tun, muss man sich darüber klar sein, dass die Selbstachtung dabei Schaden nehmen kann. (Pause.) Deshalb ist es sinnvoll, die Selbstachtung vorher abzulegen und sie erst zu einem späteren Zeitpunkt wieder in die
eigene Persönlichkeit zu integrieren. (Pause.) Man sollte sich klarmachen, dass
man sich dazu freiwillig entschieden hat, und das Ganze als eine flexible Problemlösungsstrategie betrachten. (Pause.) Man sollte unbedingt sicherstellen, dass
man in den richtigen Arsch kriecht. (Pause.) Wenn man es dann tut, sollte man
es konsequent, schamlos und effektiv tun. (Pause.) Den Rest des Tages sollte man
sich frei nehmen.
(aus: Tür auf, Tür zu)
Ingrid Lausund, geboren in Ingolstadt, ist nach ihrem Schauspielund Regiestudium an der Gründung
des Theaters Ravensburg beteiligt.
1999 Gastprofessur am Mozarteum
in Salzburg. 2000 bis 2004 Hausautorin- und -regisseurin am Deutschen
Schauspielhaus Hamburg, parallel
inszeniert sie am Schauspiel Köln.
Seit 2004 freie Autorin und Regisseurin. Gründung der Theaterproduktionsgesellschaft lausundproductions.
Ingrid Lausund lebt in Berlin.
Stücke – Eine Auswahl
Hoimwärts nach Amerika
1 D, 2 H
UA: 1998 am Theater Ravensburg
Regie: Ingrid Lausund
Hysterikon
3 D, 4 H
UA: 25.3.2001, Deutsches Schauspielhaus Hamburg
Regie: Ingrid Lausund
Bandscheibenvorfall – Ein Abend
für Leute mit Haltungsschäden
2 D, 3 H
UA: 6.4.2002, Deutsches Schauspielhaus Hamburg
Regie: Ingrid Lausund
Konfetti! – Ein Zauberabend
für politisch Verwirrte
2 D, 3 H
UA: 14.2.2003, Deutsches Schauspielhaus Hamburg
Regie: Ingrid Lausund
Der Weg zum Glück
1H
UA: 12.6.2004, Deutsches Schauspielhaus Hamburg
Regie: Ingrid Lausund
Benefiz – Jeder rettet einen
Afrikaner
2 D, 3 H
UA: 20.9.2009, Schauspielhaus
Salzburg
Regie: Ingrid Lausund
Tür auf, Tür zu
1 D, 2 H
UA: 24.11.2011, Theater Duisburg
Regie: Ingrid Lausund
Zeit – Die erschöpfte Schnecke
wirft ihr Haus weg und flippt
richtig aus
3 D, 2 H
UA: 29.4.2012, Hamburger Kammerspiele (Koproduktion mit dem Theater
Duisburg und lausundproductions)
Regie: Ingrid Lausund
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Foto: Oliver Bokern
57
INGRID LAUSUND
»Selbstverantwortung – bis ins
absurdeste Extrem«
Ingrid Lausund im Gespräch
Frank Kroll: Du hast gerade an den Hamburger Kammerspielen eine neue Inszenierung mit dem gleichermaßen knappen
wie einprägsamen Titel ›Zeit – Die erschöpfte Schnecke wirft
ihr Haus weg und flippt richtig aus‹ herausgebracht. Es geht
um das Getriebensein in unserer Zeit, um den Stress, in dem
wir leben, um Ausbruchsversuche und das Scheitern daran.
Es ist ein wunderbarer Abend geworden, eine sehr musikalische Arbeit, finde ich, mit einem sehr eigenen Rhythmus.
Vermutlich wird das Stück, anders als deine anderen, nicht
nachinszeniert werden können.
Ingrid Lausund: Es ist eine Textchoreographie, die sich so
genau auf den Raum bezieht und auf die Bewegung, dass
ich mir tatsächlich auch nicht vorstellen kann, wie man
den Text davon lösen könnte. In einer Art und Weise, dass
er dann noch Sinn macht.
Lassen wir uns überraschen. Der Text ist auch in einer besonderen Weise, fast tabellarisch, notiert. Der Abend ist eine
wahnsinnig genau gesetzte Choreographie, die Schauspieler
sind permanent in Bewegung und haben jeweils nur Sekunden, um ihre Texte und neue Situationen und Haltungen zu
setzen. Ich würde gern auf deine besondere Arbeitsweise
kommen. Du arbeitest als Autorin und regelmäßig gleichzeitig auch als Uraufführungs-Regisseurin deiner Stücke. Wie
beispielsweise Pollesch, Kater/Petras und andere auch. Wie
geht das für dich zusammen bzw. – was ja vermutlich die
größere Schwierigkeit bedeutet – wie hältst du beide Welten
auseinander? Ist das nicht unendlich anstrengend, beide Berufe parallel auszuüben? Es ist ja nicht so, dass du deine
Stücke mit den Schauspielern zusammen erarbeitest. Du bist
ja tatsächlich beides: Vollzeit-Autorin und Vollzeit-Regisseurin. Wie kriegst du das unter einen Hut?
(Lausund lacht.)
Wie viele Zigaretten bedeutet das pro Tag?
58
Zu viele. Das war ja auch ein Grund, lausundproductions
zu gründen. Wir sind ständig dabei zu gucken: Wie kann
man Strukturen bauen, mit denen das besser unter einen
Hut zu bringen ist. Tagsüber proben und nachts schreiben,
das ist auf Dauer nicht so gesund. Wie geht das zusammen?
Künstlerisch geht das total gut zusammen. Ich kann Sachen schreiben und, bevor ich mich völlig in etwas reinverkopfe, das alles mit Schauspielern ausprobieren. Ich kann
Ideen sofort sehen, ohne dass ich sie komplett ausformulieren muss. Ich kann sofort sehen, ob das auf der Bühne
überhaupt funktioniert. Etwas ausprobieren und entwickeln und probieren, das geht unheimlich gut zusammen.
Aber zeitlich und gesundheitlich – geht’s eher nicht.
Was ist lausundproductions und was hat euch dazu bewogen, diese compagnie zu gründen?
lausundproductions ist ein Unternehmen, das ich mit
meiner Bühnenbildnerin Bea von Pilgrim zusammen gegründet habe und das sehr eng mit dem Büro 313 hier in
Berlin zusammenarbeitet. Das ist also eine Produktionsgesellschaft, um selbständig produzieren zu können – mit
Koproduktionspartnern zusammen. Beispielsweise dem
Theater Duisburg oder den Hamburger Kammerspielen.
Das ist kein ideologisches Statement gegen das Stadttheatersystem, wir koproduzieren mit Stadttheatern. Wir haben nach der Zeit in Hamburg und Köln diese Struktur
gefunden, um weiter Projekte miteinander zu entwickeln,
und bauen jetzt das Netzwerk aus.
Ich würde gern auf deine Stücke zurückkommen, in einem
allgemeineren Sinn. Deine Figuren leiden an den gesellschaftlichen Verhältnissen und suchen doch die Lösungen
für ihre Probleme immer nur in sich selbst. Sie versuchen
sich zu optimieren, sie unterwerfen sich dem radikalsten
Ego-Tuning bis hin zur freiwilligen Gehirnwäsche.
Meine Figuren sind reflektierte Figuren, sie haben ein
Bewusstsein über sich, ein Bewusstsein über Kompliziertheiten. Die haben auch ein Gefühl für Peinlichkeit und so
eine Grundscham in sich. Ich glaube, dass die Komik, die
man meinen Texten unterstellt, auch nur dann funktionieren kann, wenn man die Figuren in diesem Sinne ernst
nimmt. Das sind sehr erwachsene Figuren, die ein klares
Bewusstsein darüber haben, was sie gerade sagen. Dass
die Figuren alle Antworten in sich selber suchen, hat etwas damit zu tun, dass es mir um zeitgenössisches Theater geht. Die großen Heils- und Glaubenssysteme sind ja
weggefallen. Die ganz normale Grundforderung an jeden
ist: Du bist für dein Glück selber verantwortlich. Jeder
kann es schaffen. Eine Selbstverantwortung, die heute bis
ins absurdeste Extrem gefordert ist.
Du stellst uns als Zeitgenossen mit deinen Stücken eigentlich
eine bittere Diagnose aus: Wir verfügen über ein extrem verfeinertes Instrumentarium an Selbstdiagnosemöglichkeiten,
gleichzeitig scheitern schon kleinste Versuche, aus unseren
Routinen auszubrechen.
Das mit der bitteren Diagnose – das weiß ich gar nicht so
sehr. Jedes meiner Stücke beschäftigt sich mit Menschen,
die um etwas kämpfen. Aber das ist ja eigentlich nur das
Wesen vom Drama (Lacht.). Wenn ich überlege, wie meine
Stücke aufhören, finde ich eigentlich nicht, dass die Figuren verbittert sind.
Das meinte ich auch nicht. Aber der gesellschaftliche Befund
ist doch ein bitterer. Die Figuren hadern mit sich, geben sich
nicht zufrieden, sind dabei ganz auf sich zurückgeworfen.
Weit vor jeder Solidarisierung, vor jeder Möglichkeit, größere
Veränderungen anzustoßen, weil sie so sehr mit sich beschäftigt bleiben.
Ich sehs eher so, dass die einfach zu erwachsen sind, um
sich in ein wasserdichtes Glaubenssystem zu begeben,
dass es trotz aller Einsamkeiten, Peinlichkeiten und Kaputtheiten immer auch ein Trotzdem gibt. Gerade wenn
ich an die Enden meiner Stücke denke. Benefiz: Es reichen
51 Prozent für eine Entscheidung, es müssen nicht 100
Prozent sein. Tür auf, Tür zu: Jetzt konzentrier ich mich
mal auf mich, auch wenn alle Türen zugehen. Konfetti:
Ganz viele gute Nachrichten zum Schluss. Ich sehe das gar
nicht so hoffnungslos (Lacht.), aber natürlich gibt es auch
keine Lösung in dem Sinne, dass jemand erschüttert wird
und am Ende weiß, wo es langgeht. Aber es gibt ja auch,
bis jetzt jedenfalls, keine Hauptfiguren in meinen Stücken.
Dieses Trotzdem, das heißt ja Aufbegehren und Empörung.
Gerade scheinen sich gesellschaftliche Bewegungen neu zu
formieren. Interessiert dich das, verfolgst du das? Spielt das
für dich eine Rolle? Siehst du deine Theaterarbeit auch in
einem weiteren politischen Zusammenhang?
Also so was wie Occupy? – Ich verfolge das. (Lange Pause.) Wenn ich etwas über Occupy schreiben würde, dann
würde ich auch versuchen zu beschreiben, dass das Große
und das Kleine zusammengehört, dass es um Leute geht,
die auf einer Seite mit ihrem persönlichen Einsatz gesellschaftliche Veränderungen suchen, und dass diese Leute
gleichzeitig ein Bewusstsein dafür haben, dass das T-Shirt,
das sie anhaben, gut ausschaut. Wenn sie auf eine Demo
gehen, wissen sie, was gut aussieht. Mich interessiert beides, der große pathetische Impuls und die anderen, kleinen, fiesen, egoistischen Impulse, die einfach immer dabei
sind.
Wir haben uns 2001 nach der Uraufführung von ›Hysterikon‹ kennengelernt. Wir hatten damals so eine gemeinsame Ahnung, die aus meiner Sicht weit übertroffen wurde.
Worauf führst du den anhaltenden Erfolg deiner Stücke mit
inzwischen weit über 100 Inszenierungen – nicht nur hierzulande – zurück? Könnte das etwas damit zu tun haben, dass
du mit deinen Stücken eine Zeitstimmung triffst?
Das weiß ich nicht. Irgendwas triffts wohl. Aber das kann
man nicht wissen, wenn man schreibt. Den Nährwert bestimmen andere. Die Wirkung ist ja ein ganz eigenes Phänomen, was nichts damit zu tun hat, wie viel Arbeit man in
etwas gesteckt hat. Ich glaube, die Stücke sind anfassbar
genug, dass verschiedenste Regiekonzepte aufgehen können. Wenn man die Figuren ernst nimmt. Man muss Kruse
nicht immer die Doofmütze aufsetzen. (Lacht.)
INTER VIEW
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INGRID L AUSUND
Cesare Lievi
Himmel
Originaltitel: Cielo
Deutsch von Annette Hunscha de Cordero
Es soll ein Sinnbild sein, ein Zeichen für das neue Leben, das für den ehemaligen Professor und zukünftigen Pensionär mit 70 Jahren anbricht: Seine erste
Pension holt er sich eigenständig von der Post ab. Den Kaffee in seiner Lieblingsbar trinkt der linke Intellektuelle und Bonvivant im Einklang mit der Welt.
Es ist ein schöner Tag und da soll selbst der Stadtstreicher, den alle ›Himmel‹
nennen, sein Gast sein. Doch damit nimmt die Katastrophe ihren Lauf. Der Gast
ist kein landläufiger Stadtstreicher, sondern ein Eindringling, der nichts mehr
zu verlieren hat. (2 D, 2 H)
Cesare Lievi wurde 1952 in Gargnano am Gardasee geboren. Der
Regisseur und Autor promovierte
in Philosophie mit einer Arbeit über
»Trotzki und den Surrealismus«. Er
gilt als einer der großen Poeten des
Theaters. Erste Erfolge feierte er
durch seine Schauspielinszenierungen (u. a. am Schauspiel Frankfurt,
an der Schaubühne Berlin, dem
Burgtheater Wien oder dem Thalia
Theater Hamburg), bevor auch die
Oper zu seiner zweiten Heimat
wurde. So inszenierte er u.a. an der
Metropolitan Opera New York und
regelmäßig an der Mailänder Scala
und der Oper Zürich. Mit seinen
Stücken Fotografie eines Raums und
Fremde im Haus war er zu Gast bei
der Theaterbiennale »Neue Stücke
aus Europa«. 2010/11 wurde er zum
Leiter des Schauspiels am Teatro
Nuovo Giovanni da Udine berufen.
Frei zur deutschsprachigen Erstaufführung
Stücke
»Die Letzten müssen behandelt werden als die Letzten. Nie als die Ersten. Wenn
du sie wie die Ersten behandelst, dann bringst du die natürliche Ordnung der Welt
durcheinander, und die Konsequenzen daraus sind unvermeidlich katastrophal.«
(aus: Himmel)
Die Sommergeschwister
(Fratelli d’Estate)
Deutsch von Peter Iden
4 D, 4 H
UA: 25.4.1992, Schaubühne Berlin
Regie: Cesare Lievi
Zweierlei Zeit
(Festa d’Anime)
Deutsch von Annette Hunscha de
Cordero und Peter Iden
9 D, 6 H
UA: 18.9.1999, Schauspiel Bonn
Regie: Cesare Lievi
»(…) Simpel und vertrackt zugleich, dabei von einer
kompositorischen Grazie, wie sie typisch ist für Lievi,
trifft sein Stück einen Nerv unserer Zeit.« Neue Zürcher Zeitung
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Foto: Maurizio Buscarino
Fotografie eines Raums
(Fotografia di una stanza)
Deutsch von Peter Iden
1 D, 2 H
UA: 25.1.2005, Teatro Brescia
Regie: Cesare Lievi
Fremde im Haus
(La Badante)
Deutsch von Peter Iden und Annette
Hunscha de Cordero
3 D, 2 H
UA: 22.9.2007, Staatstheater
Wiesbaden
Regie: Cesare Lievi
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Mika Myllyaho
Panik
Chaos
Harmonie
Männer am Rande des Nervenzusammenbruchs
Originaltitel: Paniikki / Deutsch von Eeva Bergroth und Martina Marti
Originaltitel: Kaaos
Deutsch von Eva Bergroth und Martina Marti
Originaltitel: Harmonia
Deutsch von Eva Bergroth und Martina Marti
Max und Joni, der Talkshow-Moderator – jeder meint,
mit seiner eigenen Methode Leo besser helfen zu können. Der hat eines Abends an Max’ Tür geklopft, verwirrt, da ihn seine Freundin bat, einmal über gewisse
Dinge in seinem Leben nachzudenken und dieses in
Ordnung zu bringen. Ein Wettlauf zwischen Max und
Joni beginnt, doch im Laufe der Zeit merkt das Trio,
dass sie alle auf ihre gegenseitige Hilfe angewiesen
sind. Wunderbar leicht und dennoch tiefgründig lotet
diese Komödie echte und imaginäre Krisen des moder-
Sofia ist Lehrerin, deren Schule vor der Schließung
steht. Die Therapeutin Julia hat eine Beziehung mit einem ihrer Patienten. Die Journalistin Emmi, die Dritte im Bunde, kämpft für das Sorgerecht ihres Kindes.
Durch Winter und Frühling begleitet das Stück die drei
Freundinnen, die in dieser Zeit gewaltige Veränderungen durchmachen. Es sind diese Veränderungen, die
die drei schließlich erkennen lässt, dass ihnen die Kontrolle über ihr eigenes Leben entglitten ist – etwas muss
getan werden!
Chaos ist, nach Panik, eine dunkle Komödie über Frauen in der heutigen Welt. Während sie versuchen, an
einmal für richtig befundenen Werten festzuhalten, ringen sie mit den Problemen einer immer brüchiger und
gleichgültiger werdenden Gesellschaft. Ihre Stärke ist
ihre Freundschaft und der Halt, den sie sich gegenseitig geben. Und ihr Sinn fürs Lachen, auch wenn ihnen
manchmal zum Heulen zumute ist. (3 D)
Eine Auszeit nehmen! Das hatte sich Regisseur Olavi
nach seiner letzten Inszenierung eigentlich vorgenommen ... Ein Urlaub ist nötiger denn je. Doch nun wird
ihm ein einmaliges, verlockendes Angebot gemacht:
Faust. Seine Partnerin und Bühnenbildnerin Sanna entwirft ein Glashaus, das perfekt zur Faust-Inszenierung
passt. Olavi stürzt sich in die Arbeit, Sanna befürchtet
seinen Herzinfarkt. Olavi fängt an, seine Arbeit, sein
Leben und seine Beziehung neu zu bewerten! Faust
wird zu einem Projekt mit dem Titel Harmonie, das
Olavi selbst vorhat zu schreiben. Und dazwischen Produzent Aleksi, der einen Balanceakt bewältigen muss
zwischen künstlerischen Ansprüchen und finanziellen
Notwendigkeiten. – Was soll man tun, wenn die Arbeit
der wichtigste Teil und beinahe einzige Inhalt des Lebens ist? Mit dieser sensiblen Komödie über Arbeit,
Liebe und Ermüdung rundet Myllyaho seine Trilogie
(Chaos, Panik, Harmonie) ab. (1 D, 2 H)
Uraufführung: 16. Februar 2008, Ryhmäteatteri, Helsinki
Regie: Mika Myllyaho
Frei zur deutschsprachigen Erstaufführung
Uraufführung: 10. September 2009, Ryhmäteatteri, Helsinki
Regie: Mika Myllyaho
Frei zur deutschsprachigen Erstaufführung
nen Mannseins aus. Was wird heutzutage alles von den
Männern verlangt? Kann Mann eins sein mit seinen
Gefühlen? Kann er gleichzeitig erfolgreich und sensibel
sein? Und worum geht es noch gleich in diesem Almodóvar-Streifen? (3 H)
Uraufführung: 21. September 2005, Ryhmäteatteri, Helsinki
Regie: Mika Myllyaho
Frei zur deutschsprachigen Erstaufführung
»›Panik‹ ist eine wunderbare Reise in den männlichen Kopf.«
Valkeakosken Sanomat (zu: ›Panik‹)
»›Chaos‹ ist deutlich düsterer und heftiger und gleichzeitig
gesellschaftskritischer als ›Panik‹. Aber es ist auch amüsant (...)
und in seinen Beobachtungen über Frauen erstaunlich genau.«
Mika Myllyaho, 1966 geboren, gehört zu Finnlands führenden Regisseuren der jüngeren Generation und inszenierte bislang sowohl Klassiker
als auch Werke der zeitgenössischen Dramatik.
Als Leiter des Ryhmäteatteri in Helsinki profilierte er sich mit der Entwicklung neuer Theatertexte und alternativer Inszenierungsmethoden. Seit
2011 ist er Intendant des Finnischen Nationaltheaters in Helsinki.
62
Foto: Esa Leskinen
Helsingin Sanomat (zu: ›Chaos‹)
»›Harmonie‹ ist eine ausgezeichnete Beschreibung der Krise
einer guten und liebevollen Beziehung.« Turun Sanomat (zu: ›Harmonie‹)
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INGRID L AUSUND
Christoph
Nußbaumeder
Mutter Kramers Fahrt
zur Gnade
Anita ist Witwe und lebt alleine in einem Haus, das von früheren Zeiten, dem
gefestigten Leben mit ihrem Mann und ihrer Tochter erzählt. Ihre Tochter meldet sich seit Monaten nicht, und nun steht der erste Jahrestag des Todes ihres
Mannes an, eines ehemals erfolgreichen Geschäftsmannes. Anitas Leben ändert
sich, als ihr beim Einkauf eines Tages ein fremder Mann ihr Portemonnaie nachträgt, das er vorgibt gefunden zu haben. Nur steckt mehr hinter dieser scheinbar
aufmerksamen Geste. Anita und Hudi, der freundliche Mann, ein arbeitsloser
Bäcker, erleben eine späte Liebe. Und die Tochter, die in ihrer Heimatstadt eine
Stelle als Leiterin der Agentur für Arbeit gefunden hat, steht überraschend vor
der Tür. Wenig später wird in der Agentur für Arbeit ein Mann angeschossen,
und dieser Fall beschäftigt sowohl die neue Leiterin als auch ihre Mutter Anita.
In Christoph Nußbaumeders konzentriertem Kammerspiel zerbricht die scheinbar makellose, gesicherte bürgerliche Welt einer ehemaligen Lehrerin nach und
nach. Anita lernt durch Hudi eine andere soziale Realität kennen und erfährt zugleich Dinge über ihre Familie, die sie zu einem Neuanfang zwingen. (3 D, 4 H)
Uraufführung: Mai 2013, Ruhrfestspiele Recklinghausen
Auftragswerk für das Schauspielhaus Bochum
Regie: Heike M. Goetze
Stücke – Eine Auswahl
Mit dem Gurkenflieger in die
Südsee
4 D, 9 H, Statisten
UA: 3.6.2005, Landestheater Linz/
Ruhrfestspiele Recklinghausen
Regie: Bernarda Horres
Mindlfinger Goldquell
3 D, 6 H
UA: 11.2.2006, Landestheater Linz
Regie: Georg Schmiedleitner
Liebe ist nur eine Möglichkeit
5 D, 6 H
UA: 17.10.2006, Schaubühne am
Lehniner Platz, Berlin
Regie: Thomas Ostermeier
Ich werde nicht sterben
In meinem Bett
Anna Politkowskaja gewidmet
1D
UA: 17.5.2007, Schauspielhaus
Bochum
Regie: Burghart Klaußner
Mörder-Variationen
1 D, 4 H
UA: 10.5.2008, Schauspiel Köln
Regie: Florian Fiedler
Die Kunst des Fallens
4 D, 5 H
UA: 3.6.2010, Schauspiel Köln
Regie: Katja Lauken
Eisenstein
4 D, 5 H
UA: 26.9.2010, Schauspielhaus
Bochum
Regie: Anselm Weber
Von Affen und Engeln
4 D, 6 H
Frei zur UA
Meine gottverlassene
Aufdringlichkeit
1D
UA: 18.9.2012, Sophiensaele, Berlin
Regie: Bernarda Horres
Christoph Nußbaumeder wurde 1978 in Eggenfelden
(Niederbayern) geboren und lebt in Berlin. Nach Abitur und
Zivildienst Fabrikarbeit bei einem Automobilhersteller in
Pretoria (Südafrika). Studium der Rechtswissenschaften,
Germanistik und Geschichte in Berlin. Nußbaumeders Stücke
wurden u.a. bei den Ruhrfestspielen Recklinghausen, an der
Berliner Schaubühne, am Nationaltheater Mannheim und
am Schauspiel Köln uraufgeführt. Zahlreiche Inszenierungen
erfuhr insbesondere sein Stück Eisenstein, das 2010 am
Schauspielhaus Bochum uraufgeführt wurde.
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Foto: Susanne Schleyer
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CHRISTOPH NUSSBAUMEDER
»Im Schmutz steckt mehr Leben«
Christoph Nußbaumeder und Georg Ringsgwandl im Gespräch über ›Von Affen und Engeln‹
Christoph Nußbaumeder: Du hast mir, bevor ich ›Von Affen und Engeln‹ angefangen habe zu schreiben, ›Unter
dem Milchwald‹ von Dylan Thomas als Hörspiel geschickt,
die Aufnahme mit Richard Burton, ich kannte die vorher
nicht. ›Under Milk Wood, A Play for Voices‹ … Ist für dich
ein Spiel mit Klängen ein vorstellbares Ideal, wenn du
über Bühnenmusik nachdenkst?
Georg Ringsgwandl: Mir schwebt bei allem, was ich für
die Bühne geschrieben habe, vor, dass es ein ineinander verflochtenes Gewebe von sprachlichen und klanglichen Elementen ist. Klanglich umfasst in dem Fall alles von Geräuschen bis zu Musik. Kein Sprechtheater
mit auflockernd eingestreuten Songs, aber auch kein
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Soundteppich mit kümmerlichen Texteinwürfen. Ein
Bühnenwerk, bei dem das eine ohne das andere nicht
vollständig ist.
Ich muss bei Dylan Thomas immer an das Gedicht denken,
das im Deutschen übersetzt ist mit ›Geh nicht so fügsam in
die dunkle Nacht‹, in dem er sich gegen das Älterwerden
und das Sterben auflehnt. Kann man sich wirklich dagegen auflehnen?
Ich meine, das ist die einzige Chance, das Leben einigermaßen aufrecht zu führen. Der Tod reißt uns natürlich alle irgendwann, aber bis dahin muss man ihm was
entgegensetzen. Sich von vornherein dem Nichts zu ergeben, führt zu Lebensentwürfen, denen ich nicht beiwohnen möchte.
›Von Affen und Engeln‹ ist ein Satz vorangestellt, »Für alle
Narren auf verlorenem Posten«. Von dir gibt es ein Lied,
das ich sehr mag, ›Kasperl oder Genie‹. Was ist deiner Meinung nach tragischer, jemand, der seine Ziele nie wirklich
verwirklichen konnte, oder jemand, der tief fällt, nachdem
er am süßen Duft des Erfolgs schnuppern durfte? Oder
findest du Ehrgeiz prinzipiell verdächtig?
Wirklich schlimm ist es, wenn jemand nicht die Möglichkeiten entwickeln kann, die in ihm stecken, weil die
gesellschaftlichen Bedingungen oder eine Krankheit
oder Sucht alles, was er/sie anfängt, im Keim ersticken.
Das kann in der Tat tragische Ausmaße annehmen.
Wenn jemand schon mal Erfolg hatte, gehört er bereits
zu Gottes Lieblingen. Wenn es dann bergab geht, ist
mein Mitleid beschränkt, es sei denn, es geht um die
Opfer einer Diktatur. Was den Ehrgeiz angeht: Das ist
eine gute Eigenschaft, solange sie sich auf ein akzepta-
bles Ziel richtet und die Kollateralschäden im Rahmen
bleiben.
Und wann wird Scheitern als lustig, wann als traurig befunden?
Ob Scheitern lustig oder traurig ist, hängt mehr vom
Blickwinkel ab. Das gängige DSDS-Opfer empfindet seine Rückkehr in die Welt der Sozialhilfe zu Recht als traurig. Ich auch, aber aus anderem Grund: einem armen
Wesen, das nie eine Chance hatte, wird öffentlich laut
feixend und zynisch verkündet, dass es ein nichtswertiges, armes Wesen ist. Lustig kann das Scheitern bei
jemandem sein, der beste Voraussetzungen hatte und
sein Vorhaben durch Größenwahn und Maßlosigkeit
vergeigte. Aber auch das kann man nur witzig finden,
wenn man weit genug entfernt steht. Die Angestellten
bei Karstadt hatten da eher weniger zu lachen. Lustiges
Scheitern gibt es wahrscheinlich nur, wenn jemand im
Buch oder auf der Bühne so tut, als würde er scheitern.
Dann lachen wir aus Befreiung.
Im Stück gibt es eine Figur, Bernd, der ist Ende 50 und
Umsatzkontrolleur am Weihnachtsmarkt. Der steht in der
Hierarchie der Beschäftigten ganz unten. Irgendwann
kommt der Punkt, an dem er die Schnauze voll hat, und
er zündet den großen Weihnachtsbaum an. Er verschafft
sich sozusagen Luft durch Feuer. Kennst du solche Aggressionsattacken?
Ja, kenne ich, aus Erfahrung.
Ich habe vor Kurzem bei Tennessee Williams einen Satz gelesen, in einem Selbstinterview hatte er Folgendes notiert:
»Für mich gibt es weder Bösewichte noch Helden, sondern
nur richtige und falsche Wege, die der Mensch einschlägt –
nicht aus freier Entscheidung, sondern aus Notwendigkeit
oder unter dem Einfluss gewisser ihm unverständlicher
Faktoren seines eigenen Innern, seiner Lebensumstände
und seiner Herkunft.«
Da spricht jemand, der sich ernsthaft mit der Welt beschäftigt hat.
Du hast mich auf die Idee gebracht, das Stück hinter den
Kulissen des Weihnachtsmarktes anzusiedeln, also Backstage, wenn man so will. Ich glaube, du hast gesagt, im
Schmutz steckt mehr Leben.
Das sind meine beschränkten Ausdrucksmittel. Solange die Dinge so laufen, wie es die herrschende Denkweise für gut befindet, wenn gutaussehende Menschen
mit interessanten Berufen wohlhabend und harmonisch
zusammenleben, gibt es ja keine Ungleichgewichte und
keine Konflikte und damit keine Bewegung. Selbst im
Fernsehfilm muss sich der Tierarzt erst in eine Gestütserbin verlieben, ehe seine Frau ein richtiges Fass aufmacht und die Quoten hochgehen.
Im Schmutz gibt es die offensichtlicheren Dramen, weil
hier die Leute um ihre blanke Existenz kämpfen, und
zwar nicht im vornehm raunenden Seminarton, sondern
im Klartext.
Foto: Kerstin Groh
Der Musiker und Schriftsteller Georg Ringsgwandl
brachte seinen Freund Christoph Nußbaumeder auf die
Idee, das Stück Von Affen und Engeln (frei zur UA) hinter
den Kulissen eines Weihnachtsmarktes spielen zu lassen. In diesem Stück verdienen sich unter der strengen
Aufsicht einer Marktleiterin, die die Gesetze des Kapitalismus verinnerlicht hat, prekär lebende Menschen als
Wahrsager, Weihnachtsmann, Engel und Budenbetreiber ihr geringes Einkommen. Aber da diese modernen
Tagelöhner nicht nur die Standmiete bezahlen, sondern
die Chefin auch am Umsatz beteiligen müssen, regt sich
Widerstand. Als ein junger Wissenschaftler, der auf
dem Markt den Schlittschuhverleih betreut, seine Vision einer ökologischen Zeitenwende entwirft, scheint die
Möglichkeit eines anderen, besseren Lebens auf. Ringsgwandl, der die Entstehung des Stückes von Anfang an
begleitete, wird erstmals die Musik für ein Stück von
Christoph Nußbaumeder schreiben. Ein paar Fragen zu
seiner Musik zu Von Affen und Engeln und dazu, was es
mit dem Scheitern der Figuren auf sich hat.
Dr. Georg Ringsgwandl hängte mit
45 seinen Beruf als kardiologischer
Oberarzt an den Nagel und widmete
sich ganz dem Musikkabarett. Er
steht seit über 30 Jahren auf der
Bühne, schreibt Bühnenmusik und
Theaterstücke.
67
INGRID L AUSUND
Albert Ostermaier
Schwarze Sonne
scheine
Bühnenbearbeitung nach dem gleichnamigen Roman
Ostermaiers Monologstück erzählt von der scheinbar aussichtslosen Situation
angesichts eines angekündigten Todes. Ein junger Mann, aufgewachsen in einem katholischen Internat in Bayern, der sein Leben darauf ausgerichtet hat,
Schriftsteller zu werden, muss sich entscheiden zwischen sicherem Tod und ungewissem Überleben. Ein rasanter Thriller über die Verstrickungen zwischen
priesterlichem Mentor und Schüler, Ärztin und Patient, Schreibberufung und
Brotberuf. Ein erschütterndes Panorama moralisch-politischer Strukturen im
Süden Deutschlands, in dem der Einzelne wenig, die Kirche alles zählt.
Albert Ostermaier, geboren 1967,
schreibt Lyrik, Prosa und Dramatik
und lebt und arbeitet in München.
Das 1995 im Bayerischen Staatsschauspiel München uraufgeführte
Stück Zwischen zwei Feuern. Tollertopographie eröffnete Albert Ostermaiers Karriere als Theaterautor.
Seine Stücke wurden u.a. am Nationaltheater Mannheim, am Berliner
Ensemble und am Wiener Burgtheater gespielt und von namhaften Regisseuren inszeniert, u.a. von Andrea
Breth, Lars-Ole Walburg und Martin
Kušej. 2010 schrieb er das Libretto
für die Oper Die Tragödie des Teufels
als Auftragswerk der Bayerischen
Staatsoper zusammen mit dem
ungarischen Komponisten Péter
Eötvös. Die Theaterstücke Aufstand
und Halali kamen 2011 zur Uraufführung. Ebenfalls 2011 erschien sein
Roman Schwarze Sonne scheine.
Albert Ostermaier wurde mit namhaften Preisen und Auszeichnungen
geehrt, u.a. dem Kleist-Preis, dem
Bertolt-Brecht-Preis und 2011 mit
dem Welt-Literaturpreis für sein
literarisches Gesamtwerk.
Uraufführung des Auftragswerks: 28. November 2012, Les Théâtres de la Ville de
Luxembourg/Théâtre des Capucines
Regie: Johannes Zametzer
»Eine schier unglaubliche Geschichte, erzählt in
tragikomischer Manier. Eine tollkühne Achterbahnfahrt
durch alle Facetten eines unter Strom gesetzten
Gehirns.« Herbert Grönemeyer
»So ist ›Schwarze Sonne scheine‹ ein schönes, trauriges
und hochnotkomisches, ein absurdes, ein verzweifeltes
und warmes Buch geworden.« Frankfurter Rundschau
68
Foto: Anita Schiffer-Fuchs
287 Seiten. Geb. € 22,90
(978-3-518-42220-5)
69
ALBERT OSTERMAIER
Was uns im Innersten angeht
Aus der Laudatio von Dominique Horwitz zur Verleihung des
›Welt‹-Literaturpreises an Albert Ostermaier
Illusionen, Fiktionen, Lebenslügen und gebrochene
Perspektiven – wer sonst bietet in der aktuellen Literatur solche Möglichkeitsräume an? Albert Ostermaier
ist ein Autor, der Gegensätze zusammendenkt und das
Undenkbare in gewaltige Bilder verwandelt. Worüber
man nicht sprechen kann, davon muss man sich ein
Bild machen. Er findet die Wahrheiten, an denen Andere mit weit geschlossenen Augen vorbeischreiben.
Wenn wir Schauspieler seine Worte in den Mund nehmen, habt ihr da unten noch lange daran zu schlucken.
Was Albert Ostermaier schreibt, bedeutet eine spannungsreiche Überforderung des Lesers, der nur lesen
will und nicht hören oder nur hören, aber nichts erkennen. Das ist sein Programm: Durch die Präzision
seiner Sprache unsere verkühlten Herzen in Brand zu
setzen – denn wir leben in kalten Zeiten – und alle
unsere Sinne zu öffnen. Laut sollten seine Gedichte gelesen werden, und wer das tut, blickt in einen Spiegel,
in dem gerade die letzte Szene eines film noir läuft.
Vertrauen und Verrat, Liebe und Verlust – das sind die
großen Themen Albert Ostermaiers. Er schreibt eine
Literatur, die nur aus Abschieden zu bestehen scheint,
aber das stimmt nicht – im Gegenteil: Es geht bei ihm
immer um die Selbstbehauptung des Individuums,
um die Würde des Zweifels und der Verzweiflung,
vor allem um Bewahrung des Ich vor der schleimigen
Vereinnahmung durch irgendeinen politischen, gesellschaftlichen oder ästhetischen Konsens.
So arbeitet er seit Anfang an: Er hat sein erstes Theaterstück über Ernst Toller geschrieben, als niemand
mehr etwas vom politischen Theater und schon gar
nichts von gescheiterten Emigranten wissen wollte.
Und sein jüngster Roman Schwarze Sonne scheine ist
allein sprachlich so hoch komplex und ambitioniert,
dass er nicht in die momentane Tiefebene der deutschen Literaturlandschaft passt. Das Paradoxe ist: Albert Ostermaier gilt, weil er Erfolg beim Publikum hat,
für die Kritiker als modischer Autor, was hierzulande
einem Todesurteil gleichkommt. Dabei macht er genau
das Gegenteil dessen, was gerade Mode ist. Er folgt
keinem literarischen Kompass. Verweigerung der Himmelsrichtung heißt geradezu prophetisch sein erster
Gedichtband von 1988. »Hier habt ihr einen, auf den
könnt ihr nicht bauen« – diese Haltung hat ihm sein
Vorbild Bert Brecht mitgegeben. Gegen die Zeit, trotz
aller Kritik und gegen den ästhetischen Konsens hat
dieser Autor bislang 25 Theaterstücke und 10 Lyrikbände vorgelegt – eine erstaunliche Produktion für
jemanden, der laut Münchner Gerüchten die meiste
Zeit in Schumanns Bar oder beim Fußball verbringt.
(…) Mit dem Roman ist in diesem Jahr etwas ganz Seltenes passiert. Er ist von allen in den höchsten Tönen
gelobt worden. Sonst irren sich Kritiker manchmal,
natürlich jeder mit anderen Argumenten, aber hier
waren sich alle einig: Schwarze Sonne scheine ist riskant und provokativ, ein Drahtseilakt zwischen Wutgeheul und innerster Demut, mitreißend, abstoßend
und sogar erschütternd. Da will einer raus aus allen
familiären Verplanungen, raus aus dem ungeliebten
Jurastudium, er will Dichter werden. Aber auf ihm
lastet das Todesurteil einer Krankheit, die er gar nicht
hat, die ihm eingeredet worden ist samt der möglichen
Rettung – ein übles Komplott, das ihn noch tiefer in
die Abhängigkeit von seinem Mentor treiben soll, einem katholischen Seelenfänger, den er eigentlich we-
»Das ist sein Programm: Durch die Präzision seiner Sprache
unsere verkühlten Herzen in Brand zu setzen – denn wir leben
in kalten Zeiten – und alle unsere Sinne zu öffnen.«
Dominique Horwitz zur Verleihung des ›Welt‹-Literaturpreises an Albert Ostermaier
70
gen dessen weltoffener Bildung bewundert und ihm
vorbehaltlos vertraut. Bis er erfährt, dass er von ihm
belogen und betrogen wurde. Das ist, meine Damen
und Herren, die Geburt des Künstlers aus dem Geist
des Verrats. Und der Künstler hat Recht, wenn er sich
notwehrt – rücksichtslos privat und zugleich scharfsichtig bis an die Ränder unserer Welt. Auch unserer
Vorstellungswelt. Wir wissen inzwischen, dass alles in
diesem Buch wahr ist, und nichts an der Geschichte ist
erfunden, aber das spielt für uns Leser keine Rolle. Wir
merken, dass es hier einer ernst meint mit der Kunst
und dem Leben und dass hier einer etwas zu sagen
hat, was auch uns im Innersten angeht. Das kann nur
große Literatur, und deswegen konnte die Jury auch
gar nicht anders, als Albert Ostermaier mit dem Preis
der »Literarischen Welt« auszuzeichnen.
»Ohne schreiben hätte ich kaum
leben können«
Aus Albert Ostermaiers Dankesrede zur Verleihung des
›Welt‹-Literaturpreises
Autobiografie ist Gewissensprüfung. Sie sucht Absolution, Erlösung. Autobiografie ist Kannibalismus, weil
sie nach Menschen mit Fleisch hungert. Autobiografie
ist Selbstverstümmelung, Häutung. Oder auch von allem das Gegenteil. Autoren verletzten permanent und
notorisch ihre eigenen Persönlichkeitsrechte. Glauben
wir statt an uns selbst an Lacan, konstruieren wir uns
entlang einer »Linie der Fiktion«. Wir täuschen uns
bewusst selbst, weil alles andere unseren Narzissmus
kränken würde.
Aber Narziss war ein armer Junge! Er ist an seinem
Spiegelbild verhungert, verdurstet an seinem Durst,
sich selbst zu lieben. Narziss hätte sich nie selbst
als hässlich wahrnehmen können. Vielleicht hätte er
dann auf sein Spiegelbild spucken und sich mit einem
Schlag ins Wasser befreien können. Oder er wäre einfach in sich hineingesprungen, abgetaucht, bis er keine Luft mehr bekommen hätte, hochgeschossen wäre
in die Selbsterkenntnis.
Denn natürlich will, wer über sich schreibt, sich von
sich befreien. Um diese Freiheit geht es ja beim Schreiben, dass man Ich schreibt, um nicht mehr ich sein
zu müssen. Das gelingt aber nur beim Schreiben,
beim Schreibakt selbst. Schreiben heißt, sich davon
zu befreien, dass immer die anderen sagen, was und
wer »Ich« oder »man« ist. Oder um es mit Kinski als
Fitzcarraldo zu sagen: »Ich bin in der Überzahl!« (…)
Man kann, möchte ich ihm antworten, ein Leben nicht
ins Reine schreiben, es bleibt offen wie seine Fragen,
die beantworteten und die ungestellten. Habe ich eine
Autobiografie geschrieben? Ich habe einen Roman geschrieben. Ich wollte nichts so sehr wie einen Roman
schreiben. Als könnte mein Leben ein Roman sein. Ich
habe immer dafür gelebt zu schreiben. Ohne schreiben
hätte ich kaum leben können, überleben können, so
pathetisch und angreifbar das jetzt wieder tönen mag.
»Denn natürlich will, wer über sich schreibt, sich von
sich befreien. Um diese Freiheit geht es ja beim Schreiben,
dass man Ich schreibt, um nicht mehr ich sein zu müssen.«
Albert Ostermaier
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INGRID L AUSUND
Gesine Schmidt
Expats in China
Eidgenossen in Shanghai
Während die USA und Europa in Schuldenkrisen versinken, boomt der Markt
in China und gilt als Eldorado für Unternehmen. Auch die Schweiz ist im Chinafieber. China ist heute nach der Europäischen Union und den USA der drittgrößte Exportmarkt der Schweiz. 300 Schweizer Firmen sind mit rund 700
Niederlassungen und 126000 Angestellten im Reich der Mitte aktiv. Expatriates, kurz Expats, werden die Führungskräfte eines Unternehmens im Ausland
genannt. Ein bis fünf Jahre bleiben die Entsandten, um neue Abteilungen oder
Tochterunternehmen aufzubauen. Doch der Markt in China ist umkämpft und
hat seine Besonderheiten. Der Erfolg des Expats hängt stark von seiner interkulturellen Anpassungsleistung ab. Interkulturelle Kompetenz ist die Fähigkeit, die eigene und fremde kulturelle Orientierung zu erkennen, zu reflektieren und zu benennen.
Ai Weiwei spricht von »gewaltigen Voreingenommenheiten und naiven Urteilen
im Verständnis der Welt von China als Ergebnis einer historischen ideologischpolitischen Entfremdung«. Wie spiegelt sich diese Fremdheit im beruflichen
und privaten Alltag der Expats wider? Was passiert, wenn schweizerische und
chinesische Kulturstandards aufeinandertreffen? Und beugt schnell erworbenes interkulturelles Know-how wirklich Missverständnissen vor oder produziert es sie erst? Verschwimmen in einer globalisierten Wirtschaft die kulturellen Differenzen oder werden sie verstärkt?
Über die individuellen Biografien der Schweizer Expats und der chinesischen
Geschäftspartner hinaus sollen Konzepte kultureller und nationaler Identitäten
beleuchtet und hinterfragt werden. (Besetzung variabel)
Uraufführung des Auftragswerks: 16. März 2013, Theater Basel
Regie: Antje Schupp
Frei zur deutschen Erstaufführung
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Foto: Susanne Schleyer
Werkübersicht
Gemeinsam mit Andres Veiel
entsteht 2005 das Dokumentartheaterstück Der Kick, das sich mit
dem Mord an einem Jugendlichen
in einem brandenburgischen Dorf
beschäftigt. Die Uraufführungsinszenierung, eine Koproduktion des
Berliner Maxim Gorki Theaters und
des Theater Basel, und das Hörspiel
werden mit mehreren Preisen ausgezeichnet.
Auf der Grundlage von Interviews mit
einem deutsch-türkischen Pärchen
entsteht das Stück liebesrap. Das
gleichnamige Hörspiel (DLF 2010)
erhält u.a. den 1. Preis beim internationalen Wettbewerb Prix Marulic
in Kroatien. liebesrap ist frei zur
Uraufführung (1 D, 1 H).
2010 erlebt Schmidts Stück Die
Russen kommen! am Staatstheater
Nürnberg seine Uraufführung. Als
Auftragswerk entstanden, thematisiert das Dokudrama die widersprüchlichen Integrationserfahrungen sogenannter Russlanddeutscher.
2011 folgt die Uraufführung von
Oops, wrong planet! am Theater
Basel. Im Stück kommen Autisten
zu Wort, die uns teilnehmen lassen
an ihrer speziellen Sicht auf unsere
Welt. Das Stück wurde 2012 von
DLF/WDR auch als Hörspiel produziert.
Gesine Schmidt, 1966 in Köln
geboren. Nach dem Studium der
Komparatistik und Theaterwissenschaft an der Ruhr-Universität
Bochum folgen Stationen als Dramaturgin am Schauspiel Frankfurt, dem
Badischen Staatstheater Karlsruhe
und dem Berliner Ensemble. Von
2004 bis 2006 arbeitet sie als Dramaturgin am Maxim Gorki Theater,
Berlin. In der Spielzeit 2008/2009
ist Gesine Schmidt Dramaturgin am
Deutschen Theater Berlin. Gesine
Schmidt lebt als freie Autorin in
Berlin.
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GESINE SCHMIDT
Auf der Suche nach dem
Nahen im Fremden
Gesine Schmidt im Gespräch
Frank Kroll: Du hast seit deinem mit Andres Veiel zusammen
verfassten Stück ›Der Kick‹ eine spezielle Form des Stückeschreibens weiterentwickelt: Wie gehst du dabei vor?
Gesine Schmidt: Nach einer langen, intensiven Vorbereitungsphase, in der ich auch mit vielen Experten spreche, wähle ich sehr bewusst meine Interviewpartner aus,
formuliere komplexe Fragen, um dann in der Begegnung
alles wieder über Bord werfen zu können. Mit der Technik autobiografisch-narrativer Interviews lasse ich mich
ganz auf die Perspektive meiner Protagonisten ein, die zunächst ohne äußere Lenkung ihre Geschichten erzählen.
Das Eintauchen in die Erinnerung entwickelt zusätzlich
eine eigene Logik und Handlungsstruktur, bei der sich die
Kernthemen und unterbewussten Schichten wie von selber
herausschälen. Oft sind das völlig neue Aspekte, die meine
Erwartungshaltung konterkarieren. Das vertiefe ich dann
im weiteren Gespräch. Aus den einzelnen Erzählungen
meiner Protagonisten konstruiere ich zunächst in sich geschlossene Monologe, um das Substrat der Erzählung freizulegen, den individuellen Erzählstil zu fixieren und die
charakteristischen Sprachmerkmale zu verdichten. Zuletzt
werden dann diese monolithischen Blöcke nach zeitlichen
und thematischen Bezügen miteinander verschnitten und
in einen dramaturgischen Spannungsbogen gefasst.
Deine Stücke entstehen oft als Auftragsarbeiten. Was ist zuerst da? Das Thema? Ein komplettes Stückkonzept? Oder eine
noch diffuse Idee oder ein Gespür für das dramatische Potential eines bestimmten realen Phänomens?
Das ist unterschiedlich. Es ist sinnvoll, sich ein Thema
zu suchen, das einen realen Bezug hat zu dem Theater
oder der jeweiligen Stadt. Die Russen kommen! ist aufgrund der Tatsache entstanden, dass in Nürnberg ca.
50000 Deutsche aus Russland mit ihren Familien leben.
Das sind immerhin 10 Prozent der Einwohner, über die
man jenseits der üblichen Allgemeinplätze wenig weiß. Bei
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der Recherche zum liebesrap haben mich die türkischen
Jugendlichen der 4. Generation interessiert, die nach den
Brandbriefen der Berliner Schulen und den tendenziösen
und pauschal abwertenden Thesen eines Roland Koch den
laufenden Fernsehkameras »Meine Zukunft ist Hartz IV!«
entgegenhielten. Zuerst ist das Interesse für ein relevantes
Thema, eine Personengruppe da, über die ich mehr erfahren möchte. Dann folgt eine umfangreiche Recherche, danach kommen die Interviews, und erst dann gibt es das
komplette Stückkonzept. Wenn ich schon vorher weiß, was
und wie ich es erzählen will, brauche ich mich nicht auf die
Reise in die Realität der Anderen zu begeben.
Der Theaterkritiker Thomas Irmer hat kürzlich diese Strömung des »Neuen dokumentarischen Theaters«, die uns in
den letzten Jahren in verschiedensten Ausprägungen begegnet ist, als Folgendes identifiziert: Gegenwart werde als unbekannt gesetzt, der politische Gestus heiße heute »erforschen
statt belehren« und dies träfe auf ein widererstarktes Publikumsinteresse an Authentizität. Sind unsere Verhältnisse
wirklich so kompliziert wie immer behauptet?
weit, dass du die Figuren deiner Stücke in fiktive Handlungen
verstrickst. Du erfindest beispielsweise keine Zuspitzungen.
Warum nicht? Wäre das nicht auch denkbar?
Die Auswahl und das Aufbrechen und Verschneiden der
einzelnen Monologblöcke nach inhaltlichen und dramaturgischen Prinzipien ist bereits eine Zuspitzung von Wirklichkeit. Die Aufmerksamkeit wird gelenkt und irritiert, das
heißt, es wird mit Erwartungshaltungen gespielt, die bestätigt, modifiziert oder enttäuscht werden. »Das Reale muss
zur Dichtung werden, damit es gedacht werden kann. ›Fingere‹ heißt nicht zuerst vortäuschen, sondern formen«, sagt
der französische Philosoph Jacques Rancière. Von daher
handelt es sich bereits um dokumentarische Fiktion, die
mit Erwartungen und Bedeutungen spielt, um neue Sichtweisen zu ermöglichen. Bisher waren die Wortbeiträge so
stark, dass allein das Spiel mit der Sprache starke Bilder im
Kopf provozierte, so dass eine zusätzliche fiktive Handlung
den Eindruck eher verkleinert hätte. Das heißt aber keinesfalls, dass ich das grundsätzlich ausschließe.
Du schreibst deine Stücke für Ensemble-Schauspieler. Welche
Transformationen passieren da mit den Geschichten, die du
recherchiert und in deiner Schreibwerkstatt wie gerade beschrieben literarisch verdichtet hast?
Die modellhaften Konzepte und belehrenden Tendenzen der
Autoren des Dokumentartheaters der 60er Jahre funktionieren heute nicht mehr. Unsere Wirklichkeit ist so vielschichtig und dynamisch geworden, dass selbst inzwischen das
Wissen einzelner Experten nicht mehr genügt, ihre Komplexität zu erfassen. Spannend wird es für mich dann, wenn ich
viele individuelle biografische Angaben und Wertvorstellungen sammle und miteinander konfrontiere. Über diese individuellen Erfahrungen erfahre ich mehr über Gesellschaften
und ihre Strukturen als über die Reduktion von Realität, die
einer Trivialisierung von Phänomenen gleichkommt.
Die Anonymität schützt einerseits die Protagonisten, sie
können offener sprechen, und der Zuschauer kann sich
mehr auf das, was gesagt wird, konzentrieren. Und andererseits wird der Eindruck durch die künstlerische Verdichtung und durch den Aneignungsvorgang der Schauspieler
intensiver, da er eine andere Konzentration bekommt. Mit
einem Schauspieler erreiche ich mehr Authentizität auf der
Textebene und gleichzeitig eine strukturelle und systemische Komponente durch die Spielebene. Dadurch gewinnt
der Text eine Interpretationsebene hinzu, die vom Individuellen wieder auf das Ganze verweist. Also nah dran am Authentischen und weit weg vom eigentlichen Protagonisten.
Ein nur scheinbarer Widerspruch, der dann, nur für mich,
noch eine weitere Drehung bekommt, wenn später die wirklichen Protagonisten ihren Schauspielern begegnen.
Deine Texte sind für mich auch deshalb von besonderer Qualität, weil du nicht einfach authentisches Material versammelst
oder »interessante« Stimmen montierst, sondern dramatischliterarische Texte daraus machst. Du gehst dabei aber nicht so
Ich will deine Stücke nicht auf einen gemeinsamen Nenner
zwingen, aber auf mich wirkt es so, dass es in ihnen auf sehr
verschiedene Weise immer wieder um Entwurzelungen oder
Abkoppelungen geht. Ob nun in moralischer Form in ›Der
Kick‹ oder ›liebesrap‹, ob in eher geografischer Weise in ›Die
Russen kommen!‹, wo es ja um die Suche nach Heimat geht.
In ›Schöner geht’s nicht‹ geht es um Entfremdung vom eigenen
Körper. Eigentlich beschreibt auch ›Oops, wrong planet‹, dein
Stück über Autisten, ein von der Mitte der Gesellschaft abgekoppeltes Paralleluniversum. Geht’s dir darum: das Fremde
zu finden im Nahen?
Ich würde das als die Suche nach dem Nahen im Fremden
bezeichnen. Die Grenze zwischen Normalität und Abweichung, die gesellschaftlichen Kriterien dafür und ihre Abgrenzungssysteme erzählen viel über die Kultur unserer
Gesellschaft. Deshalb interessieren mich die Menschen
und Perspektiven hinter den Zuschreibungen der öffentlichen Wahrnehmung. Mit meiner Annäherung an das sogenannte Fremde und den biografischen Erzählungen meiner
Protagonisten versuche ich, neue Aufmerksamkeitsfelder
zu schaffen, um unsere Wahrnehmungsmuster und Urteile
zu irritieren. Und ein Schweizer Jungmanager, den ich in
Shanghai interviewt habe, hat es treffend auf den Punkt gebracht: »Ich habe hier die Chance, so vieles zu lernen, das
generell anwendbar ist. Und ich mag Menschen unheimlich
gern. Die Kultur, die Ästhetik, das ist alles sehr fremd, aber
im Menschen findet man sich selber. Man muss durch ein
ganz dichtes Dickicht durchgehen und endet dann wieder
am Anfang des Kreises.«
Welche Eindrücke und Pläne hast du aus Shanghai mitgebracht?
Shanghai ist eine Boom-Town, eine dynamische Weltmetropole mit über 15 Millionen Einwohnern, in der Ost und
West fusionieren. Ich bin einige Wochen dort gewesen und
habe über 20 Interviews geführt. Bedingt durch die hohe
Geschwindigkeit und den großen Druck, unter dem dort
gearbeitet wird, hatte ich zahlreiche Speed- und LunchMeetings an den absurdesten Orten unter beachtlicher Geräuschkulisse und der krampfhaften Bemühung, die Technik des Stäbchenessens zu verfeinern. Trotz und vielleicht
wegen alledem ist ein ungeheurer, vielschichtiger Materialberg von knapp 500 Seiten dabei herausgekommen, den
ich gerade bearbeite. Meine Recherche in China hat mich
so inspiriert, dass ich weitermachen werde. Nach den wirtschaftlichen Beziehungen werde ich mir die west-östlichen
Liebesbeziehungen im Spannungsfeld gesellschaftlicher
Veränderungen in beiden Kulturen ansehen.
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INGRID L AUSUND
Judith Schalansky
Der Hals der Giraffe
Ein Kleinstadtgymnasium in der ostdeutschen Provinz. Früher war es nach einer Widerstandskämpferin benannt, seit der Wende heißt es Charles-DarwinGymnasium, und jetzt soll es wegen Schülermangel geschlossen werden. An
dieser sterbenden Schule in einer sterbenden Region unterrichtet Inge Lohmark
Biologie und Sport. Sie ist streng. Gefühle zeigt sie nicht. Progressive Kollegen
hasst sie, das optimistische Vertrauen auf Bildung verachtet sie. Inge Lohmark
macht sich keine Illusionen, auch nicht über sich selbst. Sie wird alt. Ihre Tochter lebt weit weg. Ihr Mann hat seinen Beruf verloren und dilettiert als Straußenzüchter. Inge Lohmarks Liebe gilt nur der Biologie, den ehernen Gesetzen
des Lebens und des Sterbens.
Uraufführung: 8. Dezember 2012, Schauspiel Frankfurt
Regie: Florian Fiedler
Armin Petras inszeniert Der Hals der Giraffe im Juni 2013 am
Maxim Gorki Theater Berlin.
Aufführungen jeweils in den Fassungen der Theater.
»Mich hat auch eine Frau interessiert, die keine Beziehung mehr hat. Sie hat
einen Ehemann, von dem ist immer mal wieder die Rede, aber der taucht im ganzen Buch nicht auf. Dieser Ehemann züchtet Strauße, und das wiederum, finde
ich, ist ein tolles Bild für das, was eben in Regionen passiert, wo eigentlich alle
wegziehen und dann so eine Art Versteppung einsetzt und dann dadurch aber
ganz absurde Dinge eben wieder angesiedelt werden wie eben Straußenfarmen.
Von denen gibt es in Mecklenburg-Vorpommern tatsächlich einige. Den Tieren
bekommt das Klima gut, und das passt natürlich erst einmal zu der Giraffe, aber
auch zu diesem seltsamen Bild, dass alles auch auf einmal wieder möglich ist
und wie beunruhigend das ist und wie grotesk und komisch auch.«
Judith Schalansky
Judith Schalansky, 1980 in Greifswald geboren, studierte Kunstgeschichte und Kommunikationsdesign. Ihr literarisches Debüt, der
Matrosenroman Blau steht dir nicht,
erschien 2008. Für ihren Atlas der
abgelegenen Inseln und für Der Hals
der Giraffe wurde sie unter anderem
mit dem Preis der Stiftung Buchkunst (Die schönsten deutschen
Bücher) ausgezeichnet. Sie lebt als
freie Schriftstellerin in Berlin.
st 4388. 222 Seiten. ca. € 9,99
(978-3-518-46388-8)
Lohmark: »Die Kollegen
kapierten einfach nicht,
dass sie nur ihrer eigenen
Gesundheit schadeten, wenn
sie auf die Schüler eingingen. Dabei waren das nichts
als Blutsauger, die einem
jede Lebensenergie raubten.
Sich vom Lehrkörper ernährten, von seiner Zuständigkeit und der Angst, die
Aufsichtspflicht zu verletzen.
Unentwegt fielen sie über
einen her. Mit unsinnigen
Fragen, dürftigen Eingebungen, unappetitlichen
Vertraulichkeiten. Reinster
Vampirismus.«
(aus: Der Hals der Giraffe)
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Foto: Susanne Schleyer
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INGRID L AUSUND
Akin E. Şipal
Vor Wien
Was für ein Leben ist das, zwischen oben und unten, zwischen Ost und West,
zwischen Rausch und Rauschen? Es ist ein Leben im Jetlag. Als erfolgreicher Geschäftsmann lebt Erol ein Leben im Flugzeug, immer unterwegs zwischen zwei
Orten, zwischen zwei Terminen und zwischen den Kulturen; immer aber spielt
Istanbul eine zentrale Rolle. Alles perfekt, wäre da nicht das Rauschen, das ihn
nie hat einschlafen, dafür aber immer pünktlich hat aufstehen lassen. Bis die Katastrophe eintritt. Erol wird entlassen, oder war es doch anders und er hat seine
Entlassung nur provoziert, um endlich einen neuen Anfang zu finden, ein neues
Leben? Die Frage ist, ob sein neues Leben, mit Familie in Amerika und doch
auch wieder im Flugzeug, die erhoffte Lösung seiner Probleme ist. (2 D, 3 H)
Frei zur Uraufführung
Akin Şipal hat für sein Stück den vom Land Nordrhein-Westfalen und dem
Westfälischen Landestheater bundesweit ausgeschriebenen Wettbewerb »In Zukunft« gewonnen. Aus der Begründung der Jury:
»Ein Stück, das nicht nur versnotierte monologische
Abschnitte mit klassischen dialogischen Szenen verbindet,
sondern auch dramaturgisch überraschende Wendungen
birgt. Es mischt auf subtile Weise die Themen Exil
und Migration … Şipal verfügt über ein enormes
Sprachvermögen und ein großes Entwicklungspotential.«
Akin E. Şipal, 1991 in Essen geboren, aufgewachsen in Gelsenkirchen
und Istanbul, studiert Film an der
Hochschule für bildende Künste
Hamburg mit den Schwerpunkten
Regie und Drehbuch. Mit Vor Wien
erscheint sein erstes Theaterstück
bei Suhrkamp.
Aylin: Ich würde sagen,
es wird Zeit zu landen,
Mr. Soner, finden Sie nicht
auch?
Erol: Bin ich, bin ich. Vor
einiger Zeit bin ich gelandet.
Aber wissen Sie, man hat
die ganze Zeit diese Illusion
vom Landen und man denkt
sich: Mhm, wenn ich lande,
dann ist alles anders,
dann. Ist es klarer, ja?
Aber …
Aber diese Illusion vom
Ankommen, das ist wie …
wenn man ein Ziel
erreicht hat. Man spürt eine
10-minütige Genugtuung
und dann
Dann muss es schon weitergehen.
(aus: Vor Wien)
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INGRID L AUSUND
Rafael Spregelburd
Luzid
Originaltitel: Lucido
Deutsch von Sonja und Patrick Wengenroth
Lucas wird 25 und zur Feier des Tages lädt er seine Mutter Tété und seine ältere Schwester Lucrèce in ein exquisites Restaurant ein. Die Speisekarte enthält
Ausgewähltes, der Kellner ist höflich und die Familie ausgesprochen glücklich.
Was zunächst wie eine Familienidylle anmutet, degeneriert mit jeder Wiederholung der Szene zu einem Albtraum. Mutter und Tochter streiten ums Erbe. Der
Kellner versenkt den Personalausweis von Lucas aus Versehen in kochendem
Wasser. Anstatt vor einem Geburtstagskuchen sitzt der junge Mann vor dem
Scherbenhaufen seiner Identität.
Rafael Spregelburd beschreibt in seiner schnellen, schwarzen Tragikomödie
eine Familie im Ausnahmezustand. Denn während Lucas in seinen »Klarträumen«, deren Inhalt er selbst bestimmen kann, versucht, sich eine glückliche Familie zu imaginieren, kehrt seine Schwester Lucrèce in der Realität nach Jahren
der Abwesenheit nach Hause zurück. Schließlich gibt es aber noch eine andere
Wirklichkeit, und die hat mit Tété zu tun. (2 D, 2 H)
Uraufführung: 2. Dezember 2006, Sala La Planeta, Girona (Festival de Temporada
Alta 2006)
Regie: Rafael Spregelburd
Frei zur deutschsprachigen Erstaufführung
Rafael Spregelburd, geboren 1970
in Buenos Aires, ist Dramatiker,
Regisseur, Übersetzer und einer der
wichtigsten Vertreter des zeitgenössischen argentinischen Theaters.
Spregelburd hat in maßgeblichen
Filmen mitgespielt und ist einer
der bekanntesten Schauspieler des
Landes. 2012 ist er künstlerischer
Leiter der »École des Maîtres«, einer
Theaterakademie in italienischer,
französischer, portugiesischer und
belgischer Kooperation.
1994 gründete Spregelburd als
Regisseur seine eigene Theaterkompanie »El Patrón Vázquez«, mit der er
vorwiegend eigene Stücke inszeniert
und international tourt. Er erhielt
über 40 argentinische und internationale Preise, zuletzt 2011 den
Argentinischen Nationalpreis für sein
Stück Die Sturheit (La terquedad).
Es ist der höchste Preis, den das
Land Argentinien an einen Autor
vergibt.
Spregelburds Stücke wurden im
deutschsprachigen Raum u.a. am
Deutschen Schauspielhaus Hamburg, an der Berliner Schaubühne,
an den Münchner Kammerspielen,
am Theater Basel, am Staatstheater Stuttgart, dem Nationaltheater
Mannheim, am Schauspiel Frankfurt
sowie am Badischen Staatstheater
Karlsruhe aufgeführt.
Call me God, eine Gemeinschaftsarbeit mit Marius von Mayenburg,
Albert Ostermaier und Gian Maria
Cervo, wird am Bayerischen Staatstheater uraufgeführt (siehe Seite
17). Luzid wurde in Argentinien,
Frankreich, Peru, Spanien und Italien
erfolgreich inszeniert.
»Man lacht viel in ›Luzid‹, und in dieser Inszenierung
wird das pure Vergnügen deutlich, mit dem sich die
Schauspieler diesem ›Schmierentheater‹ hingeben,
das der Text zulässt. Gemeinsam mit den Zuschauern
teilen sie das Vergnügen, sich auf eine intelligente Weise unterhalten
zu lassen, denn genau das erlaubt Spregelburd.«
›art‹ anlässlich der Inszenierung von ›Luzid‹ am Pariser
Théatre des Champs-Elysées im April 2012
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Foto: Sebastián Freire
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RAFAEL SPREGELBURD
Katastrophengeschichten
Rafael Spregelburd im Gespräch
Als »Bewohner der Peripherie der Welt«, wie sich
Rafael Spregelburd selbst beschreibt, ist der Argentinier ein scharfer Beobachter der Europäischen Union,
deren politische und kulturelle Entwicklung der »fröhliche Pessimist« auch theatral reflektiert. Einige Fragen zu seinem viel gespielten Stück Die Dummheit, zu
seiner Poetik und seinem bisher in Deutschland nicht
aufgeführten Stück Luzid.
Nina Peters: Das Stück ›Die Dummheit‹ war ein Teil deines siebenteiligen Werkkomplexes, der »Heptalogie des
Hieronymus Bosch«. Du hast damit eine umfassende
moderne menschliche Komödie geschrieben. Ist sie tatsächlich abgeschlossen?
Rafael Spregelburd: Das Projekt der Heptalogie ist auf
eine Art abgeschlossen mit den sieben Stücken über
die Todsünden. Dennoch kommt es immer wieder
dazu, dass dieses Schreiben von Zyklen an anderen
Stellen meines Werkes zu Tage tritt. Mich interessiert
die seltsame Intertextualität, die ein Autor zwischen
den Welten seiner unterschiedlichen Stücke kreieren
kann, als würde es sich um eine einzige Textfläche
handeln. Alles, was ich entdeckt und gelernt habe im
Verlauf der zwölf Jahre, die ich an diesem Zyklus geschrieben habe, ist auch in meinen zukünftigen noch
ungeschriebenen Stücken gegenwärtig. Aber auch beispielsweise in Bizarra (einer theatralen Telenovela in
zehn Episoden) oder in Alles, wo sich drei verschiedene Fabeln entspinnen. Oder bei dem, was ich gerade
schreibe, eine lose Skizzenfolge über den Mythos vom
Ende Europas.
›Die Dummheit‹ wurde weltweit nachgespielt und wird
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in Deutschland auch in der Spielzeit 2012/2013 aufgeführt. Was ist das Besondere an diesem Stück?
Die Dummheit ist der vierte Teil dieser Heptalogie
und daher vielleicht, weil er sich genau im Zentrum
dieses Projektes befindet, derjenige, der aus dem
Komplex am höchsten herausragt. Sowohl aufgrund
seiner Länge als auch wegen seiner Komplexität
scheint es alle Forderungen dieser Heptalogie auf die
Spitze zu treiben: eine bruchstückhafte Struktur, ein
fehlgeleitetes symbolisches Wörterbuch (als ob die
Chiffren der verloren gegangenen Moderne für uns
schon nicht mehr zu entziffern sind), eine moralische
Reflexion über die Intelligenz oder eher noch ihre
Abwesenheit, eine politische Dimension (und zwar
in der Art und Weise, in der gezeigt wird, dass die
Realität eine künstliche Konstruktion im Dienste des
»Status quo« ist und dass jeder Versuch, diese Konstruktion über den Haufen zu werfen, einen Versuch
darstellt, die Realität zu verändern), eine kleinliche
Kommunion zwischen unvereinbaren Ebenen der
Sprache (die Hochkultur mit Elementen einer »niederen Kultur«: Fernsehserien treffen auf Theorien
der Thermodynamik, komplexe mathematische Formeln auf das Melodrama), eine tiefgreifende Bastardisierung, ein gebündeltes Aufeinandertreffen von
Humor und Melancholie und ein deliröser Geist von
Freiheit: da es nun mal keinen Sinn macht, ein Stück
zu machen, um den Zuschauern auf didaktische Art
den Zuschauern zu zeigen, wie sie sich befreien sollen, kann man wenigstens versuchen, diese Freiheit
im Schreiben selbst auszuüben und dann die Freude
oder die Enttäuschung über das zu teilen, was diesem
gesetzeswidrigen Akt entspringt.
›Die Dummheit‹ kreist um die Habgier von Menschen,
auf hundert Seiten kommen, in Screwball-Geschwindigkeit, Menschen in Motels in mehreren Erzählsträngen zusammen. Das ist vor allem komisch, aber nicht nur. Die
Einsamkeit der Menschen, ihre spirituelle Haltlosigkeit
sind offensichtlich. Wie wichtig ist es für dich, dass die
»Tragödie« der Figuren im Hintergrund sichtbar bleibt?
Ich bin mir nicht sicher, ob wir die traurige, verzweifelte Komponente unbedingt »Tragödie« nennen müssen, die die 24 Figuren durchleben. Wir sollten uns
vor Augen führen, dass die Tragödie nur eine Art ist,
Fiktionales zu interpretieren. Angefangen bei Beckett,
ist bis heute hinreichend bewiesen worden, dass das
Schicksal des Menschen (der seine ganze Realität auf
der Basiserfahrung seines eigenen Todes betrachtet)
nicht nur tragisch ist, sondern auch zutiefst lächerlich. Ich habe mit Freuden gelernt, das Konzept der
Tragödie gegen das Konzept der Katastrophe einzutauschen.
Was genau meinst du damit?
Wenn in der Tragödie eine kausale Verkettung von
Ereignissen stattfindet, gibt es bei der Katastrophe
Vorgänge, die in einer solchen Geschwindigkeit vonstattengehen, dass ihre Folgen den Ursachen voranzugehen scheinen. Die Aufgabe der Vernunft (also unsere Aufgabe) ist es, die Welt in Abfolgen von Ursache
und Wirkung zu organisieren. Und genau dieser Imperativ der Vernunft lässt uns die Katastrophe als so
verführerisch erscheinen: Es ist das pure Ereignis, der
Wahnsinn der Vernunft, das Delirium der Geschehnisse. Und da lohnt es sich schon mal einen Blick darauf
zu werfen, und sei es auch nur in dem Bereich, den
wir »Fiktion« nennen.
›Luzid‹ ist ein konzentriertes, intimes Kammerspiel. Ein
junger Mann hat Probleme mit seiner Identität, mit seiner Mutter … Und das ist zunächst einmal sehr komisch.
Der Schluss bringt unerwartet eine neue Realitätsebene,
auf die Komödie folgt die Tragödie. Wie ernst sollte man
das Ende nehmen?
So ernst, wie deine eigene Fähigkeit es dir erlaubt,
Überraschungen zuzulassen. Ich glaube nicht, dass die
melancholische Traurigkeit des Schlusses einen höheren Stellenwert hätte als der Humor, der ihm vorausgeht. Dennoch ist der Umstand, dass diese Traurigkeit
uns völlig überraschend trifft, wesentlich, um in uns
ein Gefühl der Verunsicherung hervorzurufen, das uns
zwingt, die einzelnen Elemente der Handlung noch mal
zu überdenken: Die Hinweise dieser Schilderung sind
derart verborgen im Körper der Handlung von Luzid,
dass sie uns im Moment ihres Erscheinens am Schluss
des Stücks vorkommen, als kämen sie von einem anderen Planeten.
Wie gesagt, die Tragödie ist nicht die Beschreibung
eines unglücklichen Sachverhalts, sondern eine nichtkausale, in eine bestimmte Richtung verlaufende Organisation dieses Unglücks. Mir gefällt der Gedanke,
dass meine Stück-Bastarde weder »Tragikomödien«
noch »Komiktragödien« sind, sondern besser »Katastrophengeschichten«.
Als du vor über zehn Jahren im deutschsprachigen
Raum bekannt wurdest, warst du einer der erfolgreichsten Theatermacher in Argentinien, einem Land, dessen
83
RAFAEL SPREGELBURD
Wirtschaftssystem gerade kollabiert war. Reizt es dich
nicht, ein Stück über die Europäische Währungsunion
zu schreiben?
Ich versuche es. Mein neuestes Stück, Spam, behandelt auf periphere Weise die italienische Krise, aber es
ist zugleich auch ein Stück über viele andere Sachen.
In der École des Maîtres, in der ich derzeit in Italien
Schauspieler aus verschiedenen Ländern unterrichte,
reden wir über Strukturen von Katastrophen, Manierismen der Telenovelas und dem Mythos vom Ende Europas und unternehmen den Versuch, ein Stück über
das zu entwickeln, was – genau genommen – der letzte
Mythos ist, der in Europa erfunden wurde: der seines
Verschwindens. Dieses Verschwinden ist in meinen
Augen genauso mythisch wie seine Einheit.
Europa verschwindet?
In den Augen eines Fremden, eines Bewohners der
Peripherie der Welt, eines Überlebenden der neolibe-
ralen Modelle, die einem jetzt, augenscheinlich ohne
Erfolg, die zentralen Länder beibringen, schien die
Europäische Union einen unsichtbaren Pakt der Einheit und Harmonie mit einer einheitlichen Währung
zu besiegeln. Aber das ist nur eine Illusion, ein monetäres Zeichen. Europa bedeutet viel mehr. Seine qualvollsten Epochen sind immer noch gegenwärtig im
Blut der Kriege, mit denen seine Kartografie übersät
ist, im unvermeidlichen Bumerang seines früheren
Kolonialismus, in seiner fatalen Bestimmung einer
Wirtschaft, die auf Konsum und Ausbeutung beruht.
Und nichtsdestotrotz gibt es einen humanen Geist in
diesem Integrationsplan eines geeinten Europa; einen Geist der Kooperation und Solidarität, einen Grad
an Austausch von Erfahrungen, der – vielleicht – die
Grenzen ausdehnen, die Verwünschungen Babels verlachen und das Zusammenleben der Völker veredeln
könnte. Ich bin ein fröhlicher Pessimist, und aus diesem Widerspruch – vermute ich – speisen sich meine
bastardisierten theatralen Reflexionen.
Deutsch von Patrick Wengenroth
Teté: Hallo, Doktor Rosso? … Können Sie mich zu ihm durchstellen? … Ja, ich weiß, dass er
Sprechstunde hat, ich bin Teté, die Mama von seinem Klienten, von Lucas. … Gut, von seinem
Patienten. Können Sie ihm sagen, dass es um Leben und Tod geht? … Hallo, Doktor Rosso.
Sie kennen mich nicht, ich bin Teté. … Ja, die Mama von Lucas. … Ja, ich weiß schon, dass er
da ist … und seine … Therapie macht. … Ja, und diese Sache mit den Klarträumen. … Ja, ja,
dass er immer dasselbe träumt … das mit dem Restaurant ... Nein, nein, nein. Ich ziehe es vor,
mit Ihnen zu sprechen. Ist er weit weg vom Telefon? Gut, hören Sie, was ich Ihnen sagen werde,
machen Sie keine Gesten noch irgendetwas, denn Lucas wird sich erschrecken. Ich erzähle
Ihnen, wie die Dinge sind, und Sie entscheiden, was wir ihm sagen und was nicht.
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(aus: Luzid)
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