Leseprobe PDF - S. Fischer Verlage

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Unverkäufliche Leseprobe aus:
Götz Aly
Europa gegen die Juden
1880–1945
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Inhalt
1. Von der Judenfrage zum Holocaust 7
Welches Heim hat der Jude? 7
Tatherrschaft der Deutschen 10
Judenfeindschaft in Europa 18
Hinweise zur Darstellung 22
2. Die Rückkehr der Unerwünschten 1945 27
In Wien hartherzig und stumm 29
Spurlos verschwunden in Wilna 36
Falschheit und Einsicht in Ungarn 41
Nichts wie weg aus Europa! 46
3. Propheten künftiger Schrecken um 1900 50
Zionismus: Wir sind ein Volk! 51
Staatsgestor Theodor Herzl 59
»Der Jude wird verbrannt!« 64
Vom Völkerhass zum Völkermord 68
4. Die Behäbigen hassen die Rührigen 75
Juden und das russische Elend 77
Protektion christlicher Rumänen 100
Frankreich: Dreyfus und danach 110
Saloniki: Griechen gegen Juden 119
5
5. Frieden, Bürgerkrieg, Pogrom 1918 – 1921 127
Selbstbestimmung der Völker 128
Selektion im Elsass 1918 – 1923 133
Neue Freiheit – polnisches Wüten 146
Massenmorde in der Ukraine 157
6. Gegen Minderheiten und Migranten 179
Das Ende der Wanderungsfreiheit 179
Ethnisches Homogenisieren seit 1923 188
Juden flüchten nach Frankreich 201
Verbotener Hass in der Sowjetunion 209
7. Nationen entrechten Juden 1918 – 1939 229
Das Projekt »Litauen erwache!« 229
Rumänien: Judenhass und Volkswille 234
Polnische Nationalisten in Aktion 246
Gedemütigte, dünkelhafte Ungarn 263
8. Vertreiben und Deportieren 1938 – 1945 280
Évian: Wohin mit den Juden? 280
Krieg, Ethnopolitik und Holocaust 292
Die südosteuropäischen Verbündeten 296
Der Feind löst die Judenfrage 317
9. Zivilisation und Zivilisationsbruch 346
Nationaler und sozialer Aufstieg 347
Juden als beneidete Vorbilder 357
Der Krieg ermöglichte den Mord 365
Das Gute begünstigte das Böse 375
Anmerkungen 380
Literatur 399
Register 421
6
1.
Von der Judenfrage zum Holocaust
Welches Heim hat der Jude?
Mit stürmisch steigender Tendenz wanderten bis 1914 mehr als zwei
Millionen osteuropäische Juden nach Amerika aus. Sie suchten nach Sicherheit und Glück. Polen, Italiener, Chinesen oder Deutsche schickten
ihre jungen Männer voraus, damit sie die Lage erkunden und gegebenenfalls zurückkehren konnten. Juden aber machten sich mit Kind und
Kegel auf den Weg ins Ungewisse, auf Nimmerwiedersehen. Denn sie
wichen kollektiver Verfolgung. Israel Zangwill, Sohn jüdisch-russischer
Einwanderer in London, prägte dafür den Begriff Vertreibungsemigration: »Der [in die USA eingewanderte] Italiener oder Chinese trachtet,
mit seinem Gewinne wieder heimzukehren. Welches Heim hat aber der
Jude, in das er zurückkehren könnte? Er hat alle seine Boote verbrannt;
oft war er gezwungen, ohne Pass zu fliehen, er kann nicht zurückkehren.«
Im Sommer 1907 erschütterte eine schwere Wirtschaftskrise die USA .
In der Folge reisten 300 000 italienische Immigranten binnen weniger
Wochen in die Heimat zurück. In Anbetracht dieser Tatsache konfrontierte der aktive Zionist Zangwill sein Publikum im Dezember desselben
Jahres mit dem Gedankenspiel: »Stellen Sie sich einmal vor, es kämen
300 000 Juden zurück!«1
Wie sich ein solcher Fall abspielen konnte, demonstrierten Deutschland und Polen 1938. Im Sommer hatte die Regierung in Warschau
Regularien erlassen, um schon länger im Ausland lebenden Juden die
7
Staatsbürgerschaft zu entziehen, sie zu besonders geächteten Staatenlosen zu machen. Daraufhin verhaftete die deutsche Polizei in den letzten
Oktobertagen auf einen Schlag 17 000 polnische Juden, transportierte
sie an die Ostgrenze und jagte sie auf die andere Seite. Dort hieß niemand die eigenen Staatsbürger willkommen. Sie waren Juden! Polnische und deutsche Grenzwachen trieben die Abgeschobenen tagelang
zwischen den Linien hin und her. Schließlich wurden sie auf polnischer
Seite in hastig errichtete, streng bewachte Lager gesperrt. Das größte,
mit mehr als 8000 Männern, Frauen und Kindern belegt, entstand nahe
dem Grenzübergang Neu-Bentschen im polnischen Zbąszyń (Alt-Bentschen), das zwischen Frankfurt (Oder) und Posen liegt. Es blieb bis zum
Sommer 1939 in Betrieb.
Über die Zustände dort berichtete der aus Berlin deportierte Geiger
Mendel Max Karp: »Der Ort ist von der Polizei streng abgeriegelt, auch
am Bahnhof ist Polizeikontrolle. Nur Flüchtlingsleute über 65 Jahre können nach dem Inneren Polens weiterfahren. Wir anderen müssen eben
zusehen, wie wir hier aus diesem Käfig herauskommen können, und
da das nur durch ein Einreisevisum anderswohin möglich ist, erwarten wir mit Sehnsucht Hilfe von draußen.« Karp sandte den Hilferuf
an seinen Cousin Dr. Gerhard Intrator, der bis 1933 Richter am Berliner
Kammergericht gewesen war und sich 1937 aus Hitlerdeutschland in die
USA hatte retten können. Seither hatte Karp unentwegt versucht, ihm
zu folgen. Vergeblich.2
Nach zwei Wochen, Mitte November 1938, kürzte die polnische Regierung die Lebensmittel für die Internierten. Parallel dazu verlangte sie
in Washington, London und beim Völkerbund in Genf energisch, andere Staaten sollten die aus Deutschland vertriebenen polnischen Staatsbürger aufnehmen. Aber warum? Graf Edward Raczyński, polnischer
Botschafter in London, drückte sich so aus: »Diese Menschen« besäßen
zwar polnische Pässe, »aber keine weiteren Bindungen an Polen«. Wenig
später drohte Raczyńskis Stellvertreter Graf Jan Baliński Jundziłł im britischen Außenministerium, »bislang« habe man in Polen »jeder Aktion
gegen die Juden widerstanden«. Bislang! Falls die westliche Staatenwelt
nicht helfe und die aus Deutschland Vertriebenen aufnehme, »werde
8
man in Polen daraus schließen, dass nur ein Weg zur Lösung des jüdischen Problems gangbar sei – die Verfolgung der Juden«.3
Dank internationaler Interventionen und deutsch-polnischer Absprachen erhielt Max Karp am 29. Juni 1939 die Erlaubnis, aus dem Lager
Zbąszyń nach Berlin zurückzureisen. Allerdings hatten ihm die deutschen Behörden auferlegt, das Land bis zum 24. August endgültig zu
verlassen. Er plante, nach Schanghai auszuwandern. Die für die Schiffs­
passage erforderlichen Devisen beschaffte die Verwandtschaft in den
USA . Auf den Tag genau, am 23. August, hatte Karp tatsächlich alles beisammen: ein noch nicht datiertes, mit US -Dollars bezahltes vorläufiges
Ticket, allerlei mit Gebührenmarken und Stempeln autorisierte Papiere
und eine Aufenthaltsverlängerung der Gestapo bis zur Ausreise. Zu spät.
Am 1. September begann der Krieg. Am 13. September 1939 verschleppte
die Berliner Polizei Max Karp als lästigen staatenlosen Ostjuden ins
Konzentrationslager Sachsenhausen. Dort erhielt er die Häftlingsnummer 009 060, wurde zusammen mit anderen aus demselben Grund Verhafteten in das sogenannte Kleine Lager gesperrt und am 27. Januar 1940
auf unbekannte Weise zu Tode geschunden oder ermordet.
Die Sterbeurkunde fertigte der Oranienburger Standesbeamte
Otto Griep aus. Laut seiner – gewiss erlogenen – Eintragung hatte
eine Grippe den Tod des Häftlings Karp früh um 7. 00 Uhr herbeigeführt – »eingetragen auf schriftliche Anzeige des Lagerkommandanten des Lagers Sachsenhausen in Oranienburg«. Das KZ verfügte
erst später über ein eigenes Standesamt; noch fehlte auch das lagereigene Krematorium. So wurde der Leichnam des Ermordeten im Berliner Krematorium Baumschulenweg eingeäschert. Am 22. Februar
1940 ließ Rachel Intrator, die am Kurfürstendamm 185 wohnte, die
Urne mit den sterblichen Überresten ihres Neffen auf dem Jüdischen
Friedhof in Berlin-Weißensee beisetzen – im Grab ihrer Schwester
Anna Karp, die ihren Sohn Mendel Max 1892 im galizischen, damals
österreichischen, seit 1918 polnischen Dorf Ruszelczyce zur Welt gebracht hatte.4
Für das Thema »Europa gegen die Juden« und die notwendigen Differenzierungen steht die Lebens- und Sterbegeschichte dieses Mannes
9
exemplarisch. Die deutsche Regierung diskriminierte ihn, nahm ihm
seine Anstellung als Musiker, machte ihn zum Hausierer und hetzte ihn
schließlich mittellos über die Grenze, weil ihm die polnische Regierung
die staatsbürgerlichen Rechte aberkennen wollte. Diese weigerte sich,
den Vertriebenen aufzunehmen. Sie verstieß ihn als unerwünschtes Element und beraubte ihn der Freiheit. Am Ende ermordeten Deutsche
Mendel Max Karp – nicht Polen. Doch hatte die polnische Regierung
dazu beigetragen, seine Überlebenschancen zu mindern.
Tatherrschaft der Deutschen
Das Deportieren und Morden geschah auf Initiative der Deutschen.
Deutsche steuerten die bürokratischen Routinen des Erfassens, Ghettoisierens und Enteignens. Sie entwickelten die technischen Mittel des
Mordens. Sie organisierten die Deportationen, die Massenerschießungen und Todeslager. Sie entfesselten die Gewalt gegen Juden in den besetzten und verbündeten Staaten. Keine Frage: Die Regierung Hitler
übte die Tatherrschaft aus.
Doch kann ein Völkermord nicht allein von den Initiatoren begangen werden. Wer die Praxis der Judenverfolgung in verschiedenen
Ländern untersucht, stößt unweigerlich darauf, wie geschickt die deutschen Eroberer überall in Europa bereits vorhandene nationalistische,
national-soziale und antisemitische Bestrebungen einbezogen, um ihre
Ziele durchzusetzen. Ohne zumindest passive Unterstützung, ohne die
vielen arbeitsteilig helfenden Verwaltungsbeamten, Polizisten, Politiker
und tausende einheimische Mordgesellen in manchen Staaten hätte sich
das monströse Projekt nicht mit der atemberaubenden Geschwindigkeit verwirklichen lassen. Der Holocaust kann weder in seinen schnellen
noch in seinen stockenden Abläufen begriffen werden, wenn man nur
die deutschen Kommandozentralen im Blick hat.
Beispielsweise äußerte der rumänische Staatsführer Ion Antonescu zur Judenfrage, nachdem er von Hitlers Kriegsplan gegen die So­
wjetunion erfahren hatte: »Rumänien muss energisch, methodisch und
10
nachhaltig von dem ganzen Geschmeiß befreit werden, das die Lebenssäfte des Volkes ausgesaugt hat. Die internationale Lage ist günstig, und
wir dürfen den Moment nicht verpassen.«5 Antonescu – und nicht nur
er – wollte die Ausnahmesituation nutzen. Herbeigeführt worden war
sie von Deutschland. Erst dann zerbrachen die zivilen, moralischen und
rechtlichen Normen an so vielen Orten Europas endgültig.
Wie sehr der Krieg aus zuvor zwar vorurteilsbeladenen, aber halbwegs friedlichen Menschen Mörder machen kann, mussten hunderttausende Juden bereits zwischen 1918 und 1921 erfahren. Deshalb ist e­ ines
der Kapitel dieses Buches den osteuropäischen Freiheitspogromen,
Bürger- und Nationalitätenkriegen gewidmet, die dem Ersten Weltkrieg
folgten. Damals ermordeten Soldaten und Milizionäre verschiedener
Konfliktparteien mehr als hunderttausend keiner Kriegspartei ange­
hörende Juden – Männer, Frauen und Kinder. Weitreichende kriegerische De­struktion bildete den Ausgangspunkt für den Massenraubmord
an einer seit langem neidisch beäugten, drangsalierten, diskriminierten, von Zeit zu Zeit terrorisierten und zugleich überheblich verachteten
Minderheit. Diese von nationalistischen Polen, Ukrainern und Russen,
von roten, weißen, anarchistischen oder einfach marodierenden Truppen verübten Schreckenstaten fanden in den Hauptsiedlungsgebieten der
Juden statt – ausgelöst vom Krieg, begangen an einer von den anderen
Bevölkerungsgruppen deutlich unterschiedenen, besonders wehrlosen
Minderheit. Saul Friedländer hat in seinem monumentalen Werk über
den Holocaust darauf hingewiesen, dass sich in den Jahren 1939 bis 1945
»nicht eine einzige gesellschaftliche Gruppe« in Europa mit den verfolgten Juden solidarisch erklärt habe, und folgerte: »So konnten sich nationalsozialistische und ihnen verwandte politische Strategien bis zu ihren
extremsten Konsequenzen entfalten, ohne dass irgendwelche nennenswerten Gegenkräfte sie daran gehindert hätten.«6 In diesem Buch geht es
um die Vorgeschichten. Wie, warum und in welchen unterschiedlichen
Formen nahm der Antisemitismus in Europa seit 1880 in einer Weise zu,
die es den deutschen Verfolgern und Mördern schließlich ermöglichte,
in fast allen besetzten und verbündeten Ländern Unterstützung für ihr
Projekt »Endlösung« zu finden?
11
Ursprünglich hatte die Berliner Wannseekonferenz am 9. Dezember
1941 stattfinden und sich mit der Deportation der deutschen Juden befassen sollen. Dazu eingeladen hatte Reinhard Heydrich, der Chef des
Reichssicherheitshauptamts. Doch sagte er den Termin kurzfristig ab.
Gründe nannte er nicht, stellte jedoch eine neue Einladung in Aussicht.
Sie erfolgte für den 20. Januar 1942. Zwischenzeitlich hatten die Führer
des Deutschen Reichs das Thema stark erweitert. Jetzt stand statt der
deutschen die »Endlösung der europäischen Judenfrage« auf der Tagesordnung.7 Heydrich erläuterte den Versammelten das Vorhaben und
warb um konstruktive Mitarbeit – um die »Parallelisierung der Linienführung«. In einigen der besetzten und verbündeten Länder vermutete
er gewisse Widerstände gegen das Großprojekt »Endlösung«, in anderen
nicht. Davon etwas abweichend trug auch Unterstaatssekretär Martin
Luther vom Auswärtigen Amt vor, wie er die Bereitschaft in einzelnen
Staaten beurteilte, die Juden zu verhaften und die Todestransporte abzufertigen – im Protokoll umschrieben als »tiefgehende Behandlung
des Problems«.
Heydrich: »Die Behandlung des Problems in den einzelnen Ländern
wird im Hinblick auf die allgemeine Haltung und Auffassung auf gewisse Schwierigkeiten stoßen. (…) In der Slowakei und Kroatien ist die
Angelegenheit nicht mehr allzu schwer, da die wesentlichsten Kernfragen in dieser Hinsicht dort bereits einer Lösung zugeführt wurden. In
Rumänien hat die Regierung inzwischen ebenfalls einen Judenbeauftragten eingesetzt. Zur Regelung der Frage in Ungarn ist erforderlich,
in Zeitkürze einen Berater für Judenfragen der ungarischen Regierung
aufzuoktroyieren.« Mit seinem italienischen Kollegen wollte Heydrich
selbst verhandeln. Im besetzten und unbesetzten Frankreich, so verbreitete er optimistisch, werde »die Erfassung der Juden zur Evakuierung aller Wahrscheinlichkeit nach ohne große Schwierigkeiten vor sich gehen
können«. Als »Kernfragen«, die das Projekt »Endlösung« erleichtern
würden, betrachtete Heydrich die Entrechtung, Enteignung und soziale
Isolierung der Juden auf Initiative oder mit Hilfe der jeweiligen nationalen Autoritäten. Was die eroberten Gebiete der Sowjetunion anging,
verwies er auf die bereits gesammelten Erfahrungen: Deutsche Einsatz12
kommandos hatten bis zu diesem Zeitpunkt gemeinsam mit rumänischen, ukrainischen, lettischen und litauischen Helfern bereits 800 000
Juden ermordet.
Staatssekretär Luther schränkte ein, »dass bei tiefgehender Behandlung dieses Problems in einigen Ländern, so in den nordischen Staaten, Schwierigkeiten auftauchen werden«. Daher sei es ratsam, »diese
Länder vorerst noch zurückzustellen«, was »in Anbetracht der hier in
Frage kommenden geringen Judenzahlen« nicht ins Gewicht falle. »Für
den Südosten und Westen Europas« sah er »keine großen Schwierigkeiten«. Wie Adolf Eichmann protokollierte, wurden abschließend »die
verschiedenen Arten der Lösungsmöglichkeiten besprochen, wobei
sowohl seitens des Gauleiters Dr. Meyer [Ministerium für die besetzten Ostgebiete] als auch seitens des Staatssekretärs [der deutschen Zivilverwaltung im besetzten Polen] Dr. Bühler der Standpunkt vertreten
wurde, gewisse vorbereitende Arbeiten im Zuge der Endlösung gleich
in den betreffenden Gebieten selbst durchzuführen, wobei jedoch eine
Beunruhigung der Bevölkerung vermieden werden müsse«.
Unter »vorbereitenden Arbeiten« verstanden die 15 versammelten
Herren, acht davon mit Doktortitel, den bereits begonnenen Aufbau
von Vergasungseinrichtungen und Experimente mit unterschiedlichen
Methoden des Massenmords. Bald nach der Konferenz notierte Joseph
Goebbels Ende März 1942: »Es wird hier ein ziemlich barbarisches, nicht
näher zu beschreibendes Verfahren angewandt, und von den Juden
selbst bleibt nicht mehr viel übrig.«8
Das war der Plan. Die Durchführung wich davon ab. In Belgien fielen 45 Prozent der Juden den deutschen Eindringlingen in die Hände,
allerdings mit erheblichen regionalen Unterschieden. Im flämischen
Antwerpen wurden unter tätiger Mitwirkung der städtischen Polizei
von 30 000 jüdischen Einwohnern 65 Prozent gefasst, im wallonischen
Brüssel von 22 000 nur 37 Prozent, weil Behörden und nichtjüdische
Nachbarn dort deutlich weniger kooperierten.
In Ungarn deportierten etwa 20 000 einheimische Gendarmen
437 402 Juden mit Hilfe der ungarischen Staatsbahn Richtung Auschwitz. Das geschah zwischen dem 15. Mai und dem 9. Juli 1944. Erst an der
13
slowakischen Grenze übernahmen Deutsche die Transporte. Die Todgeweihten stammten aus den Provinzen, hatten überwiegend tradi­
tionell gelebt, die meisten sprachen untereinander Jiddisch. Budapester
Politiker und Bürger verachteten sie als »Galizier«. Von den Deportierten überlebten ungefähr 60 000 als Zwangsarbeiter die letzten Kriegs­
monate. Anfang Juli 1944 leitete Eichmann den bis dahin zurückgestellten Abtransport der etwa 150 000 gut assimilierten Budapester Juden
ein. Jetzt verweigerte die ungarische Regierung die Mitwirkung. Allein
auf sich und seinen Stab gestellt, konnte Eichmann nur noch drei Züge
mit zuvor schon ghettoisierten Juden abfertigen lassen. Drei Tage später reiste er nach Berlin zurück, weil er ohne ungarische Beihilfe nichts
mehr ausrichten konnte. So überstand die große Mehrheit der Budapester Juden die Zeit des Mordens.9
Am Krieg gegen die Sowjetunion beteiligte sich das mit Deutschland verbündete Rumänien. Von Deutschen gedeckt, ermuntert und
manchmal von der Einsatzgruppe D unterstützt, töteten rumänische
Polizeikräfte, Einwohnermilizen und Soldaten in den rumänisch besetzten Gebieten mindestens 250 000 Juden oder trieben sie in den Tod.
Diese staatlich gewollten Verbrechen ereigneten sich in den national
umstrittenen Gebieten Moldawien (Bess­arabien), Transnistrien und in
der Bukowina. Doch schützte dieselbe Regierung die allermeisten der
315 000 Juden Zentralrumäniens vor dem Zugriff der Deutschen, seit
1943 sogar Juden, die aus den deutsch beherrschten Gebieten nach Rumänien fliehen konnten.10 Auch in Bulgarien verschonte die Regierung
die 48 000 Juden des Kernlandes. Aber mit eigenen Polizeikräften ließ
sie die Juden, die in den 1941 von Bulgarien annektierten Gebieten
Thrazien und Mazedonien lebten, ins deutsch besetzte Polen verbringen – mehr als 11 000 Menschen, die in Treblinka ermordet wurden.
Aus Saloniki verschleppten Deutsche 45 000 Juden mit griechischer
Beihilfe nach Auschwitz und ermordeten dort fast alle. Dagegen entkamen mehr als zwei Drittel der insgesamt 3500 jüdischen Athener den
deutschen Häschern, sowohl dank griechischer Untätigkeit als auch aktiver Hilfe für die Bedrohten. Anders als die Juden von Saloniki waren
die Juden in Athen assimiliert. Zudem galt der erst 1912 annektierte Nor14
den des Landes der griechischen Bevölkerung und ihrer Regierung noch
als national umkämpftes, zu hellenisierendes Gebiet.
Die Beispiele deuten an, um welche Fragen es in den folgenden
Kapiteln gehen wird. Erstens soll untersucht werden, warum die in
die jeweiligen nationalen Mehrheitsgesellschaften integrierten Juden
deutlich bessere Überlebenschancen hatten als diejenigen, die traditionell gekleidet waren und den jiddischen oder sephardischen »Jargon«
sprachen. Zweitens soll dargelegt werden, in welchem Umfang Funktionsträger der verbündeten oder von Deutschland besetzten Staaten
die Juden­deportationen guthießen, weil sie das Ziel verfolgten, die Bevölkerungen an den national umstrittenen Rändern des eigenen oder
gerade erweiterten Staates »ethnisch zu säubern«. Drittens steht zur
Debatte, wie sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts antisemitische Zielsetzungen mit der allgemeinen Politik ethnischer Homogenisierung verbanden. Daraus folgt die vierte Frage, wieweit viele europäische Regierungen (einschließlich der Kollaborationsregierungen) und
erhebliche Teile der jeweiligen Mehrheitsgesellschaften die Deportation
der Juden unterstützten oder wenigstens tolerierten, weil sie sich davon
neue wirtschaftliche Chancen für das jeweilige sogenannte Staatsvolk
versprachen. Zusammengefasst ergibt sich daraus die Frage: Inwieweit
machte die Mixtur aus positiv verstandenen und negativen Programmpunkten – aus nationalem Aufbauwerk und Antisemitismus – die »Entfernung der Juden« besonders verlockend und beförderte das Mittun
und Wegsehen?
Um die Voraussetzungen für die mörderische Praxis der Deutschen
besser zu verstehen, muss der in Europa weitverbreitete Nationalismus
vor und nach dem Ersten Weltkrieg in die Analyse einbezogen werden.
Deshalb gehören nicht nur antisemitische Gesetze und Gewalttaten zur
Thematik dieses Buches, sondern auch die vielfältigen Bestrebungen zur
ethnischen Homogenisierung, ebenso die Praktiken einzelner Staaten,
Minderheiten generell zu benachteiligen, um ihren namensgebenden
Mehrheitsvölkern Vorteile zu verschaffen – seien es Polen, Slowaken, Magyaren, Ukrainer, Kroaten oder Rumänen. Dazu zählten Beschränkungen der Wirtschaftsfreiheit, der Berufswahl und der staatsbürger­lichen
15
Rechte, forcierte Assimilation, Vertreibungen und vertraglich geregelte
Zwangsumsiedlungen. In dieses europäische Panorama fügen sich die in
Kapitel 5 beschriebenen, von Frankreich praktizierten Zwangsumsiedlungen Deutscher aus Elsass-Lothringen in den Jahren 1918 bis 1923 und
die obligatorischen »Transfers« hunderttausender Menschen zwischen
Griechenland, der Türkei und Bulgarien, die bald nach dem Ersten Weltkrieg einsetzten. Für sich genommen, berührten beide Ereignisse Juden
allenfalls zufällig, aber sie erhoben die Zwangsausweisung von Minderheiten zu einem akzeptierten Verfahren europäischer Politik. Als die
französischen Behörden 1919 in Elsass-Lothringen die »épuration« (Säuberung) von Zuwanderern aus dem Deutschen Reich begannen, entwickelten sie dafür ein bürokratisch leicht handhabbares Kriterium – die
Geburtsorte der Eltern, gegebenenfalls der vier Großeltern.
Die einzelnen Länder Europas gewichte ich in der Darstellung unterschiedlich. Dafür gibt es einen klaren Grund: Etwa 85 Prozent der
sechs Millionen im Holocaust ermordeten Juden stammten aus Polen,
Russland, Rumänien, Ungarn und den baltischen Staaten. Deshalb muss
der Schwerpunkt meiner Darstellung auf den europäischen Regionen
liegen, in denen die allermeisten Juden lebten und gewaltsam starben.
Aus der Gruppe der genannten Staaten kann Ungarn insofern als westlich gelten, als die Judenemanzipation dort, wie in der gesamten Habsburgermonarchie, 1867 vollzogen wurde. Obwohl in Griechenland vergleichsweise wenige Juden lebten, beschreibe ich die Entwicklung des
Antisemitismus dort ausführlich, beispielhaft für eine sich territorial
langsam konsolidierende Nation als Prozess, der mit vielerlei Formen
von Gewalt verbunden war. Die Parallelen zu anderen Nationalismen
sind unübersehbar. Stellvertretend für westeuropäische Staaten steht
Frankreich. Trotz aller seit 1791 kodifizierten (unter Napoleon vorübergehend eingeschränkten) Rechtsgleichheit entwickelte sich selbst dort
seit den 1880er Jahren ein moderner Antisemitismus.
(…)
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