Stig Förster Hundert Jahre danach. Neue Literatur zum Ersten Weltkrieg One Hundred Years After. New Books on the First World War The following essay reviews some of the most important books that were published at the centenary of the First World War. Among them are monumental books as well as smaller publications. The essay discusses trends and new developments in recent historiography on the Great War. Transnational history has certainly become more prominent. But large monographs on singles countries have not lost their value. Violence in war has developed into an important topic. The impact of the First World War on non-European countries receives more attention. And the international debate on the causes and origins of this war continues with renewed vigour. These new publications demonstrate the high level of research that has been reached in recent years. 1. Ein unruhiges Gedenkjahr Das Jahr 2014 war alles andere als friedlich. In Syrien tobte weiterhin der Bürgerkrieg und verursachte eine humanitäre Katastrophe. In Teilen des Landes und im Irak war der „Islamische Staat“ im Vormarsch und eroberte sogar Mossul. Der offizielle Anführer Abu Bakr al-Baghdadi rief sich selbst zum Kalifen aus, während seine Schergen ein mörderisches Schreckensregime errichteten. Die USA und einige Verbündete griffen mit Luftschlägen ein. Im Nordosten Nigerias wütete die Sekte Boko Haram und griff im Dezember sogar die Nachbarstaaten an. Aber am gefährlichsten waren die Entwicklungen im Osten Europas. Hier drohte ein allgemeiner Krieg durch die kaum verhohlene russische Aggression gegen die Ukraine. Westliche Regierungen, die selbst zur Entstehung dieses Konfliktes beigetragen hatten, gaben sich alle Mühe, einen Flächenbrand zu verhindern und die Krise in der Ukraine einzudämmen. In zähen Verhandlungen arbeiteten vor allem die deutsche und die französische Regierung daran, den russischen Präsidenten Putin zur Mäßigung zu bewegen. Dabei ließen sie den Gesprächsfaden nie abreißen und versuchten ein Mindestmaß an gegenseitigem Vertrauen zu retten. Interessanterweise spielte dabei die Erinnerung an den Ausbruch des Ersten Weltkrieges eine wesentliche Rolle. Damals – vor hundert Jahren – hatten rücksichtslose Machtpolitik, hemmungslose Egoismen und abgrundtiefes gegenseitiges Misstrauen eine allgemeine Katastrophe herbeigeführt. Das sollte sich nicht wiederholen, auch wenn die Welt im Jahre 2014 kein friedlicher Ort war.1 Das Jahr 2014 war eben auch das Erinnerungsjahr an den Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Die Medien überschlugen sich geradezu mit Berichten und Beiträgen über diesen Krieg, es gab eine wahre Flut an Gedenkveranstaltungen in verschiedenen Ländern. Eine Reihe von wissenschaftlichen Kongressen, vor allem in Europa, aber auch in den USA und anderswo, widmete sich diesem Thema. Zahlreiche Publikationen, von denen einige 1 Bezeichnend ist eine amtliche Publikation, die genau diesen Zusammenhang herstellt und zudem Beiträge von prominenten Historikern enthält, die sich an der aktuellen Debatte über den Kriegsausbruch 1914 beteiligten: 1914/2014. Vom Versagen und Nutzen der Diplomatie. Mit Beiträgen von Frank-­ Walter Steinmeier, Christopher Clark, Gerd Krumeich, Kevin Rudd, Laurent Fabius, Adam Krzeminski, Igor Narskij, hrsg. vom Auswärtigen Amt, Berlin 2015. Neue Politische Literatur, Jg. 60 (2015) I 5 hier vorgestellt werden sollen, kamen auf den Markt, denn die Verlage hofften auf ein gutes Geschäft. Nun ist die Aufregung über derartige Jahrestage mitunter etwas merkwürdig. Braucht es wirklich eine runde Jahreszahl, um sich mit dem so bedeutenden Ereignis des Ersten Weltkrieges zu beschäftigen? Und warum war gerade der Erste Weltkrieg das Topthema des Jahres 2014? Genauso gut hätte man sich des 75. Jahrestages des Ausbruchs des Zweiten Weltkrieges erinnern können, was aber kaum geschah. Auch der 200. Jahrestag des Sieges über Napoleon in den Befreiungskriegen wäre ein interessantes Thema gewesen. Es ist jedenfalls nicht ganz klar, welche Mechanismen eigentlich dazu führen, dass ein bestimmtes historisches Ereignis zu einem bestimmten Zeitpunkt in den Mittelpunkt medialer und wissenschaftlicher Aufmerksamkeit rückt. Zumal dies auch noch international geschah, als wenn man sich in irgendwelchen Gremien abgesprochen hätte. Wie auch immer – wir verdanken diesem Trubel nun eine ganze Menge neuer wissenschaftlicher Publikationen zum Ersten Weltkrieg, was aus der Sicht der Geschichtswissenschaft natürlich erfreulich ist. Nach den großen Auseinandersetzungen der 1960er Jahre im Zusammenhang mit der Debatte um die Arbeiten von Fritz Fischer war die Forschung zum Ersten Weltkrieg eine Angelegenheit von Spezialisten geworden, die zwar gelegentlich Aufmerksamkeit erhielt, aber doch im Vergleich zu anderen Themen, namentlich dem Zweiten Weltkrieg, ins Hintertreffen geriet. Dabei erbrachte die geschichtswissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Ersten Weltkrieg durchaus beachtliche und innovative Resultate. Zudem entwickelte sich eine methodische Vielfalt, die viele neue Bereiche erschloss. So gesehen hatte die Forschung bereits vor dem 100. Jahrestag ein hohes Niveau erreicht. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob die Flut der Publikationen im Umfeld des Gedenkjahres 2014 etwas Neues hervorgebracht hat. Gibt es neue Tendenzen und neue Anregungen für die Geschichtswissenschaft? Sind methodische Innovationen erkennbar? Deckt die Forschung jetzt ein breiteres Spektrum und neue Felder ab? Haben wir die national orientierte Geschichtsschreibung endlich in Richtung auf international vergleichende, transnationale Studien überwunden? Und schließlich, wenn der Erste Weltkrieg wirklich ein Weltkrieg war, werden seine globalen Dimensionen nunmehr zur Kenntnis genommen? Die Hauptkampfzonen dieses Krieges lagen natürlich in Europa, denn von dort ging der Krieg aus, und es waren die europäischen Mächte, die an der Front und in der Heimat die Hauptlast trugen. Doch dieser Umstand hat bisher allzu häufig den Blick auf den Rest der Welt verstellt und dabei die enormen Auswirkungen des Ersten Weltkrieges auf andere Regionen des Planeten an den Rand gedrängt.2 Der folgende Literaturbericht erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Zudem wird es nicht möglich sein, den zum Teil extrem umfangreichen Werken (der Rekord für eine Monographie steht bei 1.222 Seiten!) gänzlich gerecht zu werden. Dafür fehlt in dieser Sammelrezension einfach der Platz. Es wird daher nötig sein, Schwerpunkte zu setzen und Trends aufzuzeigen. Kleinere Arbeiten zu Spezialthemen müssen demgegenüber etwas kürzer behandelt werden. Die Leserschaft wird hoffentlich trotzdem einen Eindruck von der Themenfülle und auch den Kontroversen gewinnen, welche die Forschung im Gedenkjahr zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges hervorgebracht hat. 2 Ein krasses Beispiel hierfür stellt der Nahe Osten dar, dessen gegenwärtige Probleme zu einem großen Teil im Ersten Weltkrieg generiert wurden, s. Fromkin, David: A Peace to End All Peace. Creating the Modern Middle East, 1914–1922, André Deutsch, London 1989. 6 I Neue Politische Literatur, Jg. 60 (2015) Stig Förster 2. Christopher Clark – Ende oder Neuauflage der Kriegsschulddebatte? Am meisten Furore machte zweifellos Christopher Clark mit seinem Bestseller über die Entstehungsgeschichte des Ersten Weltkrieges.3 Dabei erschien dieses Buch vor dem Gedenkjahr und leitete somit die folgende Publikationswelle ein. Der relativ frühe Zeitpunkt der Veröffentlichung im Vorfeld der Erinnerung an den Ersten Weltkrieg trug zweifellos dazu bei, dass dieses Buch soviel Aufmerksamkeit gewann. Es war ein geschickter Schachzug des Autors und auch seines deutschen Verlages, der die Publikation der deutschen Übersetzung in Berlin medienwirksam lancierte. Zudem ist der Autor in Deutschland kein Unbekannter. Der über vorzügliche Deutschkenntnisse verfügende Australier hatte vor einigen Jahren mit seinem wunderbar einfühlsamen Buch über Preußen eine breite Leserschaft begeistert.4 Entscheidend für den Erfolg von Clarks neuem Werk ist aber zweifellos dessen Inhalt. Der Text ist elegant geschrieben, spannend zu lesen und in weiten Teilen gut recherchiert. Die akribische Darstellung der Mordtat von Sarajewo zählt zum Besten, was über diesen Vorgang bislang geschrieben worden ist. Wiederholt wartet der Autor mit gut platzierten Stimmungsbildern auf, wie etwa die Bahnreise des jungen französischen Diplomaten Louis de Robien Ende Juli 1914 von Paris nach Sankt Petersburg. Vor allem aber liefert Clark eine provokante Neuinterpretation der Entwicklungen, die zum Kriegsausbruch 1914 führten. Dabei ist es dem Sachverhalt angemessen, dass auf internationaler Ebene vorgegangen wird. Clark eröffnet seine Darstellung mit dem bestialischen Mord an König Alexander und Königin Draga in Belgrad am 11. Juni 1903. Einer der Attentäter war Dragutin Dimitrijevic, der später unter dem Decknamen Apis maßgeblich an der Planung des Anschlags von Sarajewo beteiligt war. Mit dem Königsmord von Belgrad nahm die serbische Politik eine entscheidende Wende. Nun setzten sich radikale Nationalisten durch, die bereit waren, Fanatiker wie Dimitrijevic zu decken. Expansionismus auf Kosten des Osmanischen Reiches und dann auch Österreich-Ungarns wurde zum Programm. Dabei schreckten die serbische Führung und erst recht die Fanatiker nicht vor Mord und Krieg zurück. Für Österreich-Ungarn entstand somit eine tödliche Bedrohung. Mit seiner unorthodoxen Darstellung, die der serbischen Politik eine Schlüsselrolle auf dem Weg in den Ersten Weltkrieg zuspricht, liefert Clark in der Tat einen neuen Interpretationsansatz. Ohne die russische Unterstützung hätten sich die serbischen Nationalisten ihr aggressives Vorgehen niemals erlauben können. Doch, so zeigt der Autor auf, auch in Sankt Petersburg gewannen die Scharfmacher zusehends die Oberhand. Nikolai Hartwig, der zwielichtige russische Botschafter in Belgrad, feuerte die serbischen Nationalisten geradezu an. Allein konnte allerdings auch Russland keinen Krieg mit dem Deutschen Reich riskieren. Hier kam die französische Politik ins Spiel. Clark zeichnet auch diesbezüglich ein düsteres Bild. Innenpolitisch unter Druck steuerte der deutschfeindliche Präsident Raymond Poincaré eigenmächtig einen außenpolitischen Konfrontationskurs und stärkte der Kriegspartei in Sankt Petersburg den Rücken. Großbritannien war Frankreich in der Entente cordiale verbunden, verfügte aber gleichwohl über die Freiheit zum eigenständigen Handeln, denn es bestand ja kein festes Bündnis. Aber die liberalen Imperialisten in der britischen Regierung beobachteten argwöhnisch die aufstrebende deutsche Großmacht. Zugleich sorgten sie sich vor den russischen Expansionsbestrebungen in Zentralasien. In der Julikrise 1914 3 Clark, Christopher: Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog, DVA, München 2013 (engl. 2012). Der Titel hat inzwischen mehr als 20 Auflagen und ist in mehrere Sprachen übersetzt ­worden. 4 Clark, Christopher: Preußen. Aufstieg und Niedergang, 1600–1947, DVA, München 2007 (engl. 2006). Neue Politische Literatur, Jg. 60 (2015) I 7 hintergingen Premierminister Asquith, Außenminister Edward Grey und andere Interventionisten die eigenen Parteifreunde und ergriffen für Frankreich Partei, nicht zuletzt, um Russland zu besänftigen. So kommt Clark zu dem Schluss, dass die Führungen in Sankt Petersburg, Paris und London den furchtbaren Fehler begingen, sich an die Rockschöße serbischer Nationalisten und Fanatiker zu hängen. Und die Mittelmächte? Clark stellt die behäbige und insgesamt doch beschauliche Habsburger Doppelmonarchie geradezu als Opfer der finsteren Machenschaften in Belgrad dar. Nach dem Mordanschlag von Sarajewo, den er mit dem Terroranschlag des 11. September 2001 vergleicht, blieb der Führung in Wien gar nichts anderes übrig, als gewaltsam gegen Serbien vorzugehen. Dies wiederum brachte die deutsche Führung in eine Zwangslage, denn man wollte die verbündete Doppelmonarchie auf keinen Fall im Stich lassen. Aber Kaiser Wilhelm II. und Reichskanzler Bethmann Hollweg hofften zumindest, den unvermeidlichen Krieg gegen Serbien auf dem Balkan zu lokalisieren. Doch angesichts der finsteren Entschlossenheit der russischen und der französischen Führung scheiterte dieses Konzept. In einem allgemeinen Zweifrontenkrieg mussten, wie der Autor meint, die deutschen Militärs die Neutralität Belgiens verletzen. Damit wurde die britische Intervention unausweichlich. Christopher Clark betont ausdrücklich, dass er keine neue Kriegsschulddebatte vom Zaun brechen wolle. Es ginge ihm vielmehr nur darum zu zeigen, wie Europa in den großen Krieg hineinschlitterte. Doch diese Argumentation vermag nicht zu überzeugen. Indem er die Verantwortlichkeiten für die Verursachung dieses Krieges neu verteilt, löst er zwangsläufig eine Debatte über die Frage nach dem Warum und die Suche nach den Kriegstreibern aus. Gerade hier aber zeigt das Buch merkwürdige Schwächen. Während Clark mit viel Aufwand die politischen Vorgänge in Serbien, in Russland, in Frankreich und in Großbritannien recherchiert hat, bleiben seine Ausführungen zu Österreich-Ungarn und dem Deutschen Reich blass. Das aggressive Verhalten der Führungen in Wien und Berlin spielt er in unzulässiger Weise herunter. Er verliert kaum ein Wort über die Kriegstreiber unter den Militärs, in den politischen Führungsetagen und in der Öffentlichkeit. Die Hetzereien von Radikalnationalisten, Militaristen, Imperialisten und bürgerlichen Parteipolitikern sind ihm keine Erwähnung wert. Stattdessen zieht er sich auf eine konventionelle Politik- und Diplomatiegeschichte zurück, die weder den Verhältnissen in Österreich-Ungarn noch im Deutschen Reich gerecht wird. So kann er dann die dortigen Führungen als unglückliche Opfer darstellen, was gerade im Falle von Kaiser Franz Josephs, Kaiser Wilhelms II. und Reichskanzler Bethmann Hollwegs völlig verfehlt ist. Zudem unterschlägt Clark wichtige Forschungsergebnisse der letzten Jahre, die ein düsteres Licht auf das Vorgehen dieser und anderer Persönlichkeiten werfen.5 Doch in weiten Teilen der deutschen Öffentlichkeit kommt Clarks Buch gut an. Im Bewusstsein des Aufstiegs des wiedervereinigten Deutschlands zur europäischen Großmacht schwillt einigen national gesonnenen bürgerlichen Intellektuellen offenbar der Kamm. Mit Clarks Buch, so meinen weite Kreise, kann nun endlich die These von der deutschen Hauptverantwortlichkeit für den Ersten Weltkrieg ad acta gelegt werden. Eine ähnliche Wirkung hatte einige Jahre zuvor ein Buch des britischen Historikers Niall Ferguson, welches die britische Intervention im Ersten Weltkrieg als katastrophalen Fehler für den Bestand des Em­ pires brandmarkte.6 Auch damals freuten sich Teile der Medien über diese Neuinterpretation, 5S. etwa Röhl, John C. G.: Wilhelm II., Bd. 3: Der Weg in den Abgrund, 1900–1941, Beck, München 2008, S. 1.068–1.174. 6 Ferguson, Niall: The Pity of War, Allen Lane, London 1998. Die deutsche Übersetzung ist schlecht und unterschlägt ganze Kapitel, s. ders.: Der falsche Krieg. Der Erste Weltkrieg und das 20. Jahrhundert, DVA, Stuttgart 1999. 8 I Neue Politische Literatur, Jg. 60 (2015) Stig Förster welche die deutsche Vergangenheit ein Stück weit zu entlasten schien. Gerade gegen diese Attitüde liefen jedoch einige Historiker und Journalisten Sturm. Sie unterzogen Clarks Buch heftiger und nicht immer fairer Kritik. Bei all dem ging es nicht nur um Geschichte, sondern um Geschichtspolitik und Vergangenheitsbewältigung.7 Dabei wurde auch das Bemühen vieler Kritiker erkennbar, an den Thesen Fritz Fischers, die sie als Grundbestandteil des bundesrepublikanischen Geschichtsbewusstseins betrachten, nicht rütteln zu lassen.8 Auch wenn Clark sich zweifellos angreifbar gemacht hat, so scheint dieser Rückgriff auf eine in Stein gemeißelte Orthodoxie doch zu weit zu gehen. Die Schwäche in Fischers Arbeiten lag schließlich darin, dass sie ihre Untersuchungen auf die deutsche Politik konzentrierten und die internationale Dimension allenfalls als Folie gelten ließen. Es ist ein Verdienst von Clarks Buch, diese Verengung aufgebrochen zu haben. Insofern hat Clark die Debatte ­vorangebracht. Der Freiburger Historiker Gerd Krumeich ist kein Anhänger der Fischer-Orthodoxie. Er hält Fischers Forschung für überholt. Gleichwohl setzt er sich sehr kritisch mit dem Buch von Christopher Clark auseinander. Vielleicht hat Krumeich sein Buch zu schnell geschrieben, um auf Clark zu antworten und noch im Gedenkjahr veröffentlichen zu können. Dies würde einige kleinere sachliche Fehler erklären, die dem Autor unterlaufen sind. Doch dies tut dem Bravourstück keinen wesentlichen Abbruch.9 Krumeich analysiert auf der Grundlage des neuesten Forschungsstandes den Verlauf der Julikrise und fügt fünfzig Schlüsseldokumente zur Untermauerung seiner Argumentation an. In seiner Einleitung stellt er programmatisch fest, dass es während der Krise um das Funktionieren des internationalen Mächtesystems, um Gleichgewicht, Vorrang und Zukunftsperspektiven ging. Selbstverständlich stellt Krumeich in einem ersten Kapitel die Rahmenbedingungen vor, aus denen heraus sich die Krise des Sommers 1914 entwickelte. Anders als Clark zeigt er dabei nicht nur die diplomatischen Entwicklungen auf, sondern geht auch auf die innenpolitische Stimmungslage, die militärischen Absprachen und die Kriegstreibereien gerade im Deutschen Reich ein. Hinsichtlich der Vorstellungen von einem zukünftigen Großkrieg vertritt Krumeich die dezidierte Ansicht, dass trotz verschiedentlich geäußerter Warnungen sich niemand wirklich ein Bild vom Ausmaß einer derartigen Katastrophe machen konnte. Hätten die Entscheidungsträger in der Julikrise gewusst, was sich zwei Jahre später bei Verdun und an der Somme abspielen würde, so hätten sie wohl anders gehandelt. Das ist eine kühne These, über die man streiten kann. Der Rezensent sieht die Dinge anders und hat schon mehrfach geschrieben, dass gerade auch führende deutsche Militärs sich der Gefahr durchaus bewusst waren und wiederholt ernste Warnungen verlauten ließen. Doch die politische Führung ging trotzdem aufs Ganze.10 Unterschiedliche Auffassungen sind aber in jedem Fall die Grundlage der geschichtswissenschaftlichen Debatte. 7 Siehe dazu die Kommentare von John C. G. Röhl: Jetzt gilt es loszuschlagen!, in: Die Zeit, 1. Juni 2014, URL: <http://www.zeit.de/2014/22/erster-weltkrieg-kriegsschuld-deutsches-reich> und Volker Ullrich: Nun schlittern sie wieder, in: Die Zeit, 24. Januar 2014, Nr. 4, URL: <http://www.zeit.de/2014/04/ erster-weltkrieg-clark-fischer> [Zugriff beide: 16.06.2014]. 8 S. hierzu die Standwerke Fischer, Fritz: Griff nach der Weltmacht. Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschland 1914/18, Droste, Düsseldorf 1961; ders.: Krieg der Illusionen. Die deutsche Politik von 1911 bis 1914, Droste, Düsseldorf 1969. 9 Krumeich, Gerd: Juli 1914. Eine Bilanz, Schöningh, Paderborn u. a. 2014. 10 Förster, Stig: Der deutsche Generalstab und die Illusion des kurzen Krieges, 1871–1914. Metakritik eines Mythos, in: Militärgeschichtliche Mitteilungen 54 (1995), H. 1, S. 61–98; ders.: Russische Pferde. Die deutsche Armeeführung und die Julikrise 1914, in: Müller, Christian Th./Rogg, Matthias (Hrsg.): Das ist Militärgeschichte. Probleme – Projekte – Perspektiven, Schöningh, Paderborn u. a. 2013, S. 63–82. Neue Politische Literatur, Jg. 60 (2015) I 9 Im Hinblick auf die russische, französische und britische Politik in der Julikrise vertritt Krumeich durchaus ähnliche Positionen wie Clark, wenn er auch den russischen Außenminister Sasonow vor dem Vorwurf in Schutz nimmt, ein Bellizist gewesen zu sein. Auch darüber kann man streiten. Einen wirklichen Kontrapunkt zu Clark setzt Krumeich hinsichtlich der deutschen Politik. Zwar lehnt er Fischers radikale These ab, in Berlin sei der Krieg von langer Hand geplant worden, doch er macht unmissverständlich klar, dass die deutsche Führung ad hoc eine ausgesprochen aggressive Politik betrieben habe und somit eine erhebliche Verantwortung für die Verursachung des Krieges trug. Sehr interessant und bedenkenswert ist sein Umgang mit der altbekannten Lokalisierungsthese. Demnach hätte vor allem Reichskanzler Bethmann Hollweg sich bemüht, den kriegerischen Konflikt auf Österreich-Ungarn und Serbien zu beschränken. Laut Krumeich war dies aber ein extrem riskantes Vabanque-Spiel, das darauf hinauslief, die anderen Mächte zu erpressen, damit sie der Habsburger Monarchie erlaubten, Serbien zu vernichten. Dabei scheute Bethmann auch vor dem Risiko eines allgemeinen Krieges nicht zurück. Als die anderen Mächte aber sich nicht erpressen ließen, wurde die Katastrophe unvermeidlich. Bei all dem habe die deutsche Führung jedoch nicht aus Weltmachtambitionen heraus agiert, sondern auf der Grundlage einer ausgeprägten Zukunftsangst. So bestand nachweislich die Befürchtung, man könne angesichts der Einkreisung durch die Entente früher oder später als Verlierer im europäischen Machtpoker dastehen. Im Hinblick auf die Verursachung des Weltkrieges stellt Krumeichs Buch sicherlich einen bedeutsamen Beitrag dar. Will man Christopher Clark nicht unwidersprochen lassen, so muss man auf dieses Werk zugreifen. Hier werden die Perspektiven zurechtgerückt. Natürlich gehen auch viele der hier noch zu besprechenden Bücher auf die Ursachen des Ersten Weltkrieges ein. Doch die gegensätzlichen Argumente Clarks und Krumeichs sind sicherlich die prägnantesten. Bei all dem fällt jedoch eine Grundkonstante auf, die geradezu deprimierend wirkt. Es ist im Rückblick erschreckend, mit welch bedenkenloser Leichtfertigkeit die damaligen Entscheidungsträger mit dem Schicksal von Millionen spielten. Wenn sie von Machtinteressen, Ehre, Prestige und dergleichen sprachen, meinten sie vor allem ihre eigenen Ansprüche. Die Völker waren nur dazu da, das ‚Menschenmaterial‘ für den Krieg zu liefern. Diese systembedingte Verantwortungslosigkeit harrt noch immer der Erklärung. Es handelte sich um stark ausgeprägte Klassengesellschaften, in denen die herrschenden Eliten sich für die Masse des Volkes nur interessierten, wenn deren Mobilisierung für den Rückhalt der Machtspiele notwendig wurde. So wurde die Öffentlichkeit in allen europäischen Mächten über die Zusammenhänge, die zum Krieg führten, systematisch belogen. Es ist schade, dass der Geschichtswissenschaft der Sinn für den Klassencharakter der damaligen Gesellschaften verloren gegangen ist. Das Buch von Jürgen Kocka, welches vor Jahrzehnten diesem Phänomen am Beispiel des Deutschen Reiches nachging, wird heutzutage jedenfalls kaum noch rezipiert.11 Im Zeitalter des Neoliberalismus scheint es wohl nicht mehr angebracht, sich einer Terminologie zu bedienen und Fragen zu stellen, die gefährlich nach Marxismus klingen. Das heißt aber noch lange nicht, dass solche Überlegungen gänzlich überholt wären. 11 Kocka, Jürgen: Klassengesellschaft im Krieg. Deutsche Sozialgeschichte 1914–1918, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1973. 10 I Neue Politische Literatur, Jg. 60 (2015) Stig Förster 3. Gesamtdarstellungen zum Ersten Weltkrieg – Gibt es Neuigkeiten? Gesamtdarstellungen zur Geschichte des Ersten Weltkrieges hat es seit den 1920er Jahren immer wieder und in vielen Ländern gegeben. Darunter waren wahrhaft monumentale offiziöse Werke.12 Aber es wurden auch handlichere Darstellungen von Kennern der Materie publiziert.13 Die ältere Literatur widmete sich vor allem den politischen Vorgängen und den militärischen Operationen, wobei Letzteres eine recht ermüdende Lektüre lieferte. Doch wie hat sich die Forschung zum Ersten Weltkrieg über die Jahrzehnte verändert! Inzwischen ist sie von einem ganzen Kaleidoskop verschiedenartiger methodischer Ansätze geprägt. Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Kulturgeschichte, Geschlechtergeschichte, Alltagsgeschichte und transnationale Zugänge haben die Forschung revolutioniert. Sogar die Militärgeschichte ist um den Blick von unten bereichert worden und konzentriert sich nicht mehr ausschließlich auf die Aktivitäten von Kommandeuren und ihren Stäben. Auch die Di­plomatiegeschichte ist um eine neue Dimension, nämlich die Mentalitätsgeschichte, erweitert worden. Da stellt sich natürlich die Frage, wie Gesamtdarstellungen im Gedenkjahr 2014 noch mit dieser Reichhaltigkeit umgehen können. Ist diese Aufgabe überhaupt zu bewältigen? Die Publikationen dieses Jahres haben hierfür recht interessante Lösungen gefunden. Mit großem Geschütz ist Cambridge University Press aufgefahren.14 Der Rezensent muss diesbezüglich etwas Zurückhaltung üben, weil er selbst zu diesem Projekt beigetragen hat.15 Doch unabhängig davon ist zu konstatieren, dass es sich hierbei um eine der herausragenden Publikationen im Gedenkjahr 2014 handelt. Der Herausgeber Jay Winter hat in der für ihn typischen Mischung aus Charme und Strenge sein Autorenteam zu Höchstleistungen animiert. Zudem ist es ihm gelungen, prominente internationale Fachleute für das Projekt zu gewinnen. Zu ihnen zählen Volker R. Berghahn, Jean-Jacques Becker, Annette Becker, John Horne, Alan Kramer, Stéphane Audoin-Rouzeau, Paul Kennedy, Georges-Henri Soutou, Dittmar Dahlmann, Richard Bessel, Gerd Krumeich, Joanna Bourke, Holger Afflerbach, der Herausgeber selbst und viele andere mehr. Auf dieser Grundlage war es möglich, eine breite Themenpalette abzuhandeln und dabei die methodische Vielfalt der modernen Geschichtswissenschaft widerzuspiegeln. Auffallend ist zudem, dass im Unterschied zu anderen Sammelwerken die Einzelbeiträge nicht etwa länderspezifisch ausgerichtet sind, sondern grundsätzlich transnational vorgehen. Dies ist zukunftsweisend und verleiht dem Werk eine besondere Note. Der erste Band eröffnet mit einem narrativen Zugang, der die Ursachen und den Verlauf des Krieges und seiner einzelnen Phasen im Überblick darstellt. Es folgen Analysen zu den verschiedenen Kampfzonen, also etwa Ost- und Westfront, See- und Luftkrieg und das Problem der strategischen Führung. Besonders hervorzuheben sind die Beiträge zur globalen Dimension des Krieges, die auch die Vorgänge in Nord- und Südamerika, in Asien und Afrika beleuchten. Dabei wird deutlich, dass es sich um einen 12 Als Beispiel hierfür s. etwa: Der Weltkrieg 1914 bis 1918, bearbeitet im Reichsarchiv, 14 Bde., 2 Zusatzbände, Mittler, Berlin 1925–1944. Auch in Australien entstand ein vergleichbares Werk, s. O’Neill, Robert (Hrsg.): The Official History of Australia in the War of 1914–1918, 11 Bde., Australian War Memorial, Canberra 1921–1936. 13 So zum Beispiel Liddel Hart, Basil: The Real War, 1914–1918, Faber, London 1930; Herzfeld, Hans: Der Erste Weltkrieg, DTV, München 1968. Umfangreicher, immer noch informativ und wegen der alternativen Interpretationsansätze lesenwert ist die Anfang der 1970er Jahre in der DDR veröffentlichte Gesamtdarstellung, die nach der Wende überarbeitet und neu aufgelegt wurde: Klein, Fritz (Hrsg.): Deutschland im ersten Weltkrieg, 3 Bde., Leipziger UV, Leipzig 2004. 14 Winter, Jay (Hrsg.): The Cambridge History of the First World War, 3 Bde., Cambridge UP, Cambridge 2014. 15 Förster, Stig: Civil-Military Relations, in: ebd., Bd. 2: The State, S. 91–125. Neue Politische Literatur, Jg. 60 (2015) I 11 veritablen Weltkrieg handelte, der auch außerhalb der unmittelbaren Kampfzonen enorme Auswirkungen hatte. Der Erste Weltkrieg zeigte aber auch deutliche Tendenzen in Richtung auf den Totalen Krieg.16 Darunter hatte die Achtung des internationalen Rechts und des Kriegsvölkerrechts zu leiden.17 Ein ganzes Kapitel ist diesem Thema gewidmet und beschäftigt sich dabei mit Gräueltaten, Kriegsverbrechen und Völkermord. Der zweite Band geht noch mehr in die Tiefe. Er behandelt zunächst das Problem politischer Macht von Staatsoberhäuptern, Regierungen bis hin zu Revolutionären. Sodann werden die am Krieg beteiligten Streitkräfte untersucht. Dabei geht es unter anderem um den charakteristischen Maschinenkrieg, aber auch um Meutereien und den Umgang mit Kriegsgefangenen. Die wirtschaftlichen und finanziellen Aspekte, die von zentraler Bedeutung waren, kommen ebenfalls nicht zu kurz. Dieses Kapitel behandelt auch die Rolle von Arbeitern, Stadt- und Landbevölkerung, Wissenschaftlern und des Wirtschaftskrieges insgesamt. Die Suche nach einem Ausweg aus dem nicht enden wollenden Krieg ist das Thema eines weiteren Kapitels in diesem Band. Pazifisten waren in einer verzweifelten Lage. Diplomaten rangen erfolglos um eine Lösung. Als dann doch Frieden geschlossen wurde, bedeutete dies nicht das Ende der Gewalt. In vielen Regionen wurde weitergekämpft, und nur zwanzig Jahre später brach ein neuer Weltkrieg aus. Der dritte Band präsentiert dann die modernsten methodischen Zugänge zur Auseinandersetzung mit dem Ersten Weltkrieg. Die Auswirkungen des Krieges auf das private Leben von Paaren, Kindern und Familien werden ebenso ausführlich thematisiert wie der kriegsbedingte Wandel der Geschlechterbeziehungen. Vielleicht wäre noch ein Beitrag zur Rolle der Homosexualität im Krieg angebracht gewesen. Sehr interessant ist das Kapitel über bedrohte Bevölkerungsgruppen von Flüchtlingen, über Minderheiten bis hin zu internierten Zivilpersonen. Auch die Medizingeschichte des Ersten Weltkrieges, die in den letzten Jahren besser erforscht wurde18, erhält ein eigenes Kapitel. Das gleiche gilt für die Kulturgeschichte des Krieges. Abschließend widmet sich ein Kapitel den menschlichen Konsequenzen des Krieges und der Erinnerungskultur. Es versteht sich von selbst, dass der Umfang und die Themenvielfalt dieses monumentalen Werkes nicht zur kontinuierlichen Lektüre einladen. Stattdessen handelt es sich um eine wahre Fundgrube von herausragenden Beiträgen zu vielen Aspekten des Krieges. Kaum ein Thema wird ausgelassen, sodass der Leserschaft die Möglichkeit geboten wird, sich zu Spezialbereichen zu informieren. Die kommentierten Bibliographien der einzelnen Beiträge sind zusätzlich hilfreich. Und doch kann selbst dieses Werk den monströsen Ersten Weltkrieg nicht vollständig wiedergeben. Es ist vielleicht ein Nachteil des transnationalen Zugangs, dass er die Autorenschaft zwingt, bei der vergleichenden Analyse die einzelnen Länder relativ knapp abzuhandeln. Dabei geht ein wenig die Tiefenschärfe verloren. Doch das ist unvermeidbar. So aber bietet die „Cambridge History of the First World War“ eine wichtige Ergänzung zu länderspezifischen Einzelstudien. Denn gerade im Vergleich werden Besonderheiten deutlich und aus dem Detail gewonnene Verallgemeinerungen relativiert. Kann also die klassische Monographie das Gesamtbild des Ersten Weltkrieges immer noch besser nachzeichnen? Das Gedenkjahr hat jedenfalls mehrere Versuche gesehen. Herausragend ist in diesem Zusammenhang zweifellos das immerhin 1.157 Seiten umfassende 16 S. hierzu Chickering, Roger/Förster, Stig (Hrsg.): Great War, Total War. Combat and Mobilization on the Western Front, 1914–1918, Cambridge UP, Cambridge 2000. 17 S. hierzu neuerdings Hull, Isabel V.: A Scrap of Paper. Breaking and Making International Law During the Great War, Cornell UP, Ithaca, NY 2014. 18 Siehe etwa Eckart, Wolfgang U.: Medizin und Krieg. Deutschland 1914–1924, Schöningh, Paderborn u. a. 2014. 12 I Neue Politische Literatur, Jg. 60 (2015) Stig Förster Buch von Jörn Leonhard.19 Es handelt sich um eine wahrhaft polyglotte Studie. Als kluger Intellektueller belässt der Autor es keineswegs bei einer Nacherzählung des Krieges und seiner Verästelungen. Vielmehr entwickelt er zu jedem von ihm behandelten Thema Überlegungen und Einsichten mit großem Tiefgang. So entsteht eine extrem dichte Analyse, die zum Nachdenken anregt und neue Erkenntnisse liefert, allerdings kommen die außereuropäischen Kriegsschauplätze und der Krieg zur See definitiv zu kurz. Intensiv setzt sich der Autor mit der Verursachung des Krieges auseinander. Sorgsam wägt er die strukturellen Rahmenbedingungen, die Handlungsspielräume und das Vorgehen der Entscheidungsträger ab. Er kommt dabei zu dem Schluss, dass dieser Krieg und seine Eskalation keineswegs alternativlos waren. Es handelte sich um eine fundamentale Vertrauenskrise, die sich nicht mehr ausgleichen ließ. Hinzu kam das Prestigedenken der Entscheidungsträger, welches die Lage verschärfte und sie zu unvorsichtigem Handeln verleitete. All dies sind bedenkenswerte Überlegungen. Doch verharrt Leonhard zu sehr im Allgemeinen und Grundsätzlichen, um die Verantwortlichkeiten klar und deutlich festzumachen. Clark und Krumeich sind diesbezüglich konkreter. Demgegenüber präsentieren die folgenden Abschnitte, die sich mit den Panoramen des August 1914, dem anlaufenden Maschinenkrieg, dem Soldatsein im Massenkrieg und der Gewalterfahrung beschäftigen, geradezu glänzende Analysen. Überhaupt gelingt es Leonhard, einfühlsam, klug und kenntnisreich die finstere Realität des Krieges auszuleuchten. Sowohl Kampffront als auch Heimatfront befinden sich dabei in seinem Blickfeld. Schließlich war es eines der Hauptmerkmale des Ersten Weltkrieges, dass er die Trennlinien zwischen Militär und Zivilgesellschaft aufzulösen begann. So arbeitet sich Leonhard durch die vier Jahre dieser gewaltigen Katastrophe, die von den Zeitgenossen auch als solche empfunden wurde. Im Kriegsjahr 1917 angelangt, werden die Revolutionen in Russland und der Kriegseintritt der USA zu zentralen Themen der Darstellung. Der Staatszerfall in Russland und der Übergang zum Bürgerkrieg werden dabei genauso gekonnt und überlegt abgehandelt wie die Mobilisierung innerhalb der USA. Das Russische Reich entwickelte sich dabei zu einem Gewaltraum erschreckenden Ausmaßes. Hier wie auch anderswo endete der Krieg nicht mit dem Waffenstillstand vom November 1918. Leonhard weist nachdrücklich darauf hin, dass die Friedensregelungen keineswegs Stabilität brachten, sondern die gewaltsamen Auseinandersetzungen an vielen Orten fortdauerten. Selbst die Frage von Sieg und Niederlage blieb für alle Beteiligten letztlich offen. Und schließlich wurden die Folgen des Ersten Weltkrieges zu einer schweren globalen Hypothek im restlichen 20. Jahrhundert. Sicherlich zählt Leonhards umfangreiches Buch zu den besten Gesamtdarstellungen, die zum Gedenkjahr erschienen sind. Es zeichnet sich auch durch den innovativen Zugang aus. Doch andere, weniger ambitionierte Arbeiten brauchen den Vergleich nicht zu scheuen. Hervorzuheben ist hierbei das neue Buch von Oliver Janz.20 Im Hinblick auf die Verursachung des Krieges ist er mit Gerd Krumeich weitgehend einer Meinung. Es war vor allem die Risikostrategie der deutschen Regierung, die den Krieg herbeiführte. Wie Leonhard so betont auch Janz, dass der Krieg keineswegs 1918 endete, sondern insbesondere im Osten bis 1923 in verschiedenen Formen weiterlief. Diese Feststellung zählt denn auch zu den wichtigen innovativen Einsichten, welche im Gedenkjahr vorgebracht wurden. Überhaupt bewegt sich Janz nicht auf ausgetretenen Pfaden. So überschreibt er seine Kapitel mit verschiedenen Charakterisierungen von Wandel und Eskalation des Krieges: Industrieller Krieg, Entgrenzter Krieg, Globaler Krieg, Kulturkrieg und Totaler Krieg. Jede dieser Überschriften 19 Leonhard, Jörn: Die Büchse der Pandora. Geschichte des Ersten Weltkriegs, Beck, München 2014. 20 Janz, Oliver: 14. Der Große Krieg, Campus, Frankfurt a. M. u. a. 2013. Neue Politische Literatur, Jg. 60 (2015) I 13 ist Programm und wird transnational vergleichend und kenntnisreich mit Inhalt gefüllt. Gerade die globale Dimension dieses Krieges nimmt er verstärkt ins Blickfeld. Dieser Aspekt wird in der Forschung häufig stiefmütterlich behandelt, da sich die Aufmerksamkeit zumeist auf den europäischen Hauptkriegsschauplatz konzentriert. Dabei handelte es sich doch um einen wahren Weltkrieg, der auch außereuropäische Regionen verwüstete. Es ist erfreulich, dass Janz diesem Thema seinen gebührenden Platz einräumt. Ähnlich bedeutsam ist Janz’ Auseinandersetzung mit den Tendenzen zur Totalisierung des Krieges. Janz fügt hier dem vorhandenen Forschungsstand interessante Überlegungen hinzu, wenn er zum Beispiel darauf verweist, dass der aufkeimende Antisemitismus in Verbindung mit der Totalisierung des Krieges stand. Insgesamt hat Oliver Janz ein überzeugendes, informatives und anregendes Buch vorgelegt, das gegenüber Leonhards voluminösem Opus den Vorteil besitzt, etwas griffiger zu sein. Noch viel schmaler ist das Buch der französischen Historikerin Elise Julien.21 Das heißt aber nicht, dass diese Arbeit zu verachten wäre. Vielmehr handelt es sich um einen konzisen Essay, der auf knappem Raum sehr viel Information liefert und den neuesten Forschungsstand referiert. Allerdings beschränkt sich die Autorin ausschließlich auf Europa. Dafür setzt sie sich intensiv und gekonnt mit der Geschichte der Geschichtsschreibung zum Ersten Weltkrieg auseinander. Für die Leserschaft liefert dies einen nützlichen Überblick. Auch in der relativ umfangreichen Schlussbetrachtung über die Ergebnisse und die Bedeutung des Ersten Weltkrieges zeigt sie vor allem die verschiedenen Forschungskontroversen auf. All dies passt denn auch gut in die Reihe „Kontroversen um die Geschichte“, in der das Buch erschienen ist. Der emeritierte Wiener Geschichtsprofessor Wolfdieter Bihl hat eine Überblicksdarstellung vorgelegt, die eher den Charakter einer kleiner Enzyklopädie trägt.22 Tiefer gehende Analysen liefert das Buch nicht. Auch kann es nicht annähernd mit der vor Jahren von Gerhard Hirschfeld, Gerd Krumeich und Irina Renz herausgegebenen großen Enzyklopädie konkurrieren.23 Aber es hat immerhin den Vorteil, handlich zu sein und schnelle Informationen zu liefern. Gesamtdarstellungen sind durchweg mit dem Problem konfrontiert, dass sie auf dem vorhandenen Forschungsstand basieren. Archivstudien sind in diesem Kontext nur in den seltensten Fällen und allenfalls punktuell möglich. Somit hängt ihre innovative Qualität vor allem von den intellektuellen Fähigkeiten der Autorinnen und Autoren ab. Die Cambridge „History of the First World War“ hat hier immerhin das Privileg, mit enormem Aufwand eine große Gruppe von internationalen Fachleuten versammeln zu können, um neue Beiträge zu generieren. Doch auch diese Beiträge beruhen, neben dem zweifellos vorhandenen Fachwissen, primär auf der Auswertung der Literatur. Letzteres gilt noch in viel stärkerem Maße für die erwähnten Monographien. Und trotzdem liefern diese Texte spannende Neuinterpretationen, neue Informationen und Anregungen für die weitere Forschung. Man kann also mit den im Umfeld des Gedenkjahres publizierten Gesamtdarstellungen durchaus zufrieden sein.24 21 Julien, Elise: Der Erste Weltkrieg, WBG, Darmstadt 2014. 22 Bihl, Wolfdieter: Der Erste Weltkrieg, 1914–1918. Chronik – Daten – Fakten, Böhlau, Wien u. a. 2010. 23 Hirschfeld, Gerhard/Krumeich, Gerd/Renz, Irina (Hrsg.): Enzyklopädie Erster Weltkrieg, Schöningh, Paderborn u. a. 2003. 2014 erschien die dritte, erweiterte Ausgabe der Enzyklopädie. 24 Leider hatte der Rezensent nicht die Möglichkeit, die sicherlich interessante Gesamtdarstellung von Herfried Münkler zu besprechen, weil der Verlag trotz mehrfacher Aufforderung kein Rezensionsexemplar zur Verfügung stellte. Vgl. Münkler, Herfried: Der Große Krieg. Die Welt 1914 bis 1918, Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2013. 14 I Neue Politische Literatur, Jg. 60 (2015) Stig Förster 4. Österreich-Ungarns letzter Krieg Die österreichische Geschichtswissenschaft hat sich jahrzehntelang, vor allem nach 1945, um den Untergang der Habsburger Monarchie und die gesellschaftlichen Auswirkungen des Ersten Weltkrieges in diesem Imperium wenig gekümmert. Das hat sich in der Zwischenzeit fundamental geändert. Es ist deshalb besonders spannend, gerade diese historiographische Entwicklung zu beobachten, denn die verspätete Aufarbeitung unter den Bedingungen der modernen Geschichtswissenschaft bringt hochinteressante Resultate hervor. Dabei wird bislang wenig bekanntes Terrain betreten. Zudem aber liefern diese Forschungsergebnisse neue Einsichten für das Gesamtbild des Ersten Weltkrieges. Vor mehr als zwanzig Jahren hat der prominente österreichische Historiker Manfred Rauchensteiner gewissermaßen die Rolle eines Eisbrechers unternommen, als er seine grundlegende Studie zum Untergang der Doppelmonarchie im Ersten Weltkrieg vorlegte.25 Rechtzeitig zum Gedenkjahr hat er nun eine neue Variante dieses Mammutwerkes veröffentlicht, das mit 1.222 Seiten umfangmäßig wohl den Vogel unter den aktuellen Monographien zum Ersten Weltkrieg abschießt.26 Dabei handelt es sich aber nicht um eine simple Neuauflage des früheren Werkes, sondern um eine Neuinterpretation auf der Grundlage intensiver weiterer Archivstudien. War das frühere Werk Rauchensteiners noch so etwas wie ein trauriger Abgesang auf die untergegangene Doppelmonarchie, so ist das neue Buch sehr viel schärfer im Ton. Rauchensteiner bietet sogar sensationelle Neuigkeiten. Bislang wurde in der Forschung die Rolle, die der greise Kaiser Franz Joseph spielte, marginalisiert. Er galt als Randfigur, die kaum noch auf Entscheidungsprozesse in seinem Reich Einfluss nahm. Als Hauptkriegstreiber während der Julikrise wurden vielmehr Außenminister Graf Berchtold und Generalstabschef Conrad von Hötzendorf ausgemacht. Doch aufgrund seines Quellenmaterials kommt Rauchensteiner nun zu einem ganz anderen Schluss. Bis zu seinem Ableben im Jahre 1916 hielt der Kaiser die Fäden fest in der Hand. Ja, er war geradezu eine Schlüsselfigur. So war er unmittelbar nach dem Attentat von Sarajewo fest zum Krieg gegen Serbien entschlossen, ohne Rücksicht auf die möglichen Folgen. Seinen Ministern und dem Militär überließ er die Ausführung dieser Entscheidung, weshalb er es auch nicht für nötig erachtete, an den bedeutsamen gemeinsamen Ministerratssitzungen vom 7. und 19. Juli 1914 teilzunehmen. Rauchensteiners Befund entkräftet so entscheidend die Darstellung Christopher Clarks, wonach Österreich-Ungarn das Opfer feindseliger Intrigen war. Doch wie kam es zu diesem Beschluss des Kaisers? Rauchensteiner zeichnet einleitend ein düsteres Bild über die Zustände innerhalb der Doppelmonarchie. Aufgrund seiner Verfassungsstruktur, dem Dualismus zwischen Wien und Budapest, sowie den zentrifugalen Tendenzen unter den anderen neun Nationalitäten war das Reich faktisch unregierbar geworden. Auch wenn es weiten Teilen der Wirtschaft gut ging, war der Staat arm und schwach. Den dringend nötigen Reformen standen insbesondere die ungarischen Eliten im Wege. Dem Reich drohte der Zerfall. Nur ein Krieg schien einen Ausweg aus der verfahrenen Situation zu bieten. Gerade im Bürgertum machte sich deshalb ein ausgesprochener Bellizismus breit. Kaiser Franz Joseph war denn auch der Überzeugung, dass das Land – wenn schon – dann in ‚Ehren‘ untergehen solle. Seine Paladine assistierten ihm bei dieser Inszenierung des Untergangs. Auch hier zeigt sich einmal mehr, wie bedenkenlos die Führungseliten Europas mit dem Leben von Millionen spielten. 25 Rauchensteiner, Manfred: Der Tod des Doppeladlers. Österreich-Ungarn und der Erste Weltkrieg, Styria, Graz u. a. 1993. 26 Ders.: Der Erste Weltkrieg und das Ende der Habsburgermonarchie 1914–1918, Böhlau, Wien u. a. 2013. Neue Politische Literatur, Jg. 60 (2015) I 15 Dabei war Österreich-Ungarn auf einen großen Krieg schlecht vorbereitet. Die Armee war in keinem guten Zustand, die Bürokratie war chaotisch und gleichwohl dominant, die Infrastruktur war mangelhaft und die Loyalität vieler Bürger, insbesondere unter den nationalen Minderheiten, war zweifelhaft. Die operativen Planungen des Generalstabs waren unausgegoren und unrealistisch. Mit der serbischen Armee stand ein überraschend starker Gegner gegenüber. Das Eingreifen Russlands drohte eine Katastrophe herbeizuführen. Dementsprechend setzte es nach Kriegsbeginn schwere Niederlagen mit hohen Verlusten. Die k. u. k. Armee reagierte mit Brutalität. In den besetzten Gebieten Serbiens kam es zu regelrechten Massakern. Rauchensteiner spricht die Gräuel rückhaltlos an. Er weist auch darauf hin, dass das Militär im Innern mit Billigung des Kaisers eine harte Diktatur errichtete, die nicht davor zurückschreckte, mit Gewalt gegen angebliche oder tatsächliche Aufrührer vorzugehen. Es kam zu Massenverhaftungen, Deportationen und Hinrichtungen. Vor allem der österreichische Landesteil entwickelte sich zum Polizeistaat. Auch während des Krieges nutzte der Kaiser in unheilvoller Weise seine Machtbefugnisse. Aufmerksam verfolgte er die militärischen Operationen. Seine Personalpolitik war verstockt und verfehlt. Den inkompetenten Generalstabschef Conrad von Hötzendorf beließ er ebenso im Amt, wie unfähige und überalterte Minister. Und er mischte sich immer wieder ein. Es war vor allem Franz Joseph, der trotz inständigem Bitten deutscher Stellen sich standhaft weigerte Italien entgegenzukommen, um einen Kriegseintritt dieses Landes auf der Seite der Gegner zu verhindern. Als Franz Joseph am 21. November 1916 endlich verstarb, war das Land ruiniert, herrschte weit verbreiteter Hunger, war die Armee nur noch ein Schatten früherer Tage und war die Doppelmonarchie zum Vasallen des Deutschen Reiches herabgesunken. Sein reformwilliger Nachfolger, Kaiser Karl, konnte trotz aller Bemühungen den Untergang nicht mehr abwenden. Letztlich aber, so Rauchensteiner, ging das Reich nicht am Krieg, sondern am Dualismus zugrunde. Rauchensteiners Darstellung bewegt sich aber keineswegs nur auf der Ebene der hohen Politik. Er ist eigentlich Militärhistoriker, was man seinen gekonnten Ausführungen über die militärischen Operationen (auch zur See) aus k. u. k. Sicht anmerkt. Zudem aber setzt er immer wieder zu einfühlsamen und detailreichen Ausführungen über das Leben der Menschen im Krieg, die Verhältnisse an der Front und in der Heimat, den wirtschaftlichen und finanziellen Niedergang und ähnliche Themen an. Und schließlich demonstriert der Autor erneut seine große Erzählkunst. So kann man von einem Meisterwerk sprechen, welches eine breite Leserschaft verdient. Aber Rauchensteiner steht keineswegs allein in der wachsenden österreichischen Forschungsgemeinde zum Ersten Weltkrieg. Christa Hämmerle etwa ist seit Jahren einer der führenden Köpfe in diesem Metier. Sie ist allerdings Repräsentantin eines alternativen Konzepts, das sich besonders der Militärgeschichte von unten und der Geschlechtergeschichte widmet. Sie hat im Umfeld des Gedenkjahrs gleich zwei Bücher präsentiert. Das erste Buch ist eine Quellensammlung von Erinnerungen ehemaliger Rekruten der k. u. k. Armee.27 Das ist natürlich an sich schon interessant, denn Aufzeichnungen einfacher Soldaten aus jener Zeit sind nicht besonders häufig. Aber eigentlich gehört dieses Buch nicht so recht in diese Sammelrezension, denn es reicht bis weit vor den Ersten Weltkrieg zurück. Gleichwohl vermittelt es einen Eindruck über die Zustände in der k. u. k. Armee, die von Standesdünkel, Ausbeutung, Schlamperei und Unterdrückung gekennzeichnet waren – was allerdings nicht unbedingt nur für die Armee der Doppelmonarchie galt. Die eher zufälligen 27 Hämmerle, Christa (Hrsg.): Des Kaisers Knechte. Erinnerungen an die Rekrutenzeit im k. (u.) k. Heer 1868 bis 1914, Böhlau, Wien u. a. 2012. 16 I Neue Politische Literatur, Jg. 60 (2015) Stig Förster ­ rinnerungsstücke müssen jedoch mit Vorsicht gelesen werden, denn jeder Soldat hatte E sein eigenes Schicksal, seine eigene Einstellung und Prädisposition. Der Aussagewert einzelner Individuen über den Charakter eines riesigen Apparats muss zwangsläufig begrenzt bleiben. Andere Rekruten haben womöglich ganz andere Erfahrungen gemacht. Der Wert einer solchen Sammlung bleibt daher relativ. Hämmerles zweiter Beitrag zum Gedenkjahr trifft schon eher den Kern der Sache.28 Diese Monographie setzt sich mit den Erfahrungen einfacher Leute in Uniform oder Zivil während des Krieges auseinander. Dabei geht es um Soldaten (auch Offiziere), Krankenschwestern, Schulmädchen und Arbeiterinnen. Natürlich kann dieses nicht sehr umfangreiche Buch das ganze Kaleidoskop einer im tendenziell Totalen Krieg befindlichen Gesellschaft kaum vollständig erfassen. Doch es wird trotzdem klar, dass die ganze Gesellschaft betroffen war, bis hin zu Kindern. Interessant ist zudem das letzte Kapitel, welches die Krise der Männlichkeit nach dem verlorenen Krieg thematisiert. Hämmerles Erkenntnisse stimmen in vielerlei Hinsicht mit ähnlichen Forschungen in Deutschland, Frankreich und Großbritannien überein. Christa Hämmerle versteht sich vielleicht als Gegenmodell zu dem etwas konservativeren Manfred Rauchensteiner. Doch wenn man deren Forschungen zu Österreich-­Ungarn im Ersten Weltkrieg von außen betrachtet, entsteht eher der Eindruck, dass sich beide wunderbar ergänzen. In Österreich haben sich inzwischen Netzwerke von Forschenden gebildet, die sich mit dem Ersten Weltkrieg beschäftigen. Eines diese Netzwerke ist das 2008 gegründete „Forum: Österreich-Ungarn im Ersten Weltkrieg“. Im März 2012 hielt das Forum in Wien seine erste internationale Konferenz ab. Rechtzeitig zum Gedenkjahr ist der Konferenzband erschienen.29 Ziel der Tagung war der internationale Vergleich und die Einordnung der Entwicklungen um Österreich-Ungarn in den generellen Trend dieses Krieges. Spitzenvertreter der österreichischen Weltkriegsforschung, unter ihnen Manfred Rauchensteiner, Lothar Höbelt und M. Christian Ortner, haben sich an diesem Projekt beteiligt, das aber vor allem zahlreichen jüngeren Forschenden ein Forum bot. Zudem war die Tagung international gut besetzt, was dem vorliegenden Band zusätzliche Qualität verleiht. Der Band trägt allerdings ein wenig den Charakter eines Gemischtwarenladens. Die Themenpalette reicht von Kriegermentalitäten, die Heimkehr estnischer Soldaten, das Wirken der Caritas, den Umgang mit Kriegsgefangenen und Problemen von besetzten Gebieten bis hin zur Makedonischen Frage, dem Verhältnis von Politik und Militär und der Entwicklung des österreichisch-­ungarischen Kampfverfahrens im Ersten Weltkrieg. Allerdings bewegen sich viele Beiträge auf hohem Niveau. Der Berner Historiker Daniel Marc Segesser hat etwa einen beachtenswerten Aufsatz zu den österreichisch-ungarischen Gräueln in Serbien im August 1914 verfasst.30 Den transnationalen Vergleich nimmt Hannes Leidinger kritisch aufs Korn, wenn er davor warnt, angesichts des Trends zur Überspezialisierung in einer zerklüfteten Forschungslandschaft allzu optimistisch und apodiktisch auf diese Karte zu setzen.31 Das ist in der Tat bedenkenswert, auch wenn die großen Überblicksdarstellungen im Umfeld des Gedenkjahrs durchaus Anlass zur Zuversicht geben. Insgesamt ist der Band interessant, weshalb zu hoffen bleibt, dass das Forum seine Arbeit auch in Zukunft fortsetzen wird. 28 Dies.: Heimat/Front. Geschlechtergeschichte(n) des Ersten Weltkrieges in Österreich-Ungarn, Böhlau, Wien u. a. 2014. 29 Dornik, Wolfram/Walleczek-Fritz, Julia/Wedrac, Stefan (Hrsg.): Front Wechsel. Österreich-Ungarns „Großer Krieg“ im Vergleich, Böhlau, Wien u. a. 2014. 30 Segesser, Daniel Marc: Kriegsverbrechen? Die österreichisch-ungarischen Operationen des August 1914 in Serbien in Wahrnehmung und Vergleich, in: ebd., S. 213–234. 31 Leidinger, Hannes: Vergleichende Weltkriegsforschung – Analyse eines Trends, in: ebd., S. 37–48. Neue Politische Literatur, Jg. 60 (2015) I 17 Edgar Haider ist bekannt für stimmungsvolle Bücher, die im historischen Rückblick Detailkenntnis und gute Recherche mit einem Schuss Nostalgie verbinden. Diesmal hat er ein Porträt Wiens in den letzten Monaten vor Kriegsausbruch veröffentlicht.32 Aus diesem Buch erfährt man manche Details über das Leben in dieser Großstadt. Stark waren die Kontraste zwischen arm und reich. Das Bürgertum feierte Feste, während die Proletarier kaum ein Auskommen hatten. Gleichzeitig unterlag die Gesellschaft einem starken Wandlungsprozess. Als dann der Krieg kam, herrschte, so Haider, großer patriotischer Jubel. Aber hier übertreibt der Autor ein wenig, denn von neueren Studien weiß man, dass überall in Europa in weiten Teil der Bevölkerung Angst und Entsetzen herrschten.33 Das dürfte in Wien nicht anders gewesen sein. Die politischen Vorgänge und deren Hintergründe werden von Haider ohnehin eher am Rande behandelt. So gibt sein Buch ein nettes Stimmungsbild, aber nicht viel mehr. Der Erste Weltkrieg hat in vielerlei Hinsicht aberwitzige, groteske und absurde Züge angenommen. Aber nirgendwo war der Irrsinn größer als an der italienisch-österreichischen Front. Am Isonzo verheizte das italienische Oberkommando in immer neuen sinnlosen Offensiven seine Soldaten in Massen und ließ Befehlsverweigerer in großer Zahl exekutieren. In den Alpen fand der Krieg sogar auf Gletschern statt. Ganze Bergkuppen wurden weggesprengt. Der Sammelband von Nicola Labanca und Oswald Überegger geht jedoch weit über das unmittelbare Kampfgeschehen hinaus.34 Es handelt sich zunächst einmal um den wichtigen und richtigen Versuch, die Geschichtswissenschaft beider Länder zusammenzubringen, um sich über die gemeinsame Vergangenheit im Ersten Weltkrieg auszutauschen. Das gelingt jedoch nur teilweise, weil beide Seiten primär über die Entwicklungen in ihren eigenen Ländern referieren. Dabei werden allerdings frappante Ähnlichkeiten erkennbar. Auffällig ist die extreme Militarisierung von Politik und Gesellschaft, welche die Parlamente von Entscheidungsprozessen ausschloss und die Dinge über den Verordnungsweg regelte. Noch mehr als in den meisten am Krieg beteiligten Staaten gingen die Behörden mit rücksichtsloser Brutalität und massiven Unterdrückungsmaßnahmen gegen die eigene Bevölkerung vor. Dies bedarf einer Erklärung. Vielleicht lag es gerade an der inneren Schwäche dieser Staaten, die sich der Loyalität ihrer Bürger wohl weniger als andere gewiss sein konnten. Russland wäre da wohl ein ähnlicher Fall. Hier ist noch viel Raum für international vergleichende Forschung. Der vorliegende Band macht immerhin einen Anfang. Man sollte in diesem Sinne weiter verfahren. Der Aufschwung der österreichischen Geschichtswissenschaft zum Ersten Weltkrieg ist phänomenal. Seit Jahren bevölkern österreichische Kolleginnen und Kollegen die internationalen Fachkonferenzen und liefern wichtige Beiträge. Vor allem aber haben sie zentrale Erkenntnisse zum Ersten Weltkrieg und arbeiten weiter daran. Diese Ergebnisse bringen die Kolleginnen und Kollegen aus Österreich, gerade die Jüngeren unter ihnen, vermehrt in den internationalen Wissenschaftsdiskurs ein. War zu Zeiten von Fritz Fischer Österreich-Ungarn noch eine ziemlich unbekannte black box, deren Bedeutung für die Verursachung und den Verlauf dieses Krieges allerdings wohl kaum zu unterschätzen war, so wissen wir jetzt sehr viel mehr. Das ist eine erfreuliche Entwicklung, die im Gedenkjahr voll zur Entfaltung kam. Der Böhlau Verlag hat diesen Markt für sich entdeckt und seine Ressourcen der österreichischen Geschichtswissenschaft zur Verfügung gestellt. Das war eine gute Idee, auch wenn nicht alle Publikationen auf dem gleichen Niveau liegen. 32 Haider, Edgar: Wien 1914. Alltag am Rande des Abgrunds, Böhlau, Wien u. a. 2013. 33 S. etwa Verhey, Jeffrey: Der „Geist von 1914“ und die Erfindung der Volksgemeinschaft, Hamburger Edition, Hamburg 2000. 34 Labanca, Nicola/Überegger, Oswald (Hrsg.): Krieg in den Alpen. Österreich-Ungarn und Italien im Ersten Weltkrieg, 1914–1918, Böhlau, Wien u. a. 2015. 18 I Neue Politische Literatur, Jg. 60 (2015) Stig Förster 5. Die Menschen und der Krieg Auf den ersten Blick scheint die Feststellung banal, dass Gewalt ein zentrales Element des Krieges darstellt. Schon Carl von Clausewitz hat ja den Krieg wesentlich über die Gewaltanwendung definiert. Doch die Sachlage ist wesentlich komplizierter. Was machen eigentlich Gewaltanwendung und Gewalterfahrung mit und aus den beteiligten Menschen? Diese Problematik wurde jahrzehntelang von der Forschung schamhaft ignoriert. Erst in den 1990er Jahren kam diesbezüglich eine Debatte auf. Inzwischen ist Gewalt im Krieg schon fast ein Modethema der Forschung geworden. Der in Sheffield lehrende deutsche Historiker Benjamin Ziemann ist ein ausgewiesener Fachmann auf diesem Gebiet. Nun hat er ein Buch vorgelegt, das sich primär diesem Themenkomplex im und nach dem Ersten Weltkrieg widmet.35 Dabei wendet er sich entschieden gegen die zu Beginn der Debatte allzu häufigen Pauschalisierungen. In seiner vorzüglichen Einleitung, die gekonnt den Forschungsstand entwickelt, betont er die Notwendigkeit der Differenzierung und der quellengesättigten Analyse, welche Spekulationen vermeidet. Das Buch konzentriert sich dann zwar vornehmlich auf das deutsche Beispiel und lässt wesentliche Bereiche, etwa den Krieg an der kolonialen Peripherie, bewusst aus. Doch für den angestrebten Zweck ist dieses Vorgehen durchaus legitim. In drei Kapiteln widmet sich Ziemann den Gewaltpraktiken, der Gewaltverweigerung und der Gewaltverarbeitung. Im ersten Kapitel geht der Autor unter anderem der verstörenden These nach, viele Soldaten hätten im Verlauf des Krieges geradezu eine Lust am Töten entwickelt. Ziemann stellt dies infrage, denn den meisten Soldaten ging es vor allem ums Überleben, was die Notwendigkeit des Tötens implizierte. Allerdings kam der Kampf Mann gegen Mann in diesem Maschinenkrieg kaum noch vor. Vor allem an der Westfront sahen sich die Soldaten hilflos dem Masseneinsatz der alles dominierenden Artillerie ausgesetzt. In ihrem Selbstverständnis machte sie dies primär zu Opfern. Dies galt sogar für Ernst Jünger, der doch gemeinhin als Prototyp des kriegsbegeisterten Soldaten gilt, welcher das Kämpfen und Töten als eine Art Jagderlebnis überhöhte. Das zweite Kapitel setzt sich mit den vielfältigen Formen der Gewaltverweigerung vom ‚Drückebergertum‘ bis hin zur Desertion auseinander. Dabei betont Ziemann, dass Massendesertionen oder gar Aufstände in den europäischen Armeen des Ersten Weltkrieges sehr selten vorkamen. Die Desertion auf eigene Faust war allerdings ein nicht zu unterschätzendes Phänomen. Im Sommer 1918, nach Ludendorffs gescheiterten Offensiven, begann sich das deutsche Heer an der Westfront sukzessive aufzulösen. Zu Tausenden strömten Soldaten nach Hause oder ließen sich gefangen nehmen. Nach eingehender Untersuchung kommt Ziemann zu dem Schluss, dass die von Wilhelm Deist vor Jahren entworfene Formel, es habe sich um einen ‚verdeckten Militärstreik‘ gehandelt, diese Entwicklung immer noch am besten erfasst.36 Dabei, so Ziemann, habe es sich allerdings nicht um massenhafte Fahnenflucht gehandelt, sondern die Soldaten hätten angesichts der aussichtslosen Lage und der nicht eingelösten Siegesversprechen, die Dinge kollektiv selbst in die Hand genommen. Es ist eine immer noch weit verbreitete These, der Erste Weltkrieg habe die deutsche Gesellschaft brutalisiert und damit dem Nationalsozialismus den Boden bereitet. Im letzten Kapitel des Buches demonstriert Ziemann in diesem Kontext erneut seine Fähigkeit zur 35 Ziemann, Benjamin: Gewalt im Ersten Weltkrieg. Töten – Überleben – Verweigern, Klartext, Essen 2013. 36 Deist, Wilhelm: Der militärische Zusammenbruch des Kaiserreiches. Zur Realität der Dolchstosslegende, in: Büttner, Ursula (Hrsg.): Das Unrechtsregime. Internationale Forschung über den Nationalsozialismus, 2 Bde., Hans Christians Verlag, Hamburg 1986, s. Bd. 1, S. 101–129. Neue Politische Literatur, Jg. 60 (2015) I 19 faktengesättigten Differenzierung. Die heimgekehrten Soldaten haben die Gewalterfahrung des Krieges ganz unterschiedlich verarbeitet. Interessant ist in diesem Zusammenhang die Wandlung des heute fast vergessenen Sozialdemokraten Hermann Schützinger vom bayerischen Offizier zum Pazifisten. Und nicht einmal für Adolf Hitler lässt sich nachweisen, dass der Krieg ihn brutalisiert und radikalisiert hätte. Seine Erlebnisse in den revolutionären Wirren von 1919 waren da wohl viel wichtiger. Insgesamt hat Benjamin Ziemann ein wichtiges Buch vorgelegt, das den Forschungsstand nicht nur treffend resümiert, sonder neue Erkenntnisse liefert und neue Perspektiven eröffnet. Schade ist nur, dass dem Buch eine Bibliographie und ein Register fehlen, was die Übersicht erschwert. Ziemanns Arbeit setzt sich stark mit den Problemen von Egodokumenten auseinander, welche zwar interessante Einsichten eröffnen, aber in ihrer Reichweite zwangsläufig begrenzt sind. In jedem Falle erlauben derartige Dokumente Einblicke in die Art und Weise, wie Menschen diesen Krieg konkret erfuhren. Im Gedenkjahr ragen zwei Bücher heraus, die auf Privatkorrespondenzen beruhen. Da ist zunächst die Monographie der Hamburger Historikerin Dorothee Wierling, die auf dem Briefwechsel zwischen der sozialdemokratischen Feministin Lily Braun, ihrem Mann Heinrich und ihrem Sohn Otto, sowie einer Freundin der Familie beruht.37 Sowohl die Front als auch die Heimatfront treten dabei aus der Sicht von Individuen plastisch hervor. Es sind sehr persönliche Geschichten, die hier erzählt werden. Beispielhaft hierfür ist die Trauer der Familie um den Tod des im April 1918 von einer Granate getroffenen jungen Offiziers Otto. Dabei hatten doch die Daheimgebliebenen gehofft, dass Ottos Versetzung zum Regimentsstab seine Überlebenschancen erhöhen würde. Wierling gibt diese Texte allerdings durch den Filter ihrer eigenen Interpretationen an die Öffentlichkeit, was den Vorteil besitzt, erklärende Analysen der zeitgenössischen Korrespondenz hinzufügen zu können. Das ist sicherlich hilfreich und mildert ein wenig das Problem aller Egodokumente von Privatpersonen, welche ja immer nur aus individueller Perspektive verfasst sind und sich deshalb kaum verallgemeinern lassen. So ist Wierlings Buch sicherlich auch für ein breiteres Publikum von Interesse. Die Familie des Kölner Zentrumspolitikers Carl Trimborn hat etwas Besonderes hervorgebracht. Hier wurden die Briefe der sehr zahlreichen Familienmitglieder, sowie von Freunden und Bekannten regelmäßig gesammelt, abgeschrieben und unter dem Titel „Mars. Kriegsnachrichten aus der Familie“ zirkuliert.38 Es handelte sich um Feldpostbriefe, aber nicht nur. Das Milieu, aus dem die Trimborns kommen, ist ziemlich anders als bei der Familie Braun: rheinisch, katholisch, großbürgerlich, nationalistisch. So gut wie alle Familienmitglieder, die im Felde standen, waren Offiziere. Die Attitüde dieser Menschen unterscheidet sich dementsprechend von den Brauns. Interessant ist dabei, dass die Frequenz der Rundbriefe mit zunehmender Kriegsdauer nachließ. Auch hier machten sich Ermüdungserscheinungen bemerkbar. Etwa vierzig Personen trugen zu den Rundbriefen bei, was den Texten eine breitere Grundlage als in Wierlings Buch verschafft. Die Männer waren an verschiedenen Fronten und in unterschiedlichen Funktionen tätig, wodurch ein umfassenderes Bild entsteht. Die Herausgeber haben die Texte kommentiert und einen nützlichen Anhang hinzugefügt. So ist ein spannendes Buch entstanden, dessen Kernstück die erstmalige Publikation der Rundbriefe darstellt. Als Quelle für weitere Forschungen wird dieses Werk sicherlich viel Aufmerksamkeit erhalten. 37 Wierling, Dorothee: Eine Familie im Krieg. Leben, Sterben und Schreiben, Wallstein, Göttingen 2013. 38 Dreidoppel, Heinrich/Herresthal, Max/Krumeich, Gerd (Hrsg.): Mars. Kriegsnachrichten aus der Familie. Rundbriefe der rheinischen Großfamilie Trimborn, 1914–1918, Klartext, Essen 2013. 20 I Neue Politische Literatur, Jg. 60 (2015) Stig Förster 6. Weltkrieg Im November 2013 veranstaltete die Volkswagen-Stiftung in Hannover eine Tagung zum Ersten Weltkrieg, die vom üblichen Schema abwich.39 Hier ging es nicht um die Schlachtfelder Europas, sondern um die Welt während des Großen Krieges – also um den Charakter des Weltkrieges. Der Rezensent, der die Ehre hatte das Einleitungsreferat zu halten, erlebte diese Tagung als eine der herausragenden Veranstaltungen zum Gedenkjahr.40 Mit den reichlichen Mitteln der Volkswagenstiftung war es möglich, zahlreiche Fachleute aus allen Ecken der Welt einzuladen. Der Tagungsband zeigt, welche neuen Forschungsperspektiven sich eröffnen, wenn sich der Blick über den europäischen Tellerrand hinaus weitet. Denn dieser Krieg hatte auch für die Menschen außerhalb des europäischen Kontinents gravierende Auswirkungen. Nicht nur dass zehntausende von Soldaten aus außereuropäischen Ländern in diesem Krieg fielen, ganze Regionen verwüstet wurden und die politische Landkarte auch dort massiven Veränderungen unterworfen wurde, sondern durch die wirtschaftlichen und finanziellen Auswirkungen waren die Lebensumstände von Millionen betroffen. Hinzu kamen kriegsbedingter kultureller Austausch, die Erfahrung von Rassismus, Zwangsarbeit, Kriegsgefangenschaft und die Herausbildung einer eigenen Erinnerungskultur, etwa in Australien, Neuseeland und Kanada. Diese und verwandte Themen werden mit zum Teil völlig neuen Forschungsergebnissen auf der Grundlage großer methodischer Vielfalt in diesem Band präsentiert. Hier eröffnet sich der Forschung viel Raum in wenig bekanntem Terrain. Einer der Hauptkriegsschauplätze waren neben Europa der Nahe Osten und Zentralasien. Dass das Osmanische Reich eine der schlimmsten Regionen des Krieges war, wo es sogar zum Völkermord kam, ist inzwischen wohl zum Allgemeingut unter Fachleuten geworden. Hier kamen womöglich bis zu vier Millionen Menschen ums Leben. Weniger bekannt ist, dass der Krieg bis in den Iran hineingetragen wurde. Aber nur Kenner der Materie wissen, dass bei der russischen Niederschlagung eines Aufstandes in Zentralasien im Jahre 1916 mehr als 100.000 Menschen getötet wurden und weitere 200.000 Personen entweder deportiert wurden oder nach China flohen.41 Die deutsche Kriegführung zwischen 1914 und 1918 war von einem gewissen auf Europa fixierten Provinzialismus gekennzeichnet, während die Mächte der Entente von vornherein einen Weltkrieg führten. Dadurch war das Deutsche Reich in einem strategischen Nachteil. Aber es gab durchaus Versuche, aus dieser Umklammerung zu entkommen.42 Der deutsche Offizier Colmar Freiherr von der Goltz, der erhebliche Teile seiner Laufbahn im Osmanischen Reich verbrachte, trat bis zu seinem Tode in Mesopotamien im Jahre 1916 vehement für eine nach Asien bis hin nach Indien ausgerichtete Strategie ein.43 Ein Teil dieser Strategie bestand darin, unter den muslimischen Untertanen der Feindmächte durch Ausrufung des Dschihad seitens des Kalifen in Konstantinopel Aufstände auszulösen. Deutsche Politiker, Diplomaten, Militärs, Wissenschaftler und Abenteurer arbeiteten an diesem Projekt. Einige von ihnen reisten in ferne Regionen und spielten dabei eine ähnliche Rolle wie T. E. Lawrence 39 Der Tagungsband ist inzwischen erschienen, s. Bley, Helmut/Kremers, Anorthe (Hrsg.): The World Dur­ ing the First World War, Klartext, Essen 2014. 40 Förster, Stig: Not the End of the World. The Great War in Global Perspective, in: ebd., S. 29–46. 41 S. hierzu die exzellente Arbeit von Happel, Jörn: Nomadische Lebenswelten und zarische Politik. Der Aufstand in Zentralasien 1916, Steiner, Stuttgart 2010. 42 S. hierzu etwa Jenkins, Jennifer L.: Germany’s Eurasian Strategy in 1918, in: Bley/Kremers: First World War (wie Anm. 39), S. 291–302. 43 Krethlow, Carl Alexander: Generalfeldmarschall Colmar Freiherr von der Goltz Pascha. Eine Biographie, Schöningh, Paderborn u. a. 2012. Neue Politische Literatur, Jg. 60 (2015) I 21 in Arabien. Doch wegen fehlender Mittel und der militärischen Überlegenheit der Gegner, aber auch wegen der mangelnden Kooperationsbereitschaft einheimischer Machthaber scheiterten diese Bemühungen allesamt. Ein neuer Sammelband zeichnet diese zum Teil wenig bekannten Episoden nach und kommt dabei zu dem Schluss, dass es den deutschen Akteuren nicht etwa um den Aufbau einer deutschen Weltmachtstellung im Nahen und Mittleren Osten ging, sondern dass man schon mit Unabhängigkeitsbewegungen insbesondere gegen die britischen Herrschaftsansprüche zufrieden gewesen wäre.44 Interessant ist dabei auch, dass es zu erheblichen Differenzen mit dem Verbündeten Österreich-Ungarn kam. Ähnlich wie die Mächte der Entente so verfolgten eben auch die Mittelmächte ihre jeweils eigenen egoistischen Interessen. Die deutsche Orientpolitik wird auch in der Monographie von Rudolf A. Mark analysiert.45 Diese Studie dringt in noch weiter entfernte Regionen vor, wobei hier das von Russland beherrschte Turkestan im Zentrum steht. Russische Stellen warfen deutschen Intrigen und deutschen Spionen vor, den Aufstand von 1916 in Zentralasien angezettelt zu haben. Mark weist nach, dass die deutschen Akteure derartiges vielleicht gerne erreicht hätten, doch dazu fehlten ihnen die Machtmittel und der Einfluss vor Ort. Gleichwohl haben deutsche Stellen diesen Aufstand genau verfolgt und nach Ansatzpunkten für eigene Aktionen gesucht. Auch hier ging es weniger um territoriale Eroberungen als um die Destabilisierung des Feindes. Dabei gab es ebenfalls Rivalitäten mit einem Verbündeten, diesmal mit dem Osmanischen Reich und den panturanischen Aspirationen von Leuten wie Enver Pascha. Das Deutsche Reich verlor den Krieg, weshalb sich auch das Chaos nach der russischen Oktoberrevolution nicht auf Dauer ausnutzen ließ. Doch deutsche Interessen blieben in der Region auch nach dem Krieg noch für einige Zeit präsent. Mark hat ein sehr interessantes Buch vorgelegt, das unser Wissen über die Dimensionen des Ersten Weltkrieges und seiner Nachwirkungen bereichert. 7. Zukunftsperspektiven Es ist nicht anzunehmen, dass die Publikationen und die Forschungen zum Ersten Weltkrieg mit dem Gedenkjahr enden werden. Allerdings werden wohl so schnell keine neuen monumentalen Gesamtdarstellungen mehr verfasst werden. Die „Cambridge History of the First World War“, sowie die Bücher von Jörn Leonhard und Oliver Janz haben diesen Markt einstweilen gesättigt. Es bedarf intensiver weiterer Forschung, um derartigen Gesamtdarstellungen eine Basis zu schaffen, die über den jetzt erreichten Stand hinausgeht. Anders sieht es bei großen Monographien zu einzelnen Ländern aus. Manfred Rauchensteiner hat hier Maßstäbe gesetzt. Überhaupt steht die österreichische Forschung zum Ersten Weltkrieg in voller Blüte. Es wäre wünschenswert, wenn mehr Übersetzungen aus anderen ehemaligen Teilen des k. u. k. Reiches zur Verfügung stünden. Auch zu anderen Ländern, wie etwa Russland und dem Osmanischen Reich, wären Bücher im Stile von Rauchensteiners Werk vorstellbar und notwendig. Sie werden früher oder später kommen. Was haben die Publikationen im Umfeld des Gedenkjahrs an neuen Trends gebracht und wo könnte es weitergehen? Auffällig ist die Tendenz zur transnationalen Analyse. Hier 44 Loth, Wilfried/Hanisch, Marc (Hrsg.): Erster Weltkrieg und Dschihad. Die Deutschen und die Revolutionierung des Orients, De Gruyter Oldenbourg, München 2014. 45 Mark, Rudolf A.: Krieg an fernen Fronten. Die Deutschen in Zentralasien und am Hindukusch, 1914–1918, Schöningh, Paderborn u. a. 2013. 22 I Neue Politische Literatur, Jg. 60 (2015) Stig Förster eröffnen sich spannende Perspektiven, die es zu vertiefen gilt. Der Vergleich und die transnationale Betrachtung von Einzelthemen helfen nicht nur die frühere Nationalgeschichtsschreibung gleich welcher Couleur zu überwinden, sondern vermitteln neue Einsichten in spezifische Unterschiede und strukturelle Gemeinsamkeiten. Allerdings fehlt dem transnationalen Zugang manchmal die Tiefenschärfe, sodass komplementäre Einzelstudien auf Länderbasis unverzichtbar bleiben. Vorbildlich ist in diesem Zusammen die Arbeit von Benjamin Ziemann, die sich zwar auf den deutschen Fall konzentriert, aber den internationalen Vergleich nicht aus den Augen verliert. Ziemann hat die Gewaltforschung über den Ersten Weltkrieg durch geschickte Differenzierung ihres manchmal apodiktischen und zu Spekulationen neigenden Charakters entkleidet. Hier gilt es in diesem noch relativ jungen Forschungsbereich anzuknüpfen. Auf diesem Gebiet ist noch viel Arbeit zu leisten und diesbezüglich müssen die Archive noch intensiver durchforscht werden. Dabei gilt es im Hinterkopf zu behalten, dass individuelle Egodokumente immer nur einen kleinen Ausschnitt aus dem riesigen Gesamtbild dieses Krieges liefern können. So sollte man bescheiden bleiben und nicht erwarten, dieses Gesamtbild in all seinen Facetten jemals vollständig erfassen zu können. Dennoch haben wir sehr viel mehr darüber erfahren, wie die Menschen diesen Krieg erlebt haben und was das für Folgen für die Individuen und die Gesellschaft als Ganzes hatte. Der methodische Wandel der Geschichtswissenschaft spiegelt sich in vielen neuen Büchern zum Ersten Weltkrieg wider. Die Sozial- und Wirtschaftsgeschichte erscheint hier schon fast etwas altmodisch. Aber sie wird weiterhin gebraucht. Die moderne Militärgeschichte findet in den meisten Arbeiten, gerade auch in den Gesamtdarstellungen, berechtigten Niederschlag. Kultur- und Geschlechtergeschichte sind zur Selbstverständlichkeit geworden, was auch darin zum Ausdruck kommt, dass sie keinen Alleinvertretungsanspruch mehr erheben müssen, um zur Kenntnis genommen zu werden. Das ist eine gute Entwicklung. Ein ganz wichtiger Aspekt, der vielleicht nicht so neu ist, aber doch im Gedenkjahr verstärkte Aufmerksamkeit gefunden hat, ist die globale Dimension des Großen Krieges. Dieser Krieg ging zwar von Europa aus, wurde zum großen Teil in Europa durchgekämpft, war aber keineswegs nur eine europäische Angelegenheit. Nicht nur dass Hunderttausende Menschen aus Außereuropa auf den europäischen Schlachtfeldern kämpften oder hinter den Linien als Kulis schufteten, sondern mehrere Regionen außerhalb Europas wurden furchtbar verwüstet. Zudem betrafen die Auswirkungen des Krieges fast alle Menschen auf diesem Planeten. Die neueste Forschung hat diese Thematik verstärkt ins Bewusstsein gerufen. Doch das kann nur der Anfang sein. Hier bedarf es nicht nur noch sehr viel mehr Forschung sondern vor allem internationaler Kooperation. Dieses Unterfangen wird teuer. Es bleibt zu hoffen, dass sich noch mehr finanzstarke Institutionen wie die Volkswagen-Stiftung finden, um dieses Projekt zu unterstützen. Wer geglaubt hat, man könne die leidige Suche nach den Verantwortlichkeiten für die Verursachung des Ersten Weltkrieges ad acta legen, sieht sich getäuscht. Christopher Clark, der die Kriegsschuldfrage beerdigen wollte, hat mit seinem Buch die Büchse der Pandora geöffnet, um mit Jörn Leonhard zu sprechen. Die Replik von Gerd Krumeich und anderen deutet in die Richtung, dass die Diskussion über dieses Thema auf höherer, transnationaler Ebene und mit mehr Quellenmaterial weitergeführt werden wird. Da die Emotionalität nationalistisch orientierter Schuldzuweisungen nun endlich überwunden zu sein scheint, können die Dinge in ruhigerem wissenschaftlichen Diskurs betrachtet werden. Doch diese Diskussion wird wohl niemals enden, weil das Thema so komplex ist und die zeitgenössischen Akteure sich alle Mühe gaben, Motivation und Ziele ihres Vorgehens zu verschleiern. Es führt aber kein Weg daran vorbei, die Verantwortlichkeiten für mehr als zehn Millionen Tote Neue Politische Literatur, Jg. 60 (2015) I 23 zu benennen. Das schuldet die Geschichtswissenschaft den Kriegsopfern und den nachfolgenden Generationen. Wir sind alle von den Folgen dieses Krieges betroffen. Vor allem aber bleibt es eine Aufgabe für die Zukunft, die Wiederholung einer solchen Katastrophe durch die Kenntnis ihrer Ursachen, ihres Ausmaßes und ihrer Folgen zu vermeiden. Denn eines haben das unruhige Gedenkjahr und die mediale Aufregung gezeigt: Der Erste Weltkrieg wirkt bis heute nach und lässt uns nicht in Ruhe. Anschrift des Verfassers: Prof. Dr. Stig Förster, Universität Bern, Historisches Institut, Länggassstrasse 49, CH 3000 Bern 9, Schweiz. E-Mail: [email protected] Auswahlbibliographie Bley, Helmut/Kremers, Anorthe (Hrsg.): The World During the First World War, 387 S., Klartext, Essen 2014. Chickering, Roger: Freiburg im Ersten Weltkrieg. 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