SUCHT UND SUCHTPRÄVENTION Prof. Dr. Marion Klein FHCHP FTS 2017 ENTWICKLUNGSSTUFEN SUCHT 1. Gebrauch beschreibt wertneutral die Tatsache des Konsums 2. Genuss Der Konsum ist etwas Besonderes und sozial sowie kulturell eingebunden. Erstkonsum muss nicht zwangsläufig mit Genuss verbunden sein. 3. Risikoarmer Konsum ist nur für Alkohol definiert Grenzwerte für risikoarmen Alkoholkonsum: maximal zwei Standardgläser (20 bis 24 Gramm reiner Alkohol) pro Tag für Männer, höchstens ein tägliches Standardglas für Frauen. An mindestens zwei Tagen in der Woche gar kein Alkohol. Standardglas: Ein Glas Bier (0,25 l) oder ein kleines Glas Wein oder Sekt (0,1 l). Grenzwerte stammen vom „wissenschaftlichen Kuratorium der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen (DHS)“ (sind für „gesunde Erwachsene“ formuliert worden) Jugendliche bzw. ab 16-Jährige sollten Experten zufolge Alkohol „weitgehend meiden“– vor allem um Reifungsprozesse im Gehirn nicht zu stören. Punktnüchternheit ENTWICKLUNGSSTUFEN SUCHT 4. Riskanter Konsum Riskant ist der Konsum, der die genannten Richtwerte überschreitet; kann auch einmalig höherer Konsum sein 5. Gewohnheit sagt nichts über Konsummengen aus; beschreibt Verhalten; Konsum wird mit bestimmten Ereignissen, Tageszeiten oder Stimmungen verknüpft und gehört zum Alltag 6. Schädlicher Gebrauch /Missbrauch (wird in der ICD-10 synonym gebraucht) wiederholter Konsum in gefährlichen bzw. unangemessenen Situationen (z.B. Schwangerschaft); wiederholte Inkaufnahme von sozialen, zwischenmenschlichen oder gesundheitlich negativen Folgen oder der wiederholte Verstoß gegen geltendes Recht ENTWICKLUNGSSTUFEN SUCHT 7. Dauerstrategie Suchtmittel wird anhaltend als Mittel zum Zweck verwendet. Wirkung wird gezielt gesucht – schlechte Gefühle sollen unterdrückt werden. 8. Kontrollverlust Verlust der Kontrolle über Beginn, Beendigung oder Menge des Konsums. „Kontrollverlust“ ist eines der Kriterien, die zur Diagnose der Abhängigkeitserkrankung dienen. ENTWICKLUNGSSTUFEN SUCHT 9. Abhängigkeit (ICD 10 Diagnose "Abhängigkeitssyndrom„) während des letzten Jahres waren mindestens drei oder mehr der folgenden Kriterien gleichzeitig vorhanden: Ein starker Wunsch oder eine Art Zwang, ein Suchtmittel zu konsumieren. Verminderte Kontrollfähigkeit bezüglich des Beginns, der Beendigung und der Menge des Konsums des Suchtmittels. Ein körperliches Entzugssyndrom bei Beendigung oder Reduktion des Konsums. Nachweis einer Toleranz: Um die ursprünglich durch niedrigere Mengen des Suchtmittels erreichten Wirkungen hervorzurufen, sind zunehmend höhere Mengen erforderlich. Fortschreitende Vernachlässigung anderer Interessen und Vergnügen zugunsten des Suchtmittelkonsums und/oder erhöhter Zeitaufwand, um die Substanz zu beschaffen, zu konsumieren oder sich von den Folgen zu erholen. Anhaltender Substanzgebrauch trotz des Nachweises eindeutiger schädlicher Folgen (körperlicher, psychischer oder sozialer Art). SUCHT UND ABHÄNGIGKEIT „Sucht“ geht auf „siechen“ (ahd. siuchan, mhd. siechen) zurück, das Leiden an einer Krankheit; einige damals gebildete Krankheitsbegriffe sind auch heute noch gebräuchlich, so vor allem Bleichsucht (spezielle Form der Blutarmut), Gelbsucht (Hepatitis), Fallsucht (Epilepsie), Schwindsucht (Tuberkulose)… Durch Verwendungen wie „Tobsucht“ und „Mondsucht“ wurde Sucht auch als krankhaftes Verlangen verstanden. Daraus entstand im 20. Jahrhundert der moderne Suchtbegriff im Sinne von Abhängigkeit. Abhängigkeit(ssyndrom) für die substanzgebundene Sucht Impulskontrollstörung für die stoffungebundene Verhaltenssucht ICD-10 SUBSTANZGEBUNDENE ABHÄNGIGKEIT, STOFFLICHE ABHÄNGIGKEIT F10.2 Psychische und Verhaltensstörungen durch Alkohol (Abhängigkeitssyndrom) F11.2 Psychische und Verhaltensstörungen durch Opioide (Abhängigkeitssyndrom) F12.2 F13.2 Psychische und Verhaltensstörungen durch Cannabinoide (Abhängigkeitssyndrom) Psychische und Verhaltensstörungen durch Sedativa oder Hypnotika (Abhängigkeitssyndrom) F14.2 Psychische und Verhaltensstörungen durch Kokain (Abhängigkeitssyndrom) F15.2 Psychische und Verhaltensstörungen durch andere Stimulanzien, einschließlich Koffein (Abhängigkeitssyndrom) F16.2 Psychische und Verhaltensstörungen durch Halluzinogene (Abhängigkeitssyndrom) F17.2 Psychische und Verhaltensstörungen durch Tabak (Abhängigkeitssyndrom) F18.2 Psychische und Verhaltensstörungen durch flüchtige Lösungsmittel (Abhängigkeitssyndrom) F19.2 Psychische und Verhaltensstörungen durch multiplen Substanzgebrauch und Konsum anderer psychotroper Substanzen (Abhängigkeitssyndrom) ICD-10 SUBSTANZUNGEBUNDENE ABHÄNGIGKEIT F50 Essstörungen F63 Abnorme Gewohnheiten und Störungen der Impulskontrolle F63.0 Pathologisches Spielen F63.8 Sonstige abnorme Gewohnheiten und Störungen der Impulskontrolle F63.9 Abnorme Gewohnheit und Störung der Impulskontrolle, nicht näher bezeichnet DEFINITION WHO Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) definiert Abhängigkeit als einen seelischen, eventuell auch körperlichen Zustand, der dadurch charakterisiert ist, dass ein Mensch trotz körperlicher, seelischer oder sozialer Nachteile ein unüberwindbares Verlangen nach einer bestimmten Substanz oder einem bestimmten Verhalten empfindet, das er nicht mehr steuern kann und von dem er beherrscht wird. Durch zunehmende Gewöhnung an das Suchtmittel besteht die Tendenz, die Dosis zu steigern […]. Quelle: Gesundheitsberichterstattung des Bundes 03.09.2014 SUCHT (UN)GLEICH SUCHEN?! "Sucht ist ein unabweisbares Verlangen nach einem bestimmten Erlebniszustand. Diesem Verlangen werden die Kräfte des Verstandes untergeordnet. Es beeinträchtigt die freie Entfaltung einer Persönlichkeit und zerstört die sozialen Bindungen und die sozialen Chancen des Individuums“ Prof. Dr. med. Klaus Wanke, Professor für Psychiatrie und Direktor der UniversitätsNervenklinik/Psychiatrie in Homburg WHO: „Einer Abhängigkeit liegt der Drang zugrunde, die psychischen Wirkungen des Suchtmittels zu erfahren, zunehmend auch das Bedürfnis, unangenehme Auswirkungen ihres Fehlens (Entzugserscheinungen wie Unruhe, Schlafstörungen, Kopfschmerzen, Angstzustände, Schweißausbrüche) zu vermeiden“ LEBEN WIR IN EINER SUCHTGESELLSCHAFT? Kuntz 2011: fast jede menschliche Verhaltensweise kann zu suchtartigen Ausprägungen führen Ladewig (1996:30): „Jeder Trieb oder jedes Interesse eines Menschen kann süchtige Dimensionen annehmen“ Kaufsucht, Sportsucht, Arbeitssucht, Sexsucht, Medienabhängigkeiten (Computerspielabhängigkeit, Internetabhängigkeit, Fernsehabhängigkeit, Handyabhängigkeit) Beziehungssucht (auch Teil der abhängigen Persönlichkeitsstörung) Romanzensucht (Anne Wilson Schaef), Kritiksucht, Streitsucht, Gefallsucht, Putzsucht, Eifersucht… VERSTÄNDNIS VON SUCHT 1. 2. 3. Klassischer Suchtbegriff: verbunden mit physischer, substanzgebundener Sucht Erweiterter oder umfassender Suchtbegriff: Anwendung auch auf psychische und soziale Abhängigkeit sowie auf nicht-substanzgebundene Süchte Schaef: »Die Gesellschaft verkörpert ein System, und zwar ein Suchtsystem. Es trägt alle Merkmale und vollzieht alle Prozesse, die für den Alkoholiker oder Süchtigen typisch sind. Es funktioniert aufgrund genau derselben Mechanismen.« Wer also in einem Suchtsystem lebt, braucht selber keinen Drogenmissbrauch zu betreiben, um die Verhaltensweisen eines Drogenabhängigen zu zeigen. Sind wir alle süchtig?