WEGE UND IRRWEGE DER VERNUNFT ZU PAUL FEYERABEND UND VERSCHIEDENEM I. MATERIALIEN Vorneweg: Um eine Äußerung richtig zu verstehen, ist es oft nötig, auch diejenigen zu kennen, gegen die sie sich wandte, die Gegnerschaft, von der sich der Sprechende umgeben fühlte. „Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral“, mußte Brecht sagen. Heraklit dagegen: „Bestünde das Glück in körperlichen Genüssen, so müßte man die Ochsen glücklich nennen, wenn sie Erbsen zu fressen finden.“ Widersprechen die beiden einander? Sie haben verschiedene Gegner! (Mani Matter, 1936 – 1972) Zitate zur Einstimmung: Zitat 1: Wo ihnen andere Leidensmöglichkeiten genommen werden, leiden die Menschen zum Ersatz schließlich unter dem, was ihnen die Leidensmöglichkeiten nimmt und das Leiden erspart, also etwa unter dem Fortschritt, und zwar gerade dann, wenn er erfolgreich ist. Darum wird er – auch und gerade der Fortschritt der Medizin -, statt dass er dankbar gelobt wird, zunächst selbstverständlich und dann zum Feind. Denn je besser es den Menschen geht, desto schlechter finden sie das, wodurch es ihnen besser geht. Zitat 2: Einem Arzt ist durch seine Berufspflicht geboten, seinem Patienten zu helfen und dabei nicht „fahrlässig“, sondern sorgfältig und „gewissenhaft“ zu überlegen, was er tun soll, ob er etwa operieren soll, unter Abwägung aller voraussehbaren Folgen und Nebenfolgen dieser, jener, einer dritten Entscheidung. Aber keine rechtliche und keine moralische Norm kann ihm diese Überlegungen abnehmen. Hier kommt es vielmehr auf den gewissenhaften Einsatz seiner medizinischen Sachkunde und seiner ärztlichen Erfahrung an. Es gibt Situationsdarstellungen, die mit Voraussagen unmittelbar verknüpft sind. Z. B. die Feststellung eines „inoperablen Tumors“ enthält die Voraussage, dass der Patient durch eine Operation nicht gerettet werden könnte, und damit die Forderung, die Operation zu unterlassen. Zitat 3: Nicht als Menschen behandelt die „wissenschaftliche Medizin“ ihre Patienten, sondern als komplexe materielle Systeme, und ihr Ziel ist nicht eine Verbesserung der Qualität des Lebens, so wie es die Patienten verstehen, sondern das bessere materielle Funktionieren der Systeme. Aber das Menschenbild, das diesem Medicofaschismus unterliegt, das den Menschen vorwiegend zu einem Geschöpf der materiellen Welt macht, wurde nie untersucht. Einige Bücher von Paul Feyerabend - und anderen (Unterstrichenes vom Referenten besonders empfohlen): Zeitverschwendung, 3. Aufl., Ffm. 1995 Die Torheit der Philosophen. Dialoge über die Erkenntnis, Ffm. 1997 Wider den Methodenzwang, 3. Aufl., Ffm. 1983 (sein meistdiskutiertes Werk) Erkenntnis für freie Menschen, 2. veränd. Aufl., Ffm. 1981 Wissenschaft als Kunst, Ffm. 1984 Irrwege der Vernunft, Ffm. 1989 P. F. – Hans Albert, Briefwechsel, hrsg. von Wilhelm Baum, Ffm. 1997 Briefwechsel mit einem Freund, hrsg. von Hans Peter Duerr, Ffm. 1995 Versuchungen. Über die Philosophie Paul Feyerabends, hrsg. von Hans Peter Duerr, 2 Bde., Ffm. 19 - darin P. F., Rückblick, Bd. 2, S.320 – 372 Wilhelm Kamlah / Paul Lorenzen, Logische Propädeutik, Mannheim / Wien / Zürich 1967 Wilhelm Kamlah, Philosophische Anthropologie, Mannheim / Wien / Zürich 1973 Kuno Lorenz, Indische Denker, München 1998 Moritz Schlick, Fragen der Ethik, Ffm. 1984 Odo Marquard, Skepsis und Zustimmung, Stuttgart 1994 Mani Matter, Sudelhefte, Zürich 1982 Mechtilde Lichnowsky, Der Kampf mit dem Fachmann, München 1984 Eine „echte Feyerabendstelle“: zentral in „Erkenntnis für freie Menschen“ S.146 ff. Noch etwas zum Thema „Medizin“: Eine sehr klare Darstellung der abstrakten und der historischen Strömungen in der antiken Medizin (mit leichter Bevorzugung des abstrakten Denkens) gibt Owsei Temkin (dt. in „Antike Medizin“, hrsg. v. Helmut Flashar, Darmstadt 1971, S. 1 ff.). – Was der Medizingeschichte fehlt, ist eine vergleichende Untersuchung der Wirksamkeit der von den verschiedenen Schulen verfolgten Methoden. Dazu müsste man zuerst einmal die von den Schulen behandelten Krankheiten einander gegenüberstellen unter Beachtung des Umstandes, dass eine Schule den einen Vorgang als Krankheit und daher als behandlungsbedürftig auffassen kann, der in einer anderen Schule als eine durchaus normale Entwicklung gilt. Hierauf gilt es, die Krankheiten auf ihre einfachsten Elemente zu reduzieren: wenn Krankheiten auf verschiedene Weise zu Einheiten zusammengefasst werden, dann gibt die Zahl der geheilten Krankheiten noch nicht einen brauchbaren Maßstab des Erfolges ab. Auch muss der „Hintergrund“ untersucht werden: war es vielleicht der Fall, dass die Annahmen einer Schule zu Modeepidemien führten, die sich sonst nirgends aufweisen ließen? Untersuchungen dieser Art sind rar und so fällt der Historiker bei der Beurteilung einer Entwicklung leicht in seine eigenen Vorurteile zurück: jene Entwicklung ist „besser“, die der modernen Medizin näher kommt, und zwar ganz unabhängig vom Erfolg, den sie zur Zeit ihres Auftretens hatte. So ist die Geschichte der Medizin noch immer im tiefsten Mittelalter befangen (in dem es allerdings viele sehr interessante Ideen und Entdeckungen gibt). (Erkenntnis für freie Menschen, S.66) Wie Feyerabend einmal Lorenzen begegnete: Lorenzen, den ich in Salzburg kennenlernte, schien meinen Ansichten zuzustimmen. Überhaupt redete er gern. Einmal stand ich neben dem Tonbandgerät. das unsere Diskussion verewigt hatte, und sagte: „Ich wette, dass, wo immer ich das Tonband anhalte, es Sie sein werden, der redet.“ „Das glaube ich Ihnen nicht“, sagte Lorenzen. Ich ließ das Band laufen, hielt an und drückte auf den Startknopf. Kein Lorenzen war zu hören. „Sehen Sie“, sagte Lorenzen triumphierend. Ich drehte weiter. Wieder kein Lorenzen. „Ich habe es ja gesagt“, meinte Lorenzen, aber es war ihm die Verblüffung anzumerken. Als der dritte Versuch fehlschlug, war Lorenzen ernsthaft betrübt. (Zeitverschwendung, S.185 f.) Zum Überdenken: Nach einer einflussreichen Tradition, die als mehrfach erneuerte Aufklärung von der Antike bis heute reicht, sind wir es (…) gewohnt, von Selbstbestimmung als Aufgabe der Vernunft zu sprechen. Da aber (…) Vernunft das Allgemeine und nicht das Besondere betreffen soll, wird Selbstbestimmung dabei irreführend als aus Einsicht freiwillig vollzogene Unterordnung unter allgemeine Gesetze verstanden, statt (…) als eine allgemeine Aufgabe (…), die jeder individuell zu lösen hat. (Kuno Lorenz, Indische Denker, S.21 f.) Zur Genese von Feyerabends Skepsis gegenüber der „Wissenschaftstheorie“: Einmal (…) wurde ich zum Kommandeur einer Abteilung kampferprobter Soldaten ernannt. Dort stand ich, ein eingefleischter Bücherwurm ohne Erfahrung, die Zeichen der Macht auf meinen Schultern, und sprach zu einer Gruppe skeptischer Fachleute. In eine ähnliche Situation geriet ich zwanzig Jahre später, als ich Indianer, Schwarze und Hispanics unterrichten sollte, die auf Grund der Ausbildungsprogramme Lyndon Johnsons zu studieren begannen. Wer war ich denn, dass ich diesen Menschen sagen konnte, was sie zu denken haben? Und wie konnte ich diesen Männern Befehle geben, die jahrelang an der Front gestanden hatten? (Zeitverschwendung, S.67 f.)) Zum Schluss: Ich habe nie die Vernunft „heruntergemacht“, was immer das heißen mag, sondern nur einige versteinerte und überhebliche Versionen von ihr. (Zeitverschwendung, S.182. Anm. des Referenten: Zu diesen Schwundformen „echter“ Vernunft im Sinne selbständig-mündigen Denkens gehören für Feyerabend freilich auch von vornherein Bemühungen wie die der Erlanger Schule, nicht nur über Mittel, sondern auch über Zwecke / Ziele gemeinsamen Handelns „vernünftig“ zu reden, bzw. Kants Forderung, “die Menschheit“ (ein Abstraktum) in der Person des anderen zu achten, d. h. nur seine „vernünftigen“, nicht die kontingenten und „unvernünftigen“ konkreten Begehrungen gelten zu lassen. Damit schießt Feyerabend m. E. (wie mit manch anderem) übers Ziel hinaus – bzw. bleibt er hinter dem Wünschenswerten zurück. Aber: Ich habe Freunde, die mich schätzen, ganz gleich, welche Torheiten ich begehe, ich höre, dass meine Schreiberei einigen Leuten Freude bereitet – das genügt mir. (Versuchungen Bd.2, S.372) II. VORTRAG IM RAHMEN DES „BAMBERGER PHILOSOPHICUMS“ AUF DER ALTENBURG, 10. JULI 2014 Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich danke herzlich für die Ehre, hier vortragen zu dürfen; ich freue mich sehr – muss aber zu Beginn unmissverständlich klarstellen, dass ich kein Philosoph bin. Erwarten und unternehmen Sie philosophische Höchstleistungen im anschließenden Gespräch von anderen. Ich bitte Sie zunächst, drei Zitate auf dem Materialienblatt zu überfliegen; dann möchte ich ein bisschen über mich plaudern, ungemein Interessantes aus meinem ungemein interessanten Leben – dann erzähle ich etwas von Paul Feyerabend, von Wegen und Irrwegen der Vernunft. Im Lauf der Zeit werden sich einige Fragen ergeben; ich habe großenteils keine Antwort auf sie, aber dazu dient ja die Diskussion. In der Sie bitte – ich sag‘ das nur prophylaktisch – keinen eigenen Vortrag zu einem anderen Thema halten, sondern mit präzisen Fragen, Richtigstellungen, Ergänzungen möglichst nahe am Dargebotenen bleiben. Ich bin, wie gesagt, kein Philosoph; aber ich lese hin und wieder auch Philosophisches im engeren oder weiteren Sinn; und ich habe während meines Deutsch- und Lateinstudiums 1976 – 1982 in Erlangen (und Wien) eine grundlegende Handvoll philosophischder Veranstaltungen besucht, z. T. zwecks nützlicher „Scheine“. Da gab es vor allem einmal in einem Semester zwei Vorlesungen über Ethik – von einem, durchaus namhaften, Professor Manfred Riedel; und von Prof. Paul Lorenzen. Ich kannte beide Herren überhaupt nicht; wusste z. B. nicht, dass Riedel die Geschichte der Ethik, Lorenzen seine eigene Ethik darstellen würde. Riedels Vorlesung war zweistündig, die Lorenzens vierstündig – zur Erledigung einer Pflicht schienen mir die zwei Stunden genug; aber: sie überschnitten sich mit der lateinischen Hauptvorlesung und die musste Vorrang haben. Also Lorenzen. Ein überschaubarer Raum, überschaubar viele Teilnehmer, darunter Frau Lorenzen, wenn ich mich nicht irre. Am Pult, wie hier, ein freundlicher Herr um die 60, bedächtig sprechend – und zu Beginn die Frage ans Auditorium: „Was erwarten Sie für sich von einer Vorlesung über Ethik?“ Die übliche Reaktion – verlegene Blicke unter den Tisch, nachdenkliche Mienen; Schweigen. Der Meister erbarmte sich: er könne sich vorstellen, dass jemanden die Frage „Wie werde ich glücklich?“ zu ihm getrieben habe. Er rate dem Betreffenden allerdings, gleich zu gehen, er – oder sie – werde hier keine Antwort erhalten; „denn das ist eine törichte Frage“. Am rechten Platz und mit der richtigen Einstellung gekommen sei hingegen jemand, der sich frage: „Wie kann ich Gerechtigkeit verwirklichen?“ Und das hat mich nun, ich kann nicht helfen, so schwer beeindruckt, dass ich bei Paul Lorenzen geblieben bin – in dieser Vorlesung, von der ich mir insbesondere noch die Gleichung „Wie sich Mathematik zu Physik verhält, verhält sich Ethik zu Politik“ gemerkt habe, und bei der Philosophie der von Lorenzen gemeinsam mit dem zehn Jahre älteren, 1905 geborenen Wilhelm Kamlah begründeten sog. „Erlanger Schule“, deren Existenz mir allmählich aufging. Sie wäre einen eigenen, um nichts kürzeren Vortrag wert; ich will sie heute nur ganz knapp vorstellen. Zu Kamlah, dessen Interesse wesentlich auch der Geschichte, der Theologie, der Musik galt, kam um 1960 der Mathematiker Lorenzen aus Kiel; später der 1941 geborene Oswald Schwemmer, mit sozialwissenschaftlicher Orientierung – vor einigen Jahren war er Gast bei den Bamberger Hegelwochen. Seit seinem Weggang nach Marburg, später an die Humboldt-Universität, in den früher 80er Jahren ist die „Erlanger Schule“ so historisch, und trotzdem indirekt fortwirkend, wie die bekanntere Konkurrenz von der „Frankfurter Schule“. Bekannte Namen aus ihrem Umfeld sind insbesondere Kuno, nicht Konrad, Lorenz; Friedrich Kambartel; Jürgen Mittelstraß. Ausgangspunkt für die Überlegungen von Kamlah und Lorenzen in ihrer gemeinsam, größerenteils von Kamlah, verfassten „Logischen Propädeutik“ war die Erfahrung des Aneinandervorbeiredens im öffentlichen Diskurs, zumal in Wissenschaft und Philosophie; ein Hauptgegner die existentialistische Anhängerschaft Martin Heideggers mit seiner bzw. ihrer eigenwilligen, poetisch schwerverständlichen Sprache, von der sich Kamlah in den 50er Jahren entschlossen abwendet. Unausgesprochen gilt als sozusagen kategorischer Imperativ, als ethische Grundforderung: „Benutze im Handlungszusammenhang die Sprache zu echter Verständigung mit deinen Mitmenschen!“ Gegen zum Jargon gewordene philosophische Fachsprache wird nicht, wie von englischen Philosophen in der Nachfolge Wittgensteins, die Umgangssprache ins Feld geführt, sondern das Ideal mathematisch-naturwissenschaftlicher Klarheit und Nüchternheit. Z. B. wird betont, dass „Sein“, „ich bin“, „du bist“ usw. ein Hilfsverb ist und statt „ich bin alt“ auch „ich alt“ genügen würde; die Substantivierung „das Sein“ bezeichne also kein reales, geheimnisvolles Phänomen und die traditionelle Ontologie habe jahrtausendelang Scharfsinn an Scheinprobleme vergeudet. Schritt für Schritt wird gemeinsam mit dem idealen, aufgeschlossenen Leser eine gereinigte und damit nicht mehr missverständliche philosophische Sprache aufgebaut. Die Tradition wird damit keineswegs verworfen, sondern „kritisch rekonstruiert“; der Abschnitt „Ethik“ in Kamlahs 1973 erschienener und für mich gleichfalls leitend gebliebener „Philosophischer Anthropologie“ gipfelt etwa in der praktischen Grundnorm, nachdem reflektiert wurde, was „beachten“ heißt, was „handeln“ bedeutet usw.: „Beachte, dass der andere ein bedürftiger Mensch ist wie du selbst, und handle demgemäß!“ Dieser schöne Leitsatz wird, wie später Oswald Schwemmers Moralprinzip „Transzendiere deine Subjektivität!“, als Neuformulierung sowohl des christlichen Liebesgebots als auch des kategorischen Imperativs von Kant verstanden, unter Beseitigung einerseits der Verschwommenheit des Wortes „lieben“, anderseits unter Umgehung der Frage, was mit „wollen können, dass etwas ein allgemeines Gesetz“ werde, exakt gemeint ist. Dazu hier und heute weiter nichts; in loser Reihenfolge und in Stichworten nur noch ein paar Erlanger Besonderheiten – die Definition von „Wahrheit“ ohne den Bezug auf die, z. B. durch die Quantenphysik, unsicher gewordene „Wirklichkeit“, sondern umgekehrt: „wirklich“ ist, was in „wahren“, als „wahr“ anerkannten Sätzen ausgesagt wird; Denken als „inneres Sprechen“; der Versuch, wie Kant – und auf ganz andere Art Karl Popper, der Verfasser der „Logik der Forschung“ und der „Offenen Gesellschaft“ – Ontologie bzw. Erkenntnistheorie und Ethik zu verbinden, anders als der „Wiener Kreis“ der 20er und der 30er Jahre, u. a. mit Otto Neurath und Rudolf Carnap, wo „Fragen der Ethik“, ein Buchtitel von Moritz Schlick, nur deskriptiv psychologisierend behandelt werden, ohne den Versuch, ethische Normen von zeitloser Gültigkeit zu begründen. Dieser Szientismus ist für die Erlanger nur eine halbe Philosophie. Ihre eigene ist im Kern eine, in der der Terminus – oder auch Begriff – „vernünftig“ zentral ist; Logische Propädeutik, Untertitel „Vorschule des vernünftigen Redens“, S.119: „Wir nennen einen Menschen vernünftig, der dem Gesprächspartner und den besprochenen Gegenständen aufgeschlossen ist, der ferner sein Reden nicht durch bloße Emotionen und nicht durch bloße Traditionen und Gewohnheiten bestimmen lässt.“ S.146: „Vernünftiges Reden, zum philosophischen Reden erhoben, ist der Versuch, (…) die Gemeinsamkeit zu erkennen, die uns trotz allem miteinander verbindet und gegeneinander verpflichtet.“ Ohne „Wahrheitspathos“ und „Wahrheitsromantik“. Meine Damen und Herren, ich habe zu skizzieren versucht, in welchem Geisteszustand ich war, als mir dieses Buch – in aggressivem Rot, wie etwa auch „Die Fackel“ von Karl Kraus – in die Hände fiel: Paul Feyerabend, Erkenntnis für freie Menschen – und ein zweites, andersartiges, philosophisches Erweckungserlebnis bzw. einen Schock bedeutete, den jeder Feyerabendleser in voller Wucht nachempfinden wird, der selbst von einer in irgendeinem Sinn aufklärerischen, rationalen oder rationalistischen, um Systematik und Logik bemühten Philosophie herkommt. Ich fühle mich bei der Feyerabendlektüre immer wieder fasziniert und immer wieder verärgert, zu konstruktivem Widerspruch herausgefordert. Man ist jedenfalls zunächst in einer anderen Welt als in der von Kamlah und Lorenzen – Berkeley in Kalifornien hat keine Bergkirchweih. Das fängt mit dem Schreibstil an – erraten Sie, welches der drei Einleitungszitate eine Probe von Wilhelm Kamlahs Sprache ist? Das zweite: sauber, korrekt, nicht ohne Gewandtheit, stellenweise mit einer Prise leisen Humors, in Beispielen und Fußnoten; in erster Linie sachlich und leserfreundlich argumentierend. Dagegen Feyerabend: schwungvoll, persönlich, polemisch, witzig, dann wieder hochgelehrt. Lorenzen kam in seiner erwähnten Ethikvorlesung einmal auf die Huygenssche Schleppkurve zu sprechen, ich weiß bis heute nicht, wozu; Feyerabend setzt ständig Vertrautheit mit dem Brownschen Teilchen, Niels Bohrs und John von Neumanns Interpretation quantenmechanischer Phänomene, mit Platons Dialogen und Galileis Discorsi et ceteris voraus. Wie die Wissenschaft sieht er auch die Philosophie wenigstens z. T. als Kunst. Es bekümmert ihn nicht, wenn er in der Lust am Provozieren die political correctness und den guten Geschmack verletzt. „Aber Helmut, Baby, reg dich doch nicht so auf!“ blafft er seinen Kritiker Helmut Spinner an. „Soll ich mir die Nase abschneiden, weil Herr Hitler auch eine Nase hatte?“ Das allerschlimmste Beispiel, ich kann’s nicht verschweigen, Sie kommen ja doch drauf, eine Fußnote von immerhin singulär bleibender Grobheit: „Ein unvoreingenommer Mensch fragt sich, wen man wohl mehr verachten muss, den stolzen Diktator, der seine Gegner einfach umbringt, oder den zuckermäuligen Rationalisten, der sich in ihr Vertrauen einschleicht und ihre Seele tötet. Und er wird sich weiter fragen, ob einige der sogenannten Großen der Menschheit, ob Menschen wie Platon, Christus, Kant, Marx, Luther nicht zu den größten Verbrechern der Geschichte gezählt werden sollten mit einem Bienenschwarm von unbedeutenden Ganoven als Nachfolgern (es liegt anders mit Aristophanes, Erasmus, Voltaire, Lessing, Heine, Bob Hope).“ Uff. Die Differenz zwischen meinen Favoriten lässt sich m. E. besonders klar erkennen, wenn man neben Kamlahs oben erwähnte Grundnorm, „Beachte, dass der andere ein …“, die nach seinen Worten gleichbedeutende Variante stellt „Es ist jedermann jederzeit geboten, zu beachten, dass…“. Für einen Feyerabendianer ist dieses Gesetz nicht identisch mit einer freundlichen Aufforderung oder einem guten Rat, es ist wesentlich, wie etwas gesagt wird, denn der Mensch besteht nicht allein aus dem Verstand. Das Gemeinte dürfe nicht aus dem konkreten Wortlaut abstrahiert werden, wenn die komplexe Wirklichkeit, die Ganzheit des Menschen nicht gewaltsam primitiver und ärmer gemacht werden solle. In diesem Sinn ist Feyerabend Humanist – dass ihm solche Etikettierung wurscht ist, versteht sich freilich. Er verteidigt den konkreten Einzelmenschen mit seinem Widerspruch, seinen Licht- und Schattenseiten, Stärken und Schwächen gegen den Anspruch des Allgemeinen; wie weit ihn das mit Michel Foucault verbindet, oder auch von ihm trennt, lasse ich hier unerörtert. (Was ich gleichfalls nur andeute, ist die Frage, wie weit Feyerabend mit Oswald Spengler kompatibel wäre.) Die Wurzel des Abstraktions- und Verallgemeinerungswahns macht er schon ganz am Anfang aus: beim Übergang vom Weltbild der homerischen Epen zur Vorsokratik. Die Frage, was „Erkenntnis“ als solche sei – oder „Tapferkeit“; oder „Gerechtigkeit“ – werde in archaischer Zeit mit einer Aufzählung, einer Liste beantwortet; à la „Liebe ist, wenn ...“, erstens, zweitens, drittens… Es gebe die Erkenntnis, die Tapferkeit, die Gerechtigkeit des Handwerkers, des Feldherrn, des Politikers, der jungen und der alten Menschen usw., meine und deine, und das spiegle den Reichtum und die Vielfalt der Realität. Die Suche nach „Erkenntnis“, „Tapferkeit“, „Gerechtigkeit“, losgelöst von Situationen und Personen, nach „Erkenntnis“ als solcher, nach dem Wesen der Begriffe, wie sie der platonische Sokrates betreibt, werde dem Leben nicht gerecht, Einfalt gegen Vielfalt, ungeachtet des Sieges dieser Tradition über die andere und der unleugbaren praktischen Erfolge, die bis heute unsere neuzeitliche Welt prägen und letztlich auf den Paradigmenwechsel des 7. / 6. Jh. vor Chr. zurückgehen. Feyerabend verurteilt insbesondere die Kritik des Xenophanes an der Vorstellung von den mit all ihren Unvollkommenheiten menschlichen olympischen Göttern, an deren Stelle er mit seinem einen Gott ein unanschauliches, abstraktes, unmenschliches Gottesmonstrum gesetzt habe. Wenn man Feyerabend weiter dahin folgt, dass auch die Philosophen Geschichten erzählen, aber nicht lebendigspannende, sondern öde, von Seelenkräften und vom Weltgeist, von Universalien und Situationsschemata und anderen ausgedachten Fabelwesen, ergibt sich freilich die Frage nach dem Sinn und den Möglichkeiten von „Philosophie“. Folgerichtig kann man bei Feyerabend gelegentlich lesen, er sei kein „Philosoph“ – schon gar kein akademischer, obwohl er natürlich ein solcher war; er betont, wieder einmal dick auftragend, was er tue und schreibe, tue und schreibe er aus „Spaß an der Freud‘ “ und natürlich auch um Geld zu verdienen, und er fordert in den 70er Jahren plakativ „Bürgerinitiativen statt Philosophie“. Er gehört gewiss zu denjenigen Philosophen, die man von ihrer Biographie her besser oder überhaupt erst zu verstehen glauben könnte; zu denen etwa eher Nietzsche gehört als Kant. Von Kamlah und Lorenzen sind mir keine Autobiographien bekannt, sie treten als Individuen zurück – in seinem letzten Buch streitet Kamlah gegen die dogmatische Verurteilung des Selbstmords, dass er selbst aber 1976 den Freitod gewählt hat und während des Schreibens wohl schon auf dem Weg dahin war, entgeht zumindest einem nícht sehr sensiblen Leser. Feyerabend dagegen hat über sein Leben geschrieben, und vielleicht ist „Zeitverschwendung“, englisch „Killing Time“, tatsächlich die beste erste Begegnung mit ihm. Es entsteht das Bild eines von Kindheit an traumatisierten, problematischen Charakters – ich bleibe bewusst sehr vage; Sie machen sich Ihr eigenes Bild, wenn sie z. B. die Darstellung seiner suizidgefährdeten, schließlich von eigener Hand gestorbenen Mutter lesen oder seine von Erwägungen über Gut und Böse freien Notizen über den Krieg, an dem er, 1924 in Wien geboren, teilnehmen musste. Es ist interessant und vielleicht mehr als das, darüber kann man reden, dass er Opernsänger werden wollte, woran ihn die schwere Kriegsverletzung hinderte, die auch sexuelle Impotenz und Angewiesensein auf kräftige Schmerzmittel zur Folge hatte. Er tritt einem – bzw. mir – aus all seinen Schriften als ein komplizierter, aber trotzdem bzw. gerade deshalb die Bekanntschaft lohnender Mensch entgegen, eben nicht nur als Argumentationsmaschine – nicht, als sähe ich andere Autoren als solche an! aber sie halten ihr Allzumenschliches draußen, Feyerabend nicht. Auch nicht, wenn er z. B. erzählt, er habe einmal, um bei einer Bewerbung mehr Publikationen vorweisen zu können, einen englisch geschriebenen Aufsatz ins Deutsche übersetzt und seine drei Teile umgestellt, worauf ihm ein Kritiker gedanklichen Fortschritt bescheinigt habe. Ich gehe in Erlangen gerne zu Kamlahs Grab auf dem Altstädter Friedhof, unweit vom Bahnhof, wo auch die Kinder Friedrich Rückerts ruhen; an Feyerabends Grab auf dem Wiener Südwestfriedhof zu stehen und zu sehen, wie sich da der vormalige schrille Star der weltweiten philosophischen Alternativszene in die „Familie Feyerabend“ zurückdefiniert und ins Anonyme abtaucht, hatte auf seine Art etwas eigentümlich und besonders Bewegendes. Es scheint mir in Feyerabends Sinn (aber nur so weit eine erste bleibende Entscheidung), wenn ich mich, wie eben schon, jetzt wieder persönlich ins Spiel bringe und bekenne, dass ich, von der Sachlage aufgefordert, mich auf eine der beiden Seiten, zu Feyerabend oder zu den Erlangern zu schlagen, irrational reagiere, auf der Basis meines problematisch überentwickelten Friedens- und Harmoniebedürfnisses; wenn ich also den auf den ersten Blick unüberbrückbaren Gegensatz doch zu überbrücken versuche und klein rede, verharmlose oder gar leugne. Zum einen stimmen die Erlanger und Feyerabend darin überein, dass sie jeweils bei ihren Gegnern Grundannahmen entdecken, die diesen selbstverständlich und nicht der Rede und des Nachdenkens wert scheinen, ohne dass sie wirklich selbstverständlich wären. Feyerabend etwa tadelt alle, die sich für „objektiv“ halten, als kurzsichtig – man kann sich an Schopenhauer erinnert fühlen – oder auch an Spengler. Aus Erlanger Sicht fehlt ihm die Selbstdurchleuchtung der von ihm verwendeten Terminologie. Zum zweiten haben sie eine kritische Einstellung gegenüber dem Fortschritt bzw. seiner uneingeschränkten Bewunderung, der Fortschrittsideologie, gemeinsam. Diese Haltung könnte man im ersten Zitat auf dem Blatt ausgedrückt sehen – aus einem Vortrag, den Odo Marquard, Jg. 1928, vor Ärzten gehalten hat. Bei allem gebotenen Respekt auch vor Marquard: mir scheint Philosophie, die das Bestehende affirmiert und die Kritik daran kritisiert, fragwürdig – darüber kann man streiten, bei Adorno! Ein weiteres Zitat, leicht verändert: „Echter“ Fortschritt „wurde und wird nicht allein im Bereich der Anwendungen von Gefahren und Schwierigkeiten begleitet, indem nützliche Erfindungen oft unvorhergesehene Missstände hervorrufen, sondern vor allem der Fortschritt des Wissens selbst ist durch einen schweren Preis bezahlt worden: In allen vorneuzeitlichen Jahrhunderten hatten die Menschen ein zwar dürftiges, aber doch geschlossenes, in seiner Weise vollständiges Wissen von sich und der Welt. Überall bot der Mythos ein Weltwissen, das auch die vordringlichen Existenzfragen des Menschen beantwortete. (…) Das Wissen früherer Jahrhunderte war dürftig, aber für den Menschen tragfähig. Das moderne Wissen ist äußerst reichhaltig, aber für den Menschen zu dürftig. Es gibt kein ebenso allgemein anerkanntes existenztragendes Wissen mehr. Darunter ist eines zu verstehen, das zugleich – wie die antike Ethik und die Bibel – Antwort gibt auf die Frage, wie wir leben können und wie wir leben sollen (nicht etwa nur auf die Frage nach dem Sollen, die von der philosophischen Ethik seit Kant isoliert wurde.“ Das klingt m. E. kompatibel mit Feyerabends Gedanken zum homerischen Weltbild, stammt aber von Kamlah, aus der LP; Feyerabend könnte m. E. hier nur einwenden, dass es zu zahm formuliert sei. Drittens ist der „Rationalismus“, den Feyerabend heftig bekämpft, nicht der von Kamlah und Lorenzen, auch wenn letzterer beiläufig sein Fett wegkriegt. (Im PaulLorenzen-Archiv an der Uni Konstanz sollen sich freilich auch einige Erinnerungsstücke aus Feyerabends Nachlass befinden.) Da Feyerabend in England und den USA gewirkt hat – zuletzt auch in Zürich, zwischenzeitlich, in der Zeit der 1968er, in Westberlin – ist sein Lieblingsfeind Karl Popper mit seiner Schule und seinem gewaltigen Einfluss, z. B. auf Politiker wie Helmut Schmidt und Helmut Kohl. Wenn Feyerabend gegen „die Wissenschaftstheorie“ wettert und sie einerseits als Schwindel, anderseits als Krankheit beschimpft, zielt das nicht in erster Linie auf Lorenzen / Schwemmer, Konstruktive Logik, Ethik und Wissenschaftstheorie, Mannheim / Wien / Zürich 1975, sondern auf Popper und immer wieder auf Popper, dessen wesentliche persönliche Bedeutung für seinen Werdegang er dennoch hervorhebt (er hat „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“ übersetzt; mit einem oder dem deutschen Hauptvertreter von Poppers „kritischem Rationalismus“, Hans Albert, war Feyerabend befreundet.) Die Berechtigung dieser Attacken auf Popper wollte ich selbst dann hier und heute nicht diskutieren, wenn ich es könnte. Feyerabends Thesen sind: 1. Die Wissenschaftstheorie, soweit sie von den Forschern die Beachtung bestimmter, rationaler Methoden verlangt, nützt der Forschung nicht nur nicht, sie schadet ihr sogar. Es gibt nicht „die Wissenschaft“ mit ihrer einen Methode, es gibt nur die einzelnen Wissenschaften mit ihren je eigenen, historisch bedingten und sich wandelnden Methoden. Fortschritt, insofern er die Entstehung eines neuen Weltbilds, eines neuen Paradigmas bedeutet, beruht wesentlich auf Hypothesen oder Theorien, die bisher „falsch“ waren und gegen die also ein „Rationalist“ das Bisherige verteidigen müsste. Feyerabend erörtert, ausgiebig und für einen Laien schwer wirklich beurteilbar, den Fall Galilei, in dem er einen geschickten Propagandisten und Manipulator sieht; die kirchlichen Astronomen seien im Recht gewesen, und so sehr es ihn zu freuen scheint, das Kardinal Ratzinger ihn, Feyerabend, in einem Vortrag über Galilei zustimmend zitiert hat, wirft er der Kirche voreilige Bußfertigkeit und Kapitulation vor der heutigen Macht der Wissenschaft vor, wenn sie Galilei vorbehaltlos rehabilitiere. Wissenschaft, die den Popperschen Richtlinien entspricht, ist steril; Wissenschaft war und ist immer Kunst – den Begriff der Kreativität lehnt Feyerabend in diesem Zusammenhang allerdings ab. Seine zweite These: Die Gesellschaft, eine freie Gesellschaft ist vor der Übermacht der Wissenschaft zu schützen; sie habe nicht mehr Recht auf Zugang zur Macht als alle anderen Traditionen – in seiner späten Phase ergänzt er: sofern sie Freiheit und Demokratie garantieren (Anmerkung: dass diese Begriffe vage und missbrauchbar sind, stört ihn dabei nicht.) Er fordert die strikte Trennung von Staat und Wissenschaft; beispielsweise sei in staatlichen Schulen der Darwinismus als Hypothese zu lehren, nicht als alleingültige Wahrheit. Speziell die wissenschaftliche Medizin will er gegenüber alternativen Formen nicht privilegiert sehen, etwa in der Ärzteausbildung oder der Praxis der Krankenkassen, sondern lediglich als gleichberechtigt. Nicht ganz konsequent hält er es etwa für diskutabel, afrikanische Kinder auf westliche Weise gegen Seuchen zu impfen – ist das Thema nicht gerade aktuell? -; im Normalfall aber lasse man fremden Kulturen ihre traditionellen Behandlungsverfahren. Er lobt Mao Tse-Tung – ohne „korrekt“ hinzuzufügen, dass dessen Politik ein Ganzes darstellt und gewiss nicht in jeder Hinsicht zu loben ist – dafür, dass er in den 50er Jahren die traditionelle chinesische Medizin wiederbelebt und die einseitige Festlegung auf den westlichen Fortschritt gestoppt habe. Dessen Überlegenheit werde nur behauptet, sei jedoch nicht bewiesen: solange die Ziele des ärztlichen Handelns vom Rationalismus vorgegeben und die Maßstäbe für Erfolg oder Misserfolg nicht oder nicht auch aus der zu prüfenden Tradition genommen würden. Auch dürfe z. B. die Akupunktur nicht danach beurteilt werden, wie sie von halbgebildeten Halbfachleuten außerhalb ihres angestammten Lebens- und Kulturzusammenhangs praktiziert werde. Seriöse Prüfung finde nicht statt; dominant seien Wissenschaftler wie der Medizinnobelpreisträger Szent-Györgyi, den Feyerabend, immer wieder, wie es seine gelegentlich ermüdende Art ist, mit der Äußerung zitiert, die medizinische Forschung brauche verdammte Egoisten – ohne dem Körnchen Wahrheit und Berechtigung nachzuspüren, das in diesem Statement stecken mag. Ohne den Begriff „Menschenwürde“ pathetisch zu strapazieren, sieht er sie offensichtlich in der afrikanischen und asiatischen Tradition im Einzelfall und generell gewissenhafter gewahrt als im europäisch-amerikanischen Raum. Bei alledem ist freilich zu bedenken, dass Feyerabend kein Autor von heute ist, nicht die Welt von 2014 vor Augen hat, sondern inzwischen historisch zu lesen ist. Zu den Sätzen, die er mindestens einmal zu oft wiederholt, gehört im Übrigen auch die Frage, was höher einzustufen sei: das Herumhüpfen konditionierter Individuen auf einem öden Stein, dem Mond, oder die leibhaftige Begegnung von Mystikern mit ihrem Gott. Es scheint mir, um einen Schritt weiterzugehen, auch legitim zu sein, ungeachtet dessen, ob die Verfasser zugestimmt hätten, die Erlanger Konstruktivisten und Feyerabend als einander ergänzend, komplementär zu lesen. Was spricht denn dagegen, mit Kamlah festzustellen: „Es dürfte ein Missgriff vieler Anthropologen sein, dass sie den Menschen überhaupt oder (…) die menschliche Natur erfassen wollen, einschließlich des ‚Primitiven‘, eines Menschen also, der extrem verschieden ist vom Menschen, der wir selber sind. Wir selber leben im Wirkungsfeld der neuzeitlichen Aufklärung. Wir verschreiben uns nicht vorbehaltlos der neuzeitlichen Wissenschaft samt ihren Vorurteilen. Gleichwohl können und dürfen wir hinter den antiken Ursprung der Vernunft, der gleichsam die zweite Menschwerdung ausmacht, nicht zurückgehen und auch nicht hinter die neuzeitliche Wiederholung dieses Ursprungs, so problematisch sie vorerst gelungen ist. (…) Dass sich auch die Reichweite unserer moralischen Verpflichtungen auf den Menschen in der modernen Profanität beschränke, wäre freilich ein grobes Missverständnis“. Was spricht dagegen, so zu denken, also seiner eigenen Tradition treu zu bleiben, ggf. auch ihren religiösen Wurzeln, und gleichwohl andere Traditionen zu achten und, soweit das freilich nicht irreversibel geschehen ist, den westlichen Rationalismus und seinen technischen Niederschlag nicht imperialistisch und / oder hinterhältig in andere Kulturzonen exportiert sehen zu wollen? Eine Ahnung davon, dass diese im besten Sinn tolerante Einstellung aus der abendländischen Tradition stammt, die also auch für ihn im Grund unhintergehbar ist, dass die Rahmenbedingungen eines fairen globalen Diskurses und das Bemühen um einen solchen z. B. nicht aus der Gedankenwelt des islamistischen Fundamentalismus stammen, scheint mir bei Feyerabend immerhin stellenweise aufzublitzen. Was schließlich den zentralen Begriff der Vernunft anlangt: so warnt er freilich nicht nur, im Einklang auch mit der „Dialektik der Aufklärung“ von Horkheimer und Adorno, vor „Irrwegen der Vernunft“, sondern bezeichnet explizit an diversen Stellen die Vernunft als solche als Irrweg – „Farewell to reason“ lautet der englische Buchtitel. Aber es wird doch klar, dass da immer die auf die dürre Methode reduzierte Vernunft gemeint ist, die dogmatisch erstarrte, verdinglichte Aufklärung, das „Aufkläricht“, nicht die sozusagen vernünftige Vernunft, die Aufklärung als Vorgang, als permanenter Prozess, als freies, mündiges Denken, nicht als fertiges, konsumierbares Ergebnis – die abgeleiteten Substantive auf –ung haben ja sehr oft diese Doppelbedeutung. Folgerichtig, dass unter den von Feyerabend hochgeschätzten Autoren, die er als Vorbilder nennt und empfiehlt, Lessing sehr weit oben steht. Wie Lessing z. B. Horaz „gerettet“ und verteidigt hat, verteidigt Feyerabend z. B. Ernst Mach, der entgegen der herrschenden Meinung kein schlichter Relativist gewesen sei. Mit Anerkennung wird Erwin Chargaff genannt („Das Feuer des Heraklit“); Protagoras; Niels Bohr; J. S. Mill („On liberty“). Ganz zentral: Aristoteles, als Philosoph des common sense, des gesunden Menschenverstands. Hegel steht wie bei den Erlangern eher am Rande; das dialektische Fluktuieren, alles, was an Hegel romantisch ist, könnte Feyerabend ebenso angesprochen haben, wie ihn der Anspruch eines umfassenden, wohlstrukturierten Systems abgestoßen haben muss. Kant und Platon: teils mit Bewunderung zitiert, teils kritisiert, wo auch andere Leser bei ihnen eine Tendenz zum „Totalitären“ konstatiert haben – auch bei der „kritischen Rekonstruktion“ Kants durch Kamlah oder Schwemmer wird manches als starrsinnig und dogmatisch, als unvernünftig abgelehnt. Unter Feyerabends Anregern darf schließlich auf keinen Fall der Komödiendichter Johann Nestroy vergessen werden – „das Lachen, nicht die Wahrheit macht uns frei“ schreibt Feyerabend, sehr ähnlich dem Fazit des Erzählers in Umberto Ecos „Der Name der Rose“. Was die Wahrheit, für Feyerabend eine abstrakte Leerformel, eine bloße Worthülse – was die Wahrheit betrifft, bleibt freilich seine Überzeugung eine harte Nuss, dass Konsequenz und Widerspruchsfreiheit für eine Theorie und ein Gedankengebäude nicht nur nicht erforderlich, sondern geradezu schädlich seien – ihr Fehlen sei geradezu ein Merkmal von Lebendig- und Fruchtbarkeit und Zeichen ihres Werts. Das wirkt nicht unbedingt fair: wenn sich Feyerabend das Recht auf Selbstwidersprüche zugesteht und damit gegen alle Kritik immunisiert, inklusive die Kritik an dieser Immunisierung. Meine Damen und Herren, ich habe Ihnen Grundzüge einer hausgemachten, dilettantisch selbstgemixten und mir insofern plausiblen Philosophie vorgestellt, deren zwei Pole der Erlanger Konstruktivismus und Paul Feyerabend sind; dass hier tatsächlich nicht Unverträgliches zusammengezwungen wird, dass sich beide Seiten nach meiner Zeit, den 70er Jahren, irgendwie aufeinander zubewegt, jedenfalls intern weiterentwickelt haben, will ich Ihnen zum Schluss zeigen. Wichtig scheint mir, an der „Vernunft“ festzuhalten, am Prinzip, Konflikte nicht „naturwüchsig“, sondern planmäßig und regelgeleitet auszutragen, auch wenn das zuletzt durch den real existierenden Sozialismus desavouiert worden ist und das Leben langweiliger macht; aber die Schwächeren sind damit besser vor den Stärkeren geschützt als bei liberaler Selbstregulierung des Systems. Auf der einen Seite steht nun der erwähnte Kuno Lorenz, Jahrgang 1932, der über Logik, Sprachphilosophie und Anthropologie gearbeitet hat; er interessiert sich seit den 90er Jahren für indisches Denken. 1998 erschien von ihm im Beck-Verlag „Indische Denker“ – ein sehr interessantes, meines Erachtens freilich unlesbares Buch. Die eine der beiden Stellen, die ich zu verstehen glaube, lautet: „Nach einer einflussreichen Tradition, die als mehrfach erneuerte Aufklärung von der Antike bis heute reicht, sind wir es (…) gewohnt, von Selbstbestimmung als Aufgabe der Vernunft zu sprechen. Da aber (…) Vernunft das Allgemeine und nicht das Besondere betreffen soll, wird Selbstbestimmung dabei irreführend als aus Einsicht freiwillig vollzogene Unterordnung unter allgemeine Gesetze verstanden, statt (…) als eine allgemeine Aufgabe, die jeder individuell zu lösen hat.“ Das bleibt auf dem Boden der Aufklärung, regelt aber das Verhältnis des Allgemeinen zum Individuum auf originelle Weise neu und trägt Emanzipationsbestrebungen Rechnung, die Feyerabend möglicherweise nicht weit genug, aber nicht gegen den Strich gegangen wären. Und nun der Schluss der „Zeitverschwendung“, des letzten Kapitels, „Fading away“, geschrieben nach dem letzten Schlaganfall, in täglicher Erwartung des Todes, unter dem Einfluss der Beziehung zu seiner deutlich jüngeren 4. Frau, Grazia BorriniFeyerabend, von einem anderen als dem früheren Feyerabend, der ja trotzdem darin aufgehoben sein mag. Die für ihn typische unauflösliche, spielerische Mischung von Ernst und Unernst scheint mir das auf eine höhere Ebene gehoben zu sein, auf die der „wissenden Gelöstheit“, die für Kamlah das A & O des Lebenkönnens (und Sterbenkönnens) ist; in den Worten des berühmtesten Satzes von Feyerabend, auf den er freilich sehr ungern zusammengestrichen werden wollte und auch hier nicht reduziert werden soll: „Anything goes“. „Vielleicht sind dies meine letzten Tage. Wir freuen uns über jeden einzelnen. Meine letzte Paralyse wurde durch eine Blutung im Hirn hervorgerufen. Ich möchte, dass nach meinem Ableben nicht Aufsätze und nicht letzte philosophische Erklärungen von mir zurückbleiben, sondern Liebe. Ich hoffe, dass sie weiterbesteht und nicht zu sehr beeinträchtigt wird von der Art meines Ablebens, das ich mir friedlich wie ein Koma wünsche, ohne einen Todeskampf, ohne schlechte Erinnerungen zurückzulassen. Was immer jetzt geschieht, unsere kleine Familie kann ewig leben – Grazia, ich und unsere Liebe. Das ist es, was ich mir wünsche: nicht dass mein Geist weiterlebt, sondern allein die Liebe.“ Die abschließende Nachbemerkung von Grazia Borrini-Feyerabend: „Einige Wochen, nachdem Paul diese Worte geschrieben hatte, griff der Tumor das Schmerzzentrum seines Gehirns an, und er brauchte extrem hohe Dosen Morphium. (…) Es war der 11. Februar 1994. Paul hatte seit über einer Woche in einem künstlich herbeigeführten Koma gelegen. Die Post brachte einen Brief von dem italienischen Verlag Laterza, der besagte, dass sie von der Autobiographie begeistert seien und sie sehr bald veröffentlichen wollten. Ich war gequält und erschöpft, aber ich freute mich über die gute Nachricht, und ich erzählte sie Paul mit Freude in der Stimme. Er atmete langsam und irgendwie friedlich. Ein paar Sekunden später gab es ihn nicht mehr. Wir waren allein, hielten unsere Hände, und es war Mittag.“