Vortrag zum Neujahrsempfang der Johannes Loge Georg zum

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„Ein jedes Band, das noch so leise
die Geister aneinander reiht,
wirkt fort auf seine stille Weise
durch unberechenbare Zeit.“1
Vortrag zum Neujahrsempfang am 25.1.2015
Br. Mathias Schneider - Freimaurerloge Georg zum silbernen Einhorn
Die Idee der Freimaurerei hat sich vor 200 Jahren auch in Nienburg realisiert: Am 21. Juni 1815 wurde die Loge
Georg zum silbernen Einhorn im alten Nienburger Posthofe an der Georgstraße feierlich eröffnet. Den Namen
Georg wählte man nach dem Landesherrn König Georg. III., das Einhorn-Siegel war dem Wappen des
Hannoverschen Königshauses entnommen.2
Zu den Brüdern der ersten Stunde zählten Persönlichkeiten, dessen Namen auch heute noch untrennbar mit der
Nienburger Stadtgeschichte verbunden sind. So etwa Br. Christoph Kotzebue – zur Zeit der Logengründung bereits
Altbürgermeister der Stadt – der sich u.a. besondere Verdienste um die Rettung des Stadtarchivs während der
französischen Okkupationsjahre erwarb.
Oder der bekannte Architekt und Straßenbauer Bruno Emanuel Quaet-Faslem. Als Senator für das städtische
Bauwesen war er bei der Neugestaltung des Stadtwalls federführend tätig. Darüber hinaus zählen die Umgestaltung
des alten Kavallerie-Reithauses in ein Schulgebäude, die Errichtung mehrerer Amtsgebäude und die Neugestaltung
eines Paradeplatzes am Schlossplatz, neben seinem Wohnhaus – das heutige Quaet-Faslem-Haus – zu seinen
bekanntesten und besten baulichen Schöpfungen.3 Doch nicht nur baugeschichtlich hat Br. Quaet-Faslem seine
Spuren in Nienburg hinterlassen. Auch die Wiedererlangung einer Garnison (1825), der Anschluss Nienburgs an
die neue Eisenbahnlinie Hannover-Bremen (1847) und nicht zuletzt die Wiederbelebung des Nienburger
Scheibenschießens sind auf seine erfolgreichen Bemühungen zurückzuführen.
Was bewegte Männer wie Kotzebue oder Quaet-Faslem, Mitglied einer Loge zu werden? Warum fasziniert und
existiert Freimaurerei bis zum heutigen Tage – und das fast weltweit? Die Idee der Freimaurerei hat ihre Wurzeln
in England, wo 1717 die erste Großloge gegründet wurde.
Diese Londoner Großloge gab sich 1723 ihre erste Verfassung, die nach ihrem Verfasser James Anderson auch
als „Andersonsche Konstitutionen“ bezeichnet werden und in Deutschland als die „Alten Pflichten“ jedem Bruder
bekannt und richtungweisend sind. Die „Alten Pflichten“ enthalten die bis in die Gegenwart gültigen Grundlagen
der Freimaurerei:
1.
Die Verpflichtung des Freimaurers auf ein moralisch integres Handeln
2.
Den Verzicht auf trennende religiöse und politische Festlegungen
Sowie 3. die Praxis der Toleranz als Grundlage von Einigkeit und Freundschaft
1
Wilhelm Siebert, Gedenkschrift zum 140jährigen Bestehen der unter der Konstitution der Vereinigten
Großloge der Alten und Freien und Angenommenen Maurer von Deutschland arbeitenden Johannes-Loge
„Georg zum silbernen Einhorn“ i, Or. Nienburg a. d. Weser, Nienburg 1955, 3.
2
Vgl. Siebert 1955, 4.
3
Vgl. Vgl. Siebert 1955, 16.
1
Von England aus breiteten sich die Ideen, Organisationsformen und Symbole des Bundes wie ein Lauffeuer in
viele Teile der Erde aus. Die erste deutsche Loge entstand 1737 in Hamburg. Bald nach der Hamburger Gründung
folgten Logengründungen nahezu in allen deutschen Städten. In den ersten 50 Jahren der deutschen
Freimaurergeschichte, bis zum Jahre 1787, wurden rund 400 Logen mit ca. 25.000 Mitgliederaufnahmen
gegründet. Zu einer weiteren Gründungswelle kam es im Deutschen Reich nach 1871. Diese Entwicklung hielt bis
in die Weimarer Republik an. So entstanden zwischen 1871 und 1925 weitere 300 Logen und die Zahl der
Mitglieder aller deutschen Logen erreichte Mitte der 1920er Jahre ihren Höchststand mit über 80.000 Freimaurern.
Heute gibt es in Deutschland ca. 450 Logen mit knapp 14.000 Mitgliedern.4
Die „Praxis der Toleranz als Grundlage von Einigkeit und Freundschaft“, wovon oben im Zusammenhang mit den
„Alten Pflichten“ bereits die Rede war, zeigt eine Facette dessen auf, was Freimaurerei ist: Nämlich ein
Freundschaftsbund, der über alle weltanschaulichen, politischen, nationalen und sozialen Grenzen hinweg
Menschen miteinander verbindet. Die Freimaurer folgen damit ihrer speziellen Tradition, Trennendes zu
überwinden, Gegensätze abzubauen, Verständigung und Verständnis zu fördern sowie Menschen zu verbinden,
die sich nach Herkunft und Interessenlage sonst nicht begegnen würden. Anders formuliert: In den Logen kommen
sich Menschen einander nahe, ohne sich zu vereinnahmen, die Brüder können Gedanken untereinander zirkulieren
lassen, ohne sich Überzeugungen aufzunötigen.
Doch Freimaurerei ist mehr als ein geselliger Zusammenschluss von Freunden, die sich Toleranz und
Brüderlichkeit auf die Fahnen geschrieben haben. Sie ist auch eine symbolorientiere Initiationsgemeinschaft. Zur
Festigung der zwischenmenschlichen Beziehungen, zur gefühlsmäßigen Vertiefung und Verankerung ihrer
ethischen Überzeugungen und als Anleitung zur Selbsterkenntnis bedienen sich die Logen alter, vor allem aus der
Tradition der europäischen Dombauhütten stammender Symbole und Rituale, in deren Mittelpunkt u.a. die
feierliche Aufnahme eines neuen Mitglieds in die brüderliche Gemeinschaft steht.
Bei den sog. Tempelarbeiten arbeiten die Brüder Freimaurer an der eigenen moralischen Verbesserung. Dabei geht
es um Selbsterkenntnis, um das „Erkenne Dich selbst“ und um Selbstveredelung zugleich: Der Ausgangspunkt
aller veredelnden Tätigkeiten ist die Einsicht in die eigene Unvollkommenheit. Die Freimaurerei setzt den Zustand
der Unvollkommenheit der Menschen als naturgegeben voraus; denn gerade so, wie kein Stein in der Natur dem
andern gleicht und deswegen ungeeignet scheint zum Errichten eines großen Werkes, sind die Menschen – wie
Kant sagt – aus „krummem Holz“ geschnitzt.
Der salomonische Tempel symbolisiert für die Maurer den unvollendeten Bau der Menschheit: Für den Bau am
Tempel der Humanität und zur Förderung des Zusammenhaltens der einzelnen Individuen sollen sich die Brüder
zunächst den Zustand ihrer Rohheit vergegenwärtigen und an sich arbeiten wie an einem rauen, unbehauenen
Stein. Die Tempelarbeiten vergegenwärtigen symbolisch Praktiken und Vorstellungen, in denen der Prozess der
Vervollkommnung einzelner Bausteine sichtbar gemacht wird: Dies ist in seiner elementarsten Form bereits die
Tätigkeit eines Steinmetzen, der mit seinem Werkzeug einem rauen, unbehauenen Stein diejenige Form verleiht,
durch die er sich in ein größeres Ganzes einfügen kann.
4
Die meisten, hier nicht gekennzeichneten Ausführungen zur Geschichte und zum Wesen der Freimaurerei sind
dem Vortrag von H.-H. Höhmann, Freimaurerei: Herkunft und Zukunft, Vortrag zum Neujahrsempfang der
Nienburger Loge (gehalten am 26.1.2014) entnommen.
2
Freimaurerei versteht sich deshalb in erster Linie als ein ethisch orientierter Bund, der mit seinen Wertpositionen
Humanität, Brüderlichkeit, Freiheit, Gerechtigkeit, Friedensliebe und Toleranz Orientierungen und Maßstäbe für
das Denken und Handeln seiner Mitglieder vorgeben will. Ethisch orientierte Diskurse spielen hierfür eine große
Rolle. Nichts geht über das „laut denken“ mit einem Freunde, wie der Freimaurer Lessing eine der zentralen
freimaurerischen Grundüberzeugungen auf den Punkt gebracht hat.
Lassen Sie uns, sehr verehrte Gäste, - zur Einfühlung in unsere freimaurerische Denkweise - diesem lessingschen
Impuls - „laut zu denken“ - folgen, und einige klassische freimaurerische Wertpositionen und Symbole in die
Gegenwart überführen. So können wir prüfen, ob wir es hier mit unnützen Worthülsen zu tun haben oder mit
probaten Werkzeugen, die uns auch heute noch dienlich sind. Als ethisch orientierte Brüderschaft ist es auch unsere
Aufgabe zu fragen, welche Werte in der Gegenwart bedroht sind und welche Ethik eine zeitgemäße ist, um unser
Denken und Handeln zu überdenken.
Ich möchte zeigen, dass die freimaurerischen Symbole des rechten Winkels bzw. Winkelmaßes im Lichte
gegenwärtiger Krisen – insbesondere in Hinblick auf die globale Umweltkrise – eine ganz neue Bedeutung erlangt
und an Aktualität eher hinzugewonnen als verloren haben.
Das Winkelmaß ist Sinnbild dafür, unsere Handlungen nach Recht, Gerechtigkeit und Menschlichkeit
auszurichten, damit sie innerhalb gewisser Schranken gewissenhaft und regelkonform ausgeübt werden können.
Und auch im Lehrlingswerkzeug, im 24-zölligen-Maßstab, drückt sich das aus, was wir um unserer eigenen
Vervollkommnung tuen sollten, nämlich unsere Tagesstunden und Lebenszeit plan- und maßvoll einzuteilen.
Indirekt drücken diese Symbole die Idee des Maßhaltens in der Lebensführung aus. Die Idee des Maßhaltens als
Lebensprinzip ist allerdings schon sehr alt. Das moralische Ausloten zwischen Übermaß und Mangel als Suche
nach dem rechten Maß beziehungsweise dem Verhältnis zur rechten Mitte hat Platon in seinem Spätwerk Politikos5
aufgegriffen. Darin schreibt Platon: „Offenbar gilt es, die Meßkunst […] in zwei Teile zu zerlegen“. Neben Zeitund Längeneinheiten (der erste Teil) ist für Platon die Meßkunst diejenige Kunst, „[…] welche die Messung
vollzieht im Verhältnis zur rechten Mitte, zum Anständigen, Schicklichen und Pflichtgemäßen, kurz zu allem, was
von den Extremen flieht und zur Mitte neigt.“ All das, was sich in der Mitte zwischen zwei Extremen bildet, wird
als „angemessen“, „gebührend“ oder „entsprechend“ angesehen. Nach Platon sind Handlungen dann
„angemessen“, wenn sie von extremen Positionen entfernt und zu mittleren hin ausgerichtet sind.
Auf die heutige Zeit bezogen lassen sich mit diesem platonischen Grundsatz etwa die PEGIDA-Aufmärsche mit
aller Entschiedenheit zurückweisen: Zweifellos darf jedermann gewissen Tendenzen des Islams gegenüber kritisch
sein, es ist aber völlig unangemessen, sogleich in extremistische Positionen zu verfallen.
Doch inwiefern, so müssen wir uns fragen, steht das rechte Maß, von dem ich hier allgemein spreche, im Verhältnis
zu globalen Problemen? Um diese Frage näher zu beleuchten, ist es notwendig, auf die Umweltkrise einzugehen
und aufzuzeigen, warum sie auch uns unmittelbar betrifft.
5
Platon, Politikos 284, A1 – E 8, 13. Kapitel, zitiert aus: Giovanni REALE, Zu einer neuen Interpretation Platons:
eine Auslegung der Metaphysik der großen Dialoge im Lichte der „ungeschriebenen Lehren“, Paderborn 1993,
335.
3
III.
Durch den Klimawandel werden, darin sind sich Ökologen und Ökonomen inzwischen einig, Lebensqualität und
Lebensstandard in den nächsten Jahrzehnten drastisch sinken. „Die wichtigste Erkenntnis,“ so formuliert der
Biologe Reichholf, „die von Wissenschaft, Politik und Wirtschaft gegenwärtig geteilt wird, lautet, dass unser
ressourcenschweres westliches Wohlstandsmodell (heute gültig für eine Milliarde Menschen) nicht auf weitere
fünf bis zum Jahr 2050 oder sogar auf acht Milliarden Menschen übertragbar ist. Das würde alle biophysikalischen
Grenzen unseres Systems Erde sprengen.“6
Nicht nur der an wachsendem Konsum orientierte westliche Lebensstil, der derzeit auch von Schwellen- und
Entwicklungsländern angestrebt wird, sondern seine Verbindung mit einem rapiden Bevölkerungswachstum, das
sich vor allem in den ärmeren Ländern der Erde vollzieht, sind entscheidend für die Ausbeutung der Natur und
damit auch für die Bedrohung der gesamten Menschheit.
Damit kommen wir zu einer wichtigen Frage: Welche Faktoren erzeugen die Dynamik, die die Grundlage des
menschlichen Lebens bedroht? Nicht ein einzelner Faktor, sondern erst das spezifische, historisch entstandene
Zusammenspiel verschiedener Momente, die allesamt für die Kultur entscheidend sind, erzeugt die gegenwärtige
Krise. Diese ist zugleich eine ökonomische, ökologische und ethisch-humane. Ihren Ursprung hat sie in einer
Weichenstellung, die im 15. Jahrhundert erfolgte, als sich der Fortschritt der Naturwissenschaft mit dem der
Technik und der Lebenswelt verband und die Natur zu einem naturgesetzlich zu erklärenden, wertlosen Objekt
wurde.
Es entstand dadurch eine Form der Ökonomie, die Güter, die zuvor nur wenigen zugänglich waren, für immer
mehr Menschen erreichbar machten. Nicht mehr Subsistenz, sondern die Mehrung der Güter wurde zum Ziel der
Ökonomie.
Damit vollzog sich auch eine Umwertung der Arbeit: Sie diente nicht mehr der Lebenssicherung, sondern
wachsendem Wohlstand. Die Muße, sich kreativen Tätigkeiten zu widmen, die in Hinblick auf den sozialen Status
unwichtig waren, wurde von der Freizeit abgelöst, die der Regeneration von der Arbeit dient und inzwischen zu
einem wichtigen Teil der Konsumgesellschaft wurde. Was freilich ‚Glück‘ wirklich ist, war schon immer
umstritten: Ist ein vollgefressenes Schwein glücklicher als Sokrates, der um des Glücks der Erkenntnis und eines
ethischen Lebens willen auf viele Annehmlichkeiten verzichtet? Tatsache ist, dass spätestens im 20.Jahrhundert
für immer mehr Menschen das sinnlich-vitale Wohlbefinden, Lust und Spaß, zum Lebensinhalt wurden; ‚Mühsal
und Plage‘, Anstrengung in jeder erdenklichen Form, werden dagegen immer mehr als etwas gesehen, was sich
mit Hilfe der modernen Technik ausschalten lässt.
Doch ist die Technik wirklich der Garant für wachsenden Wohlstand und steigende Lebensqualität? Lassen sich
Wohlbefinden und Glück technisch erzeugen? Alle technischen Erzeugnisse sind zwiespältig, sie lassen sich zum
Guten wie zum Bösen einsetzen. Da jedoch sowohl anthropologisch wie unter den Bedingungen der Gegenwart
6
Die folgenden Ausführungen sind größtenteils entnommen aus meiner Forschungsarbeit über "Nachhaltigkeit
und die Naturphilosophie Vittorio Hösles" (ab Sommer 2015 bei Amazon erhältlich.) Weitere wichtige
Gedankenimpulse aus: R. Kather, Die Wiederentdeckung der Natur, Wiesbaden 2013.
4
ein Leben ohne Technik undenkbar wäre, gilt es immer wieder zu fragen, welche Formen der Technik wirklich
dem menschlichen Leben dienen, - welche dagegen nur der Steigerung des Konsums und der Gewinnmaximierung
nützen. Wie etwa, um einige Beispiele zu nennen, wirkt sich die Erzeugung von Energie durch Mais und andere
Futterpflanzen auf die Biodiversität aus? Welchen Interessen dienen die mit Quecksilber gefüllten
Energiesparlampen wirklich? Sparen wir damit überhaupt Energie? All diese Technologien werden mit hohen
Subventionen gefördert und sind mit der Verheißung verbunden, dass effizientere Technologien die ökologischen
Probleme lösen können, ohne dass sich der Lebensstil und die ihm zugrunde liegenden Werte ändern müssen, dass
also das Wirtschaftswachstum, das auf wachsendem Konsum beruht, ungebrochen weitergehen kann – nur dass
nun eben andere Güter konsumiert werden.
Die diesem Credo, das derzeit von allen führenden Politkern quer durch die Parteien und von den Leitern der
großen Geldinstitute wie der EZB oder der FED verkündet wird, zugrunde liegende Einstellung bezeichnet Hans
Jonas als Völlerei, mithin mit einem Wort, das ehemals eine der sieben Todsünden bezeichnete. Als Völlerei galten
Verhaltensweisen, die Ausdruck von Enthemmung und Maßlosigkeit waren und denen eine Perversion, eine
Verkehrung der Rangordnung der Werte zugrunde lag. Die von Gier getriebenen Menschen sind, trotz der Fülle
an Wahlmöglichkeiten, die ihnen suggerieren, alles gleichzeitig haben zu können, innerlich unfrei. Deshalb ist für
Jonas der enthemmte Konsumismus der Gegenwart auch Ausdruck von Würdelosigkeit. In dem Run nach immer
mehr, immer billiger und schneller („Geiz ist Geil“) verstoßen die Menschen, mit Kant gesprochen, gegen die
Achtung, die sie sich selbst und anderen schulden.
***
Nur wenn man das menschliche Leben als ein Gut, als einen Wert ansieht, den es zu erhalten gilt, kann man
begründen, dass wir unsere Lebensweise so einrichten sollen, dass die Grundlagen des Lebens nicht zerstört
werden. Dass sich die moderne Ethik, anders als jede frühere, mit der Frage befasst, ob es auch in Zukunft noch
Menschen geben soll, liegt an der Ausweitung der Macht: Diese hat durch die moderne Technik in räumlicher
Hinsicht eine globale Reichweite gewonnen und erstreckt sich in zeitlicher Hinsicht auf unüberschaubar viele
Generationen. Zum ersten Mal ist die Möglichkeit entstanden, die biologische Grundlage des Lebens auf der Erde
zu vernichten. Dadurch steht nicht nur das Überleben des Einzelnen auf dem Spiel oder das gute Leben Platons,
sondern das Überleben der Menschheit.
Wenn Verantwortung, wie Jonas argumentiert, ein Korrelat zur Macht ist, die jemand, eine Institution oder die
Gesellschaft insgesamt haben, dann wird ‚die Zukunft zum unabgeschlossenen Horizont unserer Verantwortung‘.
Sieht man im Überleben nicht nur des Einzelnen, sondern der Menschheit und möglicherweise auch anderer
Kreaturen einen ethischen Wert, dann entspringt daraus die Pflicht, die Lebensbedingungen, soweit es in der Hand
der Menschen liegt, zu erhalten. Die Reichweite der Verantwortung ist für Jonas ein Korrelat zur Macht, die
Menschen haben – als Individuen und als Repräsentanten von Institutionen und Staaten. Die Beschränkung auf
regionale oder nationale Interessen ist angesichts der globalen Reichweite des Handelns unzureichend. Je
umfassender die Macht ist, desto weiter reicht die Verantwortung – räumlich wie zeitlich.
Doch die Menschen sollten nicht nur überleben, sondern ihre körperlichen und geistigen Möglichkeiten, zu denen
auch ethische Pflichten gehören, entfalten können. Die Sicherung des Lebensstandards kann hierfür nur ein
begrenztes Mittel sein. Dabei kann freilich schon die Summierung unzähliger einzelner Handlungen eine globale
5
Wirkung haben, wie wir spätestens seit der Entstehung des Ozonlochs wissen: Spraydosen und Kühlschränke,
Autos und Ernährungsgewohnheiten zahlloser Individuen summieren sich und erzeugen globale Effekte.
Menschen stehen nicht außerhalb der Biosphäre, sondern sind ein wirkender Faktor in ihr. Obwohl kein
Individuum die großräumigen Effekte verhindern kann, trägt es doch zu deren Entstehung oder auch
Abschwächung mit bei.
Nur durch die Beziehung zu anderen Menschen und der Natur können Menschen ihre Identität entwickeln. Das,
was wir sind, verdanken wir nicht nur unserem eigenen Lebensentwurf, sondern auch dem, was wir von anderen
empfangen haben. Soll diese Kette von Geben und Nehmen nicht abreißen, müssen Menschen das, was sie selbst
schätzen, an die kommenden Generationen weitergeben. Schon sehr früh erkannte man, dass eine Gemeinschaft
nur befriedet leben kann, wenn das Handeln von einem Ausgleich von Geben und Nehmen bestimmt ist, wenn
man nicht nur nimmt, sondern auch gibt. Auf die gegenwärtige Problematik bezogen bedeutet das, dass es
ungerecht wäre, wenn eine Generation für ihren eigenen Wohlstand die Güter der Erde verzehren und der nächsten
Generation nur den Müll und die Not hinterlassen würde.
Aus dieser Einsicht entstand ein neuer ethischer Begriff, der freilich inzwischen fast zu einem sinnleeren Joker
wurde: die Verpflichtung zum nachhaltigen Handeln. Ursprünglich stammt der Begriff, der 1713 von Hans von
Carlowitz geprägt wurde, aus der Forstwirtschaft. Er diente zur Charakterisierung der Bewirtschaftungsweise eines
Waldes, bei der nur so viel Holz entnommen werden darf wie nachwachsen kann. Damit sich der Wald immer
wieder regenerieren kann, darf er nie vollständig abgeholzt werden.
Der heute maßgebliche Begriff der nachhaltigen Entwicklung wurde 1987 von der Brundtland-Kommission
definiert. Er beinhaltet „eine Entwicklung, die den Bedürfnissen der heutigen Generation entspricht, ohne die
Möglichkeiten künftiger Generationen zu gefährden, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen und ihren
Lebensstandard zu wählen.“
Die jeweils lebende Generation hat die ethische Verpflichtung, den Planeten so zu hinterlassen, dass auch künftige
Generationen überleben und ein qualitativ gutes Leben führen können. Entscheidend ist der Impuls, dass die
gegenwärtige Generation die Ressourcen nicht soweit aufbrauchen darf, dass die kommenden Generationen keinen
Spielraum für ihre Lebensgestaltung mehr haben. Weder die gigantische Staatsverschuldung noch die Erzeugung
und Lagerung von atomarem Müll, der noch etliche Jahrtausende strahlen wird, ist mit der Erklärung, dass jede
Generation ihre Probleme lösen müsse und sie nicht den kommenden Generationen aufbürden dürfe, zu
vereinbaren. Das Glück der gegenwärtigen Generation darf nicht, so hat Jonas bereits 1979 in seinem Werk ‚Das
Prinzip Verantwortung‘ gefordert, mit dem Unglück oder gar der Vernichtung späterer Generationen erkauft
werden.
Schon in der Befriedigung biologischer Bedürfnisse, in der Erzeugung von Nahrung, der Anlage von Städten und
der Wahl von Fortbewegungsmitteln müssen Grenzen akzeptiert werden. Nicht alles, was gewünscht wird und
technisch möglich ist, darf gemacht werden. Nur wenn die Natur in ihrer Komplexität, ihren zeitlichen Rhythmen
und ihrer Eigendynamik respektiert wird, können sich Ressourcen zumindest für eine relativ lange Zeit
regenerieren, so dass das Überleben und ein qualitativ gutes Leben möglich sind. Ein selbst-bestimmtes,
6
menschenwürdiges Leben beruht gerade nicht auf der Freiheit, jederzeit alles tun zu können, was man tun will,
sondern auf einem im ursprünglichen Sinn des Wortes maßvollen, Proportionen wahrenden Handeln.
Um hemmungslosem Konsumismus und der Ausbeutung der Natur entgegenzuwirken, ist, wie auch der
Nichtfreimaurer Jonas betont, die Wiederbelebung der Tugend des Maßes erforderlich: „Wie betätigt sich die von
der Verantwortung uns neuerdings auferlegte Vorsicht? Letztlich in einer neuen Bescheidenheit der Zielsetzungen,
der Erwartungen und der Lebensführung. Um die in vollem Lauf begriffene Ausplünderung, Artenverarmung und
Verschmutzung des Planeten aufzuhalten, der Erschöpfung seiner Vorräte vorzubeugen, sogar einer menschlich
verursachten, unheilvollen Veränderung des Weltklimas, ist eine neue Frugalität [Einfachheit] in unseren
Konsumgewohnheiten vonnöten. ‚Einfachheit‘: da wären wir also bei einem recht alten und erst jüngst aus der
Mode gekommenen Wert. Enthaltsamkeit (continentia) und Mäßigkeit (temperantia) waren durch lange Vorzeiten
des Abendlandes obligate Tugenden der Person, und ‚Völlerei‘ steht groß im kirchlichen Katalog der Laster.
Gefordert ist sie im Weitblick auf die Erhaltung des terrestrischen Gesamthaushaltes, ist also eine Facette der Ethik
der Zukunftsverantwortung.“
Kommen wir noch einmal zur Rolle der Technik zurück: Angesichts der wachsenden Zahl von Menschen auf
diesem Planeten wäre eine Rückkehr zum einfachen Handwerk aussichtslos, so dass die Alternative „entweder
Hochtechnologie oder Rückkehr zur Natur“ längst überholt ist. Nur moderne Formen der Hochtechnologie, wie
sie sich in der Gewinnung von Solarenergie und der Tröpfchenbewässerung abzeichnen, können das Überleben
sichern. Sie beruhen nicht mehr auf der Ausbeutung und Veränderung der Natur, sondern auf der Arbeit mit ihren
Kräften. Mit guten Gründen gelten diese Technologien heute als Schlüsseltechnologien.
Dennoch sind rein technische Lösungen unzureichend, da sie der Vorstellung verhaftet bleiben, dass der bisherige
Lebensstil mit Hilfe technischer Lösungen ungebrochen weitergeführt werden kann und nur die Effizienz
gesteigert werden müsse. Eine noch stärkere Funktionalisierung, Ökonomisierung und Entsinnlichung aller
Lebensbereiche wäre die Folge. Wächst zudem die Zahl technischer Hilfsmittel weiter, dann wird sich der
ökologische Fußabdruck nicht verkleinern, obwohl die Effizienz einzelner Geräte, von Autos, Waschmaschinen
und Kühlschränken, erhöht wird.
Die Anerkenntnis der Grenzen des Machbaren bedeutet keineswegs eine Beschränkung der eigenen Möglichkeiten
und einen Verzicht auf die Verwirklichung der eigenen Wünsche. Nur indem Menschen etwas akzeptieren, das
unabhängig von ihren Vorstellungen und Interessen existiert, können sie ihren eigenen Lebenshorizont
überschreiten.
Die Bereitschaft, die eigenen Interessen nicht zum Maß aller Dinge zu erheben, gehört zu den größten
Herausforderungen auf dem Weg zu einer Neuorientierung. Welche Lebensqualitäten könnten daher so verlockend
sein, dass sie zu einer Veränderung des Lebensstils, zur Überwindung von Bequemlichkeit und liebgewordenen
Gewohnheiten motivieren? An welchen Werten müsste sich eine Ökonomie orientieren, die nicht nur einem
würdelosen Konsumismus eine Absage erteilt, sondern auch die Bedingungen des Lebens bewahrt, die nicht auf
Ausbeutung, sondern auf Ausgleich und Teilhabe beruht?
7
Eine Antwort liegt im Gewinn an Lebenszeit bzw. Zeitwohlstand: Während alle materiellen Güter ersetzbar sind,
ist die Lebenszeit nicht ersetzbar. Was würde einem im Angesicht des eigenen Todes, der jederzeit kommen kann,
noch etwas bedeuten? Was wäre so wertvoll, dass man es dennoch tun würde? Würde man noch Lebenszeit opfern,
um immer mehr zu arbeiten, um sich ein größeres Auto zu kaufen, nur weil der Nachbar auch ein großes Auto hat?
Eine andere Antwort liegt im Gefühl für die Unterscheidung von sinnlosen und sinnvollen Tätigkeiten: Das Streben
nach Lust und Befriedigung ist zur Entspannung nötig, vermittelt durch seine Kurzlebigkeit und Einseitigkeit
jedoch kein Gefühl von Lebenssinn. Lebenssinn kann nur entstehen, wenn Zeit ist für Tätigkeiten, die als
Horizonterweiterung empfunden werden. Und hier sind wir wieder bei der Idee der Freimaurerei angelangt.
Vielen Dank
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