Vorkurs für Studierende in Mathematik und Physik Skript 2012 Mathematisches Institut Universität Zürich Winterthurerstrasse 190 4057 Zürich 10. September - 14. September 2012 Vorkurs UZH Inhaltsverzeichnis 1 Algebra 2 1.1 Polynomiale Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 1.2 Potenzen und das Binomialtheorem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 1.2.1 Potenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 1.2.2 Binomialtheorem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 1.2.3 Negative Exponenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 1.2.4 Rationale Exponenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 1.3 Exponentialfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 1.4 Logarithmen und Flächen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 1.4.1 Logarithmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 1.4.2 Berechnung von Flächen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 2 Unendliche Folgen und reelle Zahlen. 17 2.1 Grenzwerte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 2.2 Cauchy Folge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 2.3 Konstruktion der reellen Zahlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 2.3.1 Äquivalenzrelation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 2.3.2 Addition und Multiplikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 2.3.3 Ordnungsrelation und absoluter Betrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 2.4 Unendliche Reihen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 2.4.1 Konvergenzkriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 2.4.2 Absolute Konvergenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 3 Reelle Funktionen und Stetigkeit 27 3.1 Reelle Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 3.2 Stetige Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 3.3 Uniforme Konvergenz und uniforme Stetigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 4 Mengenlehre 36 1 Vorkurs UZH 1 Algebra Die numerische formale Logik wird dargestellt durch Zahlen. Die spezifische formale Logik hingegen wird dargestellt durch gewisse Arten und Formen von Dingen: zum Beispiel durch die Buchstaben des Alphabets. (Vieta 1600, Algebra nova, Französische Ausgabe 1630) Solange Algebra und Geometrie separat betrachtet wurden, war ihr Fortschritt langsam und ihr Nutzen beschränkt; doch seit die beiden Wissensgebiete vereint sind, unterstützen sie sich gegenseitig und entwickeln sich zusammen nun rasch in Richtung Perfektion. Wir sind Descartes die Anwendung der Algebra in der Geometrie schuldig; diese wurde zum Schlüssel der grössten Entdeckungen in allen Gebieten der Mathematik. (Lagrange 1795, Oeuvres, vol. 7, p. 271) Algebra ist ein Erbe der griechischen und orientalischen Antike. Das berühmte Buch Al-jabr w’al muqâbala von Mohammed ben Musa Al-Khowârizmî (830) beginnt mit der Abhandlung über Lösungen von quadratischen Gleichungen. ”...zum Beispiel, ein Quadrat plus Einundzwanzig in Zahlen soll gleich zehn Wurzeln des gleichen Quadrats sein. Das heisst, was ist der Betrag des Quadrates, welches, wenn Einundzwanzig (...) dazugezählt werden, gleich dem Entsprechenden von zehn Wurzeln dieses Quadrats ist? Lösung: Die Hälfte der Anzahl der Wurzel; die Hälfte ist Fünf. Multipliziere dies mit sich selbst; das Produkt ist Fünfundzwanzig. Ziehe davon Einundzwanzig ab (...); übrig bleiben Vier. Nehme davon die Wurzel; dies ist Zwei. Zähle dies ab von der Hälfte der Wurzel, welche Fünf ist; übrig bleibt Drei. Dies ist die Wurzel des Quadrates welches wir gesucht haben, und das Quadrat ist Neun. Oder wir addieren die Wurzel zur Hälfte der Wurzel; die Summe ist Sieben; dies ist die Wurzel des Quadrates, welche wir gesucht haben, und das Quadrat davon ist Neunundvierzig.” Geometrisch kann dies wie folgt verstanden werden: Angenommen, die Länge eines Rechtecks beträgt 10. Wie gross muss x in der folgenden Figur gewählt werden? x2 21 | {z 10 2 } Vorkurs UZH In den alten Texten wurden nur bestimmte Beispiele beschrieben und ”arithmetische” Berechnungen nur mit Zahlen durchgeführt. Erst Vieta (1540–1603) hatte 1600 in seinem Buch Algebra nova die weitreichende Idee für die bekannten und unbekannten Grössen eines (oft geometrischen) Problems Buchstaben wie A, B, C, X, . . . einzuführen und diese Buchstaben in algebraische Berechnungen zu benutzen. Benutzen wir Vietas Schreibweise, dann lautet die Aussage von Al-Khowârizmî kurz und bündig r r 2 10 10 102 10 x2 − 10x + 21 = 0 =⇒ x= + − 21 oder x= − − 21 2 4 2 4 respektive allgemein für zwei Konstanten a, b x2 + ax + b = 0 =⇒ a x=− + 2 r a2 −b 4 oder a x=− − 2 r a2 − b. 4 Aus einem geometrischen Problem wird also eine algebraische Gleichung, welche dann aufgelöst werden kann. geometrisches Problem Buchstaben einsetzen - algebraisches Problem Ausrechnen - Lösung Oft hilft aber auch die Geometrie algebraische Probleme zu lösen – und nicht nur das: Die Geometrie wirft ein ganz neues Licht auf die Algebra, wie wir im nächsten Kapitel gleich sehen werden. 3 Vorkurs UZH 1.1 Polynomiale Funktionen Die Geometrie hilft der Algebra mit kartesischen Koordinaten. Statt x2 −10x+21 = 0 betrachten wir die Gleichung y = x2 − 10x + 21. Zeichnen wir dies in ein kartesisches Koordinatensystem, erhalten wir Definition 1. Ein Polynom ist ein Ausdruck der Form y = an xn + an−1 xn−1 + . . . + a0 , mit a0 , . . . , an beliebige Konstanten. Falls an 6= 0 ist das Polynom von Grad n. Polynome sind aus vielen Gründen interessant. Greifen wir eine wichtige Anwendung heraus: In der Schiffs–Navigation sowie in der Berechnung von Logarithmen kristallisierte sich folgendes Problem heraus: Es seien n + 1 Punkte (xi , yi) in R2 gegeben, wobei x0 = 0, x1 = 1, x2 = 2, ..., xn = n. Wir suchen ein Polynom von Grad n, welches durch alle Punkte (xi , yi) geht. Beispiel 2. Angenommen, die Punkte seien (0, 4), (1, 5), (2, 2), (3, 5), (4, 2), (5, 2). Folgendes Polynom geht durch all diese Punkte: 4 Vorkurs UZH Newton (1676) bearbeitete das Problem mit Hilfe von Vietas Formalismus der Algebra nova. Er schrieb y = A + Bx + Cx2 + Dx3 , (1) wobei die Buchstaben A, B, C und D Platzhalter für die gesuchten Zahlen sind. Wir erhalten Abszisse x=0 x=1 x=2 x=3 Ordinate A A+B+C +D A + 2B + 4C + 8D A + 3B + 9C + 27D = = = = y0 y1 y2 y3 Ziehen wir die erste Zeile von der Zweiten, die Zweite von der Dritten und die Dritte von der vierten Zeile ab, erhalten wir B + C + D = y1 − y0 =: ∆y0 B + 3C + 7D = y2 − y1 =: ∆y1 B + 5C + 19D = y3 − y2 =: ∆y2 . (2) Ziehen wir erneut die erste Zeile von der Zweiten und die Zweite von der dritten Zeile ab, erhalten wir 2C + 6D = ∆y1 − ∆y0 =: ∆2 y0 2C + 12D = ∆y2 − ∆y1 =: ∆2 y1 , (3) 6D = ∆2 y1 − ∆2 y0 =: ∆3 y0 . (4) und erneutes abziehen ergibt 5 Vorkurs UZH Seit Newton ist es üblich, die Differenzen in folgendem Differenzen-Schema anzuordnen: y0 ∆y0 wobei ∆yi = yi+1 − yi ∆2 yi = ∆yi+1 − ∆yi ∆3 yi = ∆2 yi+1 − ∆yi etc. ∆2 y0 y1 3 ∆y1 ∆ y0 ∆2 y1 y2 ∆4 y0 3 ∆y2 ∆ y1 ∆2 y2 y3 (5) ∆y3 y4 Für obiges Beispiel erhalten wir 4 1 5 2 −3 −4 3 5 2 −3 10 6 −6 −12 −22 43 21 9 3 0 2 Durch Rückwärtsauflösen von (2), (3) und (4) nach A, B, C und D und einsetzen in (1) erhalten wir die (allgemeine) Lösung y = y0 + ∆y0 · x + ∆2 y0 ∆3 y0 · (x2 − x) + · (x3 − 3x2 + 2x). 2 6 Etwas umgeordnet entspricht dies x(x − 1) 2 x(x − 1)(x − 2) 3 x ∆ y0 + ∆ y0 . y = y0 + ∆y0 + 1 1·2 1·2·3 Theorem 3. Das Polynom von Grad n, welches die Werte y0 (für x = 0), y1 (für x = 1), ... yn (für x = n) annimmt, ist gegeben durch die Formel x(x − 1) 2 x(x − 1) · · · (x − n + 1) n x ∆ y0 + . . . + ∆ y0 . y = y0 + ∆y0 + 1 1·2 1 ·2 · ...·n Für den Beweis dieses Theorem benötigen wir das Pascalsche Dreieck (siehe Kapitel 1.2.2). 6 Vorkurs UZH 1.2 1.2.1 Potenzen und das Binomialtheorem Potenzen Sei a eine gegebene Zahl (die Basis). Wir schreiben a · a = a2 , a · a · a = a3 , a · a · a · a = a4 , etc. (6) Es ist einfach einzusehen, dass für positive Zahlen n und m (die Exponenten) gilt: an · am = an+m . (7) In (6) wird in jedem Schritt mit a multipliziert. Diese Reihe können wir auch auf die negative Seite fortsetzen, indem wir durch a dividieren statt multiplizieren: a a0 = , a 1 a−1 = , a 1 , a2 a−2 = ..., a−m = 1 , am etc. So stimmt die √ Regel (7) auch für negative Exponenten n und m. Nun multiplizieren wir wiederholt mit a: √ √ √ √ √ √ √ √ √ √ √ a, a · a = a, a · a · a = a3 , a · a · a · a = a2 , . . . 1, was die Notation m an = √ n am nahelegt. Nun stimmt (7) auch für rationale Exponenten n und m. 5 Bemerkung 4. Wir betrachten hier nur positive Wurzeln, so dass zum Beispiel a 2 zwischen a2 und a3 liegt. Der nächste Schritt wären irrationale Exponenten, welche, wie Euler sagt, ”schwieriger zum Verstehen sind”. Aber es macht Sinn, dass √ a 1.2.2 7 zwischen a2 26 a 10 264 a 100 2645 a 1000 und und und und .. . a3 liegt. 27 a 10 265 a 100 2646 a 1000 Binomialtheorem Nun wollen wir den Ausdruck (a + b)n etwas genauer betrachten. (a + b)0 (a + b)1 (a + b)2 (a + b)3 (a + b)4 = = = = = .. . 1 a+b a2 + 2ab + b2 a3 + 3a2 b + 3ab2 + b3 a4 + 4a3 b + 6a2 b2 + 4ab3 + b4 7 Vorkurs UZH Die Koeffizienten der Terme ai bj bilden ein interessantes Dreieck (auch das Pascalsche Dreieck genannt) bestehend aus ”Binomialkoeffizienten” 1 1 1 1 1 1 1 7 2 5 3 1 6 10 15 21 1 3 4 6 1 1 4 1 10 20 35 5 15 35 1 6 21 1 7 1 in welchem jede Zahl die Summe ihrer zwei direkt oberhalb liegenden Zahlen ist. Was ist die allgemeine Regel für diese Koeffizienten? Diagonale Koeffizienten Vermutung für allg. Formel? 1.Diagonale: (1, 1, 1, 1 . . .) 1 2.Diagonale: (1, 2, 3, 4, . . .) n 3.Diagonale: (1, 3, 6, 10, . . .) n(n−1) 1·2 4.Diagonale: (1, 4, 10, 20, . . .) n(n−1)(n−2) 1·2·3 Dies lässt folgendes allgemeines Theorem vermuten: Theorem 5 (Pascal 1654). Für n = 0, 1, 2, . . . gilt (a + b)n = an + n n−1 n(n − 1) n−2 2 n(n − 1)(n − 2) n−3 3 a b+ a b + a b + ... . 1 1·2 1·2·3 Die Summe ist endlich und endet nach n + 1 Termen. Für den Beweis dieses Theorems benötigen wir folgende Beweismethode. Vollständige Induktion: Um die Behauptungen B(n) für alle Zahlen n ≥ n0 zu beweisen, zeigen wir: Induktionsverankerung: Die Behauptung stimmt für n = n0 , das heisst B(n0 ) ist richtig. Induktionsannahme: Wir nehmen an, dass für ein beliebiges aber festes n die Behauptung B(n) richtig ist. Induktionsschritt: Wir zeigen, dass falls B(n) richtig ist, auch B(n + 1) richtig ist. 8 Vorkurs UZH Definition 6. Die Koeffizienten n(n − 1) · · · (n − j + 1) n(n − 1) · · · (n − j + 1)(n − j)(n − j − 1) · · · 1 = 1 ·2 · ...· j 1 · 2 · . . . · j · 1 · 2 · . . . · (n − j) n n! , = = j!(n − j)! j werden Binomialkoeffizienten genannt, wobei n! = 1 · 2 · . . . · n (sprich n Fakultät) ist. Anwendung: Interpolationspolynom Betrachten wir nochmals das Differenzen-Schema (5), wobei wir die Ausdrücke ∆ ersetzen: y0 y1 y2 y3 y1 − y0 y2 − y1 y3 − y2 y2 − 2y1 + y0 y3 − 3y2 + 3y1 − y0 y3 − 2y2 + y1 . Jeder Term ist die Differenz der zwei links davon stehenden Terme. Somit ist jeder Term die Summe des darüberstehenden Terms mit dem rechts davon stehenden Term und wir können das Schema auch wie folgt aufschreiben: y0 ∆y0 ∆2 y0 y0 + ∆y0 2 ∆3 y0 ∆y0 + ∆ y0 y0 + 2∆y0 + ∆2 y0 ∆2 y0 + ∆3 y0 2 3 ∆y0 + 2∆ y0 + ∆ y0 y0 + 3∆y0 + 3∆2 y0 + ∆3 y0 Das Pascalsche Dreieck erscheint erneut. Zusammen mit der Definition 6 der Binomialkoeffizienten erhalten wir yn = y0 + n n(n − 1) 2 n(n − 1)(n − 2) 3 ∆y0 + ∆ y0 + ∆ y0 + . . . 1 2! 3! und dies beweist Theorem 3. 9 Vorkurs UZH 1.2.3 Negative Exponenten Wir starten mit 1 . a+b Nehmen wir an, dass |b| < |a|, dann können wir a1 als eine erste Annäherung an diesen Bruch auffassen. Nun versuchen wir, diese Annäherung zu verbessern indem wir eine unbekannte Grösse δ dazu addieren, (a + b)−1 = 1 1 = +δ a+b a ⇒ 1=1+ b + aδ + bδ. a Da |b| < |a| gilt, vernachlässigen wir den Term bδ und erhalten δ = − ab2 . Wir wiederholen diesen Prozess mehrmals (oder, um genauer zu sein, wir benutzen Induktion) und erhalten (a + b)−1 = b b2 b3 1 − 2 + 3 − 4 + ..., a a a a (8) was für n = −1 dem Theorem 5 entspricht. Diesesmal hingegen ist die Reihe unendlich! Multiplizieren wir (8) mit a und setzen x = ab , dann erhalten wir für |x| < 1 1 = 1 − x + x2 − x3 + x4 − x5 + . . . . 1+x 1.2.4 (9) Rationale Exponenten 1 2 Nun √ betrachten wir (a+b) = a, und suchen ein δ, so dass √ a + b. Wir nehmen erneut an, dass b klein ist, so dass √ a+b = √ √ a+b≈ a+δ eine bessere Approximation ist. Quadrieren ergibt √ √ a + b = ( a + δ)2 = a + 2 aδ + δ 2 . Da δ klein ist, können wir δ 2 vernachlässigen und erhalten δ = |b| ≪ a (das heisst |b| viel, viel kleiner als a) √ a+b≈ √ b √ . 2 a Somit erhalten wir für b a+ √ . 2 a Für den nächsten Schritt betrachten wir √ a+b= und erhalten a+b=a+b+ √ b a+ √ +δ 2 a √ b2 bδ + 2 aδ + √ + δ 2 , 4a a wobei wir die zwei letzten Terme vernachlässigen können, da wir |b| und δ klein gewählt haben und somit ist √ √ b b2 a+b≈ a+ √ − √ . 2 a 8 a3 10 Vorkurs UZH Dies können wir nun induktiv fortsetzen und wenn wir die Gleichung durch x = ab setzen, erhalten wir schliesslich (Newton 1665) √ a dividieren und 1 1 1 1 5 4 (1 + x) 2 = 1 + x − x2 + x3 − x + ... . 2 8 16 128 Siehe Abbildung 1. Wir erhalten für n = 1 2 Theorem 5. 1 Abbildung 1: Die Reihe für (1 + x) 2 = 1 + 21 x − 18 x2 + 1 3 x 16 − 5 x4 128 ... Theorem 7 (Verallgemeinertes Binomialtheorem von Newton). Für jede rationale Zahl a und für |x| < 1 gilt a a(a − 1) 2 a(a − 1)(a − 2) 3 (1 + x)a = 1 + x + x + x + ... . 1 1·2 1·2·3 Sogar Newton selbst hat dieses Interpolationsargumet als gefährlich eingestuft. Euler hingegen erwähnt in seinem Buch Introductio (1748, § 71) das verallgemeinerte Theorem ohne weiteren Beweis oder Kommentar. Erst über hundert Jahre später (1826) fand Abel, dass es notwendig sei, einen genauen Beweis aufzuschreiben (wir werden hier aber darauf verzichten). 11 Vorkurs UZH 1.3 Exponentialfunktion Wir berechnen mit Hilfe von Theorem 7 den Ausdruck N 1 N N(N − 1) 1 N(N − 1)(N − 2) 1 1+ = 1+ + · 2+ · 3 + ... N N 1·2 N 1·2·3 N 1 2 1 1(1 − N ) 1(1 − N )(1 − N ) = 1+1+ + + ... . 1·2 1·2·3 Euler behauptete 1748 in seinem Buch Introductio, dass ”falls N eine Zahl grösser als jede zuweisbare Zahl ist, dann ist 1 − N1 gleich 1”. Somit folgt, dass wenn N gegen unendlich läuft, dann läuft (1 + N1 )N gegen die sogenannte Eulersche Zahl e=1+1+ 1 1 1 + + + ... . 1·2 1·2·3 1·2·3·4 Dieses Argument ist höchst gefährlich, da es unendlich oft angewandt wird. Zum Beispiel könnte mit demselben Argument bewiesen werden, dass 1= 1 1 1 1 1 1 1 1 + = + + = + + ...+ = 0 + 0 + . . . + 0 = 0. 2 2 3 3 3 N N N Wir wenden uns nun einem etwas allgemeineren Fall zu. Erneut benutzen wir Theorem 7 um 1+ x3 x4 x2 x N + + + ... → 1+x+ N 1·2 1·2·3 1·2·3·4 zu erhalten. Hier ist x eine beliebige aber feste rationale Zahl. Setzen wir nun M = lassen M gegen unendlich laufen, so erhalten wir M x M !x 1 1 x N = 1+ → ex . = 1+ 1+ N M M Theorem 8 (Euler 1748). Falls N gegen unendlich läuft, dann gilt x2 x3 x4 x N x →e =1+x+ + + + ... . 1+ N 2! 3! 4! 12 N x und Vorkurs UZH 1.4 Logarithmen und Flächen Tabularum autem logarithmicarum amplissimus est usus ... (Euler 1748, Introductio) Der Begriff Logarithmus wird von den Schülern im allgemeinen nur sehr schwer verstanden. (B.L. van der Waerden 1957) 1.4.1 Logarithmen M. Stifel (1544) betrachtete folgende zwei Reihen: ··· −3 −2 ··· 1 8 1 4 −1 0 1 2 1 1 2 3 4 5 6 2 4 8 16 32 64 7 8 ··· 128 256 · · · Wenn wir von der unteren Linie zur oberen Linie wechseln, so werden Produkte in Summen verwandelt. Zum Beispiel können wir statt 8 mal 32 (in der unteren Linie) die Summe der entsprechenden Zahlen (in der oberen Linie), das heisst 3 plus 5, berechen. Das Resultat 8 (in der oberen Linie) entspricht der Zahl 256 (in der unteren Linie), was gerade gleich dem Produkt 8 · 32 ist. Solche (etwas detailiertere) Tabellen waren früher äusserst nützlich, um Zahlen zu multiplizieren, da es viel einfacher war, Zahlen zu addieren statt zu mulitplizieren. Solche ”Logarithmus”– Tabellen wurden zuerst von John Napier (1614), Henry Briggs (1624) und Jost Bürgi (1620) berechnet. Logarithmus besteht aus den Wörtern λoγoζ=logos und αριθµoζ=arithmos, was auf griechisch ”Beziehung” und ”Zahl” bedeutet. Der Logarithmus beschreibt also eine Beziehung zwischen Zahlen. Definition 9. Eine für positive Werte von x definierte Funktion l(x) heisst logarithmische Funktion, falls für alle x, y > 0 gilt l(x · y) = l(x) + l(y). Setzen wir y = z x (respektive x = y = 1) in (10) ein, so erhalten wir z l = l(z) − l(x) , respektive l(1) = 0. x Weiter gilt für x · y · z = (x · y) · z l(x · y · z) = l(x) + l(y) + l(z). 13 (10) Vorkurs UZH Wenden wir dies auf √ 3 x· √ 3 x· √ 3 √ x = x an, erhalten wir l( 3 x) = 13 l(x), respektive allgemein m l(x n ) = m l(x). n (11) Nehmen wir nun an, dass eine logarithmische Funktion l(x) gegeben ist und dass eine Zahl a existiert, so dass l(a) = 1 gilt. Dann folgt aus (11), dass m m l an = , n das heisst die logarithmische Funktion ist die Umkehrfunktion der Exponentialfunktion ax . Wir nennen dies den Logarithmus zur Basis a und scheiben y = loga x falls x = ay . Logarithmen zur Basis 10 sind parktisch für numerische Berechnungen, da das Verschieben des Dezimalkommas einfach eine ganze Zahl zum Logarithmus dazuaddiert. In der Theorie ist aber die Eulersche Zahl e als Basis vorzuziehen. 14 Vorkurs UZH 1.4.2 Berechnung von Flächen Die Bestimmung von Flächen und Volumen war schon seit der griechischen Antike von grossem Interesse für Mathematiker und Mathematikerinnen. Archimedes hat bereits 283–212 v.u.Z. die Fläche vom Kreis berechnet. Anfangs 17. Jahrhundert konnten Bonaventura Cavaliere, Roberval und Fermat die Fläche unter der Kurve y = xa bestimmen. Problem 10. Sei a gegeben. Bestimme die Fläche F unter der Kurve y = xa zwischen x = 0 und x = B. Lösung für a > −1: (Fermat 1636) . Wir wählen für θ < 1 einen Wert nahe bei 1 und betrachten die Rechtecke gegeben durch die geometrische Reihe B, θB, θ2 B, θ3 B, . . . mit Höhe B a , θa B a , θ2a B a , . . . (siehe Abbildung 2). Nun kann die gewünschte Fläche durch die geometrische Reihe approximiert werden: 1. Rechteck + 2. Rechteck + 3. Rechteck + . . . = = B(1 − θ)B a + B(θ − θ2 )θa B a + B(θ2 + θ3 )θ2a B a + . . . = B a+1 (1 − θ)(1 + θa+1 + θ2a+2 + . . .) 1−θ = B a+1 , 1 − θa+1 (12) (13) (14) (15) falls a + 1 > 0 respektive a > −1 (siehe Gleichung (9)). Setzen wir nun θ = 1 − ε, wobei ε ganz klein sei. Dann folgt aus Theorem 7, dass θa+1 = (1 − ε)a+1 = 1 − (a + 1)ε + · · · . Somit gilt ε 1 1−θ ≈ = 1 − θa+1 (a + 1)ε a+1 für ε → 0. Die Summe dieser Rechtecke approximiert (für a > −1) die gewünschte Fläche F von oben. Ersetzen wir die Höhen der Rechtecke durch θa B a , θ2a B a , θ3a B a , . . ., erhalten wir eine Approximation von F von unten. In diesem zweiten Fall wird der Wert von (12) mit θa multipliziert, welches für θ → 1 gegen 1 konvergiert. Somit müssen beide Approximationen gegen den gleichen Wert konvergieren und es folgt folgendes Theorem. 1 Abbildung 2: Die Fläche unter der Kurve x 3 . Theorem 11 (Fermat 1636). Sei a > −1. Die Fläche unter der Kurve y = xa begrenzt durch x = 0 und x = B ist gegeben durch B a+1 . F = a+1 15 Vorkurs UZH Abbildung 3: Die Fläche(1 → 2) und die Fläche(3 → 6) sind gleich gross . Wir wollen nun die Fläche unter einer Hyperbel y = x1 berechnen. Fermats Methode kann hier nicht angewandt werden. In der Tat erhalten wir aus der geometrischen Reihe B, θB, θ2 B, θ3 B, . . . für die Summe der Rechtecke den Wert (1 − θ)(1 + 1 + 1 + . . .), deren partiellen Summen eine arithmetische Reihe bilden. Dies motiviert aber die folgende Entdeckung von Gregory of St. Vincent (1547) und Alfons Anton de Sarasa (1649): Die Fläche unter der Hyperbel y = x1 ist ein Logarithmus. Durch zusammenstauchen der x-Achse und dehnen der y-Ache können wir sehen, dass Fläche(3 → 6) = Fläche(1 → 2), siehe Abbildung 3. Somit gilt Fläche(1 → 3) + Fläche(1 → 2) = Fläche(1 → 6). Dies bedeutet, dass die Funktion ln(a) = Fläche(1 → a) folgende Identität erfüllt: ln(a) + ln(b) = ln(a · b) und somit ein Logarithmus (der natürliche Logarithmus) ist. Theorem 12. Der natürliche Logarithmus ln(x) ist der Logarithmus zur Basis e. 16 Vorkurs UZH 2 Unendliche Folgen und reelle Zahlen. ... bis jetzt wurden diese Behauptungen Axiome genannt. (Mèray 1869) 2.1 Grenzwerte Nach Euler’s Tod 1783 stagnierte die Mathematik. Euler hatte alles gelöst: Er behandelte Infinitesimalrechnung und Differenzialrechnung (1748/1755), berechnete lösbare Integrale und Differenzialgleichungen (1768/1769), und lüftete die Geheimnisse von Flüssigkeiten (1755), der Mechanik (1736/1788), der Variationsrechung (1744) sowie der Algebra (1770). Es schien, als wäre nur noch übrig, die 30000 Seiten Eulers zu lesen und zu verstehen. Die ”Theorie der Funktionalanalysis” von Lagrange (1797), die Thesis von Gauss (1799) über das ”Fundamentaltheorem der Algebra” und seine Abhandlungen über die Konvergenz von hypergeometrischen Reihen (Gauss, 1812) markierten den Beginn einer neuen Aera. Bolzano bemerkte, dass in Gauss’s erstem Beweis jegliche Rigorosität fehlt. 1817 gab er einen ”vollkommen analytischen Beweis des Theorems, dass zwischen zwei Werten mit unterschiedlichen Vorzeichen, immer mindestens eine Wurzel der Gleichung existiert”. Schliesslich etablierte Cauchy 1821 in seinem berühmten Buch ”Cours d’Analyse” neue Anforderungen an die Rigorosität. Die Fragen lauteten wie folgt: Was ist... • ... eine Ableitung wirklich? Antwort: ein Grenzwert! • ... ein Integral wirklich? Antwort: ein Grenzwert! • ... eine unendliche Summe a1 + a2 + a3 + . . . wirklich? Antwort: Ein Grenzwert! • ... ein Grenzwert wirklich? Antwort: eine Zahl! • ... eine Zahl wirklich? Angenommen, es sei für jede positive Zahl n eine Zahl sn gegeben. Dann sprechen wir von einer (unendlichen) Folge und schreiben {sn } = {s1 , s2 , s3 , s4 , . . .}. Zum Beispiel ist {1, 2, 3, 4, 5, 6, . . .} eine arithmetische Folge (das heisst die Differenz von zwei aufeinander folgenden Folgeglieder ist konstant) und {q 0 , q 1 , q 2 , q 3 , q 4 , . . .} eine geometrische Folge (das heisst, der Quotient von zwei aufeinander folgenden Folgeglieder ist konstant). 17 Vorkurs UZH Was bedeutet nun ”eine Folge {sn } hat den Grenzwert s”, oder mit anderen Worten ”eine Folge {sn } konvergiert nach s”? Um dies genau zu definieren, benutzen wir folgende Schreibweise. bedeutet bedeutet ∀ ∃ ”Für alle...” ”Es existiert...” Definition 13 (D’Alembert 1765, Cauchy 1821). Eine Folge {sn } konvergiert nach s, falls eine Zahl s existiert, so dass ∀ε>0 ∃N ≥1, so dass ∀ n ≥ N gilt: |sn − s| < ε, und s heisst der Grenzwert von {sn }. Sonst wird die Folge divergent genannt. Nun benötigen wir die Dreiecks–Ungleichung. Lemma 14 (Dreiecks–Ungleichung). Für zwei beliebige Zahlen u und v gilt: |u + v| ≤ |u| + |v|. (Siehe Übungen für einen Beweis.) Theorem 15. Eine Folge {sn }, welche konvergiert, ist beschränkt, das heisst ∃ B, so dass ∀ n ≥ 1 gilt: |sn | ≤ B. Die Umkehrung gilt nicht: Die Folge {sn } = {1, 0, 1, 0, 1, 0, . . .} ist beschränkt (wähle B = 1) aber nicht konvergent. Wir betrachten nun das Konvergenzverhalten der geometrischen Folge. Lemma 16. Für die geometrische Folge {1, q, q 2 , q 3 , . . .} gilt 0 für |q| < 1, 1 für q = 1, lim q n = n→∞ ∞ für q > 1. Die Folge divergiert für q ≤ −1. 18 Vorkurs UZH Theorem 17. Seien sn → s und vn → v zwei konvergente Folgen. Dann konvergieren die Summe, das Produkt und der Quotient der beiden Folgen und es gilt lim (sn + vn ) = s + v n→∞ lim (sn · vn ) = s · v s sn = , falls vn 6= 0 und v 6= 0. lim n→∞ vn v n→∞ 2.2 Cauchy Folge Die Konvergenz von Definition 13 hat einen gravierenden Nachteil: Um |sn − s| zu berechnen, muss der Grenzwert s bekannt sein. Aber was tun wir, wenn s nicht bekannt ist? Um dieses Hinderniss zu umgehen, hatte Cauchy die Idee, statt |s − sn | < ε den Term |sn − sn+k | < ε für alle Nachfolger sn+k von sn zu betrachten. Definition 18. Eine Folge {sn } heisst Cauchy Folge, falls ∀ε>0 ∃N ≥1, so dass ∀ n ≥ N und ∀ k ≥ 1 gilt: |sn − sn+k | < ε. Anhand der Dreiecks–Ungleichung (Lemma 14) erhalten wir |sn − sn+k | ≤ |sn − s| + |s − sn+k | < 2ε, woraus folgt, dass eine konvergente Folge eine Cauchy Folge sein muss. Es gilt aber auch die umgekehrte Behauptung: Theorem 19 (Cauchy 1821). Eine Folge {sn } von reelle Zahlen konvergiert zu einem reellen Grenzwert genau dann, wenn es eine Cauchy Folge ist. Ein gründlicher Beweis dieses Theorems wird erst möglich sein, nachdem wir etwas mehr über das Konzept der irrationalen und reellen Zahlen erfahren haben. Zum Beispiel ist dieses Theorem falsch für rationale Zahlen! Betrachten wir die Folge {1, 1.4, 1.41, 1.414, 1.4142, 1.41421, . . .} so ist √ dies tatsächlich eine Cauchy Folge (da |sn −sn+k | < 10−n+1 gilt), aber die Folge konvergiert nach 2, welches keine rationale Zahl ist. 19 Vorkurs UZH 2.3 Konstruktion der reellen Zahlen Bitte vergessen Sie alles, was sie bis anhin in der Schule gelernt haben; denn Sie haben es nicht gelernt. ... Meine Tochter studiert seit einigen Jahren Chemie und denkt, sie hätte Differential- und Integralrechnung in der Schule erlernt, aber weiss selbst heute noch nicht, wieso x · y = y · x wahr ist. (Landau 1930) √ 3 ist also nur ein Symbol für eine Zahl, welche zuerst noch gefunden werden muss, aber es ist keine Definition. Die Definition hingegen ist befriedigend gegeben durch meine Methode, nämlich (1.7, 1.73, 1.732, . . .) (G. Cantor 1889) ... die Definition von irrationalen Zahlen, auf welche geometrische Darstellungen oft einen verwirrenden Einfluss hatte. ... Ich nehme in meiner Definition einen rein formalen Standpunkt ein, in dem einige gegebene Symbole Zahlen genannt werden, so dass die Existenz dieser Zahlen von jedem Zweifel erhaben sind. (Heine 1872) Erniedrigt die Analysis zu einem reinen Spiel mit Symbolen... (Du Bois-Reymond, Allgemeine Funktionentheorie, Tübingen 1882) Während vielen Jahrhunderten war es niemandem so richtig klar, wie irrationale Zahlen mathematisch rigoros definiert werden sollten. Schliesslich haben viele Mathemaiker (Cantor, Heine, Méray, Dedekind) dieses Problem unabhängig voneinander gelöst und zwar wie folgt: jeder Cauchy Folge von rationalen Zahlen sn wird eine reelle Zahl zugenordnet. Das heisst, die Cauchy Folge selbst definiert die reelle Zahl. Es scheint, dass uns diese Definition einen eleganten Beweis für das Theorem 19 liefert. Es bleibt allerdings immer noch viel zu tun: Verschiedene Cauchy Folgen können die selbe reelle Zahl repräsentieren und wir müssen algebraische Relationen für diese neuen Objekte definieren. Schliesslich müssen wir auch noch Theorem 19 wirklich beweisen, denn die Terme sn können nun auch selbst reelle Zahlen sein (das heisst rationale Cauchy Folgen). 20 Vorkurs UZH 2.3.1 Äquivalenzrelation Angenommen √ √2 ist der Folge {1.4, 1.41, 1.414, . . .} zugeordnet. 3 ist der Folge {1.7, 1.73, 1.732, . . .} zugeordnet. √ √ dann muss 2 · 3 der Folge der Produkte {2.38, 2.4393, 2.449048, . . .} √ zugeordnet sein. Andererseits ist 6 auch der Folge {2.4, 2.4393, 2.449048, . . .} zugeordnet. Somit müssen wir diese zwei Folgen miteinander identifizieren. Definition 20. Zwei rationale Cauchy Folgen {sn } und {vn } heissen äquivalent, falls lim (sn − vn ) = 0, n→∞ das heisst ∀ε>0 ∃ N ≥ 1 , so dass ∀ n > N gilt: und wir schreiben {sn } ∼ {vn }. Die Bedingung (16) ist eine Äquivalenzrelation für die Menge das heisst {sn } ∼ {sn } {sn } ∼ {vn } =⇒ {vn } ∼ {sn } {sn } ∼ {vn }, {vn } ∼ {wn } =⇒ {sn } ∼ {wn } |sn − vn | < ε, (16) der rationalen Cauchy Folgen, reflexiv symmetrisch transitiv. (Für einen Beweis, siehe Übungen.) Somit können wir die Menge der rationalen Cauchy Folgen in Äquivalenzklassen unterteilen: n o {sn } = {vn } {vn } ist eine rationale Cauchy Folge und {vn } ∼ {sn } . Ein Element der Äquivalenzklasse wird Repräsentant genannt. Definition 21. Die reelle Zahlen sind Äquivalenzklassen von rationalen Cauchy Folgen, das heisst n o R = {sn } {sn } ist eine rationale Cauchy Folge . Die rationalen Zahlen Q können als Teilmenge der reellen Zahlen R betrachtet werden, indem ein Element r ∈ Q als die Äquivalenzklasse {r, r, r, . . .} der konstanten Folge {r, r, r, . . .} betrachtet wird. 21 Vorkurs UZH 2.3.2 Addition und Multiplikation Damit wir mit den reellen Zahlen R rechnen können, müssen wir die üblichen Verknüpfungen definieren. Definition 22. Es seien s = {sn } und v = {vn } zwei reelle Zahlen. Wir definieren die Summe (und die Differenz) sowie das Produkt (und den Quotienten) durch s + v := {sn + vn }, und s · v := {sn · vn }. Diese Definition müssen wir mit Vorsicht geniessen: • Sind {sn + vn } sowieo {sn · vn } überhaupt Cauchy Folgen? • Sind s + v und s · v überhaupt wohldefiniert, das heisst gilt auch s + v = {s′n + vn′ } und s · v = {s′n · vn′ } für andere Repräsentanten {s′n } und {vn′ } von s und v? • Gelten die bekannten Regeln für reelle Zahlen (Kommutativität, Assoziativität und Distributivität) überhaupt? 2.3.3 Ordnungsrelation und absoluter Betrag Es seien s = {sn } und v = {vn } zwei reelle Zahlen. Definition 23. Es sei ε′ ∈ Q. s < v :⇐⇒ ∃ ε′ > 0 und ∃ M ≥ 1 , so dass ∀ m ≥ M gilt: sm ≤ vm − ε′ . s ≤ v :⇐⇒ s < v oder s = v. Bemerkung. Damit die Definition Sinn macht, muss die Zahl ε′ rational sein. Die etwas komplizierte Definition von s < v bedeutet folgendes: Für ein genügend grosses m müssen die Elemente sm und vm genügend weit auseinander liegen. Es würde nicht reichen, nur sm < vm für alle m zu verlangen, da dies zum Beispiel von {0, 0, 0, . . .} und {1, 0.1, 0.01, 0.001, . . .} erfüllt wäre, diese aber dieselbe reelle Zahl repräsentieren. Die Relation s ≤ v definiert eine Ordnungsrelation. Dies bedeutet s≤s (reflexiv) s ≤ v, v ≤ w =⇒ s ≤ w (transitiv) s ≤ v, v ≤ s =⇒ s = v (antisymmetrisch). (Für einen Beweis, siehe Übungen.) Lemma 24. Die Ordnungsrelation ≤ ist eine totale Ordnungsrelation, das heisst für zwei gegebene reelle Zahlen s und v mit s 6= v gilt entweder s < v oder v < s. Definition 25. Der absolute Betrag einer reellen Zahl s ist definiert durch falls s ≥ 0 s |s| := −s falls s < 0. 22 Vorkurs UZH 2.4 Unendliche Reihen Ich werde all meine Kraft hingeben um etwas Licht in die immense Dunkelheit zu bringen, welche heutzutage in der Analysis regiert. Es fehlt an jeglichem Plan oder System, so dass man wirklich sehr erstaunt sein muss, dass so viele Leute sich ihr [der Analysis] hingeben – und, noch schlimmer, die Genauigkeit fehlt vollends. (Abel 1826, Oeuvres, vol.2, p.263) Cauchy ist vollkommen verrückt und es ist absolut unmöglich mit ihm gut Freund zu sein, obwohl er im Moment der einzige Mensch ist, welcher weiss, wie man mit der Mathematik umgehen soll. Was er macht ist grossartig, aber sehr konfus und verworren... (Abel 1826, Oeuvres, vol. 2, p.259) Seit Newton und Leibniz sind unendliche Reihen, das heisst Ausdrücke der Form a0 + a1 + a2 + a3 + a4 + . . . , das wichtigste Werkzeug für Berechnungen. Wir wollen nun präzise beschreiben, was wir unter unendlichen Reihen und deren Konvergenz verstehen. Die Idee ist, die Folge {sn } von endlichen Teilsummen der Reihe s0 = a0 , s1 = a0 + a1 , s2 = a0 + a1 + a2 , . . . zu betrachten. Definition 26. Eine unendliche Reihe ∞ P i=0 vergiert. Wir schreiben ∞ X i=0 ai = lim sn n→∞ ai konvergiert, falls die Folge {sn } = oder X i≥0 nP n i=0 ai o kon- ai = lim sn . n→∞ Beispiel. Wir betrachten die geometrische Reihe 1 + q + q 2 + q 3 + . . .. Die nte Teilsumme ist sn = 1 + q + q 2 + . . . + q n . Multiplizieren wir diese mit (1 − q), streichen sich die meisten Terme weg und wir erhalten 1 − q n+1 . sn = 1 + q + q 2 + . . . + q n = 1−q Nun wenden wir Lemma 16 und Theorem 17 an und erhalten 1 falls |q| < 1 1−q 2 3 1 + q + q + q + ... = divergiert sonst. 23 Vorkurs UZH 2.4.1 Konvergenzkriterien Normalerweise ist es nicht möglich einen einfachen Ausdruck für sn zu finden und es ist schwierig den expliziten Grenzwert von {sn } zu berechnen. Aber wir können das Kriterium von Cauchy von Theorem 19 auf die Folge der Teilsummen anzuwenden. Da sn+k − sn = an+1 + an+2 + . . . + an+k gilt, erhalten wir folgendes. Lemma 27. Eine unendliche Reihe a0 + a1 + a2 + . . . konvergiert nach einer reelle Zahl genau dann, wenn ∀ε>0 ∃ N ≥ 0, so dass ∀ n ≥ N und ∀ k ≥ 1 gilt: |an+1 + an+2 + . . . + an+k | < ε. Setzen wir in diesem Lemma k = 1, so erhalten wir lim ai = 0. i→∞ Dies ist also ein notwendiges Kriterum für die Konvergenz. Aber es ist kein hinreichendes Kriterium. Zum Beispiel divergiert die folgende Reihe: 1+ 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 + + + + + + + + + + . . . → ∞. 2 2 3 3 3 4 4 4 4 5 Wir werden nun eine hinreichende Bedingung für Konvergenz betrachen. Eine unendliche Reihe, in welcher die Terme alternierende Vorzeichen haben, X a0 − a1 + a2 − a3 + a4 − . . . = (−1)i ai . i≥0 wird alternierende Reihe genannt. Theorem 28 (Leibniz 1682). Angenommen, die Terme ai einer alternierenden Reihe erfüllen folgende Bedingungen: ai > 0, ai+1 ≤ ai , lim ai = 0; i→∞ Dann konvergiert die Reihe nach einer reellen Zahl s. Weiter gilt |s − sn | ≤ an+1 . Beispiel. Die alternierende Reihe 1− 1 1 1 1 + − + −+... 2 3 4 5 konvergiert (und zwar nach ln(2)). Es ist hier wichtig zu bemerkten, dass die harmonische Reihe 1+ 1 1 1 1 + + + + ... 2 3 4 5 24 Vorkurs UZH divergiert! Denn für X X 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 + + + + + + + + + ...+ + ... 2 3 4 5 6 7 8 9 10 16 17 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 + ... + + ...+ = 1+ + + + + + + + 2 |4 {z 4} |8 8 {z 8 8} |16 16 {z 16} 32 bi = 1 + ai 1 2 gilt 1 2 X bi > 1 2 X (17) ai → ∞. Somit muss die harmonische Reihe divergieren. Bemerkung. In (17) wird das sogenannte Majoranten-Kriterium benutzt, auf welches wir hier nicht weiter eingehen wollen. Lemma 29. Die Reihe 1 1 1 1 1 + α + α + α + α + ... α 1 2 3 4 5 konvergiert für alle α > 1 und divergiert für α ≤ 1. 2.4.2 Absolute Konvergenz ... ein Umstand, welcher von den Mathematikern des vorigen Jahrhunderts übersehen wurde... (Riemann 1854, Werke, p.235) Wir fangen mit einem erstaundlichen Beispiel an. Beispiel. Wie wir bereits wissen, konvergiert die alternierende Reihe 1− 1 1 1 1 + − + − +.... 2 3 4 5 (18) Durch umgruppieren der Terme erhalten wir 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1− − + − − + − − + − − + .... | {z 2} 4 |3 {z 6} 8 |5 {z10} 12 |7 {z14} 16 1 2 und somit 1 6 1 10 1 1 1 1 1 1 − + − + − ... = 2 4 6 8 10 2 1 14 1 1 1 1 1 − + − + −... , 2 3 4 5 was der Hälfte des Grenzwertes der urprünglichen Reihe entspricht. Dies zeigt, dass der Wert einer unendlichen Summe abhängt von der Reihenfolge der Summation. 25 Vorkurs UZH Definition 30. Eine Reihe genau einmal in ∞ P ∞ P a′i ist eine Umordnung von i=0 ∞ P ai , falls jeder Term von i=0 a′i auftritt und umgekehrt. ∞ P ai i=0 i=0 Eine elegante Erklärung für dieses Phänomen gab Riemann 1854. Er bemerkte, dass für jede beliebige reelle Zahl A eine Umordnung der Reihe (18) existiert, so dass diese nach A konvergiert. Der Grund dafür ist, dass die Summe der positiven Terme und die Summe der negativen Terme von (18), nämlich 1+ 1 1 1 + + + ... 3 5 7 und − 1 1 1 1 − − − − ..., 2 4 6 8 beide divergent sind, respektive dass die harmonische Reihe 1+ 1 1 1 1 + + + + ... 2 3 4 5 divergiert. Definition 31. Die Reihe a0 + a1 + a2 + a3 + . . . heisst absolut konvergent falls |a0 | + |a1 | + |a2 | + |a3 | + . . . konvergiert. Theorem 32 (Dirichlet 1837). Falls die Reihe ∞ P i=0 alle ihre Umordnungen nach demselben Grenzwert. 26 ai absolut konvergiert, dann konvergieren Vorkurs UZH 3 3.1 Reelle Funktionen und Stetigkeit Reelle Funktionen Eine Funktion einer variablen Grösse ist etwas, das auf irgend eine Art aus dieser variablen Grösse und Konstanten zusammengesetzt ist. (Joh. Bernoulli 1718, Opera, vol.2, p.241) Falls nun jedem x ein eindeutiges, endliches y zugeordnet ist, ... dann wird y eine Funktion von x auf diesem Intervall genannt... . Diese Definition erfordert keine gemeinsame Regel für die verschiedenen Teile der Kurve; man kann sich die Kurve vorstellen als Zusammensetzung von höchst heterogenen Komponenten oder als gezeichnet, ohne irgendwelchen Gesetzen zu folgen. (Dirichlet 1837) Definition 33. Eine Funktion f : A → B besteht einerseits aus zwei Mengen, dem Definitionsbereich A und dem Wertebereich B, und andererseits aus einer Regel, welche jedem x ∈ A ein eindeutiges Elements y ∈ B zuordnet. Diese Zuordnung wird wie folgt aufgeschrieben: y = f (x) oder x 7→ f (x). Wir nennen y das Bild von x und x das Urbild von y. Der Definitions- und der Wertebereich werden in den folgenden Beispielen immer Teilmengen von R sein. Für Intervalle benutzen wir die folgende Notation: (a, b) [a, b] (a, b] [a, ∞) = = = = {x ∈ R | a < x < b} {x ∈ R | a ≤ x ≤ b} {x ∈ R | a < x ≤ b} {x ∈ R | a ≤ x < ∞} Wir nennen das Intervall (a, b) offen und das Interval [a, b] abgeschlossen. 27 Vorkurs UZH Beispiele 34. 1. Die Funktion f : [0, 1] → R sei gegeben durch x f (x) = 1−x falls 0 ≤ x ≤ falls 1 2 1 2 . (19) ≤x≤1 Gewisse y ∈ R haben keine, andere hingegen mehrere Urbilder. 2. Nun eine Funktion, welche sowohl als Grenzwert, wie auch durch unterschiedliche Definition auf verschiedenen Intervallen beschrieben werden kann: π falls x > 0 2 0 falls x = 0 (20) f (x) = lim arctan(nx) = n→∞ π −2 falls x < 0 Wir bilden hier arctan(nx) für n = 1, 2, 4, 8 . . . , 128 sowie n → ∞ ab: 28 Vorkurs UZH 3. Folgende Funktion (Dirichlet 1829) ist schwierig (unmöglich) aufzuzeichnen: falls x irrational 0 f (x) = 1 falls x rational. (21) 4. Eine Funktion ähnlich wie diejenige von Dirichlet, aber die Peaks werden kleiner für grössere Nenner von x: falls x irrational 0 f (x) = (22) 1 p falls x = q (als gekürzter Bruch). q 5. Wenn x gegen 0 läuft, so konvergiert x1 nach ∞, und somit oszilliert die folgende Funktion (Cauchy, 1821) beim Nullpunkt unendlich oft hin und her. falls x 6= 0 sin x1 f (x) = (23) 0 falls x = 0. 29 Vorkurs UZH 6. In folgender Funktion (Weierstrass 1874) ist die Oszillation beim Nullpunkt auf Grund des Faktors x weniger heftig, doch es sind immer noch unendliche viele Oszillationen. falls x 6= 0 x · sin x1 f (x) = (24) 0 falls x = 0. 7. Die folgende Funktion (Weierstrass 1872) ist definiert via einer unendlichen konvergenten Summe. ∞ X sin(n2 x) f (x) = . (25) 2 n n=1 Wir skizzieren hier die Summe m P n=1 sin(n2 x) n2 für m = 1, 2, 3 und 40. Definition 35. Es seien A und B Teilmengen von R. Die Funktion f : A → B ist • injektiv, falls f (x1 ) 6= f (x2 ) für x1 6= x2 . • surjektiv, falls ∀ y ∈ B • bijektiv, falls injektiv und surjektiv. • monoton steigend, falls f (x1 ) ≤ f (x2 ) für x1 < x2 . • streng monoton steigend, falls f (x1 ) < f (x2 ) für x1 < x2 . • monoton fallend, falls f (x1 ) ≥ f (x2 ) für x1 < x2 . • streng monoton fallend, falls f (x1 ) > f (x2 ) für x1 < x2 . 30 ∃ x ∈ A, so dass f (x) = y. Vorkurs UZH 3.2 Stetige Funktionen Cauchy (1821) hat das Konzept der stetigen Funktion eingeführt. Er nannte eine Funktion stetig, falls eine unbegrenzt kleine Veränderung von x nur unbegrenzt kleine Veränderungen für y bewirken. Bolzano (1817) und Weierstrass (1874) waren etwas präziser: Damit eine Funktion f stetig ist, muss die Differenz f (x)−f (x0 ) beliebig klein sein, falls die Differenz x−x0 genügend klein ist. Definition 36. Sei A eine Teilmenge von R und x0 ∈ A. Die Funktion f : A → R heisst stetig in x0 , falls für jedes ε > 0 ein δ > 0 existiert, so dass für alle x ∈ A mit |x − x0 | < δ gilt, dass |f (x) − f (x0 )| < ε: ∀ε>0 ∃δ>0, so dass ∀ x ∈ A mit |x − x0 | < δ gilt: |f (x) − f (x0 )| < ε. Eine Funktion f (x) heisst stetig, falls sie in allen Punkten x0 ∈ A stetig ist. Hier ein paar Beispiele: a) ist stetig, b) – f) sind nicht stetig. Theorem 37. Eine Fuktion f : A → R ist stetig in x0 ∈ A, genau dann wenn für jede Folge {xn }n≥1 mit xn ∈ A gilt: lim f (xn ) = f (x0 ) n→∞ falls 31 lim xn = x0 . n→∞ Vorkurs UZH 3.3 Uniforme Konvergenz und uniforme Stetigkeit Das folgende Theorem befindet sich in einer Arbeit von Herrn Cauchy: ”Falls die verschiedenen Terme der Reihe u0 + u1 + u2 + u3 + . . . alle stetige Funktionen in x sind,... dann ist die Summe s der Reihe auch eine stetige Funktion in x.” Aber es scheint mir, dass dieses Theorem Ausnahmen erlaubt. Zum Beispiel ist die Reihe sin(x) − 1 1 sin(2x) + sin(3x) + . . . 2 3 unstetig in jedem Wert (2m + 1)π von x,... (Abel, 1826, Oeuvres, vol.1, p.224–225) Betrachten wir eine Folge von Funktionen f1 , f2 , f3 , . . . : A → R. Für ein gegebenes x ∈ A ist f1 (x), f2 (x), f3 (x), . . . eine Folge von Zahlen. Definition 38. Wir sagen, {fn (x)} konvergiert auf A punktweise nach f (x), falls lim fn (x) = f (x) n→∞ existiert für alle x ∈ A. Cauchy behauptete 1821, dass falls fn punktweise nach f konvergiert und alle fn stetig sind, dann ist auch f stetig. Wir geben hier vier Gegenbeispiele zu dieser Behauptung; das erste Beispiel verdanken wir Abel (1826). Beispiele. 1. Es sei sin(nx) sin(2x) sin(3x) sin(4x) + − + ...± . 2 3 4 n Siehe Abbildung 4 für die ersten 100 Folgeglieder. Es kann gezeigt werden (mit Hilfe von Fourier Reihen), dass diese Folge für −π < x < π nach y = x2 und für π < x < 2π nach y = x2 − π konvergiert und fn (π) = 0 für alle n. Somit ist die Grenzfunktion nicht stetig. fn (x) = sin(x) − Abbildung 4: Die Summe Pn i=1 (−1) 32 i sin(ix) i für n = 1, 2, 3 und 100. Vorkurs UZH 2. fn (x) = xn auf und A = [0, 1], lim fn (x) = n→∞ 0 falls x < 1 1 falls x = 1 Abbildung 5: Die Funktion xn für n = 1, 2, 3, 4 und 40. 3. fn (x) = xn − 1 , xn + 1 und −1 falls |x| < 1 0 falls x = 1 lim fn (x) = n→∞ +1 falls x > 1 Abbildung 6: Die Funktion xn −1 xn +1 33 für n = 1, 2, 3, 4 und 100. Vorkurs UZH 4. fn (x) = (1 − x2 )n auf und A = [−1, 1], lim fn (x) = n→∞ 0 falls x 6= 0 1 falls x = 0. Abbildung 7: Die Funktion (1 − x2 )n für n = 1, 2, 3, 4 und 100. Die Erklärung für dieses Phänomen gab 1848 Seidel: Betrachten wir Abbildung 5. Um so näher x am Punkt x = 1 gewählt wird, desto langsamer ist die Konvergenz und desto grösser muss n gewählt werden, um die gewählte Genauigkeit ε zu erreichen. Aus diesem Grund kann eine Unstetigkeit entstehen. Deswegen müssen wir verlangen, dass für ein gegebenes ε > 0 die Differenz fn (x) − f (x) kleiner als ε für alle x ∈ A ist, falls n ≥ N. Definition 39 (Weierstrass 1841). Die Folge fn : A → R konvergiert uniform auf A nach f : A → R, falls ∀ε>0 ∃ N ≥ 1, so dass ∀ n ≥ N und ∀ x ∈ A gilt: |fn (x) − f (x)| < ε. Theorem 40 (Weierstrass 1861). Falls fn : A → R stetige Funktionen sind und fn (x) uniform auf A nach f (x) konvergiert, dann ist f : A → R stetig. Frage. Existiert eine Folge von stetigen Funktionen fn (x), welche nach einer stetigen Funktion f (x) konvergiert, so dass die Konvergenz fn (x) → f (x) nicht uniform ist? Wir haben gesehen, dass die uniforme Konverenz eine notwendige Voraussetzung für Theorem 40 ist, aber es muss nicht unbeding notwendig sein für ein bestimmtes Beispiel. Nun, es gibt viele solche Funktionen. Eine davon ist die Folgende: fn (x) = 2nx . 1 + n2 x2 Siehe Abbildung 8. Für jedes feste x 6= 0 gilt limn→∞ fn (x) = 0. Die Funktion fn (x) besitzt in y = 1 ein Maximum bei x = n1 . Somit ist die Konvergenz nicht uniform. Aber es gilt fn (0) = 0 34 Vorkurs UZH für alle n und somit konvergiert die Folge auch im Nullpunkt gegen Null und die Grenzfunktion ist stetig. Abbildung 8: Die Funktion 2nx 1+n2 x2 35 für n = 1, 2, 3 und 100. Vorkurs UZH 4 Mengenlehre Unter dem Begriff ”Menge” verstehen wir ein Gebilde M , welches aus bestimmten mit unserer Intuition und unseren Gedanken vorstellbaren und unterscheidbaren Objekten m zusammengesetzt ist. Diese Objekte heissen Elemente von M. (G. Cantor 1894, Werke, p.282) Aus dem Paradies, das Cantor uns geschaffen hat, soll uns niemand vertreiben können. (Hilbert, Math.Ann., vol.95, p.170) Wir schreiben Paare von reellen Zahlen als (x1 , x2 ) respektive n–Tupel als (x1 , x2 , . . . , xn ) und nennen diese Vektoren. Die Menge aller Paare ist R2 = R × R = {(x1 , x2 ) | x1 , x2 ∈ R} und die Menge aller n–Tupel ist Rn = R × R × . . . × R = {(x1 , x2 , x3 , . . . , xn ) | xk ∈ R, k = 1, 2, . . . , n}. Vektoren können (komponentenweise) addiert und mit einer reellen Zahl multipliziert werden. Zusammen mit diesen Verknüpfungen nennen wir Rn einen reellen Vektorraum. p Weiter bezeichnet |x| = x21 + x22 + . . . + x2n die (euklidsche) Länge des Vektors x. Für Mengen A, B in Rn werden wir folgende Symbole benutzen: A⊂B A∩B A∪B A\B K(A) = = = = falls alle Elemente von A auch zu B gehören. {x ∈ Rn | x ∈ A und x ∈ B} {x ∈ Rn | x ∈ A oder x ∈ B} {x ∈ Rn | x ∈ A aber x 6∈ B} {x ∈ Rn | x 6∈ A} Statt offene Intervalle haben wir in Rn offene Bälle Bε (a) = {x ∈ Rn | |x − a| < ε}. Wir nennen Bε (a) einen Ball mit Radius ε und Zentrum a. Definition 41 (Hausdorff 1914). Sei a ∈ Rn gegeben. Eine Menge V ⊂ Rn heisst Umgebung von a, falls ein ε > 0 existiert, so dass Bε (a) ⊂ V . 36 Vorkurs UZH Definition 42 (Weierstrass, Hausdorff 1914). Eine Menge U ∈ Rn heisst offen, falls U eine Umgebung von jedem seiner Punkte ist, das heisst U offen ⇐⇒ ∀x∈U ∃ε>0, so dass Bε (x) ⊂ U. Definition 43 (G. Cantor 1884). Eine Menge F ⊂ Rn heisst abgeschlossen, falls der Grenzwert jeder konvergenten Folge {xi }i≥1 mit xi ∈ F auch in F liegt, das heisst F abgeschlossen ⇐⇒ Aus a = lim xi mit xi ∈ F folgt a ∈ F. i→∞ Beispiel. In R gilt: (a, b) [a, b] (a, b] R ∅ = {} ist ist ist ist ist offen. abgeschlossen. weder offen noch abgeschlossen. sowohl offen als auch abgeschlossen. sowohl offen als auch abgeschlossen. Lemma 44. a) Die Menge A = {x ∈ Rn | |x| < 1} ist offen. b) Die Menge A = {x ∈ Rn | |x| ≤ 1} ist abgeschlossen. Beispiele 45. • Die Menge A = {x ∈ [0, 1] | x ∈ Q} ist weder offen noch abgeschlossen. Jeder (eindimensionale) Ball entält auch irrationale Zahlen und der Grenzwert einer Folge von rationalen Zahlen kann irrational sein. • Die berühmte Cantor Menge (Cantor, 1883) ist gegeben durch 1 2 1 2 7 8 A = [0, 1] \ ∪ ∪ ∪... , , , 3 3 9 9 9 9 (26) Diese Menge ist nicht offen (zum Beispiel hat x = 31 kein Umgebung in A), aber sie ist abgeschlossen (siehe Bemerkung 48). Hier eine Abbildung mit den ersten sieben Iterationsschritten. 37 Vorkurs UZH ”Sierpinskis Dreieck” und ”Sierpinskis Teppich” (Sierpinski 1915, 1916) sind zweidimensionle Verallgemeinerungen der Cantor Menge. Abbildung 9 sieht nicht nur schön aus, sie erinnert uns auch daran, dass Mengen sehr komplizierte Objekte sein können. Abbildung 9: Sierpinskis Dreieck und Sierpinskis Teppich Theorem 46. Es gilt a) F ist abgeschlossen b) U ist offen =⇒ =⇒ K(F ) ist offen. K(U) ist abgeschlossen. Theorem 47 (Hausdorff 1914). Für eine endliche Anzahl Mengen, gilt a) U1 , U2 , . . . , Um offen =⇒ b) F1 , F2 , . . . , Fm abgeschlossen U1 ∩ U2 ∩ . . . ∩ Um ist offen. F1 ∪ F2 ∪ . . . ∪ Fm ist abgeschlossen. =⇒ Für eine beliebige Anzahl Mengen (mit Indexmenge Λ), gilt c) Uλ ist offen für alle λ =⇒ S d) Fλ ist abgeschlossen für alle λ abgeschlossen. λ∈Λ Uλ = {x ∈ Rn | ∃ λ ∈ Λ, x ∈ Uλ } ist offen. =⇒ T λ∈Λ Fλ = {x ∈ Rn | ∃ λ ∈ Λ, x ∈ Fλ } ist Bemerkung 48. Mit obigem Theorem können wir zeigen, dass die Cantor Menge (siehe (26)) abgeschlossen ist. Das Komplement der Cantor Menge ist 1 2 7 8 1 2 ∪ ∪ ∪... , , , K(A) = (−∞, 0) ∪ (1, ∞) ∪ 3 3 9 9 9 9 und somit eine unendliche Vereinigung von offenen Intervallen und damit nach Theorem 47 offen. Da K(K(A)) = A folgt aus Theorem 46, dass die Cantor Menge A abgeschlossen ist. Literatur: E. Hairer, G. Wanner, Analysis by Its History, Springer (1996) New York. 38