Führer zur Ausstellung Fortschritt und Revolution

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Inhalt
1
Das Armenwesen und die Hungerjahre
2
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Das Bevölkerungswachstum, die Ernährung und der Lebensstandard
8
3
Die Entwicklung des Gewerbes und des Strassenbaus
4
Erschaffung eines Nationalbewusstseins, politische Lite- 17
ratur und gesellschaftliche Veränderungen
1.1
1.2
4.1
4.2
4.3
Das Armenwesen
Die Hungersnot von 1816/17 und die Hungerkrisen in den
1840er-Jahren
12
Erschaffung eines Nationalbewusstseins
Die politische Literatur
Gesellschaftliche Veränderungen
17
19
20
5
Politik
22
6
Schule Horgen ab 1750
27
Impressum
32
5.1
5.2
5.3
6.1
6.2
6.3
Die „Franzosenzeit“: Helvetik und Mediation 1797-1814
Die Schweiz als Staatenbund 1814-1847
Der moderne Bundesstaat ab 1848
22
25
27
Private Schulen in Horgen als Zeichen für individuelle Lösungen 29
Neue Unterrichtsformen der öffentlichen Schule zeichnen sich 30
ab
1832 - ein markantes Jahr für die Zürcher Schulen
31
Umschlagbild: Horgen ca. 1830, Druckgraphik von Schmid, David Alois (1791-1861),
Zentralbibibliothek Zürich.
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1 Das Armenwesen und die Hungerjahre
1.1 Das Armenwesen
Lange wurde die Armut als ein gegebener Zustand der Weltordnung akzeptiert. Armenunterstützung war selbstverständlich zum Wohl des eigenen Seelenheils. Die Unterstützung
für die Armen beschränkte sich im Wesentlichen auf das Austeilen von Almosen. Mit der
Aufklärung wuchs auch das Interesse für Notleidende und Armut wurde nicht mehr als etwas
Unabänderliches gesehen. Sie sei nun nicht mehr etwas von Gott Gewolltes, sondern habe
die Ursache in einer Gesellschaft, die der Mensch gestalten kann. Mit Erziehung und der Beschaffung von Arbeit solle abgeholfen werden. Das Recht auf Existenz wurde als Menschenrecht gesehen und somit auch das Recht auf Arbeit, um die Existenz zu sichern.
Da sich Mentalitäten nur langsam wandeln und der politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklungen meist hinterherhinken, gab es zahlreiche Stimmen, die gegen
eine staatliche Unterstützungspflicht waren und lieber die freiwillige Gabe aus Liebe anstelle eines Rechtsanspruchs behalten hätten. Eine Unterstützungspflicht töte im Armen jeden
Willen zur Selbsthilfe und das Gefühl der Selbstverantwortung, so würden sie z.B. sorglos
viele Kinder zeugen. Es wurde auch der Standpunkt vertreten, dass nur wer arm sei, den Stimulus zur Arbeit habe. Ohne Armut würde man nicht arbeiten und es gäbe keine Produktion.
Und so gab es auch Wirtshausverbote und armenpolizeiliche Vorschläge wie Zwangsarbeitshäuser.
Im späten 18. Jahrhundert kam es zur Modernisierung der Landwirtschaft. Eine Produktivitätssteigerung von ca. 30% bei Getreide zwischen 1700 und 1800 in Mitteleuropa war die
Folge. Zur Steigerung der Produktivität begann man auch die Allmende aufzuteilen und intensiv zu nutzen. Doch die bäuerliche Unterschicht wurde bei der Aufteilung oft benachteiligt. Der Anspruch an die Allmende zog sich bis ins 19. Jahrhundert hinein. Über Jahrhunderte gepflegte Gewohnheitsrechte kamen immer mehr in Konflikt mit der zunehmenden
Bedeutung des Privateigentums in der Marktwirtschaft. So wurde das Sammeln von Fallholz
zum Heizen, von Beeren und Obst zum Essen, von Buchenblättern zum Schlafen oder Wildheu zum Füttern von Tieren immer mehr zu einem Frevel.
Die Armut entwickelte sich im 19. Jahrhundert wegen der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Veränderungen sowie dem anhaltenden Bevölkerungswachstum zu einem Massenphänomen. Im Kanton Zürich vermehrte sich die Bevölkerung von 1836 bis 1850 um 8.5%.
Um zu überleben, wandten arme Haushalte seit Jahrhunderten die gleichen Strategien an:
Sie kombinierten unterschiedliche Einkommensbestandteile oder migrierten. Nun kam neu
hinzu, dass man den Lebensunterhalt durch Fabrikarbeit verdienen konnte. Immer mehr
Lebensbereiche gerieten unter den markt- und geldwirtschaftlichen Einfluss. Die Zahl der
Haushalte, welche ihre Existenz ganz oder teilweise auf Lohneinkommen stützen, wuchs.
In der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts erkämpften sich diejenigen gesellschaftlichen Kräfte,
die diese Entwicklung förderten, politischen Einfluss. Es war eine neu entstandene industrielle, landwirtschaftliche und intellektuelle Elite. Anstelle der Abhängigkeit von Boden und
Klima trat nach und nach die Abhängigkeit von Lohn und Wirtschaftsverlauf. Ein sozialer Umschichtungsprozess fand auch in der Unter- und Mittelschicht statt. Kleinbauern, die sich
überschuldeten, wurden zu ländlichen Arbeiter der Heimindustrie und Handwerker verloren
ihre Selbstständigkeit, wodurch eine besitzlose Masse entstand, die den Unsicherheiten des
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Lohnarbeitertums ausgeliefert waren. Gerade im Alter litten viele Leute Not wegen fehlender Fürsorge1. In der Seidenindustrie schufen die Arbeiter mit der Verbindung von Landwirtschaft und Heimindustrie einen gewissen Wohlstand, da die Seidenindustrie in der 1. Hälfte
des 19. Jahrhunderts einen guten Geschäftsgang hatte.
Mit Beginn des 19. Jahrhunderts nahm auch der individualistische Vorsorge- und Versicherungsgedanke zu, der einen garantierten Leistungsanspruch versprach. Es entstanden Sparkassen, Krankenkassen und Sterbekassen, um sich gegen die Unsicherheiten des Lebens zu
wappnen. Seit dem späten 18. Jahrhundert gab es erste Versicherungen gegen Brand- und
Elementarschäden. Sparkassen wurden gegründet, so wie in Horgen 1820. Zugleich wurde
Einfachheit und Sparsamkeit gepredigt.
Es wurde unterschieden zwischen arbeitswilligen Armen, wie die Arbeiter, oder arbeitsscheuen Armen, wie die Bettler. Die Gemeinden versuchten ihre Armen zu reduzieren oder
ihre Zunahme zu verhindern, indem sie den Unterstützten oder jenen, die drohten in Unterstützung zu geraten, die Heirat und die Gründung eines Hausstandes verboten, ihnen ihr
Heimatsrecht bei Zuwiderhandlungen im Interesse der Gemeinde absprachen oder ihnen
die Auswanderung finanzierten. Es fand ein verschärfter Schliessungsprozess der Gemeinden
statt: Zuständig für Verarmte war die Heimatgemeinde. Unterstützung erfolgte in Monatsoder Wochengeldern, Bezahlung von Kostgeldern, Schullöhnen oder Arztrechnungen, Kleidern, Schulbüchern oder Kirchenbüchern und dem kostenlosen Wohnen in Armenhäusern.
Da die Gemeindeunterstützungen oft unzureichend waren, sprangen Selbsthilfeorganisationen und philanthropische Vereinigungen, wie die Hilfsgesellschaften, in die Bresche.
Im Kanton Zürich war das Armenwesen seit der Reformation Sache des Staates. Die Armenfürsorge trug den Charakter einer moralischen Pflicht der Bürger und bestand aus freiwillig
gespendeten Mitteln wie Legaten, Kirchensteuern und den Erträgen der grösstenteils ebenfalls aus freiwilligen Mitteln entstandenen Armengüter. Die Lasten der Armenfürsorge lagen
zum grössten Teil bei den Gemeinden. Die Landgemeinden in Zürich erhielten auch Gelder
vom Almosenamt in Zürich (der stadtzürcherischen Armenpflege, die vor dem 19. Jahrhundert die Oberhoheit über das Armenwesen der Landgemeinden ausgeübt hatte). So erhielt
z.B. die Gemeinde Horgen 1797 vom Almosenamt Zürich 42 Gulden und 36 Batzen und von
dem ihm zugeordneten Armengut Kappel 1768 Brötli. Die Aufhebung des Zehnten in der Helvetik beraubte die öffentliche Verwaltung einer ihrer Haupteinnahmequellen. Zudem wurde
viel Geld für den grossen Beamtenapparat und den Unterhalt fremder Truppen benötigt.
Das Armenwesen war aber von den Vereinheitlichungen und Zentralisierungen der Helvetik
nicht betroffen, jedoch scheint 1798 eine Umfrage an die Gemeinden verschickt worden
zu sein, in der detailliert nach der Anzahl der Armen, dem Unterhalt und der Regelung dieses Unterhaltes gefragt wurde. Für Horgen liest man von lästigem Gassenbettel. 1797/98
seien es ungefähr zehn Personen gewesen, die nach eigenen Angaben aus dem Kanton Zürich, dem District Schweiz oder Rapperswil gekommen seien. Landstreicher versuchte man,
durch Betteljagden oder Wegführung der Fremden loszuwerden. Für arme Reisende gab es
ab 1807 in Horgen eine Herberge. Im Frühjahr 1800 wurden zur Unterstützung der Armen
Kirchensteuern verwendet, Haussteuern veranstaltet und Kartoffeln als Samen gesammelt.
Die Gemeinde erhob bei Hochzeitsanträgen eine freiwillige Steuer. Nach der Helvetik wurde
die Armenfürsorge noch stärker den Gemeinden überlassen. Der Staat unterstützte oft nur
mit Einzelanträgen, die an denjenigen vergeben wurde, dessen Geistlicher oder Gemeinde1
Die AHV wurde in der Schweiz erst 1948 eingeführt.
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stillstand (die Behörde der Kirchengemeinde) am meisten weibelte. In mehreren Gemeinden
des Kantons Zürich wurden in der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts Armenhäuser errichtet. Sie
waren in erster Linie Versorgungsanstalten, die den Armen (auch Kindern) Arbeit zuwies. Da
es für Arme oft Pflicht war, bei Unterstützung in diesen Häusern zu wohnen, gab es Leute
die es vorzogen, fast zu verhungern. In Horgen wurde 1822 der Bau eines Armenhauses
beschlossen. Der Bauplatz, welcher am Rande des Dorfes an der heutigen Alten Landstrasse 40 lag, wurde von Johannes Stapfer zu einem hohen Preis erworben und der Gemeinde
billig verkauft. 1824 war das grosse dreistöckige Haus fertiggestellt und bot Platz für 50 bis
60 Arme, Betagte und Waisenkinder. Laut J.J. Hüni waren es Ende der 1840er-Jahre sogar
62. Die Bewohner wurden nach Geschlecht und soweit als möglich nach Alter auf die Zimmer verteilt. Der Bau des Armenhauses wurde hauptsächlich mit Steuern und entlehnten
Geldern gebaut.2 Die Vermögenssteuer betrug 18 Franken pro 1000 Franken. Neben den
Baukosten waren so auch die Kapitalien und der Zins ein grosser Ausgabeposten.3 Zur Aufsicht auf dieses Haus wurde 1825 eine besondere Armenpflege gegründet, die sich aus dem
Pfarrer, drei Mitgliedern des Stillstandes, dem Gemeindeammann, dem Schulmeister, drei
Gemeinderäten und drei weitere zu wählenden Mitglieder aus der Gemeindeversammlung
zusammensetzte. Bis 1851 war der Pfarrer automatisch Präsident dieser Armenpflege. Doch
auf Dauer bewährte sich das Armenhaus nicht, d.h. die jährlichen Ausgaben gingen nicht
zurück. So ging man schliesslich zur Verkostgeldung über. Daneben empfahl die Armenpflege
1850 die Gründung eines Frauenvereins, welcher sich besonders den Kindern annehmen solle. Man brachte dann Kinder und „ehrbare“ Personen in Familien unter, „verdorbene“ konnte
man, falls nötig, in Korrektions- und Zwangsarbeitsanstalten einweisen Das Armenhaus wurde 1853 aufgehoben. Im selben Jahr jedoch ein Armenverein und 1857 eine Hilfsgesellschaft
gegründet. Das Gebäude selbst wurde erst 1968 abgerissen.
Das Armengesetz von 1836 regelte das Armenwesen neu und blieb fast unverändert bis 1922
bestehen. Das Armenwesen blieb nach den Kirchengemeinden und dem Bürgerprinzip (Heimatort) organisiert. Die Kirchengemeinden deckten sich aber teilweise nicht mit den 1831
neu geschaffenen politischen Gemeinden. Die Organisation wurde straffer und einheitlicher:
Die oberste Leitung und Aufsicht hatte die Kantonalarmenpflege. In der Gemeindearmenpflege blieb der Stillstand mit dem Ortspfarrer als Präsident bestehen. Die Einzelunterstützungen durch den Staat wurden abgeschafft, alleine die Gemeinden waren für die Unterstützung zuständig. Die Mittel sollten aus dem Ertrag der Armengüter und mit Geschenken,
allfälligen Beiträgen des Staates, gesetzlichen Gebühren und Bussen, die den Armengütern
zu fielen, dem Ertrag von Kirchensteuern und Rückerstattungen aufgebracht werden. Staatsbeiträge wurden nach Zahl der Armen und der Steuerkraft der Gemeinde sowie der Höhe
ihres Armengutes berechnet. Neu war, dass nun, wenn die Mittel dieser freiwilligen Spenden
oder Gebühren nicht reichten, eine gesetzliche Armensteuer erhoben werden konnte. Die
Unterstützung der Armen wurde an zwei Voraussetzungen geknüpft: Es bestand ein Mangel
an den nötigsten Unterhaltsmittel und die körperlichen und geistigen Kräfte fehlten, um sich
diese in zureichendem Masse zu beschaffen. D.h. Kinder, Kranke, Alte und Gebrechliche, alle
die arbeitsunfähig waren, sollten unterstützt werden. Aber nur, wenn die Verwandten in
der 1. Linie (Grosseltern, Eltern, Kinder) nicht über genügend Mittel verfügten. Nichtbürgern
Das gesamte Budget betrug 42256 Gulden, 34 Schilling und 9 Haller. An entlehnten Geldern kamen 17750 Gulden und an
Steuern19253 Gulden zusammen.
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Gesamtbaukosten: 41695 Gulden, 2 Schilling und 8 Haller. Davon entfallen auf Capitalien & Zins 17390 Gulden und 10 Schilling. Zum Vergleich: die Baukosten betrugen 18057 Gulden, 11 Schilling und 8 Haller.
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wurde nur die dringendste Hilfe gewährleistet bis zur Heimschaffung oder Unterstützung
durch die Heimatgemeinde. Armut durch Arbeitslosigkeit wurde der Privatwohltätigkeit
überlassen, denn die Unterstützung solle nicht den Arbeitswillen schwächen und wer wolle,
finde immer Arbeit. Bei Teuerung und Stockung des Gewerbes konnten aber ausserordentliche Mittel verwendet werden und die wirtschaftlichen Schwierigkeiten liessen schliesslich
nicht zu, dass die Arbeitsfähigen ganz ausgeschlossen werden konnten. Ziel der Unterstützung war stets die Wiederherstellung der wirtschaftlichen Selbstständigkeit, wodurch Kindern und Kranken eine besondere Aufmerksamkeit zuteil wurde. Der Kreis der Unterstützten
und der Umfang der Unterstützung blieben etwa gleich wie vor dem Gesetz.
1.2 Die Hungersnot von 1816/17 und die Hungerkrisen in den 1840er-Jahren
Die Hungersnot von 1816/17 war die letzte grosse Hungersnot im Westen Europas und betraf die Schweiz stark. Verursacht wurde diese Hungersnot von einem Vulkanausbruch am
anderen Ende der Welt. Auf der indonesischen Insel Sumbawa brach am 10. April 1815 der
Vulkan Tambora aus. Einer der stärksten Ausbrüche der letzten 70‘000 Jahre, dessen Auswirkungen ein Jahr später in Europa spürbar waren. 1816 sprach man von einem Jahr ohne
Sommer. Es war kalt und nass und fast wöchentlich fiel Schnee bis in die Täler. Die daraus
erfolgte schlechte Ernte führte zu Teuerungen, bis sich die Unter- und Mittelschicht ausser
Lebensmitteln nichts mehr leisten konnte. Die Unterschichten waren auch gezwungen, ihre
Habseligkeiten zu verkaufen, Geld zu borgen oder sogar zu betteln und zu stehlen. Auch in
Horgen kam es zu vermehrten Felddiebstählen. Im März 1817 wurde beschlossen, die Bettler
aus anderen Gemeinden in ihre Heimat zurückzuführen. Den Bäckern wurde jeder Betrug
beim Gewicht der Brote untersagt und mangelhafte Ware wurde für die Armen beschlagnahmt.
Auch die Landwirtschaft benötigte weniger Taglöhner und die Aufträge an Handwerker und
Gewerbler verringerten sich. So litten auch sie unter sinkendem Einkommen und schwindender Kaufkraft. Einzig Bauern, die Überschüsse verkaufen konnten, profitierten.
Doch warum war die Not in der Schweiz gross und in einigen Teilen der Schweiz wesentlich
schlimmer als in anderen? Denn während man für die Ostschweiz von einer Hungersnot
spricht, spricht man für die Zentralschweiz lediglich von einer Hungerkrise und in den meisten Regionen der Westschweiz sei nur ein Mangel an genügend Nahrungsmittel zu spüren
gewesen. Es gab mehrere Gründe: Die Transportwege in der Schweiz waren in schlechtem
Zustand. Es gab kaum Kunststrassen. Internationale Hilfe blieb aus. Die Übergangsphase von
der Agrar- zur Industriegesellschaft einzelner Regionen, so der Ostschweiz, forderte hohe
soziale Kosten. Die Heimindustrie mit der krisenanfälligen Baumwollindustrie war auf den
Export angewiesen, die Heimindustrie breitete sich auf Kosten der Landwirtschaft aus und
die Heimarbeiter waren dem Markt ausgeliefert. Hinzu kam der „Kantönligeist“. Kornsperren
verhinderten eine freie Getreidezirkulation, obwohl dies dem Bundesvertrag von 1815 widersprach, doch die Tagsatzung war zu schwach, um gegen diese Sperren vorzugehen. Dies
drückt sich auch in den unterschiedlich hohen Teuerungen in einzelnen Teilen der Schweiz
aus. In Rorschach betrug die Teuerung bei Getreide bis zu 587%, während sie in Zürich zwischen 320 und 379% schwankte.
Viele Leute waren auf Nahrungsspenden, welche z.B. in Suppenküchen als Rumfordsuppe4
gratis oder verbilligt ausgeteilt wurden, angewiesen. Der Kanton Zürich kaufte Getreide und
gab es den Landgemeinden für ihre Armengenössigen und Minderbemittelten zu einem ver-
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billigten Preis. Horgen kaufte 1816/17 billige Lebensmittel wie Kartoffeln und Hafer, der nicht
einfach zu beschaffen war, für Arme und Verdienstlose. Im Frühling 1817 wurde zweimal täglich Suppe verteilt, deren Kosten durch freiwillige Spenden gedeckt wurde. Auch Hilfsgesellschaften und Private engagierten sich. Das Almosenamt in Zürich sammelte im Januar 1817
mit einer Liebessteuer für Notleidende. Einige Leute mussten mit einer Portion Sparsuppe
täglich auskommen. Die Versammlung von vielen Leuten auf engem Raum begünstigte die
Verbreitung von Krankheiten wie Ruhr, Typhus oder Masern. Diese verbreiteten sich auch
Bild 1: Zum Andenken an die grosse Theuerung und Hungersnoth in den Jahren 1816 und 1817. Ortsmuseum Sust; Horgen.
wegen der Unterernährung. Weitere Begleiterscheinungen der Hungersnot waren Übersterblichkeit, Rückgang von Geburten, Taufen und Eheschliessungen.
Nach 1816/17 ging man immer mehr zum Anbau von Kartoffeln über, welches das Hauptnahrungsmittel der unteren Klasse wurde. Diese konnten aber nicht verhindern, dass es 1832 ein
weiteres Hungerjahr gab. Und in den Jahren von 1845 bis 1847 wurde Hunger und Mangelernährung bei der Unterschicht zu einem Dauerzustand, da die starke Verbreitung der Kartoffelfäulnis zu einer Teuerung führte. Gleichzeitig lagerten jedoch bei wohlhabenden Bauern
in den gleichen Gegenden vor der neuen Ernte noch viele Vorräte der letzten Ernte. Die Gemeinden reagierten mit Nahrungsmittelausteilungen. In Horgen wurde 1847 jeden Vormittag 100 bis 150 Portionen Suppe abgegeben. Gezahlt wurde dies aus Schenkungen oder zinslosen Darlehen. Die Zahl der von der Gemeinde unterstützen Armengenössigen stieg von 75
im Jahr 1840 auf 229 im Jahr 1849. Die Kosten beliefen sich scliesslich in den 1850er-Jahren
im Durchschnitt auf 11′500 Franken und eine alljährliche besondere Steuer war nötig. Und
dies trotz des gestiegenen Vermögens im Armengut der Gemeinde von 28′700 Franken im
Jahr 1835 auf 88′500 Franken im Jahr 1855. Zusätzlich dazu unterstütze die Gemeinde Haushalte, die bedürftig, aber noch nicht armengenössig seien, mit (verbilligten) Lebensmitteln.
In einem Verzeichnis von 1846 sind 177 Haushalte aufgeführt. Ebenfalls angegeben sind der
Beruf des Hausvorstandes, dessen Alter, das Vermögen, die Anzahl Personen im Haus und
wieviele davon Kinder unter oder über 12 Jahren sind. Bei den Berufsgruppen findet man
v.a. Weber oder Taglöhner, aber auch im Landbau beschäftigte, Fabrikarbeiter sowie BergEine Rumfordsuppe bestand meist aus einer Knochenbrühe, getrockneten gelben Erbsen, Graupen, mit der Zeit auch mit
gewürfelten Kartoffeln, Essig und altbackenem Brot. Mit Speckwürfel, Wurzelwerk und weiteren Zutaten kam sie auch in bürgerlichen Haushalten auf den Tisch.
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Die Volkszählung von 1850 ergibt, dass 4796 Personen in Horgen leben.
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männer. Nicht vermerkt ist, ob sie den Beruf gerade aktiv ausüben. Es finden sich aber auch
Handwerker, wie Zimmermänner oder Schuster in der Liste. In den Haushalten leben meist
drei bis sechs Personen, die höchste Zahl sind 13 Personen. Insgesamt leben 767 Personen
in 177 Haushalten, davon 281 Kinder unter 12 und 160 über 12 Jahren5. Das gesamte Vermögen dieser Haushalte beläuft sich auf 7 Franken und 61 Rappen. Bei den Rechnungen der
Gemeinde über Verkäufe von Lebensmitteln aus den Jahren 1845 bis 1847 kann man sehen,
dass die Gemeinde Reis aus Piemont, Korn aus Schwaben, Weizen aus der Lombardei, Gerste
aus dem Thurgau, gesottene Butter aus Bayern und Weizenmehl aus Nordamerika bezog.
Nur bei den Kartoffeln fehlt die Ortsangabe, sodass man davon ausgehen kann, dass die von
Bauern aus der Gemeinde selbst bezogen werden konnten.
Literaturverzeichnis:
Ungedruckte Quellen:
• Gemeindearchiv Horgen, II B 28.03.99, Armenhaus (Bürgerasyl).
• Gemeindearchiv Horgen, IIB 13.11.05, Naturalverpflegung: Lebensmittelversorgung.
• Ortsmuseum Sust Horgen, Inv. Nr. 2007-0571, Fragen über das Armenwesen. Eine undatierte Kopie eines Fragebogens mit
Antworten aus den Jahren 1797, 1798.
Gedruckte Quellen:
• Hüni, J.J.: Blätter von Horgen. Beitrag zur Kenntniss des zürcherischen Volkslebens, Zürich 1849.
Darstellungen:
• Baltensperger, Helene: Das Armenwesen des Kantons Zürich vom Armengesetz von 1836 bis zu den Revisionsbestrebungen
der 60er Jahre, Zürich 1940.
• Epple, Ruedi/Schär, Eva: Stifter, Städte, Staaten. Zur Geschichte der Armut, Selbsthilfe und Unterstützung in der Schweiz
1200-1900, Zürich 2010.
• Keller, Berta: Das Armenwesen des Kantons Zürich vom Beginn des 18. Jahrhunderts bis zum Armengesetz des Jahres 1836,
Winterthur 1935.
• Kläui, Paul: Geschichte der Gemeinde Horgen, Horgen 1952.
• Krämer, Daniel: Der kartierte Hunger. Räumliche Kontraste der Verletzlichkeit in der Schweiz während der Hungerkrise
1816/17, in: Krisen. Ursachen, Deutungen und Folgen, hrsg. von Tobias Straumann, Zürich 2012 (Schweizerisches Jahrbuch für
Wirtschafts- und Sozialgeschichte 27), S. 113-131.
• Lengwiler, Martin: Fürsorge, Selbsthilfe oder Sozialversicherungen? Die Entwicklung des Sozialstaates aus Sicht der organisierten Gemeinnützigkeit 1800-1950, in: Freiwillig verpflichtet. Gemeinnütziges Denken und Handeln in der Schweiz seit 1800,
Zürich 2010, S. 255-276.
• Strickler, Joh.: Geschichte der Gemeinde Horgen nebst Hirzel und Oberrieden, Horgen 1882.
• Z.: Das erste Armenhaus der Gemeinde Horgen, in: Anzeiger des Bezirkes Horgen, Nr. ?, 23.10.1986.
Christina Kovarik
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2 Das Bevölkerungswachstum, die Ernährung und der Lebensstandard
Das Bevölkerungswachstum setzte bereits in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ein, beschleunigte sich aber in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Schon Ende des 18. Jahrhunderts gehörten die beiden Seeufer zu den am dichtesten besiedelten Gegenden der Schweiz,
da dort, wo die Heimarbeit Fuss fasste, die Bevölkerung jeweils rasch zunahm. Wegen der
Seidenindustrie entwickelte sich das linke Ufer noch stärker als das rechte. Die Seidenindustrie war sehr stabil, weil sie auf eine anspruchsvolle Abnehmerschicht eingestellt war. Vor
allem in Horgen und Wädenswil wuchs die Bevölkerung, während sie in den Bauerndörfern
Rüschlikon und Oberrieden kaum zunahm.
Der Helvetische Almanach des Jahres 1814
schreibt, dass es 1810 in Horgen 480 Häuser
gegeben habe. Damit würde Horgen zu den
neun grössten Ortschaften des Kantons Zürich
(insgesamt 149 Ortschaften) zählen.
Gerold Meyer von Knonau, der Staatsarchivar
des Kantons Zürich, schreibt dazu 1844:
„Sollte die Menschenzahl in bisheriger Weise
zunehmen, so dürfte seine [des Kantons Zürich] Bevölkerung binnen 50 Jahren auf die beängstigende Summe von 300´000 Seelen ansteigen.“7
Mögliche Erklärungen für dieses Bevölkerungswachstum sind u.a. eine Abnahme der Sterblichkeit wegen besserer Ernährung, bessere medizinische Versorgung und Hygiene, Neuerungen in der Landwirtschaft und ab den 1830er Jahren ein besseres Strassennetz. In Horgen
ist das starke Bevölkerungswachstum auch mit
der grossen Zuwanderung und der wegen guter Beschäftigungsmöglichkeiten kaum vorhandenen Auswanderung zu erklären.
Die Änderungen in der Landwirtschaft hatten
unmittelbar Einfluss auf die Ernährung und
den Lebensstandard. Neuerungen waren die Aufhebung der Allmende und Brache, d.h. auch
diese Flächen wurden nun ständig als Acker genutzt, die ganzjährige Stallhaltung von Kühen,
was zu mehr Milch und Mist führte, sowie mineralischer Dünger, v.a. Gips, um die Böden zu
verbessern. Seit dem 18. Jahrhundert pflanzte man Ackerfutterpflanzen wie Luzerne oder
Klee an, die man für die Stallfütterung verwendete. War Milch zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch rar und teuer, nahm der Konsum mit dem nun steigenden Kuhbestand zu. Über
Jahrhunderte ernährten sich die Leute von dem, was in ihrer Region angebaut wurde, war
Meyer von Knonau, Gerold: Der Canton Zürich, St. Gallen und Bern 1844.Beiträge zur Statistik der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Bern 1851. Meyer von Knonau schreibt, dass die Volkszählungen von 1792, 1812, 1824 und 1833 nicht so sorgfältig
durchgeführt worden seien, dafür sei 1836 eine sehr genaue Zählung.
7
Meyer von Knonau, Canton Zürich, S. 195. Zum Vergleich: Laut den Statistischen Mitteilungen des Kantons Zürich, 1949 (15)
lebten 1880 bereits 316‘074 und laut statistik.zh.ch 2013 1‘421895 Personen im Kanton Zürich.
8
Salzmann, Martin: Die Wirtschaftskrise im Kanton Zürich, Bern 1978.Kläui, Paul: Geschichte der Gemeinde Horgen, Horgen
1952. Zum Vergleich: Laut horgen.ch lebten am 31.12. 2013 19‘939 Personen im Ort Horgen.
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9
doch der Transport auf den schlechten Verkehrswegen mühsam und kostspielig. Milch war so
z.B. in Orten mit Viehwirtschaft, wie auf dem Horgner Berg, schon immer ein wichtiges Nahrungsmittel. Man ass Milchsuppen mit eingebrocktem Brot, Milchbreie oder Sauerkäse9. Die
Landbevölkerung allgemein ass meistens Breie, Muse oder Suppen, oft von Hirse, Hafer oder
Gerste, ergänzt mit Hülsenfrüchten, gedörrtem Obst, Brot und Milch bzw. Milcherzeugnissen.
Frisches Fleisch gab es für wohlhabende meist nur sonntags, für ärmere nur einige Male im
Jahr. Das meiste Fleisch wurde konserviert, d.h. zum Beispiel gedörrt. Das Fleisch war in der
Regel Kuhfleisch, oft von einer alten Kuh, die wegen nachlassender Milchleistung geschlachtet
wurde. Hühner hielt man hauptsächlich wegen der Eier, auf den Tisch kamen sie selten. Meyer
von Knonau schreibt, Hühner würden selten aufgezogen, da man keine Möglichkeiten habe, sie
einzuschliessen und die Federn Ärger mit dem Nachbarn gäben, würden sich doch die Federn
im Magen der Rindviecher zusammenballen und ihnen schaden. Brot war kein alltägliches Nahrungsmittel, sondern hatte ein Sonderstatus für Kranke, Gäste und hohe Herren. Die wichtigste
Neuerung im Bereich Ernährung war in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Kartoffel. Die
Kartoffel war bis zu den Hunger- und Teuerungsjahren 1770-1772 vorwiegend eine Gartenpflanze gewesen, den entscheidenden Schub zur Ausbreitung als zukünftiges Grundnahrungsmittel
gaben die Hunger- und Teuerungsjahre 1816 und 1817, während die Kartoffel in den Jahren dazwischen oft nur als Notspeise und Ersatz für fehlendes und teures Getreide behandelt wurde.
Ihr Vorteil war, dass sie als Sommergewächs ins Brachland gepflanzt werden konnte, ihr Anbau
anspruchslos war, sie sehr fruchtbar und vielseitig zu verwenden war und der Hagelschlag ihr
wenig anhaben konnte. Frühe Sorten konnten im Hochsommer geerntet werden, genau zu der
Zeit, in der die Getreidepreise am höchsten waren. Die Preise waren in der Regel nach der
Ernte am niedrigsten und stiegen im Frühling. Gingen die Vorräte vor der neuen Ernte zu Neige, musste bei Höchststand der Preise zugekauft werden. Die Kartoffel lieferte Vitamin C und
Aminosäuren10, diente zur Herstellung von Stärke, Viehfutter und Schnaps. Dass sie zuerst als
Ersatz für Getreide gesehen wurde, zeigt sich auch in den Versuchen, die Kartoffel wie Getreide
zu Mehl zu verarbeiten, um so die gewohnten Speisen zubereiten zu können. Man versuchte,
Kartoffelbrot zu backen, das wegen der hohen Feuchtigkeit aber schlecht lagerbar war. Hirse,
Ackerbohnen und Linsen mussten mehr und mehr der Kartoffel weichen, der Anbau von Bohnen und v.a. Erbsen blieben aber bis um 1850 für Suppen und Breie wichtig. Aber je mehr der
Breikonsum zurückging, desto mehr verloren Gerste und Hafer an Bedeutung. Im 19. Jahrhundert wurden mehr und mehr Kartoffeln, frisches Gemüse, Brot und Milchkaffee konsumiert.
Der Milchkaffe entwickelte sich zu einem Volksgetränk und da Kaffeebohnen kostspielig waren,
stellte man Ersatz aus anderen Pflanzen, wie Zichorien oder Eicheln, her. Die Nachfrage nach
frischem Gemüse stieg in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, doch die meisten Leute waren auf einen eigenen Garten angewiesen, gab es doch kaum Gemüsemärkte und Gärtnereien.
Gerade am Zürichsee, so Meyer von Knonau, seien die Frauen und Mädchen wahre Gärtner
und in den Garten gäbe es fast so viele Blumen wie Gemüse. Der Obstbaumbestand nahm seit
1800 zu. Gedörrtes Obst lieferte wertvollen Zucker und war ein guter Vorrat fürs ganze Jahr. Am
Zürichsee wurde auch Fischerei betrieben, sei es durch die Gemeinden oder privat.
In Horgen spielte der Ackerbau seit je eine untergeordnete Rolle. Wichtiger waren Viehzucht
Sauerkäse besteht aus flüssigem Quark oder geronnener Milch.
Auch wenn man sich dieser wertvollen Stoffe damals noch nicht so bewusst war wie heute und die einzelnen Stoffe mit ihren
Wirkungen noch nicht bekannt und erforscht waren.
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und der Rebbau. Die Gemeinde Horgen gehörte zu den ackerärmsten des Kantons Zürich, was
zur Folge hatte, dass sich Horgen nicht selbst mit Getreide versorgen konnte. Dafür aber mit
Kartoffeln, was wiederum darauf schliessen lässt, dass der grösste Teil des Ackerlandes für den
Anbau von Kartoffeln benutzt wurde. Das Verschwinden der Weiden, durch die allmähliche Aufgabe von Allmenden ab 1800, führte dazu, dass es weniger Schafe, Ziegen und Schweine gab
und man sich zunehmend auf die Milchwirtschaft konzentrierte. Die Horgner Reben waren fast
ausschliesslich weisses Gewächs und wurden häufig mit fremdem Rotwein verschnitten. Meyer
von Knonau rühmt den Feldbau am Zürichsee, man finde den schönsten Obstwuchs, vortreffliche Wiesen und beste Dünganstalten, wie auch Wein. Der Preis für Weinland hänge aber nicht
vom besten Gewächs ab, sondern vom grössten Ertrag. Der Qualität des Weines schenkte man
im Kanton Zürich wenig Beachtung. Wo Wein angebaut wurde, galt er als alltägliches Getränk,
wie auch Most wo Obst angebaut wurde. Der Schnaps- wie der Bierkonsum stieg von Jahr zu
Jahr.
Blickt man in die 1840er Jahre, so assen ärmere Leute meist gesottene Kartoffeln, oft ohne teures Fett, wie Butter, zusammen mit billigen Speisen aus Hülsenfrüchten und Rüben. Begüterte
Landwirte, welche selbst Getreide anbauten, assen auch oft Mehlspeisen und Roggenbrot. Brot
fehlte bei den ärmeren Leuten oft, bauten sie, falls sie Land besassen, doch Kartoffeln an. Dieser
schon oft monokulturartige Anbau der Kartoffel entwickelte sich zu einem grossen Nachteil, als
die Kartoffelkrankheit auch auf die Schweiz übergriff, so im Jahr 1845. Die Krankheit war das Gesprächsthema Nummer eins, auch in den Zeitungen. Es wurde z.B. darüber diskutiert, ob kranke Kartoffeln ohne Gesundheitsrisiko gegessen werden dürften. Politische und konfessionelle
Ausseinandersetzungen traten währenddessen in den Hintergrund. Ein Bild von der Krankheit
zeichnet die Geschichte „Käthi die Grossmutter“ von Jeremias Gotthelf:
„ Da sagte ihr [Käthi] eine Bekannte, die Zeitungen hätten schon lange davon gestürmt; aber
man habe sich dessen nicht viel geachtet und gedacht, das sei geradeso wie das andere Gestürme, wo das Halbe nicht wahr sei und das andere Halbe gelogen. Aber jetzt sei die Krankheit da,
kein Mensch wisse, woher. Schwarz wie ein Leichentuch seien alle Äcker, es sei eine grausame
Pestilenz. … Gebeugt leuchtet Käthi in den Erdäpfel herum… Jetzt sah Käthi im Lampenscheine
die grause, schwarze Pestilenz an allen ihren Erdäpfeln… Da überwältigte der Jammer die alte
Frau. Sie setzte sich an die Furche und weinte bitterlich… es stand schwarz und grausig die Frage
vor ihr wie ein wildes Tier und wollte nicht weichen von ihrer Seele: „Was sollen wir essen, und
womit sollen wir uns kleiden?“11
Im Bezirk Horgen wird 1845 bloss 31% der Kartoffeln als gesund notiert. Die wissenschaftliche
Forschung begann bereits in den 1840er-Jahren. Ein Pilz löst die Kartoffelkrankheit aus und erst
in den 1880er wurde ein Mittel dagegen gefunden. War Mais bis Mitte der 1840er-Jahre im
Kanton Zürich höchstens eine Gartenpflanze, vielleicht sogar nur eine Zierpflanze, wurde er nun
als Ersatz kultiviert. Im Kanton Zürich gab man den Anbau aber nach den Krisenjahren wieder
auf. Man habe den Mais satt gehabt.
Der Lebensstandard verbesserte sich im Laufe der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts kaum.
Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kam es zu einer Reallohnverbesserung, da die
11
Gotthelf, Jeremias: Käthi die Grossmutter, Ausgabe des Eugen Rentsch Verlags, Zürich 1965, S. 112f.
11
Löhne stärker stiegen als die Preise. So ist die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts eine Phase der
Vorbereitung und des Übergangs. Die eigentliche Industrialisierung und Technisierung geschah
in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In Horgen ist dies kein Übergang von der Landwirtschaft sondern von der Heimindustrie und vom Handwerk zur Fabrikindustrie, da
schon früher Handwerk und
Gewerbe für Horgen zentral
gewesen waren. Albert Hauser betont, dass der technische Fortschritt den Hunger
und die Not in der Schweiz
gebannt hätte und zu einem
Lebensstandard
geführt
habe, der noch um 1800
als unerreichbar angesehen
worden wäre.
Preise aus Zürich zwischen 1800 und
1848:12
Arbeitszeit für Brot, Rindfleisch und
Butter:13
Literaturverzeichnis:
Gedruckte Quellen:
• Helvetischer Almanach für das Jahr 1814, Zürich bey Orell Füssli & Comp 1814.
• Meyer von Knonau, Gerold: Der Canton Zürich, St. Gallen und Bern 1844.
12
13
Aus Brugger, Hans: Die schweizerische Landwirtschaft in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, S. 110, 114, 120, 123.
Die Kaufkraft des Arbeiters, 1830 – 1970 aus: Hauser, Albert: Vom Essen und Trinken im alten Zürich, S. 261.
12
Darstellungen:
• Brugger, Hans: Die schweizerische Landwirtschaft in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Frauenfeld 1956.
• Die Bevölkerung des Kantons Zürich seit Ende des 18. Jahrhunderts. Statistische Mitteilungen des Kantons Zürich, Zürich 1949
(15).
• Hauser, Albert: Die Seebuben im sozialen Wandel. Struktur und strukturveränderungen der Zürichseebevölkerung in neuester
Zeit, in: Jahrbuch vom Zürichsee 20, Stäfa 1962/63, S. 193-215.
• Hauser, Albert: Vom Essen und Trinken im alten Zürich. Tafelsitten, Kochkunst und Lebenshaltung vom Mittelalter bis in die
Neuzeit, Zürich 1975.
• Hauser, Albert: Das Neue kommt. Schweizer Alltag im 19. Jahrhundert, Zürich 1989.
• Kläui, Paul: Geschichte der Gemeinde Horgen, Horgen 1952.
• Peter, Roger: Wie die Kartoffel im Kanton Zürich zum „Heiland der Armen“ wurde. Ein Beitrag zur Sozialgeschichte der Kartoffel in der Schweiz, Zürich 1996.
• Salzmann, Martin: Die Wirtschaftskrise im Kanton Zürich 1845 bis 1848. Ihre Stellung und Wertung im Rahmen der
wirtschaftlich-sozialen Entwicklung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Bern 1978.
Christina Kovarik
3 Die Entwicklung des Gewerbes und des Strassenbaus
Horgen war nie ein bäuerliches Dorf. Das Gewerbe und der Handel spielten stets eine grosse
Rolle. Auf dem Saumweg von der Sust über Hirzel Höhi nach Sihlbrugg wurden Waren transportiert. Noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts lohnten sich solche Strassentransporte über grosse
Distanzen nur für Luxusgüter, da die Transportkosten sehr hoch waren. Dies erklärt auch, wieso
es bei regionaler Nahrungsmittelknappheit zu Hungersnöten kam. Die Strassen wie auch der
Saumweg in Horgen waren blosse Pisten, die je nach Wetter sehr sumpfig werden konnten.
Zudem wurden sie schlecht unterhalten. Der Unterhalt lag seit langem bei den Anstössern und
der Gemeinde, die ihren Aufgaben nur widerwillig nachkamen. Ein Argument war, dass eine
Durchgangsstrasse der Gemeinde nicht viel bringe. Doch die Strassen innerhalb des Dorfes waren nicht in besserem Zustand. Daher wurden die Wasserstrassen vorgezogen. Hierbei war der
Transport sehr viel billiger und oft auch schneller.
Viele Säumer waren zugleich aber auch Bauern. Bauern wiederum setzten ihr Zugvieh, v.a.
Ochsen oder Kühe, wenn sie es nicht bei Ernte- oder Feldarbeit brauchten, für Transporte ein.
Wobei beim Transport mit Karren bessere Strassen benötigten wurden als beim Transport mit
Saumpferden.
Bei den Gewerblern kann man das gleiche beobachten. Viele Gewerbebetriebe hatten eine kleine Ladenwerkstatt und einen Hof, wobei meist der Mann, teils mit Kindern oder Lehrburschen,
in der Ladenwerkstatt arbeitete und die Frau die Arbeiten auf dem Hof erledigte. Bauern wiederum waren oft auch selbst Handwerker und flickten viele ihrer Gerätschaften selbst. Das Landhandwerk teilte sich sozial in zwei Gruppen. Es gab reiche Gewerbler, deren Gewerbe, rechtlich
abgesichert, eine lokale Monopolstellung einnahm. Dies waren Ehehaftbesitzer14 wie z.B. Müller, Gerber oder Schmiede. Diese betrieben neben ihrem Gewerbe auch oft grössere Höfe. Die
zweite Gruppe waren die Einmannbetriebe der z.B. Schreiner, Schneider oder Schuster.
Das Handwerk war in der Schweiz in Zünften organisiert, v.a. in den Städten. Wobei jeder Ort
14
Ehehaften sind an bestimmte Orte gebundene Gewerbe.
13
seine eigenen Vorschriften kannte. Zünfte sicherten die Produktion und die Qualität der Produkte und innerhalb der Zunft sorgte man für die einzelnen Mitglieder. Man verweigerte sich
aber oft jeder Erneuerung und die Organisation stiess bei einer wachsenden Wirtschaft an
ihre Grenzen. Zünftisch war auch das Handwerk in der Stadt Zürich organisiert und zugleich
gegenüber dem auf der Landschaft privilegiert. Manche Gewerbe durften nur in der Stadt
ausgeübt werden und die Landhandwerker durften ihre Produkte nicht auf dem städtischen
Markt verkaufen. Der Handel mit Wein und Getreide war auf der Landschaft erlaubt wie
auch die Fabrikation von Waren, wobei der Landmann aber nicht bestimmen durfte, woher
er das Rohmaterial bezog und wohin die verarbeitete Ware verkauft wurde. Er musste sich
dabei an einen Stadtbürger wenden, der so auch die Preise kontrollierte, und verletzte der
Landmann dieses Privileg des Stadtbewohners, drohten ihm Geld-, Gefängnis- oder Prangerstrafen. Das ländliche Gewerbe jedoch wünschte sich eine Gleichstellung. Die Französische
Revolution 1789 und die erste Handels- und Gewerbefreiheit15 Europas, die 1791 in Frankreich eingeführt wurde, waren auch in der Schweiz Diskussionsthema und schürten die Unzufriedenheit. Am Zürichsee zeigte sich dies u.a. im Stäfner Handel.
Mit der Helvetik kam es auch in der Schweiz zu einer Handels- und Gewerbefreiheit. Dies
führte zu vielen Gewerbsneugründungen und auch zu Klagen über Pfusch, Winkelwirte oder
Hausierer. Auch der Handel zwischen den Kantonen wurde per Gesetzt liberalisiert und somit gefördert und Ausfuhrverbote verhindert. Wichtig war auch die 1799 eingeführte Niederlassungsfreiheit. Doch diese Rechte waren schwer durchzusetzen. Es zeigte sich ebenfalls
eine gewisse Unsicherheit darüber, was nun genau wie und wo galt. Weitere Handelshemmnisse sollten in der Helvetik beseitigt werden: Man strebte einen einheitlichen Zolltarif und
vereinheitlichte Masse, Gewichte und Münzen an. Dass sich diese Vereinheitlichungen jedoch hätten verankern und durchsetzen können, war die Dauer der Helvetik von fünf Jahren
zu kurz. Auch das Problem des schlechten Strassenzustandes wurde in der Helvetik nicht
angegangen, fehlte doch das Geld. Mehr noch, Truppendurchzüge ruinierten viele Strassen
weiter, so auch den Saumweg in Horgen.
Mangelnde Geldmittel erwuchsen dem Staat ebenfalls aus der drastischen Reduzierung
der Einnahmen. Seit Jahrhunderten waren sogenannte Zehnten und Grundzinse an den Boden gebunden. Der Grundzins war eine feste jährliche Entschädigung, die der Bauer, dem
der Boden zur Bewirtschaftung überlassen wurde, an die ursprünglichen Eigentümer oder
deren Rechtsnachfolger zu zahlen hatte. Die Hauptbezüger dieser Grundzinse waren das
Staatswesen, öffentliche Institutionen wie Spitäler, Armenanstalten oder Schulen, Gemeinden oder Privatpersonen. Zudem zahlten die Bauern direkt nach der Ernte einen Achtel bis
einen Zwölftel als Zehnten. Diese Abgaben trugen so wesentlich zum Staatsvermögen bei.
1798 betrug der kapitalisierte Wert des dem Staat gehörenden Zehnten 20,5% am gesamten
Staatsvermögen, die Grundzinse trugen 14,4% bei. Die Helvetische Verfassung kündigte nun
die Befreiung des Bodens von Zehnten und Grundzinsen an. Nun stellte sich aber die Frage
nach der Entschädigung der Bezüger. Diese verwiesen auf das Privateigentum und forderten
eine möglichst hohe Entschädigung. Um den Ausfall der Staatseinnahmen zu kompensieren,
hätten zudem höhere Steuern auf Vermögen und Einkommen gezahlt werden müssen. Die
Ausführung dieser Ablösung stiess so auf grosse Schwierigkeiten.
Ein weiterer Arbeitszweig mischte sich oft mit der bäuerlichen Arbeit: die Heimindustrie. Der
15
D.h. die Abschaffung der Zünfte
14
Kanton Zürich war schon im 18. Jahrhundert eine der bedeutendsten Heimindustrieregionen Europas. In Heimindustrie wurde vor allem Baumwolle verarbeitet. Vermittler, sogenannte Fergger, brachten die Baumwolle
zu den Heimarbeitern. In diesem Bereich
konnte die Helvetik einen Erfolg erzielen.
Die Mechanisierung der Textilindustrie
wurde weitergeführt. Im Gegensatz zu
England geschah die Mechanisierung in
der Schweiz spät. Die Heimindustrie profitierte von der Kontinentalsperre Napoleons gegen England von 1806 bis 1814.
1814/15 überschwemmten die Engländer
aber das Festland mit ihren Textil-Vorräten und brachten die Schweizer Baumwollheimindustrie in eine schwere Krise.
Bild 2: Heimwebstuhl um 1830, Joh. Schiess - Commons:
Die Mechanisierung der Baumwollindustrie wurde endgültig notwendig, um der Konkurrenz stand zu halten. Diese mechanischen
Betriebe bevorzugten nun aber Gemeinden mit reichlich Wasserkraft. In Horgen blieb man
im Allgemeinen bei der Heimindustrie. Man stellte von der Baumwolle auf die Seide um.
Die Seide brachte den Arbeitern mehr Gewinn als die Baumwolle. Meistens stand nur ein
Webstuhl im Haus und fielen Arbeiten auf dem Hof an, wie die Getreide- oder die Weinernte,
stand er still. Da die Seidenindustrie viel länger als die Baumwollindustrie eine Heimarbeit
blieb, sind eindeutige Beschäftigungs- und Fertigungszahlen kaum vorhanden.
Mit dem Beginn der Mediationszeit 1803 waren die Kantone frei, die alten Beschränkungen
wieder einzuführen. Behielten einige Kantone zumindest teilweise die Handels- und Gewerbefreiheit bei, schaffte sie der Kanton Zürich wieder ab und führte die Zünfte mit ihren Privilegien sowie die alten Ehehaften wieder ein. Von der Zunftvorschrift ausgenommen wurde
aber wegen wirtschaftspolitischer Überlegungen das Handels- und Fabrikwesen. Das hatte
zur Folge, dass diverse Handwerkszweige zunehmend den Konkurrenzdruck durch den Import von billigerer Fabrik- und Manufakturware, zu spüren bekamen. Die Handwerker versuchten mit verschieden Vorstössen zu erreichen, dass der Import durch Zölle eingedämmt
wurde, dass sie ihr Verkaufsmonopol sichern konnten oder dass die Zahl der Meister durch
hohe Eintrittshürden und Niederlassungsbeschränkungen klein gehalten wurde. Um ihre
Herrschaft zu festigen, unterstütze die Zürcher Regierung diese Vorstösse. Auch die Binnenzölle nahmen wieder stark zu.
1803 trat auch ein neues kantonales Ablösegesetz16 in Kraft. Der konservativ-aristokratische
Grosse Rat gestaltete dies aber so, dass ein Loskauf sehr schwierig war und er meist nur
Gross- und Mittelbauern bei guten Erntepreisen möglich war. Dies führte zu Unzufriedenheit
und war ein Grund für den Bockenkrieg.
Da jedoch der Übergang von der Helvetik zur Mediationszeit ansonsten unblutig war, blieben
einflussreiche Männer der Helvetik in der Politik aktiv und konnten sich weiter für Reformen
einsetzen. Zahlreiche Berufsarten wurden in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts an eine
öffentliche Prüfung gebunden, so Ärzte, Pfarrer, Lehrer oder Hebammen. Diese anerkannten
16
Für die Feudalisten auf dem Boden.
15
Berufsleute wurden nun verzeichnet.
Beim Strassenbau im Kanton Zürich wurden weder in der Mediationszeit noch in der späteren
Restaurationszeit die Mängel behoben. Man stellte bloss weitere Regeln auf, wie z.B. den Gebrauch von Radschuhen. In anderen Kantonen jedoch wurden in dieser Zeit einige Passstrassen,
wie z.B. jener über den Gotthardpass 1820 bis 1830, neugebaut.
In den 1820er-Jahren wurden in Horgen die ersten Seidenfabrikationsgeschäfte gegründet.
1825 wurden die Firmen „Stapfer, Hüni &. Co.“ und „J.J. Staub“ gegründet. J.J. Staub stammte
aus einer alten Weberfamilie, war 1824 zum Studium der Seidenindustrie nach Lyon gereist
und kehrte mit dem Wissen um die Jacquardwebstühle17 nach Horgen zurück. 1828 wurde als
dritte Firma die Firma „Höhn & Baumann“ gegründet. Die Seidenverarbeitung blieb aber bis
in die 1830er-Jahre eine traditionelle Verlagsindustrie. In den 1830er und 1840er-Jahren wurden weitere Firmen gegründet, bis Horgen 1847 zehn Seidenfabrikationsgeschäfte zählte. Die
Finanzierung der Firmen erfolgte meistens durch Eigenmittel, durch einen Partner oder durch
Anleihen bei Verwandten. Das moderne Bank- & Kreditwesen hatte einen anderen Anstoss. Die
Sparkassenbewegung ging vom städtischen Bildungsbürgertum aus, die weniger Begüterte zum
Sparen für die Not anhalten sollten.1820 wurde in Horgen eine Sparkasse gegründet, die Zinsen
bis zu 4% zahlte und wo am Anfang v.a. Dienstboten für ihr Alter sparten oder Eltern und Paten
ein Konto für die Kinder eröffneten.
Gefördert wurden die Firmengründungen am See durch den Bruch des städtischen Verlagsmonopols 1830. Das Handwerk geriet immer mehr unter Druck durch das Maschinen- und Fabrikwesen und nun auch durch die vom ländlichen Wirtschaftsbürgertum durchgesetzte Konkurrenzwirtschaft. Denn ab 1830 wurde das Zunftwesen vom liberalen Bürgertum schrittweise
abgeschafft bis zur Freigabe aller Gewerbe 1837. Bei der weiteren Entwicklung zeigt sich die
Heterogenität in der Gruppe der Gewerbler. Manche schafften den Aufstieg ins Wirtschaftsbürgertum, z.B. jene mit industriespezifischem Fachwissen wie Schlosser oder Mechaniker, jene
deren Handwerk gefragt war wie Schmiede oder Bauhandwerker und ein Teil der reichen Ehehaftbesitzer. So wuchs mit der Mechanisierung der Textilverarbeitung die Industrie der Maschinenherstellung mit Arbeit für Metall- und Holzarbeiter. Anderen Ehehaftbesitzer entzog die fabrikindustrielle Produktionsweise die Existenzgrundlage, so z.B. den Gerbern. Weitere Verlierer
waren jene, deren Berufe unter Druck der Industriekonkurrenz nach und nach verschwanden,
wie z.B. den der Knopfmacher oder Seifensieder. Zwischen 1835 und 1848 mussten rund 20%
aller Meister im Kanton Zürich Konkurs anmelden, darunter viele Schuster oder Schneider.
In einem Entwurf für eine neue Bundesverfassung von 1832 war eine Vereinheitlichung von
Massen und Gewichten, die Einführung der Niederlassungs-, Handels- und Gewerbefreiheit für
die ganze Schweiz vorgesehen. Doch auch die überarbeite Version wurde 1833 von der Mehrheit der Kantone abgelehnt. Der Kanton Zürich gehörte aber zu dem 1835 geschaffenen Konkordat von 12 Kantonen, welche ihre Masse und Gewichte vereinheitlichten.
Auch das Problem der schlechten Strassen wurde im Kanton Zürich mit der liberalen Verfassung angegangen. Das Strassengesetz von 1833 klassifizierte die Strassen in 4 Hauptkategorien:
Hauptstrassen, Landstrassen, Landfusswege, Nebenstrassen. Hauptstrassen waren nur jene, die
eine direkte Verbindung in andere Kantone oder Hauptstädte boten, d.h. in Horgen gab es diese
nicht. Wichtig war nun, dass der Kanton die Finanzierung der Haupt- und Landstrassen mittrug. Eine der ersten Landstrassen, die ausgebaut wurde, war jene von Zürich nach Richterswil.
17
Das Weben gross gemusteter Gewebe wurde mittels Lochkarten (je eine pro Schuss) ermöglicht.
16
Meist hielt man sich beim Ausbau an die bestehende Linienführung, diese Strasse wurde aber
seewärts verlegt, da man ein zu starkes auf und ab vermeiden wollte. Auch waren diese Landstrassen nun in der Regel Kunststrassen. D.h. sie bestanden aus einem stabilisierten Untergrund
mit Steinbett und einem hartgewalzten Belag aus Schotter, Kies oder Splitt. Die Oberfläche war
leicht gewölbt, damit Regenwasser abfliessen konnte. Ein Verfahren, das es schon seit der Antike gab und in dem die Franzosen im 18. Jahrhundert führend waren. Die Bekiesung der Landstrassen war Aufgabe der Gemeinden und deren Beschaffung oft mühsam und teuer. Horgen
konnte sein Kies aber auf dem Egg oder auf dem Bergli beschaffen. Der Ausbau der neuen Landstrasse dauerte bis 1846. Auch die zweite Landstrasse Horgens wurde ausgebaut und teilweise der Verlauf geändert: Die Strasse von
Horgen, nun über die Hanegg und den
Hirzelpass, nach Sihlbrugg wurde ebenfalls bis 1846 fertiggestellt. Wegen regen
Verkehrs kaufte die Gemeinde Horgen einen Pferdepfadschlitten, um die Strassen
auch im Winter offen zu halten. Die Liberalen trieben den Strassenbau aber nicht
nur wegen des wirtschaftlichen Nutzens
so energisch voran, sondern auch um den
Fortschritt und ihre Leistungsfähigkeit allen Teilen des Landes zu zeigen. Mit den
verbesserten Transportwegen stieg die
Bild 3: Dampfschiff Minerva vor Rapperswil - Quelle: Wikipedia:
Handelstätigkeit, wobei der Druck auf die
Handwerker erneut wuchs, da Importe weiter begünstigt wurden.
Auch auf dem Wasserweg erfolgte eine für den Transport wichtige Neuerung. Nachdem auf
dem Genfersee seit den 1820er-Jahren ein Dampfschiff verkehrte (mit dem Namen Guillaume
Tell), befuhr ab 1835 die Minerva als erstes Dampfschiff den Zürichsee.
Literaturverzeichnis:
Gedruckte Quellen:
• Meyer von Knonau, Gerold: Der Canton Zürich, St. Gallen und Bern 1844.
Darstellungen:
• Craig, Gordon A.: Geld und Geist. Zürich im Zeitalter des Liberalismus 1830-1869, München 1988.
• Flüeler, Niklaus (Hrsg.): Geschichte des Kantons Zürich. 19. Und 20. Jahrhundert, Zürich 1994 (Geschichte des Kantons Zürich 3).
• Hauser, Albert: Das Neue kommt. Schweizer Alltag im 19. Jahrhundert, Zürich 1989.
• Kläui, Paul: Geschichte der Gemeinde Horgen, Horgen 1952.
• Schaaf, Bernhard: Die Entwicklung der Handels- und Gewerbefreiheit in der Schweiz von der Helvetik bis zur nachgeführten
Bundesverfassung von 1874, in: Gschwend, Lukas/Pahud de Mortanges, René (Hrsg.): Wirtschaftsrechtsgeschichte der Modernisierung in Mitteleuropa. Zur Wechselwirkung zwischen wirtschaftlichen und rechtlichen Entwicklungen im Rahmen der grossen
Transformation 1750-1850, S. 223-241.
• Strickler, Joh.: Geschichte der Gemeinde Horgen nebst Hirzel und Oberrieden, Horgen 1882.
Christina Kovarik
17
4 Erschaffung eines Nationalbewusstseins, politische Literatur und
gesellschaftliche Veränderungen
Im 18. Jahrhundert zählte die Stadt Zürich zu den geistigen Zentren der europäischen Aufklärung. Unter dem Begriff „Nation“ verstanden die Aufklärer die Gemeinschaft von frei und
gleich geborenen Individuen. Es bildeten sich ökonomische Kommissionen, die die Landwirtschaft zu verbessern suchten und erreichten zumindest die Oberschicht – Landchirurgen,
Gastwirte, Handwerker, Schulleiter, Offiziere, lokale Amtsinhaber und die ländliche Unternehmerschicht- auf der Landschaft. Das Bild vom Landmann wandelte sich vom rohen und
ungebildeten Untertanen zu einem vorbildhaften gesunden und tugendhaften Hirten. Im
Landmann lebe der Geist der Urväter, auf die man sich zurückbesinnen solle, weiter. Doch
gleiche politische Rechte wollten sie den Landmännern nicht zugestehen. Das Standesverhältnis wie auch die Zehntenpflicht18 sollten bestehen bleiben. Doch indem man die Leute
der Landschaft zu selbstständigem Denken und Handeln erzog und ihr Selbstbewusstsein
förderte, förderte man zugleich ungewollt den politischen Emanzipationsprozess.
4. 1 Erschaffung eines Nationalbewusstseins
Bereits im 18. Jahrhundert bemühten sich die Aufklärer darum, ein neues Bild der schweizerischen Identität zu schaffen, wobei sie auch auf traditionelle Bilder zurückgriffen. Die
politische Führungsschicht hatte schon seit dem Spätmittelalter eine Vorstellung einer gemeinsamen Identität entwickelt. Trafen sie sich doch an der Tagsatzung oder vertraten als
Diplomaten eidgenössische Interessen im Ausland. Sich selbst jedoch definierten sie als
Bauern, nicht als Adelige. Der Bezugspunkt der einfachen Leute war die Dorf- und Talgemeinschaft, die Zünfte und die lokalen
Patronage- und Klientelsysteme. Erst
mit der Auflösung dieser traditionellen
Gemeinschaften und Loyalitätsmuster
wuchs das Bedürfnis nach einer neuen
gemeinschaftlichen Orientierung.
Die Geschichte und die Alpen wurden
nun zu den wichtigsten Bausteinen einer nationalen Identität. Die Urväter
der Eidgenossenschaft, wie Winkelried
und Wilhelm Tell, der Hirtenmythos – in
den Alpen lebe ein einfacher und unverdorbener Menschenschlag in Harmonie
mit der Natur – und die Gleichheit, die
man bei den Landsgemeindekantonen
bereits verwirklicht sah, waren wichtige
Bezugspunkte. Träger dieser Nationsidee war die gesellschaftliche Elite.
Bild 4: Aelplerfahne der Helvetik - Quelle: Niedwaldner Museum:
18
Steuer in Form von Geld oder Naturalien.
18
In der Helvetik wurden besondere Bemühungen zur Schaffung eines Nationalgefühls unternommen. Es gab sogar ein „Bureau für Nationalkultur“ und zum ersten Mal gab es ein
allgemeines und gleiches Bürgerrecht. Die mittelalterlichen Eidgenossen wurden zu Freiheitskämpfern und Urvätern erklärt und die Helvetik als eine Wiederherstellung der altschweizerischen Freiheit dargestellt. Eine Symbolfigur wurde Wilhelm Tell. Um die grosse
kulturelle Heterogenität und die verschiedenen Sprachen zu überbrücken, sprach die Propaganda von einer spezifisch schweizerischen Psyche mit Ursprung in den Alpen.
Mittels Emotionen wurden sämtliche Sinne angesprochen. Wichtige Mittel zur Schaffung
eines Nationalgefühls waren so, auch nach der Helvetik, Feste oder politische Zeremonien
sowie der Besuch von historischen Stätten. Man muss dabei auch bedenken, dass die Analphabetenrate hoch war und deswegen symbolische Visualisierungen wichtig waren. In der
Helvetik sollte der Geburtstag der Republik am 12. April nach dem Vorbild der Feste der
französischen Revolution gefeiert werden, aber mit Einbezug einheimischer Traditionen wie
z.B. Älplerfesten. Die französischen Freiheitsbäume wurden auch in der Schweiz aufgestellt.
Anstelle der Jakobinermütze schmückte man sie teils mit einem Tellenhut. Die Schweizer
Trikolore war grün-rot-gelb. Grün als Zeichen der neuen Zeit. Bei den Bürgereidfeiern 1798
zeigte sich ein Manko. Geplant waren der Eid, die Bekränzung des Altars des Vaterlandes,
Tanz und Unterhaltung, aber auch das Singen von Volksliedern. Eigentliche Volkslieder und
auch eine Nationalhymne (ein Kompositionswettbewerb für eine Nationalhymne brachte
wenig Resonanz) gab es nicht. Es gab die Kühreihen und die Psalmen. So musste man auf
unbekannte Lieder, die spontan zu singen waren, zurückgreifen. Gerade am Zürichsee waren
die französischen Revolutionslieder, z.B. „ça ira“, sehr beliebt und wurden adaptiert.
Gegner der Helvetik und/oder der Franzosen sahen die Invasion der Franzosen als eine Gewalttat zum eigenen Zweck und nicht als Befreiung des unterdrückten Landvolkes. Das genügsame und friedliche Hirtenvolk wurde in ihren Augen der französischen Sittenlosigkeit
und der revolutionären Verachtung der Religion entgegengestellt. Die Leute sahen einen
Mangel an innerer Stabilität und wirtschaftlicher Prosperität. Die Unzufriedenen hauten nachts die Freiheitsbäume
um, so in Zürich am 3.12.1799.
Wegen der vielen Kriege fehlten in der
Helvetik die Gelder und die Zeit für weitreichende Propaganda, wie auch die
nötigen Sozialisationsinstanzen, gab es
doch weder eine allgemeine Schul- noch
Wehrpflicht.
Mit der Mediationszeit begann die Blütezeit der Schweizer Volkslieder. Damals
entstanden die meisten der noch heute
Bild 5: Sängerfest Horgen 1828 - Quelle: Ortsmuseum Sust Horgen:
gesungenen Lieder. Deren Inhalte sind
von politischer Abstinenz gekennzeichnet. Es geht ums Idyll. Ein gesteigertes Interesse an Sagen und lokaler Geschichte, eine beschauliche Auseinandersetzung mit dem eigenen Land,
z.B. in Reiseberichten und Beschreibungen von Volksbräuchen, kennzeichnen die Zeit. Nationale Gesellschaften und Vereine bilden ein Gegengewicht zur föderalistischen Struktur. So
wurden z.B. Schützenfeste gezielt als eidgenössische Feste reaktiviert, wo trotz unterschiedlicher Kantonszugehörigkeit, Religion oder Tradition mittels einer gemeinsamen Aktivität (zur
19
Hebung der Wehrkraft), Fahnen und Wappen ein emotionales Gefühl der Zusammengehörigkeit vermittelt wurde. Horgen selbst hatte erst nach 1848 einen eigenen Schützenverein.
1811 wurde zum ersten Mal die spätere Nationalhymne „Rufst du, mein Vaterland“ gesungen. Neben Gesang als Teil von Festen wie den Schützenfesten oder aber auch den Turnfesten
gab es eigentliche Sängerfeste. In Horgen wurde am 23. März 1826 ein erster Sängerverein,
zur Hebung und Beförderung des Volksgesanges und zur Bildung eines Freundschaftskreises,
gegründet und 1828 wie 1834 konnte Horgen das alljährliche Sängerfest des Seeverbundes
auf dem Schulhausplatz feiern. Seit den 1820er-Jahren gewannen solche Feste und Feiern
einen politischeren Aspekt. Die Liberalen und Radikalen warben für ihre Sache. Die Radikalen
wollten eine Bundesverfassung, d.h. eine stärkere Einheitlichkeit der Eidgenossenschaft. In
ihren Zeitungen finden sich so auch Berichte über Feste und politische Versammlungen als
Propaganda. Die Konservativen lehnten
eine neue Bundesverfassung ab.
Die inneren Spannungen verschärften
sich in den 1840er-Jahren. Alle politischen Richtungen stützten sich erneut
auf die gleichen Motive: Die Alpen als
Hort der Freiheit und die heldenhaften
Ahnen als Richter über die aktuellen
Zustände. Man grenzte sich auch gegen
ausserhalb ab und betonte, dass man
mit der republikanischen Staatsform allein in Europa stände. Einzig die Demokratie der Landsgemeindekantone fehlteBild 6: „Winter 1828“, Federzeichung Hüni-Stettler
als Motiv bei den Republikanern, warQuelle: HG Schulthess, Horgen (Darstellung der Lesegesellschaft?):
doch die Innerschweiz fast geschlossen
gegen jegliche liberale und radikale Neuerungen. Die Jesuiten waren ein beliebtes Feindbild,
auch bei manchen Konservativen. Nach dem Sonderbundskrieg wurde in den Liedern der
Wunsch nach Versöhnung und Verständigung deutlich.
4.2 Die politische Literatur
Die Bildung einer neuen liberalen Ober- und Mittelschicht ist eng verknüpft mit dem Aufkommen der Vereine. Eine zentrale Stellung für die politischen Diskussionen nahmen die
Lesegesellschaften ein. Waren die Gesellschaften des 18. Jahrhunderts oft elitär, wurden
die Vereine im 19. Jahrhundert volkstümlicher. Gegenseitige Hilfe und Gemeinschaft waren
wichtige Zwecke eines Vereins. In den Lesegesellschaften der Landschaft traf sich die ländliche Oberschicht. Basis war die neue Schicht der Unternehmer, die im 18. Jahrhundert wegen
ihrer Tüchtigkeit den Aufstieg, geboten durch die Verlagsindustrie, geschafft hatten. Es ging
um Geselligkeit, aber auch um Bildung und Pflege der Wissenschaft. Man kaufte sich zusammen Bücher, diskutierte aber auch Politisches oder war ein eigentlicher politischer Verein.
In Horgen entstand am 10. Februar 1802 die „literarische und unterhaltende Gesellschaft“
mit Altsenator Heinrich Stapfer und Jakob Hüni als Gründungsmitglieder. Da man wegen der
politischen Haltung der provisorischen Regierung von 1802 verdächtig erscheinen musste,
wurde kein Protokoll geführt. Die Lesegesellschaft wurde später in „ältere Lesegesellschaft“
unbenannt und stets waren der Gemeindepräsident und die angesehensten Horgner Bürger,
20
ab 1839 auch der Pfarrer, darin vertreten.
Die städtische Obrigkeit reagierte mit Kampagnen gegen „Lese- und Neuerungssucht“. Die
Bauern sollten schon lesen können, sich bei der Wahl der Lektüre aber leiten lassen und
keine Zeitungen und nutzlose, da unterhaltende, Romane lesen. Für die einfachen Leute
solle man eine Volksliteratur schaffen. Ein Beispiel einer solchen verbreiteten Volksliteratur
sind die Kalender. Doch die Lesegesellschaften entsprachen dem Bedürfnis nach Bildung auf
dem Land, hatte doch bis anhin die Stadt das Bildungsmonopol. Und brauchte es doch für
die Ideen von Gleichheit und Gleichberechtigung aller Menschen eine selbstbewusste, verantwortungsvoll handelnde Gemeinschaft von Staatsbürgern, welche ohne Bildung nicht zu
erreichen war. Gerade Zeitungen, inländische wie ausländische, wurden gemeinsam gelesen.
Mit der Helvetik wurde auch die Pressefreiheit eingeführt, jedoch bald mit einer formellen
Nachzensur ergänzt. Die Pressefreiheit sei da, zum Unterrichten, nicht um zu verderben, indem sie dem Staat oder den Sitten gefährlich werde. Wegen der hohen Analphabetenquote
und des hohen Preises der Zeitungen wurden Pfarrer, helvetische Statthalter und Agenten
damit beauftragt, den Dorfbewohner vorzulesen. Man solle doch die Belehrungen und Unterweisungen mit Nationalgesängen oder Ausführung merkwürdiger Vorfälle, die in den Zeitungen vorkamen, auflockern. Die Pfarrer als Angehörige der alten Elite sabotierten die Mitarbeit aber oft. Je billiger und unterhaltender die Zeitung, desto mehr Abonnenten hatte sie.
Ab 1798 gab es eine regelrechte Flut von Zeitungen und Zeitschriften. Viele gingen rasch ein,
wurden umbenannt und hinter mehreren Zeitungen konnte der gleiche Herausgeber stehen.19
Die erste Zeitung der Zürcher Landschaft war der „Volksfreund von Stäfa“, eine Zeitung der
Befürworter der Helvetik. Mit der Mediation wurde auch die Vorzensur wieder eingeführt
und 1803 wurde im neuen Zeitungsgesetz festgehalten, dass die innere und äussere Ruhe
des Staates, die Religion und die Sittlichkeit sowie die bürgerliche Ehre und der gute Name
einer privaten und öffentlichen Person zu schützen seien. Liberale Politiker meldeten sich
aber auch mit Hilfe der ausländischen Presse zu Wort. 1831 wurde die Pressezensur schliesslich per Volksabstimmung abgeschafft. Die Schweiz wurde zu einem der zeitungsreichsten
Länder Europas.
4.3 Gesellschaftliche Veränderungen
In der Eidgenossenschaft verlor der Adel schon im 15. Jahrhundert seine wirtschaftliche,
soziale und politische Bedeutung. Die Ober- und Mittelschicht der Stadtbürger und die
von Bauern getragene gemeindliche Ordnung übernahmen deren Stellung. Im 17. und 18.
Jahrhundert kam es zu einer, je nach Kanton unterschiedlich stark ausgeprägten, „Oligarchisierung“. Eine immer beschränktere Anzahl von Geschlechtern und Familien, gestützt auf
Besitz, Bildung, Geburt und Abstammung, besetzen die führenden Rollen. In ihrer Lebensweise passten sie sich der Aristokratie an, massen aber der Erwerbsarbeit stets einen hohen
Stellenwert zu. Die Oberschicht der untertänigen Landschaft fühlte sich wirtschaftlich, sozial
und politisch zurückgesetzt. Merkmale dieser Ober- und auch Mittelschicht aus Gewerbetreibenden oder Gastwirten, waren u.a. das individuelle Erwerbsstreben, der Wettbewerb,
die Leistung und die Unabhängigkeit durch produktive Arbeit sowie die private Verfügung
Ein Beispiel für eine aristokratisch-konservative Zeitung ist der „Zürcher Freitagsbote“. Die wichtigsten liberalen Zeitungen,
die auch am See gelesen wurden, waren u.a. die „Aarauer Zeitung“, der „Schweizerbote“ und die „Neue Zürcher Zeitung“.
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21
über Eigentum und Gewinn. Die Ereignisse von 1830/31 und 1848 verhalfen der bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Prinzipien nach Recht auf Eigentum, Freiheit und Sicherheit
zum Durchbruch. Da in der Schweiz kein Feudalsystem mit Lehensrechten existierte, kam
es früh zu einer Verankerung der Auffassung des Privatbesitzes. Auch in der Helvetik schien
eine Enteignung eines privaten Grundherrn tabu zu sein, zumindest ohne Entschädigung.
Die helvetische Verfassung kannte so auch die Sicherheit des Eigentums. Alte Eliten konnten
sogar in der Helvetik profitieren, da sie Französisch sprachen, eine pfarrherrliche Beredsamkeit hatten oder das drucktechnische und zeitungsjournalistische Wissen besassen. Die Gemeinden forderten, ebenfalls über ihr Eigentum im Sinne eines privatrechtlichen Vermögens
verfügen zu können. Oft entzündeten sich diese Konflikte beim Thema Wald. Auch 1830/31
beinhalteten viele Petitionen den Schutz des Privateigentums.
Am staatlichen Leben sollten sich laut vieler Liberaler aber nicht alle beteiligen können. Bildung und Besitz sollten Voraussetzung für die politische Partizipation sein. 1830 waren so
niedergelassene Schweizer aus anderen Kantonen, Aufenthalter wie Knechte, Handwerksgesellen oder kleine Angestellte, sogenannte Passivbürger. Radikale forderten ein allgemeines Männerwahlrecht unabhängig ob Orts-, Kantonsbürger oder niedergelassene Schweizer.
Dieses Wahlrecht setzte sich 1848 durch. Ausgeschlossen von
der politischen Partizipation blieben Frauen, die in der französischen Revolution die gleichen politischen Rechte wie die
Männer gefordert hatten, sowie Ausländer.
Gerade die Frauen der Oberschicht verschwanden immer
mehr aus dem Arbeits- wie dem öffentlichen Leben. Die Unantastbarkeit der Familie unter der Herrschaft des Hausvaters als
Keimzelle der Gesellschaft war genauso wichtig wie das Privateigentum oder das Vaterland. Unternehmerfrauen arbeiteten
in der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts zum Teil noch im Geschäft
des Ehemannes mit, doch in zunehmender Abgrenzung zum
Mittelstand, wo Frauen oft aktiv am Geschäft beteiligt blieben,
konzentrierte sich die Wirkungssphäre der Frauen der Oberschicht mehr und mehr aufs Haus. Sie arbeiteten aber meist Bild 7: Portrait Frau Elisabeth BurkhardtNägeli mit Sohn Jacques Burkhardt
aktiv bei häuslichen Arbeiten mit.
Quelle: Ortsmuseum Sust Horgen.
Auch die Privatsphäre wurde wichtiger und Angestellte, wo
möglich, zunehmend aus der häuslichen Sphäre ausgegrenzt. Die Ehefrau war die Hüterin
dieses Heims und Schutzraumes, wo der Mann sich ausruhen und Gefühle zeigen konnte.
Seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts war die Ansicht der naturgegebenen Geschlechtercharaktere populär. Der Mann sei aktiv und rational, die Frau passiv und emotional. Mit
der Emotionalisierung der Familie wurden auch die Kindheit und die Stellung des Kindes
aufgewertet. Kinder waren der Stolz von Mann und Frau und Teil der Lebenserfüllung. Dies
brachte bürgerliche Frauen in Konflikt zwischen aufwändiger Haushaltsführung und mütterlicher Fürsorgeplicht.
Über Einkünfte und Ausgaben des Haushalts wurde genau Buch geführt. Die ländliche Oberschicht passte sich dem Lebensstil der städtischen Oberschicht an und übernahm so z.B.
deren Mode. Das Ideal der Aufklärung und Romantik nach einer neuen Form der Ehe, basierend auf Liebe, konnte sich noch nicht durchsetzen. Man suchte nach materiellen Gesichtspunkten eine gute Partie.
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Literaturverzeichnis:
Darstellungen
• Bachmann, Martin: Lektüre, Politik und Bildung. Die schweizerische Lesegesellschaften des 19. Jahrhunderts unter besonderer
Berücksichtigung des Kantons Zürich, Bern 1993 (Geist und Werk der Zeiten 81).
• Charbon, Rémy: „O Schweizerland, du schöne Braut“. Politische Schweizer Literatur 1798-1848, Zürich 1998.
• Guggenbühl, Christoph: Zensur und Pressefreiheit. Kommunikationskontrolle in Zürich an der Wende zum 19. Jahrhundert,
Zürich 1996.
• Guggenbühl, Christoph: Biedermänner und Musterbürger im „Mutterland der Weltfreyheit“. Konzepte der Nation in der helvetischen Republik, in: Altermatt, Urs/Bosshart-Pfluger, Catherine/Tanner, Albert (Hrsg.): Die Konstruktion einer Nation. Nation
und Nationalisierung in der Schweiz, 18.-20. Jahrhundert, Zürich 1998 (Die Schweiz 1798-1998: Staat – Gesellschaft – Politik 4),
S. 33-47.
• Hauser, Albert: Das Neue kommt. Schweizer Alltag im 19. Jahrhundert, Zürich 1985.
• Hettling, Manfred: Die Schweiz als Erlebnis, in: Altermatt, Urs/Bosshart-Pfluger, Catherine/Tanner, Albert (Hrsg.): Die Konstruktion einer Nation. Nation und Nationalisierung in der Schweiz, 18.-20. Jahrhundert, Zürich 1998 (Die Schweiz 1798-1998: Staat
– Gesellschaft – Politik 4), S. 19-31.
• Kläui, Paul: Geschichte der Gemeinde Horgen, Horgen 1952.
• Meyerhof, Ursula: Wir sind die Nation. Der radikale Nationsbegriff des „Schweizerischen Republikaners“, 1830-1846, in: Altermatt, Urs/Bosshart-Pfluger, Catherine/Tanner, Albert (Hrsg.): Die Konstruktion einer Nation. Nation und Nationalisierung in der
Schweiz, 18.-20. Jahrhundert, Zürich 1998 (Die Schweiz 1798-1998: Staat – Gesellschaft – Politik 4), S. 49-59.
• Renschler-Steiner, Regula: Die Linkspresse Zürichs im 19. Jahrhundert. Die Bestrebungen der Unitarier, Frühliberalen, Radikalen, Liberal-Radikalen, Sozialisten, Demokraten und Sozialdemokraten im Lichte ihrer Zeitungen, Zürich 1967.
• Tanner, Albert: Arbeitsame Patrioten – wohlanständige Damen. Bürgertum und Bürgerlichkeit in der Schweiz 1830-1914, Zürich
1995.
• Weinmann, Barbara: Eine andere Bürgergesellschaft. Klassischer Republikanismus und Kommunalismus im Kanton Zürich im
späten 18. Und 19. Jahrhundert, Göttingen 2002 ( Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 153).
Christina Kovarik
5 Politik
5.1 Die „Franzosenzeit“: Helvetik und Mediation 1798-1814
1798
1798-1803
1803-1814
: Franzoseneinfall
: Helvetische Republik
: Mediationszeit
Am 28. Januar 1798 begannen französische Truppen die Alte Eidgenossenschaft zu besetzen.
Die Gründung der Helvetischen Republik mit Hauptstadt Aarau erfolgte nach französischem
Vorbild eines zentralistischen Einheitsstaates. Die bisher selbständigen Kantone wurden
zu Verwaltungseinheiten und neue Kantone wurden geschaffen (z. B. der in unmittelbarer
Nachbarschaft zu Horgen liegende Kanton Linth mit Hauptort Glarus). Die Helvetische Verfassung verkündete die Gleichheit aller Bürger, die Handels- und Gewerbefreiheit und die
Befreiung des Bodens von feudalen Grundlasten.
In Zürich proklamierte der Rat die Rechtsgleichheit von Stadt und Land und am Zürichsee
verlangten aufrührerische Komitees die Freilassung der Inhaftierten des Stäfnerhandels von
1794/95 und die Abdankung der städtischen Machthaber. Die neue Ordnung sollte durch
eine „Landeskommission“ mit mehrheitlich landschaftlicher Beteiligung beraten werden.
Von den 56 Landesvertretern stammten deren sieben aus Horgen. Die Besetzung Zürichs
durch französische Truppen erfolgte schliesslich am 26. April 1798. Die Kantonsverwaltung
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wurde durch zentralistische Behörden unter Regierungsstatthalter Johann Caspar Pfenninger aus Stäfa übernommen. Als gerichtliche Instanz diente das Kantonstribunal. Der Kanton
Zürich wurde in 15 Distrikte unter der Führung eines Distriktstatthalter eingeteilt. In den
Gemeinden fungierten Agenten als deren Vertreter. Die Zivil- und Polizeigerichtsbarkeit übten die Distriktsgerichte mit neun Richtern aus. Mit der Munizipalitätsgemeinde wurde neu
eine Einwohnergemeinde geschaffen. Als Unterstatthalter im Distrikt Horgen wurde der am
Stäfnerhandel beteiligte Thalwiler Maler und Kupferstecher Johann Jakob Aschmann eingesetzt. Auch Horgner, die am Stäfnerhandel Anteil hatten, erhielten Ämter: Landrichter Hans
Heinrich Stapfer vertrat Zürich im eidgenössischen Senat, der Faktor und Geschworene Johann Jakob Gugolz wurde Nachfolger Pfenningers als Präsident der Kantonstribunals und der
ehemalige Geschworene Hauptmann Hans Rudolf Burkhard diente als Agent in Horgen. Am
16. August 1798 erfolgte die Vereidigung der Bürgerschaft Horgens auf die neue Verfassung.
Die durch die Verkehrslage bedingten Einquartierungen und Durchzüge französischer Truppen gaben in Horgen immer wieder Anlass zu Klagen. Hinzu kamen Plünderungen, Diebstahl
und Erpressungen, welche die Schuldenlast Horgens in die Höhe trieben.
1799 wurde Zürich Schauplatz der napoleonischen Kriege. Horgen lag damit unmittelbar in
Frontnähe und war nun den Repressalien und Requisitionen der Kriegsgegner ausgesetzt.
Die Munizipalität begegnete diesen mit erheblichem Widerstand, Demissions- und Verweigerungsdrohungen.
Im Zuge von Staatsstreichen durch helvetische Räte (Republikaner) erfolgte 1800 die Ersetzung Pfenningers durch den Stadtzürcher Johann Konrad Ulrich. Schliesslich wurde das
Ablösungsgesetz (Regelung des Loskaufs von Zehnten) von 1798 fallengelassen und 1801
der Zehntbezug mit Gewalt durchgesetzt, was in Horgen zu konspirativen Versammlungen
führte. Die innereidgenössischen Streitigkeiten führten nach Abzug der Franzosen zu einem
kurzen Bürgerkrieg. Im sogenannten „Stecklikrieg“ standen sich die Unitarier, welche den
Zentralstaat nach französischem Vorbild anstrebten, und die Föderalisten, die für die Wiederherstellung der alten Ordnung kämpften und über grösseren Rückhalt in der Bevölkerung
verfügten, gegenüber. So auch im Kanton Zürich, wo anfangs September 1802 helvetische
Truppen mit Horgner Unterstützung das föderalistische Zürich erfolglos belagerten. Als Vergeltung wurde anfangs Oktober das helvetisch gesinnte Horgen durch Zürcher Truppen besetzt und die führenden Köpfe in der Verwaltung der Munizipalität wie Aschmann, Stapfer
und Hüni verhaftet. Die Verbitterung der Horgner wurde in einem heimlich am Gemeindehaus angeschlagenen Pasquill deutlich. Nur Tage später griffen erneut französische Truppen
ein, um die Wogen in der Schweiz zu glätten und die Parteikämpfe zu beenden.
Unter Druck Napoleons handelten die politischen Führungsgruppen der Eidgenossenschaft
(sog. Consulta) 1802/03 in Paris schliesslich die Mediationsakte aus. Darin wurde die Selbständigkeit der Kantone im Sinne einer föderalistischen Verfassung gestärkt und durch Napoleon garantiert. Die Schweizerische Eidgenossenschaft wurde zum Staatenbund und bestand
neben den 13 alten aus den neu geschaffenen Kantonen SG, AG, TG, TI und VD. Die politische
Vorherrschaft der Stadt Zürich erfuhr trotz grundsätzlicher Gleichberechtigung von Stadt
und Land, durch Mindestvermögen für Wahlberechtigte und komplizierte Wahlverfahren de
facto eine Bestätigung. Der Kanton Zürich wurde in fünf Bezirke mit je 13 sog. Zünften eingeteilt. Der Bezirk Horgen umfasste beide Seeufer (Horgen, Meilen) und das Knonauer Amt. Als
kantonale Legislative wurde der Grosse Rat (195 Mitglieder) geschaffen, der seinerseits den
exekutiven Kleinen Rat (25 Mitglieder) wählte. An der Spitze der Bezirke standen die Statthalter. Die Bezirks- und Zunftgerichte wurden vom Kleinen Rat gewählt. Im Bezirk Horgen tagte
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das Bezirksgericht monatlich wechselnd im „Schwanen“ in Horgen, Meilen und in Knonau.
Nach dem neuerlichen Abzug der französischen Truppen 1804 und einer obrigkeitlich verfügten Huldigung mit Verfassungseid, mündete die Unzufriedenheit und Enttäuschung der
Landbevölkerung über die politischen und wirtschaftlichen Bedingungen in tumultartige
Szenen, Eidesverweigerungen und den Bockenkrieg. Die rebellische Landbevölkerung errang
zwar einen militärischen Sieg gegen die eidgenössischen Truppen unter der Führung Zürichs,
konnte diesen aber politisch nicht umsetzen. Der Konflikt endete mit der Hinrichtung des
Horgner Rädelsführers Joh. Jakob Willi; Horgen hatte hohe Kontributionszahlungen zu leisten.
Die Landbevölkerung hatte ferner den teuren Loskauf
von der Zehntenpflicht zu tragen. Zudem erfolgten die
Einführung einer neuen Militärordnung mit Zentralisierung und Vereinheitlichung mit der Schaffung eines
Landjägerkorps sowie eine Verschärfung der Zensur.
Der Widerstand gegen die Vereidigungen blieb aber
auch in Horgen weiter erhalten.
Da die Mediationsakte hauptsächlich den politischen
Interessen Frankreichs diente, blieb die Schweiz in der
Mediationsverfassung ein Vasallenstaat Frankreichs,
der Truppen zu stellen hatte. Auch Horgen war immer
wieder gezwungen, Söldner zu werben. Da sich dafür
kaum Freiwillige fanden, musste die Gemeinde neben
einer Entschädigung für die Werber auch immer höBild 8: Johann Jakob Willi, Chef der gerechtigkeitsbegehrenden Truppen - Quelle Ortsmuseum Sust. here Zulagen für die Angeworbenen aufbringen. Im
Zusammenhang mit weiteren Kriegen und Grenzbesetzungen (z. B. 1805 und 1809), hatte Horgen zudem weiterhin die Lasten von Einquartierungen zu tragen. Die Streitigkeiten zwischen Horgen und der Stadt Zürich bezüglich Zuteilung des Sihlwaldes wurden durch eine Entschädigungszahlung Zürichs an die Horgener 1806
beigelegt.
Im Zuge der Niederlagen Napoleons wurde die Schweiz ab 1812/13 wieder zum Durchzugsgebiet für verschiedene Truppen und hatte Einquartierungs- und Verpflegungslasten zu
tragen. Der Sturz Napoleons markierte das Ende der Mediationsverfassung. In der neuen
Kantonsverfassung von 1814 blieben die Kompetenzen des Grossen und Kleinen Rates im
Wesentlichen bestehen. Der Kanton Zürich wurde in elf Oberämter eingeteilt, die in etwa
den heutigen Bezirken entsprachen. Als Sitz des Oberamtsmannes am linken Zürichseeufer
wurde Wädenswil bestimmt. Mit der Auflösung der Mediationsordnung flammten die innereidgenössischen Streitigkeiten wieder auf und zwischen den alten und neuen Kantonen kam
es zu erheblichen Spannungen. Unter Druck der siegreichen Koalition der Grossmächte und
nach der „Langen Tagsatzung“ in Zürich, konstituierte sich die Schweiz am 7. August 1815 im
sogenannten Bundesvertrag wieder als Staatenbund mit 22 Kantonen (GE, VS, NE).
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5.2 Die Schweiz als Staatenbund 1814-1847
1814-1815
1815
1814-1830
1830-1847
1847
1848
: Wiener Kongress
: Bundesvertrag: Neutralisierung durch Wiener Kongress
: Restaurationszeit
: Regeneration
: Sonderbundskrieg
: Gründung des Bundesstaates
Am Wiener Kongress 1815 wurden die noch heute bestehenden inneren und äusseren Grenzen grösstenteils anerkannt und die Eidgenossenschaft zur „immer währenden bewaffneten
Neutralität“ verpflichtet, um den strategisch wichtigen Alpenraum dem Einfluss einer Grossmacht zu entziehen.
Mit dem föderalistisch ausgerichteten Bundesvertrag von 1815 fiel auch die Wehr-, Münzund Zollhoheit wieder in den Zuständigkeitsbereich der Kantone. Wie im Ancien Régime fungierte als Zentralinstanz wieder die eidgenössische Tagsatzung, die sich in jährlichem Wechsel und mit dem Umzug der eidgenössischen Kanzlei in den drei „Vororten“ Zürich, Bern und
Luzern versammelte.
Eine von der NZZ entfaltete publizistische
Kampagne für die Pressfreiheit mündete
1829 in die Beseitigung der Zensur durch
die Reformer im Grossen Rat. Nach der
französischen Julirevolution von 1830,
fanden in verschiedenen Kantonen Versammlungen – sog. Volkstage – statt,
welche die Revision der restaurativen
Verfassungen (z. B. Abschaffung von
Zensus und Kooptation) einleiteten. Mit
der Forderung nach Gleichstellung von
Stadt und Land im „Memorial von Uster“
versammelten sich am 22. November Bild 9: Volksversammlung zu Uster 1830 - Quelle: StA Kanton Zürich.
1830 rund 10‘000 Männer in Uster und verlangten eine neue Verfassung. Am 22. November
1832, dem zweiten Jahrestag des Gedenkens an den Ustertag, stürmte eine aufgebrachte
Menge die Mechanische Spinnerei und Weberei Corrodi & Pfister in Oberuster. Hintergrund
dieses Maschinensturms war die Notlage der Kleinfabrikanten (Tüchler) und Heimweber aus
dem Zürcher Oberland, deren Forderung nach einem Verbot der Webmaschinen durch den
neuen liberalen Grossen Rat abgelehnt worden war. Dem Ustertag als politischer Wende
wird noch heute in jährlich stattfindenden Feiern gedacht.
Mit der liberalen Regeneration von 1830/31 und der Errichtung liberal-demokratischer Systeme und Verfassungen endete in den Mittellandkantonen - so auch in Zürich mit der neuen
Kantonsverfassung - die Phase der konservativen Restauration und aristokratischen Vorherrschaften. Auf der Ebene der Kantone mündeten die Streitigkeiten zwischen liberal-demokratischen und katholisch-konservativen Kräften 1832 in die Gründung des Siebnerkonkordates
der liberalen einerseits und des Sarnerbundes der konservativen Kantone anderseits. Mit der
neuen Verfassung wurde Horgen ab 1831 wieder Bezirkshauptort. Im Horgner Armenhaus
wurde ein Sitzungszimmer des Bezirksgerichtes mit Kanzlei sowie ein Raum für den Bezirks-
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rat und das Bezirksgefängnis eingerichtet. Die neuen Gemeindeaufgaben zogen auch andere
Formen der Kundmachung an die Bevölkerung nach sich. Die Bekanntmachung der Mitteilungen lokaler Behörden im Anschluss an die Predigt durch den Pfarrer von der Kanzel verlor
an Bedeutung. Die Zeitungen wurden allmählich das neues Publikationsmittel für weitere
Kreise der Bevölkerung. Seit 1842 erschien in Wädenswil einmal wöchentlich der „Anzeiger
vom Zürichsee“
Als Folge des 1833 eingeführten Strassenbaugesetzes wurden bis 1849 auf Kantonsgebiet
über 500 km neue Strassen gebaut. Mit dem Konkordat über eine gemeinsame schweizerische Mass- und Gewichtsordnung vom 17. August 1835 wurde das metrische System in der
Schweiz eingeführt. Im gleichen Jahr erfolgten die Einführung des neuen Strafgesetzbuches
und 1837 schliesslich die Kinderschutzgesetzgebung. In Genf wurde 1838 der Grütliverein
gegründet.
Im Januar 1839 berief der liberale Zürcher Erziehungsrat – gegen den Willen des Horgner
Vertreters Heinrich Hüni im Regierungsrat - den aufgeklärten Württemberger Theologen David Friedrich Strauss zum Professor für Kirchengeschichte und Dogmatik an der Universität.
Diese Berufung erregte den Unmut in konservativen und modernisierungskritischen Teilen
der Landbevölkerung. Es wurden vom linken Zürichseeufer ausgehend konservative oppositionelle Komitees gegründet, die in den Kirchgemeinden auf grosse Unterstützung stiessen.
Diese beklagten die mangelnde Religiosität der Volksschulen und forderten die Schliessung
der Universität. Obwohl der Regierungsrat den Forderungen mit der Pensionierung von
Strauss nachgekommen war, hielten die Unruhen an. Nachdem der Regierungsrat weitere
Versammlungen der Komitees untersagt und Infanterie aufgeboten hatte, marschierte ein
Zug von Landleuten nach Zürich, wo es am 6. September zu gewalttätigen Auseinandersetzungen mit dem Militär kam. 14 Putschisten und Regierungsrat Johannes Hegetschweiler
wurden getötet. Es erfolgte die Auflösung der Regierung und die Bildung eines provisorischen Staatsrates. Mit dem Sieg der Konservativen in den Neuwahlen vom 17. September
führten diese als Züriputsch oder Straussenhandel bezeichneten Auseinandersetzungen zu
einer Verschärfung der Konfrontation zwischen Radikalen und Konservativen.
1841 protestierten in Schwamendingen rund 20‘000 Leute gegen die klosterfreundliche Politik der Zürcher Regierung im Aargauer Klosterstreit.
1844 wurden die Jesuiten nach Luzern berufen. Horgen lehnte zwar eine von der Gemeinnützigen Gesellschaft des Limmattals ausgehende Forderung ab, die Jesuiten aus Luzern
wegzuweisen, es nahm aber anderseits Frau und Kind eines von der konservativen Luzerner
Regierung Inhaftierten auf.
Im gleichen Jahr erfolgte die Wahl Alfred Eschers in den Grossen Rat des Kantons Zürich,
in dem ab 1845 die Liberalen über eine Mehrheit verfügten. 1845/46 dominierten die Radikalen schliesslich die Regierungen in VD, GE, ZH und BE. Als Folge einer zunehmenden
Polarisierung zwischen den liberalen (mehrheitlich städtisch-reformierten) und konservativen (mehrheitlich ländlich-katholischen) Kantonen nach den Freischarenzügen, gründeten
die katholischen Kantone LU, UR, SZ, UW, ZG, FR und VS 1845 einen Sonderbund. Die liberal
dominierte Tagsatzung entschied dessen gewaltsame Auflösung. Mit der Nähe zur Innerschweiz war Horgen von militärischen Vorbereitungen sowie einmal mehr von Durchzügen
und Einquartierungen eidgenössischer Truppen betroffen. Im Sihltal kam es zu kriegerischen
Auseinandersetzungen der verfeindeten Parteien, die das Aufgebot der gesamten waffenfähigen Mannschaft des Bezirks Horgen nötig machten.
Der Sonderbundskrieg im November 1847 unter General Henri Dufour war der letzte bewaff-
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nete Konflikt auf dem Gebiet der Schweiz und endete mit einer Niederlage des Sonderbunds
und der Ausweisung der Jesuiten.
Die Massenarmut und damit zusammenhängend die Massenauswanderung erreichten in den
Jahren 1845-1855 ihren Höhepunkt. Betroffen waren hauptsächlich die Industriegemeinden
des Zürcher Oberlandes. Zudem kam es In den Jahren 1846/47 zu einer Ernährungskrise und
Teuerungswelle. Im Kanton Zürich errangen die Liberalen definitiv die Mehrheit im Grossen
Rat und der Winterthurer Jonas Furrer wurde Regierungsratspräsident.
5.3 Der moderne Bundesstaat ab 1848
Mit der ersten schweizerischen Bundesverfassung vom 12. September 1848, setzte eine
stärkere Zentralisierung des bisherigen Staatenbundes und die Konstitution der Schweiz
als „parlamentarischer Bundesstaat“ und repräsentative Demokratie ein. Diese fanden auf
politischer Ebene u. a. ihren Ausdruck in der Wahl des Nationalrates durch das Volk, auf
wirtschaftlicher in der Vereinheitlichung des Mass- und Münzwesens sowie in der Abschaffung der Binnenzölle (1849/50), was zur Entstehung eines einheitlichen Wirtschaftsraumes
beitrug.
Literatur (Auswahl):
• Geschichte des Kantons Zürich, Band 3, 19. und 20. Jahrhundert, hg. von Niklaus Flüeler, Zürich 1994.
• Historisches Lexikon der Schweiz, diverse Artikel, Basel 2002.
• Kläui, Paul: Geschichte der Gemeinde Horgen, Horgen 1952.
Walter Bersorger
6 Schule Horgen ab 1750
Nach der Reformation machte der Rat der Stadt Zürich Zwinglis Kirche zur Staatskirche und
übertrug ihr die Verantwortung für die Schulen in den Kirchgemeinden. Die Aufsicht über die
Schulen wurde Sache der Dorfpfarrer. Sie waren gehalten, teils selber Unterricht zu erteilen.
In seiner Aufsichtsfunktion berichtete der Horgner Dorfpfarrer Nüscheler um 1750 der Stadt
Zürich über den Stand der Gemeindeschule in Horgen. Die Gemeinde Horgen zählte damals
inklusive Hirzel und Oberrieden 2‘600 Einwohner und hatte sieben Schulen.
Die Gemeindeschule war untergebracht in einem Vorgängerbau des Hauses „Windegg“ gegenüber dem Gasthaus „Schwanen“. Die Schule zählte 70-90 Kinder. Einzelne von ihnen kamen schon im vierten Altersjahr, und blieben für 6-8 Jahre. So standen sie bereits etwa 12oder 13-jährig den Eltern zum Arbeiten zur Verfügung. Eine gesetzliche Schulpflicht gab es
noch nicht. Der Pfarrer und die Kirchenpflege konnten die Eltern bloss anhalten, ihre Kinder
in die Schule zu schicken und ihnen periodisch das Schulgeld mitzugeben. Es wurde entrichtet für die Beleuchtung, das Heizen der Schule und teils als Lohnanteil für den Schulmeister.
Für die Schulmeister gab es noch keine Ausbildungsstätte; sie waren Autodidakten. Neben
geschätzten Persönlichkeiten, wie denen an der Gemeindeschule, konnten fahrende Schul-
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meister aller Art oder „verunglückte Pfarrherren“ darunter sein. Oft blieben sie nicht lange.
Die Schulmeister waren in der Regel kaum befähigt, Klassenunterricht zu erteilen. Sie pflegten
meist zeitaufwändigen Einzelunterricht. Der anerkannte Schulmeister der Horgner Gemeindeschule organisierte sich geschickt mit zwei Schwestern als „Gehülfinnen“ und einem Knaben
zum Abhören - dies alles bei gleichzeitigem Unterricht mit 70-90 Kindern in einer Schulstube.
Von einem Schulmeister oder allenfalls einem begabten Schüler wurde zudem erwartet, dass er
sonntags in der Kirche das Amt des Vorsängers übernahm. Zudem hatte der Schulmeister das
Schulhaus zu pflegen, zu heizen und die Schulstube vor- und nachmittags mit Wachholder zu
beräuchern.
Die Fortbildung der Schulmeister wurde als individuelle Aufgabe der Pfarrer als Aufsichtspersonen der Schulen betrachtet. Erst 1771 lag eine „Anleitung für die Landschulmeister“ vor. Sie
konnte allerdings das immer wieder geforderte Lehrerseminar nicht ersetzen, seine Forderung
verhallte vorderhand erneut.
Die Entlöhung der Schulmeister konnte schwanken, Sie hing u.a. ab von den Schulgeldern, welche die Kinder mitbrachten. Daher waren Schulmeister oft zu einem Nebenverdienst gezwungen. Das Jahresgehalt konnte etwa 30 Gulden betragen, teils ausbezahlt in Naturalien.
Der Unterricht: Jeder Unterricht begann mit einem Gebet. Am Morgen wurde meist das Schreiben gelernt, um am Nachmittag dann zu üben, das Geschriebene zu lesen. Aus Sicht des
Horgner Pfarrers Nüscheler „war die Schulzucht milde und verständig“. Er bemerkte in seinem
Bericht überdies: „Früher lernten kaum zehn Schüler schreiben, jetzt fast alle, die Knaben voraus.“ Am meisten Sorgfalt und Zeit erforderten aus seiner Sicht der Unterricht über „die Hauptgründe des evangelischen Glaubens“ und das Auswendiglernen von Gebeten und Psalmen, die
man an Predigttagen in der Kirche sang. Dazu hatte der Schulmeister die Kinder jeweils in die
Kirche zu führen, sie dort im Betragen zu beurteilen und nach dem Gottesdienst über den Inhalt
der Predigt abzufragen.
Gewichtung der Fächer Rechnen und Singen: Diese beiden Fächer wurden nicht im normalen
Unterricht geübt, sondern in der ergänzenden Nachtschule. Dazu hatten die Eltern für die Beleuchtung ein Extra-Schulgeld zu entrichten, sofern sie ihre Kinder in diesen Unterricht schicken
wollten. Die Einsicht in die Notwendigkeit des Rechnens war erst bei den eher aufgeschlosseneren Bürgern gegeben. Die Bauern rechneten ohnehin auf eigene Art (System „Puureföifi“ mit
römischen Zahlen).
Ein Teil der Eltern konnte sich nicht vorstellen, dass die Fähigkeit zum Rechnen ihre Kinder später
in der Fabrik voranbringen könnte. Auch die Obrigkeit, vertreten durch die „Canzley der Stadt
Zürich“, brach keine Lanze fürs Rechnen. Während sie sich zu anderen Themen eher ausführlich
äusserte, begnügte sie sich noch in der „Schul-und-Lehr-Ordnung“ von 1778 nur mit drei dürren
Zeilen: „Was das Rechnen betrifft, so wird den Kindern nach einer guten und leichten Anleitung
dasjenige davon gezeiget, was ihnen nach ihrem Stande nöthig seyn mag.“
Lehrmittel Katechismus: Der Katechismus als Lehrmittel stand noch im 18. Jh. im Mittelpunkt
des zürcherischen Schulalltags. Er war kein eigentliches Schulbuch, sondern eine erbauliche
Lektüre für Erwachsene und Kinder, das die Grundlagen des christlichen Glaubens zu vermitteln
versuchte. Es ging nicht ums Erziehen zum Verstehen der Glaubensinhalte. Die Haupttätigkeit
des Schulmeisters bestand darin, die Kinder die Glaubenssätze auswendig lernen zu lassen und
sie dann zu prüfen. Der Katechismus war dazu wegleitend. Ein Beispiel: Im Katechismus wurden
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die Kinder gefragt: „Was ist dein einiger Trost, im Leben und im Sterben?“ Die Kinder hatten zu
antworten: „Das ewige Leben“.
Umfang der Schulstunden: Die Schule dauerte am Morgen von 08:30 bis 11:00 und nachmittags
von 12:30 bis 15:30, also 5½ Std. Die Nachtschule fand nur im Winter statt von 17:30 bis 20:00
oder bis 20:30. In der Gemeindeschule wurde das ganze Jahr unterrichtet. Schulferien waren
noch nicht bekannt.
Das Schulgeld stand immer wieder zur Diskussion. Abschaffen konnte man es nicht, denn eine
ersatzweise Schulsteuerpflicht fehlte und die Legate von Bürgern reichten nicht aus.
In dieser Zeit wurde einmal pro Woche eine Repetierschule für grössere Kinder eingeführt; sie
war nicht beliebt bei den Schulmeistern, weil die Schüler daran nicht interessiert waren. Wie
man feststellte, litt der Schulbesuch zudem auch zur Zeit der Revolution, denn es kam nur etwa
die Hälfte der Kinder.
Ab 1770 und in der Helvetik (1798) kam die Diskussion auf über den mündigen Bürger und
die Trennung von Kirche und Staat, was zur Haltung führte, die Kooperation von Pfarrer und
Schulmeister sei nicht mehr das Richtige. Die Aufsicht über die Schulen im Kanton ging vom
Kirchenrat an den Erziehungsrat bzw. einer Gemeindebehörde.
Im Jahr 1798 litten besonders die Gemeindeschule und jene in Käpfnach unter Einquartierungen von französischem Militär, das die Schulstuben beanspruchte. Schulmeister und Schüler
mussten sich in die Dachböden zurückziehen und dort ihren Unterricht improvisieren, so gut es
möglich war. Allerdings kam ein Teil der Kinder ohnehin nicht zur Schule, da sie in dieser schweren Zeit für die Eltern dem Bettel nachgingen.
1798 berief die jetzt auf Bundeebene herrschende helvetische Regierung als Bildungsminister
den Berner Stapfer, der zügig die Aufgabe der Volksbildung umschrieb und anpackte, weil „unser kraftvolles, aber bisher vernachlässigtes Volk leicht in Verwilderung übergehen könnte, da
wir nicht wie in Frankreich der Dorfschulen entbehren wollten.“ Die Aufgabe der Volksschule
solle es werden, allen Menschen zu geistiger Eigenständigkeit, zum Selbsturteilen, Selbsthandeln und zur Selbstachtung zu erziehen. Stapfers Ideen und Anträge zur Erneuerung der Schulen
wurden zuerst verwässert, dann abgelehnt.
6.1 Private Schulen in Horgen als Zeichen für individuelle Lösungen
Zeichen wie z.B. die zuvor dargestellte Inkompetenz im Rechnen und teils zu viel kirchlicher
Einfluss waren für anspruchsvolle Eltern Argument genug, für ihre Kinder eine Schule zu suchen,
die gezielter das gewünschte Wissen vermittelte.
Darum betrieb Rudolf Rottenschweiler als Alternative im aufklärerischen Geist ab 1736 eine private Schule bis zu seinem Tod 1806. Er begann damit in einer dunklen Stube und konnte seine
Schule später in der Sust einrichten. In der Folge baute er sein Lehrangebot aus mit Arithmetik,
Französisch, Geografie und Italienisch. Zudem trat er an gegen Unglauben und Aberglauben
und wollte der Vernunft zum Recht verhelfen. Rottenschweiler hatte daneben noch den undankbaren Auftrag der Gemeinde, als „Kommissär der Einquartierungen“ das fremde Militär
den Hauseigentümern zuzuweisen, proportional zu ihrem Vermögen.
Ein zweiter Schul-Gründer, der Sohn des Gemeindeschullehrers Stapfer, eröffnete 1803 eine Privatschule für Junge, die dem Schulalter entwachsen waren und ihre Bildung erweitern wollten.
Als Fächer bot er v.a. Geografie, Französisch und Gesang an. Diese Privatschule war offenbar so
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attraktiv, dass sie auch Schüler aus Nachbardörfern besuchten. 1810 weilten um die 40 Schüler dort. Später sollen unartige ausländische Zöglinge den Schulerfolg beeinträchtigt haben.
1816 eröffnete Heinrich Hüni, Advokat und Lehrer zusammen mit seinem Bruder Andreas
ein Institut. Es hatte die Vorbereitung auf die Handelsberufe und die höheren Lehranstalten
zum Ziel. Bis 1830 absolvierten 240 Schüler aus allen Sprachregionen der Schweiz die Ausbildung von meist 2 bis 3 Jahren, darunter 47 Horgner. Die sprachliche Herkunft der Auswärtigen setzte sich wie folgt zusammen:
Deutschschweizer 156; Französischsprechende 68 (aus Schweiz und Ausland); Italienisch sprechende 20 (aus
Schweiz und Ausland).
Eine Kommission des Zürcher Erziehungsrates gewann vom Institut einen
sehr günstigen Eindruck: Die Schüler
seien musterhaft fleissig. Die Nachfahren der Gründer liessen das Institut
1866 eingehen.
Bild 10: „Dorfschule 1848“, Albert Anker - Quelle: Commons.
Diese privat entstandenen Schulen erfüllten eine wertvolle Aufgabe vor allem in der Zeit, da es weder Sekundarschulen noch eine
Kantonsschule gab.
6.2 Neue Unterrichtsformen der öffentlichen Schule zeichnen sich ab
Der Frontalunterricht in engem Raum war noch üblich. Doch die hohe Schülerzahl und die teils
riesigen Klassen wurden an der Gemeindeschule zunehmend hinter-fragt. So gesehen kann sie
als frühes ‚Denklabor‘ für kreative Schulmeister betrachtet werden. Es wurde erkannt, dass
künftig mehr, aber kleinere Unterrichtsräume nötig sein würden. Die Pläne für das neue Schulhaus ‚Baumgärtli‘, vollendet 1854, trug dem Rechnung. Es nahm zudem auch die zusätzlichen
Kinder auf, die aus Platzgründen vorübergehend von der ‚Windegg‘ in den ‚Löwen‘ ausweichen
mussten. Das ‚Baumgärtli‘ bot nun statt einem grossen Schulraum vier Klassenzimmer und zwei
Lehrerwohnungen.
In dieser Zeit wuchsen teils Schulmeister heran, die ihre reichen Erfahrungen und die Bedürfnisse für die künftigen Schulen artikulieren konnten. Sie erhielten jeweils auch die aktuelle Schulordnung der Zürcher Obrigkeit. Der Einsatz der Dorfpfarrer zugunsten der Schulmeister wurde
spürbar.
Zeichen der Zeit liessen auch in Horgen erkennen, dass die bisherige Art der Schulführung und
das Lehrangebot inhaltlich und methodisch an ein Ende kamen. 1831 wurde erstmals eine Gemeindeschulpflege gewählt, bestehend aus 15 einflussreichen Männern der Gemeinde. Vorsitzender war Pfarrer Freudweiler, seit 27 Jahren in Horgen anerkannt. Die Schulpflege kümmerte sich v.a. auch um Wünsche der Lehrerschaft z. B. die Schaffung einer Jugendbibliothek, die
mit 430 Bänden zustande kam. Die neue Behörde sah in der „Förderung des Schulwesens das
Hauptmittel zur Hebung der wirtschaftlichen Blüte und des allgemeinen Fortschritts.“ Das klang
weniger kirchlich als bisher, doch mit dem Präsidium blieb die Kirche im Schulwesen vertreten.
Gewählt wurde in den vier Schulkreisen: Dorf (5 Sitze), Arn (3), Käpfnach (3) und Berg (3).
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6.3 „1832“ - ein markantes Jahr für die Zürcher Schulen
Der Grosse Rat („Kantonsrat“) beschloss ein europäisch gesehen fortschrittliches Unterrichtsgesetz. Es brachte für Buben und Mädchen die gleiche Elementarbildung. Der Entscheid kam
zustande zur Freude der Liberalen, jedoch zum Ärger der Konservativen; sie fürchteten die Ablösung der Schule von der Kirche und meinten, die Bauernkinder brauchten die neuen Dinge nicht.
Das neue Unterrichtsgesetz brachte:
• für alle Kinder eine sechsjährige Primarschule, die zwischen dem sechsten und zwölften Altersjahr zu besuchen war, im Sommer für 23 und im Winter für 27 Stunden pro Woche;
• für die Schüler des 7. und 8. Schuljahrs eine Repetierschule mit 6 Unterrichtsstunden pro Woche im Winter und 3 Wochenstunden im Sommer (Diese Schule war wegen der Gleichgültigkeit
der Schüler bei den Lehrern nicht beliebt);
• gesetzlich festgesetzte Unterrichtsstunden mit Rücksichtnahme auf das Arbeiten zuhause;
• Ein Jahr später wurden auch die Sekundarschulen auf dem Land gesetzlich verankert;
• Es wurden ein abgestufter Lehrplan, einheitliche Lehrmittel und eine systematische Unterrichtsmethode geschaffen;
• Der Schulstoff wurde weitgehend säkularisiert und ergänzt um Realienfächer wie Geografie,
Geschichte und Naturkunde.
Der Vordenker der ganzen Schulreform war der Württemberger Ignaz Thomas Scherr. Er war
auch der Initiant für ein Lehrerseminar in Küsnacht und ab 1832 sein erster Direktor.
1833 wurde die Dorfschule geteilt in eine Elementar- und eine Realabteilung. Die Realabteilung
wurde als ‚Musterschule‘ ausgestaltet. Die Schülerzahl wuchs rasch. Man musste bei beiden
Schulzweigen die Schulmeister aufstocken.
Für die vierte Schulmeistersynode von 1837 wurden 300 Schulmeister aus dem Kanton zusammengerufen. Dabei zeigte der Seminardirektor Thomas Scherr den Aufhohlbedarf, der für das
Gelingen der Reform noch anzupacken war. Er mahnte ernüchternd:
• zugunsten der Schulen sei „sechs Jahre nach Beginn der Reform noch kein Funken von Verbesserungen oder einer Erleuchtung eingedrungen“;
• Diese Schulen seien meistens in kleinen Ortschaften, wo die kleinen Schüler-zahlen keine Aussicht böten, auf ein genügendes Auskommen und demzufolge nie genügend besetzt werden
können;
• Neben diesen Mini-Schulen gebe es solche, die mit ihrer übermässigen Kinderzahl jeden wirksamen Unterricht verunmöglichten. Wenn ein Lehrer bis 130 Kinder zu unterrichten habe, müsse
er die Gesundheit, die Lust und das Vertrauen verlieren;
• Es würden Lehrmittel-Projekte verschleppt oder blockiert, weil zu viele bis zuletzt mitreden
wollten. So finde sich niemand mehr, der solche Vorhaben bis zum Ende durchziehen wolle.
Ab 1847 konnte die Gemeindeschule Horgen aufatmen. Für ihre auf über 250 angewachsene
Schülerschar wurden vier Lehrerstellen zugestanden.
Heinz Aschmann
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