02 NAVI Extrem 30.11.2005 10:37 Uhr Seite 2 At la nt ik törn DER HIMMEL weist den Weg Kein Kompass, keine Karte, kein GPS, kein Sextant. Allein mithilfe von Sonne und Sternen segeln zwei Franzosen über den Atlantik. Es wird das Abenteuer ihres Lebens U 2 YA C H T 2 / 2 0 0 6 YA C H T 2 /2 0 0 6 3 02 NAVI Extrem 30.11.2005 10:37 Uhr Seite 4 Atlantiktörn SEGELN WIE VOR 3000 JAHREN. Ist der moderne Mensch dazu or über 3000 Jahren segelten mutige Män ner bereits über die Ozeane. Im Mittelmeer waren es Phönizier und Griechen, im Pazifik die Maoris. Komp ass oder Seekart e waren ihnen fremd. Denn och irrten sie nich t hilflo s umher. Zah lreiche Bücher sin d gesch rieben word en über die meisterhaften Fähigkeiten der ersten Seefahrer. Doch stimmt das alles? Ist es wirklich mög lich , ohn e jegliche N avigationsmittel ein entferntes Ziel anzusteuern ? Das wollten wir wissen . Für unser Experimen t wählten wir Lanzarote als Starth afen. Geplanter Endpunkt unseres T örns: L a Désirade nah e G uadeloupe, ein e knapp drei Kilometer breite u nd zehn Kilometer lan ge Insel, rund 3000 Seemeilen entfernt auf der anderen Seite des Atlantiks. Wir kan nten das V 4 YA C H T 2 / 2 0 0 6 Eiland von früheren Besuchen, würden es also wiedererkennen – falls wir überhaupt dorthin finden sollten. Damit nicht genug. Un ser Ehrgeiz ging so weit, dass wir beschlossen, n icht nur wie zu urzeiten allein nach Sonn e und Sternen zu navigieren. Auch das Boot sollte weitgehend auth en tisch sein. Also machten wir uns an die Arbeit, bauten eine leicht e, klein e Pro a, ein Auslegerkanu mit Luggersegeln, ähnlich denen der Polynesier. Die „Micromegas 3“, gerade ein mal sechseinhalb Meter lan g un d n ur 80 Zentimeter breit, sollte für viele Tage unser Zuhause werden. Schon d ie E tappe von der französischen Atlantikküste zu den Kanaren lieferte uns einen Vorgeschmack auf das, was uns erst noch bevor stand. L an ge 17 Ta- ge waren wir unterwgs, an denen nicht ein einziges Mal die Sonne hinter bedrohlich dunklen Wolkenwänden hervorkam. Stattdessen immer wieder Starkwin d mit bis zu 9 Beaufort und einer gewaltigen Dün ung. Schnell stellten wir fest, dass zuviel Wind überhaupt noch fähig? unser em fragilen Gefährt gar nich t g ut b ekommt. Bei hohen G eschwindigkeiten war das K anu nicht sich er zu beherrschen. Fühzeitig runt er mit dem Bootsspeed, das war d ie einzige Ch ance, die wir haben würden, um ü berhaupt heil über den Atlantik zu gelangen. uD I E „ M I C R O M E G A S 3 “ So stehen wir nun in Ar recife. Sämt liche Navigationsgerätsch aft, die wir bislang dabei hatten, schaffen wir von Bord. Desgleichen Bücher und Kar ten. Wir rechnen aus, dass wir im Sch nitt mit fün f K noten Fahrt voran ko mmen sollten. Außer dem kalkulieren wir Steuerfehler ein. Je Beim Ba u d e s Bo o te s lie ß en sich d ie Brü d er 15 Grad Abweich ung Be rq ue von A us le gerkanu s ins pirieren , d ie ihren nach Backb ord und Ursprung in Polynesien und Malaysia haben. Steuerbor d vom direkten Länge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6,50 m K urs dürften es woh l Breite ohne/mit Ausleger . . . . . . . . . 0,80/ 3,60 m wer den . Das verlän gert Tiefgang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 0,30 m d en Weg um ru nd 15 Gewicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300 Kg Prozen t. Ergibt am Ende St ehhöhe Kajüte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 0,90 m eine Törn dauer von unSegelfläche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 m2 gefähr 29 Tagen. Falls alBa uweise Die Rü mpfe beste hen au s rotem Zeles gut geht. dernholz, die Verbindungspaneele dazwischen Bei Neumo nd legen au s finn ische r Tanne. Die gesam te Konstruktion wir ab. So könn en wir w urd e erst klarlackie rt, dan ach mit e ine r d ün anfangs un d auch gegen n en tran sp aren ten Gla sfas ersch ich t ü b erzo gen . Ende der Reise die Ster ne an einem schwarzen Fir mament gut beo bach ten. D er W ind weht leicht, u nd wir sind voller Tatend rang, ja voller Gewissh eit, dass wir die Aufgabe meister n werden. Für 30 Tage hab en wir 90 Liter Trinkwasser an Bor d genommen. Dazu 16 U YA C H T 2 / 2 0 0 6 5 02 NAVI Extrem 30.11.2005 10:37 Uhr Seite 6 Atlantiktörn DER KURS STEHT IN DEN STERNEN. Was aber, wenn plötzlich dic hte Wolken aufziehen? Kilogramm Gofio, eine Spezialität der Kanaren. Dabei handelt es sich um ein gemahlenes un d bereit s vorgeröstetes Gemisch aus Mais und Get reide. Es lässt sich mit anderen Z utaten kombinieren u nd braucht nich t mehr gebacken zu werden. Der rest liche Proviant besteht aus acht Kilo Zucker, acht Kilo M ilch pulver, 30 Flaschen Tab asco, 90 Sardinenbüchsen, eineinhalb Liter Essig, etwas Salz und Pfeffer. M ehr nich t. Eine halbe Stun de haben wir für den Einkauf benötigt. Gleich zu Beginn sucht uns eine Flaute heim. Vor der Küst e Fuert eventuras liegen wir beigedreht, warten auf Wind. D er lässt zum Glück nicht lange auf sich warten. Schon in der zweiten Nacht rausch en wir platt vor dem Laken mit 10 bis 15 K not en dahin. Kurs Sü dwest. D an n aber ziehen Wolken auf, n ehmen u ns die Sich t au f die St erne. Zu dem segeln wir viel zu nass. Also reffen statt in der D un- 6 Y A C H T 2 / 20 0 6 kelheit einen halsbrecherischen Blindflug zu riskieren. Am nächsten Tag liegen die K anaren außer Sicht hinter dem Horizont zurück. Wir haben vo r, zun ächst etwa zehn Tage lang in südwestliche Richtu ng zu segeln . Bereits n ach 72 Stun den sind wir ganz schön erschöpft. Der Wind bläst stetig mit 5 bis 6 Beaufort . Eine kurze, steile See lässt das L eben auf un serem lächerlich klein anmutenden Boot entsetzlich unbe quem werden. K eine Ch ance, sich auf dem zwischen Rumpf und Ausleger gespannten Netz ir gendwie aufrecht zu hal ten. Die Schaukelei ist enorm. An gesicht s der u nruhigen Bewegun gen des Boot es finden wir wäh rend der Freiwachen kaum in den Schlaf. Viel W asser kommt üb er. Damit uns der Atlantik nicht bis in die Kniekehlen steigt , kleb en wir unser alt es Ölzeug un ten an den Knöcheln mit Klebeband zu. Tag süb er orientieren wir uns an der Son ne. Um d en Kurs zu halten , lassen wir sie morgens aus 45 Grad von Backbo rd auf unser Heck schein en. Am Nach mittag steuern wir dann so, dass ihr Licht aus 45 Grad die Steuerbo rdseit e un seres Bugs trifft. Nachts segeln wir mit Hilfe des Polarsterns. Da er stets im Norden steh t, lässt sich aus seiner Positio n die Ausrich tung aller anderen Sterne ableiten. Z u Beginn u nseres Tö rn s h aben wir un s sämtlich e Stern bilder ein gep rägt. Nun helfen uns vor allem solche Himmelskörper, die knapp über dem H orizont leuchten. Stern e, d ie hoch o ben am Firmament strah len , liefern uns hingegen einen zu ungenauen Azimut. ie tagsü ber die Sonne g ehen auch die Sterne am Nachthimmel im Osten au f un d im Westen unter. U nser Fahrplan für die N acht sieht wie folgt aus: W Zu Beginn weist uns Betelgeuze den W eg n ach W esten. Das ist der Hauptstern im Sternbild Orion. Dreht der Himmel in d en nachfolgenden Stun den weiter, geh t Betelgeuze unter, und an seine Stelle tritt Pr ocyon aus dem Sternbild Canis Minor, dem Kleinen Hund. Die Reihe setzt sich fort. Alph ard aus d er Hydra, der Wassersch lange, dann Regu lu s aus dem St ernbild d es L öwen, schließlich Spica aus der Vir go, der Jungfrau. Wen n am En de d er N acht Arcturus au s dem St ernbild des Boot es, dem Bärenhüter, h inter dem Horizon t versinkt, b rich t auch sch on bald der nächste Tag an. Schwierig sind die Übergan gsstun den . In d er Abend- u nd Morgen- dämmeru ng, wenn die Sonn e nicht schein t un d die St erne nich t leucht en , sind wir ohne Orientierung. In dieser Zeit versuchen wir, den Kurs anhan d der W indrichtung und dem Verlauf der Wellen zu halten. Am fünften Tag klemmt plötzlich die Pin ne unseres Bootes. Dann klappt das Ruderblatt ho ch. E in Arrettierungsstift ist unter der Dauerlast geb ro chen. Die Reparatur gelingt zwar, ist aber äußerst langwierig. Ich muss dazu ins Wasser. Immerhin, wir sind b ereits weit genug süd lich , sodass das Meer angenehm warm ist. Der Zwischenfall h at aber sein Gutes. Un s wird klar, dass nicht nur d as Schif f, son dern auch wir regelmäßig ein e Pause brauchen. D a die So nne zur Tages- U YA C H T 2 / 2 0 0 6 7 02 NAVI Extrem 30.11.2005 10:37 Uhr Seite 8 Atlantiktörn Blindtex t VIELE ENTBEHRUNGEN. Machen sie sich am Ende bezahlt? lich 1,70 Meter langen un d 40 Zent imeter br eiten Sperrh olzkoje kaum E rholung bringt. Aus unserem Frust über den Stillstand en tst eht Ärger, Wut , Verwzeifelung. Wir schn auzen uns gegenseit ig an, viel feh lt nicht zum handfest en Streit . Das Meer, bislang in freundlichem Blau schimmernd, ist mit einem Mal ein e graue, hässlich gurgelnde Masse. Um uns abzulenken und u m un ser Nahr ungsangebo t zu bereichern, angeln wir, sogar mit Er folg. Ab und an geht uns eine große Dorade an den Haken. Wir essen den Fisch so weit wie möglich roh. Was übrig bleibt, salzen wir ein und lagern es in Essig. er W ind schralt, kommt immer mehr aus No rd west en. Z udem set zt eine lange Dünung ein. Wir wissen nicht, was das bedeutet. Verschlechtert sich das Wetter weiter? Uns beschleicht Angst. Doch ein erlei, wir müssen es nehmen , wie es kommt. Immerhin bringt u ns der Wind weiter nach Süden voran. Doch der Him mel zieht sich leider noch stärker zu . Die Sonne ist tagsüber nicht mal mehr Minutenweise zu sehen. Fast ist es dunkel! Uns bleibt nichts anderes übrig, als un seren Ku rs not dürftig nach W ind u nd W ellen auszurichten. Ab dem zeh nten Tag beginnen wir, meh r westlich als südlich zu steuern. Ein Trost inmitten des Du nstes um uns herum sind d ie ausgiebigen Bäder im nu n traumhaft warmen Wasser. Den noch sind wir wachsam un d h alten n ach gefäh rlich gr oßen Fischen Ausschau. Vor wenigen Tagen sin d uns st undenlan g gewaltige Schwer tfische gefolgt. U D mit te eh zu hoch am H immel steht, um sich an ihr vernünftig orientieren zu können, besch ließen wir, fü r d en Rest des Törn s jeweils mit tags eine Stunde lang beizudrehen. Wir nutzen die Freizeit, um uns auszuruhen, zu baden, uns und unsere Sachen zu trocknen, Fotos zu schießen , das Boo t zu überprüfen . W ir segeln schließlich kein Wettrennen. In d er sieb ten N acht ent decken wir erstmals das Kreuz des Süd ens am H immel. Wir wissen, dass es in seiner ver tikalen Ausdehnung ungefähr sechs Grad misst. Daher schätzen wir die Hö he von Accru x üb er dem Horizo nt auf etwa fünf Grad. Accrux ist der untere u nd zugleich größte Stern des K reuzes. Vo r u nserer Abfahrt h atten wir ausgerechnet, dass wir ihn in elf Grad Höhe beo bach ten mü ssen, um auf gleicher H öhe mit unserem Ziel L a Désirade zu sein. Die Insel liegt auf etwa 16 Grad Nord. Der Rest ist einfache Mathematik: Aus der Differenz von elf und fünf Grad schließ en wir, dass wir noch sech s Grad zu 8 Y A C H T 2 / 20 0 6 weit nördlich sind, momentan also auf 22 Grad n ördlicher Breite segeln. Damit liegt zwar noch ein großer Teil des Weges vor uns, aber immerhin, den Wendekr eis haben wir schon passiert. Dan n aber p assiert das, was wir am meisten b efürch tet h aben: Das Wetter verschlechtert sich drastisch, Wolken ziehn au f und n eh men u ns die Sich t auf die Gestirne. Nachts müssen wir mangels Orientier ung jetzt das Boo t aufsto ppen . Tagsüber versuchen wir, wenigstens ein en hellen Fleck im undurch sichtigen G rau auszumachen, der uns den Weg weist. Das macht das Steuern noch anstrengender. Unsere Stimmung sinkt rapide. Z umal auch die Ruhepausen in der engen, ledig- U YA C H T 2 /2 0 0 6 9 02 NAVI Extrem 30.11.2005 10:37 Uhr Seite 10 Atlantiktörn MIT JEDEM TAG WACHSEN DIE ZWEIFEL. Wo liegt das Ziel? Tage vergehen, der H immel bleibt schrecklich bed eckt. Wir zweifeln langsam am E rfolg un seres Experimen ts. Wann u nd vor allem wo werden wir die amerikanisch e Küste erreich en? Nach 16 Tagen haben wir unseren Ausgangsberechnungen zufolge die Hälfte d es W eges geschafft. Doch h aben wir das wirklich? W ie viele Seemeilen mögen noch vor uns liegen? Trot z aller Ungewissh eit befö rdern wir die Flasche mit den Briefen über Bor d, die uns die Kinder unseres Heimatdorfes mit gegeben h atten. „In der Mitt e des Atlantiks“, hatten sie gesagt. Weiter segeln wir, mit gerefften Segeln, langsam wie ein e E nt e 2 CV. Wir machen un s keine Illu sion en meh r, mit dieser G esch win digkeit, werden wir mehr als 30 Tage brauchen. En dlich, am 19. Tag, klart der Himmel ein wen ig auf. In der N ach t sehen wir d as Kreuz des Süd ens wieder. Doch nur für kurze Zeit. Tags drau f erneu t eine dicht e Wo lkendecke am Himmel. Regen setzt ein. Die Verh ält nisse an Bord werden nahezu uner träg- 10 YA C H T 2 / 20 0 6 lich. Enge. Nässe. Dazu modriger Gest ank in der Minikajüte. In der Nacht dann Gewitter und ein steifer Wind. Wir sprechen un s gegen seitig Mu t zu : „In ein paar Tagen sehen wir b estimmt wieder die Sterne, ganz bestimmt!“ at sächlich en tdecken wir in der 21. Nacht noch einmal das K reuz des Südens und darunt er zwei Sterne aus dem Sternbild der Mu sca, der Fliege. Das ist gut. W ir öffnen die einzige Flasche Wein, die wir an Bor d haben. Der baskische Kapitän eines Frachtschiffes hatte sie u ns vor unsere Abfahrt geschenkt. Das Wet ter verbessert sich weiter. Die W ellen nehmen ab, der ersehn te T leicht e Südostwind setzt ein . Zum ersten Mal segelt unser Kanu ruhig übers Meer. E s gelingt un s sogar, d ie Segel so einzust ellen , dass wir die Pinn e arrettieren kö nnen und unsere Schiff trotzdem Kurs hält. W ir schlafen jetzt viel, trocknen zwischendurch un sere K leidung und behandeln u nsere vo m vielen Sitzen längst wundgescheuert en Pobacken mit Sardinenöl. Die Tage vergehen qäulen d lan gsam. Wir haben die N ase voll. Wir wollen ankommen. Egal wo. In d er N acht au f den 25. Tag beo bachten wir das Kreuz des Südens un d die Musca. Deren zwei höhere Sterne leuch ten auf halber Distanz zwischen Accrux und dem Horizont. Das heißt , wir befin den uns auf der Breit e von L a Désirade! W ir könn en es kaum glauben . Bleibt nur no ch die Frage, wie weit d ie Insel no cht entfernt ist . Doch auch diese An twort lässt nicht lange auf sich war ten. Zwei Tage später, der Himmel strahlt in schönstem Blau, das Boot zieht mit geschätzten fünf bis acht Knoten dahin, wir haben gerade un seren regelmäßigen Badest opp been det, da sagt Max plötzlich: „Da am Horizont, da ist was. Keine Wolke. Das ist ein e In sel!“ Stück für Stück wächst sie am Horizont scheinbar aus dem W asser. L ang und flach, mit einer n ordwestlichen Ausdehnu ng. Wir halten darauf zu. Und von St unde zu Stunde erhalten wir immer größer e Gewissheit: Sie ist es t atsächlich, L a Désirade! Unser Experiment ist gelungen. Emmanuel und Maximilien Berque @ Mehr Infos zu dieser und anderen Reisen der Brüder Berque im Web unter www.sansboussole.com