8 Freitag, 23. Oktober 2009 Mittendrin: HINTERGRUND Leben mit der Kinderlähmung: Krankheit prägt ganzes Leben Cellerin Ute Biesalski lebt seit ihrem zweiten Lebensjahr mit Einschränkungen traumatisch habe ich es emp- der mit der Kinderlähmung heiter, sonst bleiben sie nicht funden, als ich einmal aus der konfrontiert zu werden, aber schön!“, sagt Ute Biesalski. Und dann lächelt die lebensNarkose erwachte und mein trotz allem verfrohe Rentnerin und macht Bauch und beide Beine einge- suche ich jeden sich mit ihrem Hund Lilli auf gipst waren. Das war wirklich Tag aufs Neue dem Rollator auf den Weg schrecklich“, denkt Biesalski das Motto zu zum Einkaufen. zurück. leben, das ich Trotzdem verlor sie auch in auch in meiner dieser harten Zeit niemals ihr Polio-Selbsthildynamisches Wesen und ih- fegruppe ren erstaunlichen Lebensmut. immer Nach dem Schulabschluss verbreitet machte Biesalski eine Lehre habe: Bleisie zu ihrem Traumberuf: Buch- ben händlerin. „Den Beruf konnte immer ich leider irgendwann nicht mehr ausüben, weil ich nicht mehr heit und die Ansteckungsge- laufen konnte“, fahr war groß. betont sie. Als das Mädchen dann end„Natürlich ist lich wieder zu seinen Eltern es nicht schön, nach Hause durfte, konnte es durch einen nicht mehr laufen. Ganze an- Aktionsderthalb Jahre sollte es dau- tag ern, bis Ute allmählich das wieLaufen wieder erlernte. „Trotzdem haben meine Eltern mich ganz normal eingeschult. Das war wirklich ein Segen, denn meine Klassenkameraden waren in dieser Zeit eine ganz wunderbare Stütze für mich. Sie haben mich nie als jemanden behandelt, der nicht dazu gehört“, erinnert sich Ute Biesalski. Dennoch verlief die Kindheit für die kleine Ute seit der Krankheit in einer anderen Taktung als die ihrer gesunden Altersgenossen. So musste das Mädchen immer wieder in den Ferien über Wochen oder auch Monate ins Krankenhaus. „Das Schlimmste war, Polio-Patientin Ute Biesalski dass man früher als unterwegs mit ihrem Hund Lilli zum Einkaufen. Kind nicht wusste, was einen dort erwarten würde. Als besonders Seit 1955 der erste Polio-Impfstoff eingeführt wurde, ist die Zahl der an Kinderlähmung Erkrankten weltweit deutlich zurückgegangen. Gerade in Ländern wie Afghanistan oder Nigeria, aber auch in Pakistan gibt es auch heute noch zahlreiche Neuerkrankungen. „Wir dürfen jetzt nicht nachlassen und müssen die letzten Schritte konsequent und entschlossen gemeinsam bewerkstelligen“, betont Dr. Konrad Beyrer von der Kommission für PolioEradikation in Deutschland im Vorfeld des morgigen bundesweiten Aktionstages der Rotary Clubs. „Dann können wir die Krankheit auch endgültig besiegen.“ Was die Erkrankung mit dem Körper macht, hat die Cellerin Ute Biesalski erfahren. Sie erkrankte im Alter von zwei Jahren an Kinderlähmung. Von Janine Jakubik CELLE. Wenn Ute Biesalski lacht, dann aus vollem Herzen – ganz und gar. Dabei hätte die 69-Jährige in ihrem Leben schon oft Grund genug gehabt, das Lachen zu verlernen, denn bereits im sehr jungen Alter von nur zwei Jahren erkrankte die fröhliche ältere Dame an Kinderlähmung. Eine Krankheit, die ihr Leben fortan prägen sollte. „Vielleicht habe ich durch alles, was ich im Zusammenhang mit meiner Krankheit erlebt habe, ein anderes Menschenbild bekommen – das prägt einen Menschen natürlich sehr“, reflektiert Biesalski ihr Leben mit Polio. Mit nur zwei Jahren bekam Biesalski plötzlich Lähmungserscheinungen. „Meine Großeltern berichteten, ich sei einfach so vom Topf gefallen“, erinnert sich die dynamische Dame. Dann ging alles ganz schnell: Ein Militärarzt in Bad Pyrmont erkannte die Krankheit und ließ das kleine Mädchen sofort in einer Quarantänestation isolieren. Nicht einmal ihre Eltern durften sie in dieser Zeit besuchen, denn noch gab es keinen Impfstoff gegen die gefährliche Krank- „Kinderlähmung hautnah erlebt“ „Die Söhne impfen lassen“ „Keine Diskussion“ „Weil mein Vater an Polio erkrankt war und ich so hautnah erleben konnte, was das für den Betroffenen bedeutet, ist es mir wichtig, im Kampf gegen Polio nicht nachzulassen“, so Professor Martin Kirschstein, Chef der AKH-Kinderklinik. „Auch wenn ich Gott sei Dank niemanden mehr kenne, der Kinderlähmung hatte, habe ich meine beiden Söhne selbstverständlich impfen lassen. Die Gefahr ist ja noch nicht gebannt“, sagt die zweifache Mutter Daniela Wagner. „Wie alle meine Klassenkameraden wurde ich in der Schule gegen Kinderlähmung geimpft. Auch für meine Eltern war das ganz klar, da gab es gar keine Diskussion“, erinnert sich Claudia Kühn an ihre Schluckimpfung. Celler Rotarier machen mobil: Polio-Aktionstag in der Innenstadt CELLE (jjk). „Beim Kampf gegen eine der fürchterlichsten Krankheiten der Geschichte sind wir auf einem wirklich guten Weg. Wenn jetzt noch einmal alle Kräfte mobilisiert werden, dann können wir es schaffen, die Kinderlähmung endgültig von der Landkarte zu streichen“, sagt Prof. Dr. Dieter Fröhlich, Chefarzt der Anästhesie im Allgemeinen Krankenhaus und Poliobeauftragter des Rotary Clubs Celle. Ein Ziel, das von Rotariern weltweit mit großem Engagement vorangetrieben wird. Denn schaffen sie es bis zum Jahr 2012, rund 200 Millionen Dollar aufzubringen, wird die Bill & Melinda-Gates- Stiftung nochmals 355 Millionen Dollar dazu schießen. Teil dieser weltweiten Kraftanstrengung sind die Mitglieder der beiden Celler Rotary Clubs Celle und CelleSchloss, die anlässlich des bundesweiten Aktionstages am morgigen Sonnabend eine Vielzahl an Aktionen ins Leben gerufen haben. „Seit mehreren Wochen stehen in vielen Celler Arztpraxen, in Sparkassenfilialen und auch im AKH Spendenboxen, mit denen Geld für den Kampf gegen Polio gesammelt wird“, beschreibt Prof. Dr. Martin Kirschstein, Chefarzt der AKH-Kinderklinik und Poliobeauftragter des RC CelleSchloss, das Wirken der heimischen Rotarier. Außerdem steht am morgigen Sonnabend ab 9 Uhr ein großer Stand direkt gegenüber von Karstadt in der Celler Innenstadt. Hier gibt es vielfältige Informationen zum Thema. Fachleute geben Informatio- nen zum persönlichen Impfschutz, hierzu sollte man seinen Impfausweis dabei haben. Außerdem werden Kaffee und Kuchen angeboten. Den Teilnehmern einer Tombola sowie all jenen, die am Glücksrad drehen, winken attraktive Preise. Ein Wochenend-Aufenthalt für zwei Personen im Hotel Grand Hyatt in Berlin gehört genauso dazu wie ein 5-Gang-Menü im Celler FürstenhofRestaurant Endtenfang oder ein Notebook. Darüber hinaus gibt es viele weitere Preise. Mit dem Einsatz von einem Euro pro Los oder Dreh unterstützen die Teilnehmer den weltweiten Kampf gegen die die Kinderlähmung. Zur Geschichte Bereits 1400 v. Chr. gab es erste Darstellungen eines an Polio erkrankten Priesters auf einer ägyptischen Stele. In Deutschland wurde die Viruserkrankung erstmals im Jahr 1840 beschrieben. Entdeckt wurde der Virus dann im Jahr 1908. Die erste große Ausbruchswelle 1916 in New York forderte 9000 Tote und 27 000 Gelähmte. 1921 erkrankte der amerikanische Präsident Roosevelt im Alter von 39 Jahren an Kinderlähmung. Im Zusammenhang mit der Behandlung von Polio-Patienten kam 1928 die sogenannte „Eiserne Lunge“ zum ersten Mal zum Einsatz. Im Jahr 1952 gab es mit 57 628 Fällen die größte Polio-Epidemie in den USA. Im gleichen Jahr folgte ein massiver Ausbruch in Deutschland. 1955 entwickelte Dr. Jonas Salk den Polio-Tot-Impfstoff und 1961 Dr. Albert Sabin den Lebend-Schluckimpfstoff. In Deutschland wird seit 1988 nur noch der Tot-Impfstoff empfohlen. Im Jahr 1979 startete die Service-Organisation Rotary International ihr Engagement im Kampf gegen Kinderlähmung. Bis heute wurden von den weltweit derzeit 1,2 Millionen Männern und Frauen in rund 30 000 Clubs rund 800 Millionen US-Dollar gesammelt und über zwei Milliarden Kinder weltweit geimpft. 2002 erklärte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) Europa für poliofrei. Seit 2008 wird ein erneuter Anstieg der Polio-Fälle weltweit, insbesondere in Nigeria, verzeichnet. Kontakt Dr. Konrad Beyrer Nationale Kommission zur Polio-Eradikation in Deutschland Niedersächsisches Landesgesundheitsamt www.nlga.niedersachsen.de Siegeszug gegen Polio: Von derr „Eisernen Lunge“ bis heute Lähmung der Beine und des Atemsystems CELLE (jjk). „Kommt nicht mit großen Menschengruppen in Kontakt, vermeidet körperliche Anstrengung und wascht regelmäßig die Hände“: Zur Zeit der großen Polio-Erkrankungswellen in Europa und den USA, als noch kein Impfstoff zur Verfügung stand, waren eine verbesserte Hygiene und ein starkes Immunsystem das einzige, was die Menschen dem Poliomyelitis-Erreger entgegensetzen konnten. „Das war im Prinzip für die damalige Zeit eine richtige und gute Vorgehensweise. Schließlich gelangen die Polio-Erreger durch den Mund in den Körper und haben dann die Möglichkeit, sich im Darm sehr schnell zu vermehren. Dann geht es weiter in die Lymphknoten und gelangt so in die Blutbahn. So werden dann die Nervenzellen des Rückenmarks befallen und zerstört. Die Folge: für Polio typische, schlaffe Lähmungen insbesondere an den Beinen.“ So beschreibt Dr. Konrad Beyrer von der Nationalen Kommission für die Polio-Eradikati- Früher mussten Polio-Patienten oft über Monate oder gar Jahre in der „Eisernen Lunge“ liegen. on in Deutschland, den Krankheitsverlauf der Kinderlähmung. Wandern die Erreger auch in die Hirnnerven, kommt es außerdem zur seltenen aber gefürchteten „bulbären“ Form der Kinderlähmung: Sehr hohes Fieber, Schluckstörungen und starke Beeinträchtigung des Atem- und Kreislaufsystems sind die Folge und können rasch zum Tode führen. Für die Betroffenen bedeutete das noch bis in die 60er und 70er Jahre die Notwendigkeit einer externen Beatmung in der so genannten „Eisernen Lunge“. Bis auf den Kopf wurde in diesem Gerät zur maschinellen Beatmung der gesamte Körper des Patienten von einem Hohlzylinder umschlossen und luftdicht versiegelt. Mit Hilfe von Über- und Unterdruck wurde dann der Brustkorb passiv bewegt, so dass Außenluft über den Mund des Patienten in die Lunge hinein und aus ihr heraus gedrückt wurde. „Die meisten PolioErkrankten brauchten eine Beatmung über die Eiserne Lunge nur in der Akutphase“, erklärt Beyrer. „Es gab aber auch Fälle, bei denen die betroffenen Kinder über Monate oder sogar Jahre in der Eisernen Lunge liegen mussten.“ Bevor PolioImpfstoffe ab 1955 auf den Markt kamen, durften die Kinder in der akuten Krankheitsphase noch nicht einmal Besuch von ihren Eltern bekommen. „Das muss man sich mal vorstellen. Das Kind liegt in der Eisernen Lunge, kann nur den Kopf frei bewegen und seine Eltern dürfen nicht zu ihm kommen“, so Beyrer. Viele Menschen, die an der Kinderlähmung erkrankten, konnten durch enorme Anstrengungen und eisernen Willen nach Wochen oder Monaten ihre Muskelkraft allmählich zurückgewinnen. Nach Jahrzehnten kann es aber erneut zu Muskelschwund, Ermüdungserscheinungen und Schmerzen kommen. Dieses so genannte „Post-Polio-Syndrom“ ist dann der zweite Schicksalsschlag für die Betroffenen nach der vermeintlich überstandenen Kinderlähmung. ww.polioplus.de