Gerd Braune - Arctic

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23. September 2010
Tausende Walrosse an Land,
Leiber an Leiber
Tiere versammeln sich an Alaskas Küste, weil das Eis sie nicht
mehr trägt – US-Studie sieht pazifische Herde durch
Klimawandel und Schwund von Meereis gefährdet
Von Gerd Braune (Anchorage/Ottawa)
Zum dritten Mal binnen weniger Jahre beobachten Wissenschaftler an
Alaskas Küste am Tschuktschen-Meer ein vorher völlig unbekanntes
Schauspiel: Tausende Walrosse versammeln sich auf einem schmalen
Küstenstreifen, dicht gedrängt, Leiber an Leiber. Sie müssen an Land gehen,
weil das Eis auf dem Meer entweder zu schwach ist sie zu tragen oder ganz
verschwunden ist. Eine Modellberechnung des Geologischen Dienstes der
USA ergab jetzt, dass sich der Lebensraum der Walrosse im Pazifik durch
den Verlust von Meereis deutlich verschlechtern wird.
An schmalen Küstenstreifen statt auf Eisschollen
„So weit wir wissen, ist dies das dritte Jahr, dass die Walrosse an der USKüste der Tschuktschen-See an Land gingen, 2007, 2009 und jetzt 2010“,
sagt Tony Fischbach, Biologe im Walross-Forschungsprogramm der US
Geological Survey (USGS) in Anchorage, dieser Zeitung. „2008 geschah es
nicht, vermutlich wegen der Beständigkeit von Meerjahres-Eis in der
östlichen Tschuktschen-See.“ Normalerweise würden sich die Weibchen
und ihre Jungen auf großen Eisschollen im Meer aufhalten, wenn sie sich
ausruhen wollten. „In den vergangenen Jahren mit eisfreiem Meer begaben
sich die Walrosse aber an Land um sich auszuruhen“, erläutert Fischbach.
Im September 2009 hatte der zum US-Innenministerium gehörende „Fish
and Wildlife Service“ ein Verfahren eingeleitet, das klären soll, ob die
pazifischen Walrosse nach dem Gesetz über bedrohte Arten unter Schutz
gestellt werden sollten. Dies könnte Folgen für die Jagd auf Walrosse durch
die Ureinwohner Alaskas, aber auch für die wirtschaftliche Nutzung der
Bering- und der Tschuktschensee haben, wo die pazifischen Walrosse leben.
Eine Entscheidung wird Ende Januar erwartet.
„Klarar Trend zu verschlechterten Bedingungen“
Die jetzt veröffentlichte USGS-Studie soll zur Meinungsbildung beitragen.
Die Berechnungen zeigen „einen klaren Trend sich verschlechternder
Bedingungen für das pazifische Walross“ mit der Möglichkeit, dass der
Fortbestand der Gattung bis Ende des Jahrhunderts gefährdet ist.
„Klimaerwärmung und der Rückgang des Meereis-Lebensraumes stellen
eine besonders schwierige Herausforderung für den Erhalt der polaren
Meeressäugetiere dar“, heisst es in der Studie.
Walrosse mit ihren charakteristischen langen Hauern leben in arktischen und
subarktischen Gewässern. Die mehr als drei Meter großen und eine Tonne
schweren Tiere brauchen Eis, das stark genug ist sie zu tragen, aber auch
dünn genug, dass sie Atemlöcher ins Eis hauen können. Auf dem Eis
bringen die Weibchen ihre Jungen zur Welt und säugen sie dort. Das Eis
wird auch als Plattform für Tauchgänge nach Muscheln, Krabben und
Würmern auf dem Meeresboden genutzt.
In flachen Gewässern über dem Kontinentalsockel
Das Pazifische Walross lebt in den relativ flachen Gewässern über dem
Kontinentalsockel Alaskas und Ostsibiriens in der Tschuktschen- und
Bering-See. Der Bestand wurde bei Untersuchungen zwischen 1975 und
1990 auf 200.000 bis 234.000 geschätzt. Eine neuere Studie gibt die Zahl
mit 129.000 an, aber ein Teil des Walrossgebietes konnte nicht untersucht
werden, so dass diese Zahl einen hohen Unsicherheitsfaktor hat und nicht als
verlässliche Basis angesehen werden kann. In Nord-Kanada und bei
Grönland leben etwa 20.000 Atlantische Walrosse.
Wie für den Eisbär bedeutet der Schwund von Meereis auch für das Walross
eine große Gefahr. Die Modellrechnungen der USGS ergaben, dass der
Bestand der Tier bis Ende des Jahrhunderts seinen jetzigen Status als
„robust“ und „bleibend“ verlieren und sich Richtung „verletzbar“, „selten“
oder gar „ausgerottet“ entwickeln könnte. Für die beiden letzteren
Kategorien hat USGS zwar nur eine Wahrscheinlichkeit von jeweils unter
zehn Prozent ermittelt, zusammen mit dem Gefährdungsstatus „verletzbar“
kommt USGS aber auf eine Wahrscheinlichkeit von zusammen 40 Prozent.
Sollte das Meereis schneller verschwinden als angenommen, könnte sich
auch der Status der Walrosse schneller verschlechtern.
Paniken in Walrossherden
Das „Center for Biological Diversity“ in Anchorage in Alaska sieht das
Walross „auf einer Zeitschiene Richtung Ausrottung“. Die Studie zeige
eindeutig, dass das Walross langfristig bedroht und „auf dem Pfad zur
Ausrottung bis Ende des Jahrhunderts“ sei. Die Studie basiere aber „auf
optimistischen und letztendlich unrealistischen Annahmen über den Verlust
von Meereis“, erklärt Rebecca Noblin. Die USGS-Studie nutze
Klimamodelle, die Emissionen, Erwärmung und arktische Eisverluste
unterschätze. Die Organisation kritisiert, dass USGS die Auswirkungen der
geringeren Nahrungsangebots für Walrosse durch Übersäuerung der
Gewässer außer Acht lasse. Zusätzlich bedroht seien die Tiere durch die
geplanten Ölbohrungen in der Tschuktschensee.
Wenn durch Klimawandel das küstennahe Eis verschwindet, müssen die
Tiere an Land gehen, wo sie wie jetzt auf engem Raum zusammengedrängt
leben. In den vergangenen Jahren führten Paniken in Walrossherden zu
Massenfluchten, bei denen Hunderte Tiere, vor allem Jungtiere, getötet
wurden. Es herrschten die gleichen Bedingungen wie vor einem Jahr, als
nahe Cape Icy in Alaska mehr als 100 Walrosse erdrückt wurden und
Jungtiere an Erschöpfung oder wegen der Trennung von den Muttertieren
starben, fürchtet der WWF.
© Gerd Braune
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