Rainer Hoymann In Erinnerung an Mars Camulus Laut dem Internetdienst map24.de liegen 537,08 km zwischen Kleve und der Tabard Street SE1 in London. Ein PKW benötigt sechs Stunden und 37 Minuten um diese Entfernung zurück zu legen. Dazu ist kein Schiff oder Amphibienfahrzeug erforderlich, denn der 50 km lange Eurotunnel, am 6. Mai 1994 eröffnet, unterquert den Ärmelkanal. Weder Entfernung noch Insellage konnte die Römer, zwei Jahrtausende zuvor, hindern, das heutige England ihrem „Weltreich“ einzufügen. Die römische Herrschaft formte eine kulturelle Identität, die die Menschen der heutigen Länder in West- und Südeuropa verbindet. Noch heute finden sich fortlaufend Spuren der gemeinsamen Vergangenheit: Münzen, Scherben, Steine oder wie 2002 in der City of London, südlich der Themse in der Tabard Street, eine steinerne Gedenktafel mit der Inschrift: NVM(inibus) AVGG(ustorum) DEOMARTICA MVLO TIBERINI VSCELERIANVS C(ivis) BELL(ovacus) MORITIX LONDINIENSI VM [pr]IMVS […. „Den Gottheiten der Herrscher (und) dem Gott Mars Camulus. Tiberinius Celerianus, ein Bürger der Bellovaci, moritix, der erste der Londoner [ ...“ Foto: Museum of London. Diese unscheinbare Tafel, gewidmet dem Mars Camulus, bringt erstmals den Namen der Stadt zum Ausdruck, in dem sie gefunden wurde: London. Liegt damit der Ursprung dieser Stadt am südlichen Themse-Ufer? Möglich! Eine andere Frage ist leichter zu beantworten: wer ist dieser Gott, Mars Camulus, dem sowohl römische Londoner als auch römische Niederrheiner ein steinernes Gedenken widmeten? Was verbindet den, in der Rinderner Pfarrkirche St. Willibrord als Altar verwendeten Gedenkstein, mit dem Londoner Fundstück? 1 Wer ist Mars Camulus? Diese Fragestellung ist zu korrigieren: Wer ist Mars? Wer ist Camulus? Denn der Gott „Mars Camulus“ stellt eine Mischung des römischen Gottes Mars und des gallischen Gottes Camulus, dessen Name übersetzt „Himmel“ heißt, dar. Camulus ist ein keltischer Kriegsgott, der besonders im belgischen und südwestdeutschen Raum anzutreffen ist. Es wird vermutet, dass Münzdarstellungen eines gehörnten Widdergottes aus Colchester (dem antiken Camulodunum, des britischen Zentrum des Camulos – Kultes) den Gott zeigen. Interessanterweise war eine Hauptfunktion des Kriegsgottes die eines Heilers aber auch die des Beschützers des Stammes. Mars hingegen ist neben Jupiter der wichtigste römische Gott. In der Gründungslegende Roms ist Mars der Vater der Zwillinge Romulus und Remus und damit Ahnherr der Römer. Der Monat März, bei den Römern ursprünglich der erste Monat des Jahres, ist dem Mars geweiht. Er gilt als Gott des Krieges aber Einzelheiten lassen vermuten, dass er auch als Agrargott fungiert. Attribut des Mars ist die Lanze, gezeigt wird er auch mit Helm und Schild sowie Schwert. Zeichen des Mars ist ein Kreis mit einem nach rechts oben gerichtetem Pfeil, auch als Symbol der Männlichkeit bekannt. Ihm heilig sind Wolf, Stier, Pferd, Greifvögel, Geier, Hahn und Specht sowie das Gras. Die „Synthese“, hier im Sinne einer Verbindung zweier Götter zu einer „höheren Einheit“, reflektiert den - inszenierten oder gewachsenen – Prozess die religiösen Rahmenbedingungen der beiden Völker – einheimischer Kelten und römischer Eroberer – an die geänderten Machtverhältnisse anzupassen. Damit wird mögliches Konfliktpotential minimiert und der Romanisierung Vorschub geleistet. Was verbindet den Mars Camulus - Stein aus Rindern mit dem Londoner Fundstück? Versuch einer geschichtlichen Einordnung. London, Britannien Die Römer landen unter der Führung Cäsars erstmals 55 und 54 v. Chr. in England, zunächst jedoch nicht als Eroberer. Britannien entwickelt sich, nicht zuletzt wegen geschickten Handwerker und effektiver Landwirtschaft, zu einer bedeutenden Handelsmacht. Die Briten gelten als römerfeindlich. König Conubelius versteht es jedoch einen militärischen Konflikt mit Rom zu vermeiden und ermöglicht damit der Bevölkerung ein Leben in Frieden. Ab dem Jahre 40 n. Chr. bilden sich in Britannien unter der Führung seiner Söhne zwei Lager. Adminius sieht die Zukunft der Kelten im römischen Reich. Caratacus fordert die Unabhängigkeit von Rom. Schließlich wird Adminius verbannt. Er geht nach Gallien und bittet die Römer um Hilfe. 43 n. Chr. erfolgt unter Kaiser Claudius die Besetzung und Adminius wird als König eingesetzt. Im Westen und Norden leisten die Kelten nach wie vor erbitterten Widerstand. Der bedeutendste Aufstand der Bevölkerung ereignet sich im Jahr 61 unter der Führung von Boudicca, britannische Königin, Heerführerin und Witwe eines keltischen Königs. Sie wagt einen Aufstand gegen die Römer, nachdem diese vertragswidrig militärisch 2 gegen ihre Töchter vorgegangen sind. Sie zerstört den römischen Verwaltungssitz Camulodunum und plündert Verulamium1 und Londinium. Nach Tacitus werden 70.000 römische Soldaten geschlagen, bevor Boudicca die entscheidende Schlacht verliert und anschließend möglicherweise Selbstmord begeht. Eine zahlenmäßig unterlegene römische Armee unter Gaius Suetonius Paulinus stellt die Aufständischen in den Midlands entlang der heutigen Watling Street und vernichtet sie. Die anschließende Romanisierung Südbritanniens durch die Statthalter Petronius Turpilianus und Trebellius Maximus verläuft erfolgreich. Die Entfernung zwischen dem Fundort des Mars Camulus – Steins in London (rote Fahne unten) und der Schlacht auf Höhe der heutigen Watling Street (grüne Fahne oben) beträgt zwei Kilometer und ist in einer halben Stunde Fußweg zu überbrücken. Rindern, Niederrhein Wichtige Stützpunkte am niederrheinischen Teil des Limes sind die Legionslager Castra Vetera beim heutigen Xanten und Noviomagus, jetzt Nimwegen. Zwischen Ihnen gibt es eine Reihe kleinerer Lager, die mit Hilfstruppen germanischer und gallischer Herkunft besetzt sind. Die Tabula iitineraria Peutingeriana und das Itinerarium Antonini Augusti, die die alten Straßen und Ortsnamen bezeugen, nennen eines der kleinen Kastelle Arenatium (Tabula) oder Harenatium (Itinerarium) und weisen es an der Stelle des heutigen Rindern aus.2 Die Bezeichnung Arenacum findet sich erstmalig um 70 n. Chr. bei Tacitus in der Beschreibung der BataverAufständen. Die Nähe des Lagers zu den Batavern und den angrenzenden germanischen Stämmen erlangt, als die friedliche Periode unter Drusus (38 bis 9 v. Chr.) zu Ende geht, militärische Bedeutung. Tiberius (42 v. Chr. bis 37 n. Chr.) muss gegen germanische Stämme im Nordwesten der Insula Batavorum Krieg führen. Kaiser Claudius (10 v. Chr. bis 54 n. Chr.) ist gezwungen, die römischen Truppen aus dem Gebiet der Friesen und Chauken auf das linke Rheinufer zurücknehmen. Zur Sicherung der linksrheinischen Stellungen achten die Römer auf einen unbesiedelten Uferstreifen rechts des Rheins. Seit 58 n. Chr. versuchen die Friesen, dieses Niemandsland in Besitz zu nehmen. Hierbei kommt es zu kriegerischen Auseinandersetzungen an denen das Lager in Rindern beteiligt ist. Die Besatzung 3 von Harenatium besteht aus einer Reiterabteilung (ala) und aus Remer3. Der Mars Camulus – Stein, den sie für des Kaisers Nero (37 bis 68 n. Chr.) Wohlergehen weihten, ist zweifellos für den Sieg in diesen kriegerischen Auseinandersetzungen errichtet worden. Dass der Staat durch das Eingreifen des Kaisers gerettet wird, sagt die Kranzinschrift des Steins mit den abkürzenden Buchstaben O C S („ob cives servatos“ – „für die Errettung der Bürgerschaft“) aus. Die Hauptinschrift weist auf einen Tempel (templum) zu Gunsten des Gottes hin, was für die Bedeutung der Ereignisse spricht.4 Der Mars Camulus – Stein aus Rindern. Zur Inschrift und ihrer Bedeutung, siehe „Josef Fink: In der Pfarrkirche zu Rindern. Der Mars Camulus-Stein. Kevelaer 1970, S. 32ff. Foto: Privat. London vs. Rindern Sowohl in Britannien als auch am Niederrhein stoßen die Römer Mitte des 1. Jahrhunderts auf Widerstand bei der einheimischen Bevölkerung. In beiden Regionen sind keltische Kämpfer involviert - in Britannien als Gegner, am Niederrhein als Verbündete der Römer. Die Auseinandersetzungen werden auf der Insel und am Rhein vom Römischen Reich gewonnen. Wenn diese Übereinstimmungen ausreichen, wäre die Entstehung des Londoner Fundstücks auf Mitte bis Ende des 1. Jahrhunderts zu datieren. Doch deutet „AVGG(ustorum)“ nicht auf ein Herrscherpaar („den Herrschern“) hin? Marc Aurel ist der erste Mitkaiser in der römischen Geschichte, er herrscht von 161 bis 180 n. Chr.. Das doppelte „G“ ist auch ein Kennzeichen der Severer – Epoche zu Beginn des 3. Jahrhunderts. Andererseits kann die Bezeichnung „den Herrschern“ 4 nicht auch auf eine rasche Folge von Kaisern hinweisen? Während der Jahre 68 bis 69 nach Chr. gab es sechs Herrscher in Rom: 54–68 68–69 69 69 69–79 Nero Claudius Caesar Augustus Germanicus Servius Sulpicius Galba Marcus Salvius Otho Aulus Vitellius Titus Flavius Vespasianus. In einer Phase ständig wechselnder Regenten bietet sich eine allgemein gehaltene Würdigung an, zumal eine Gedenktafel die einfache Korrektur bei veränderter Betrachtungsweise nicht so schnell ermöglicht, wie ein moderner digital verfasster Text. Die Widmung auf dem Rinderner Mars Camulus – Stein musste schon wenige Jahre nach seiner Erstellung verändert werden: Kaiser Nero fiel in Ungnade. Die römisch – keltische Gedenktafel aus London ist diesbezüglich als „innovativ“ einzustufen. Und, wenn die Indizienkette schlüssig bleibt, ist der Mars Camulus – Stein aus dem Klever Stadtteil Rindern, der Schlüssel zur Altersbestimmung der Gedenktafel aus der Millionenstadt London. Wie eingangs erwähnt: es sind ja nur 537,08 Kilometer. Ich danke Herrn Francis Grew vom Museum of London, der mich über Email auf die Londoner Mars Camulus – Tafel aufmerksam gemacht hat. 1 Verulamium war die drittgrößte Stadt im römischen Britannien. Sie liegt in der Nähe der heutigen Stadt St. Albans in Hertfordshire, zum Teil auf landwirtschaftlicher genutzter Fläche. 2 Fink, Josef: In der Pfarrkirche zu Rindern. Der Mars Camulus-Stein. Kevelaer 1970, S. 11 ff. 3 Die Remer waren einer der größten belgisch – keltischen Stämme (Belger), die in der heutigen Region Champagne sesshaft waren. Sie verbündeten sich 57 v. Chr. mit Caesar und unterstützten ihn während der gallischen Kriege, wodurch sie später den Ehrentitel „foederati“ führten. 4 Fink, Kevelaer 1970, S. 12 ff. 5