Johann Conrad Peyer (1653–1712) und die Lymphplaques des Dünndarms

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BERÜHMTE SCHWEIZER ÄRZTE
Johann Conrad Peyer (1653–1712)
und die Lymphplaques des Dünndarms
Albert Mudry
Lausanne, Stanford
1677 schreibt Conrad Peyer: «Tenuia perfectiorum animalium intestian accuratius perlustranti, crebra hinc
inde, variis intervallis, corpusculorum glandulosorum
agmina sive plexus se produnt, diversae magnitudins
atque figurae. Primoenim exigui, in intestinorum principio; dein grandiores, in ipsorum progressu; demum
maximi, in eorundem exitu conspiciuntur Est et, ubi ingens intestini tractus, hujusmodi plexu glanduloso dense
ac velut racematim consitus adparet: Idque circa ilei extremitatem fere perpetuum est, cui glandulae hae adeo
videntur domesticae ac necessariae, ut quamvis caetera
subinde intestina, tamen hoc iis nunquam destituatur.
Imo sicubi in duodeno atque jejuno desint, in ileo defectus ille numero suppleatur. Horum vero plexuum facies
modo in orbem concinnata; modo in ovi aut olivae oblongam, alimave angulosam ac magis anomalem disposita figuram cernitur […] Ipsarum porro glandularum
ea est structurae et positus ratio, ut basibus suis intimae, vel interdum mediae intestini tunicae insistentes,
non raro per exteriorem forinsecus transpareant; sicque
citra dissectionem intestinorum, oculo iisdem propius
admoto, consipci queant. Apicibus autem suis, tanquam
exiguis papillis, inter crustae villos, in ipsam intestini
cavitatem prospiciunt. Apices isti, porulis sive pusillis
foraminulis insigniti, dum supposito digito premuntur,
humorem, plenumque sub-viscidum, exsudant» [1]. «In
dem Darmkanal der höheren Tiere zeigen sich die Drüsen bald spärlich zerstreut, bald in Häufchen oder Plexus
von verschiedener Form und Grösse vereinigt. Zuerst
werden die kleinen im Eingange des Darmes, dann im
weitern Verlaufe die grösseren und schliesslich an dessen Ausgang die mächtigsten derselben gesehen. Es erscheint der ungeheuer lange Darmkanal durch solche
Drüsen-Plexus, welche Träubchen gleichen, dicht besetzt.
Wenn sie auch um das Ende des Ileum herum konstant
vorkommen, wo diese Drüsen bis anhin als einheimisch
und unentbehrlich erschienen, so fehlen sie auch in den
übrigen Darmabschnitten doch niemals ganz. Ja wenn
sie auch einmal im Duodenum und Jejunum vermisst
werden, so ist dieser Ausfall durch ihre Menge im Ileum
ersetzt. Das Aussehen dieser Plexus ist bald einer Kreisscheibe, bald erscheinen sie in Form eines Eies oder
einer Olive, oder sie sind in Form eines Winkels, oder in
einer unregelmässigen Figur in den Darm eingestreut
[…] Ferner ist die Art und Weise der Struktur und Lage
dieser Drüsen derart, dass sie mit ihrer Basis in der inneren oder mittleren Schichte der Darmwand sitzend,
nicht selten auch in die äussere derselben vordrängen
und durch sie hindurch schimmern, so dass sie dann,
über den Querschnitt vorspringend, dem Auge näher
gerückt erscheinen müssen. Mit ihren Spitzen ragen sie
wiederum zwischen den Darmzotten, aus den ihnen
eigenen Vertiefungen des Darmes, gleich kleinen Papillen vor. Diese Spitzen, mit kleinen Poren oder winzigen
Oeffnungen versehen, entleeren, wenn man die Drüschen
zwischen den Fingern presst, einen meist zähflüssigen
Saft» [2].
Nachdem Conrad Peyer diese Beobachtungen bei Haustieren äusserst genau beschrieben hat, kommt er mithilfe der vergleichenden Anatomie zu dem Schluss, dass
«diese Drüsen auch im menschlichen Körper zu finden
sein müssen». Er zeigt, dass besagte Drüsen der Schleimhaut, die vor ihm kaum bekannt waren, im Ileum dichter gedrängt stehen als an irgendeiner anderen Stelle;
zudem sind sie in der Darmwand gegenüber dem Mesenterium auch in grösserer Anzahl vorhanden, und
Peyer beobachtet, dass sie im Dickdarm solitär auftreten.
Gleichzeitig führt er aus, dass ein krankhaft veränderter
Zustand dieser Drüsen dazu dienen kann, verschiedene
pathologische Erscheinungen zu erklären. Seine mustergültige Beschreibung der Darmdrüsen wurde bis in die
anatomischen Lehrwerke der Mitte des 20. Jahrhunderts beinahe wortwörtlich übernommen.
Peyers Schriften zur Diskussion gestellt
Mitte des 19. Jahrhunderts stellen einige Anatomen wie
der Franzose Philibert Constant Sappey (1810–1896)
die Schriften Peyers erneut zur Diskussion: «Die follikulären Drüsen kommen laut Peyer nicht nur im Dickdarm
vor, sondern im gesamten Verlauf der Darmschleimhaut.
Sein Irrtum rührt daher, dass er die echten Follikel, die
nur im Zökum, Kolon und Rektum vorkommen, mit
denjenigen Follikeln verwechselte, die sich tatsächlich
über die gesamte Länge des Verdauungstraktes erstrecken. Beinahe sämtliche Autoren haben heute diesen
Irrtum übernommen; dabei gründet er auf keinerlei
Fakten. In mannigfach wiederholten Beobachtungen
konnte ich im Dünndarm nicht ein einziges Mal auch
nur die Spur einer follikulären Drüse entdecken» [3].
Bei den Peyer’schen Plaques handelt es sich um submuköse Lymphfollikel im letzten Dünndarmabschnitt
(Abb. 1 ). Neben den solitären Lymphfollikeln und dem
Wurmfortsatz stellen sie einen Bestandteil des darmassoziierten lymphatischen Gewebes dar, das die Fähigkeit
besitzt, das Immunsystem der intestinalen Schleimhaut
zu stärken. Bei Typhus sind diese Plaques entzündet
und geschwürig verändert. Der französische Arzt Pierre
Louis (1787–1872) erkennt in den Peyer’schen Follikeln
ein charakteristisches Merkmal des «enterischen Fiebers». Bekannt unter dem Namen Peyer-Drüsen, PeyerSchweiz Med Forum 2014;14(29–30):531–533
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Follikel, Peyer’sche Drüsen, Peyer’sche Platten, Haufen
oder Plaques, lautet ihr Name in der offiziellen anatomischen Terminologie (TA) Noduli lymphoidei aggregati
intestini tenuis («Ansammlungen lymphoider Knötchen
im Dünndarm»).
Forschung über den Gastrointestinaltrakt
und in Verdauungstheorie
Der 1653 in Schaffhausen geborene Conrad Peyer
(Abb. 2 ) nimmt in Basel im Jahr 1673 ein Medizinstudium auf; sein wichtigster Lehrer in den ersten beiden
Studienjahren ist Johann Heinrich Glaser (1629–1675)
[4]. 1675 unterbricht er sein Studium, kehrt nach Schaffhausen zurück und nutzt so die Gelegenheit, beim dortigen Stadtarzt Johann Jakob Wepfer (1620–1695) und
seinen Gehilfen, dem Apotheker und Arzt Heinrich Screta
von Zavorziz (1637–1689) sowie Johann Conrad Brunner
(1653–1727) in die Schule zu gehen. In diesem privilegierten Umfeld betreibt er zwei Jahre lang Forschungen
über den Gastrointestinaltrakt und die Verdauungstheorie nach der iatrochemischen Schule. Dies führt ihn
1677 zur Veröffentlichung seiner ersten Arbeit über die
Intestinaldrüsen, die 1681 eine zweite Auflage erfährt
(Abb. 3 ). Nach der Herausgabe dieses Werkes unternimmt Peyer eine Studienreise durch die Schweiz, insbesondere nach Bern und Genf, und anschliessend
nach Frankreich, Deutschland und Holland, um seine
Kenntnisse unter zahlreichen grossen Lehrmeistern zu
erweitern, darunter Théophile Bonnet (1620–1689) in
Genf, der grossen Einfluss auf ihn haben soll, sowie Joseph Guichard Duverney (1648–1730) in Paris und
Raymond Vieussens (1641–1715) in Montpellier. 1678
veröffentlicht Peyer eine Arbeit über die historische
anatomisch-medizinische Methodik, die als eine der
ersten Arbeiten zur pathologisch-anatomischen Methodik angesehen wird. Selbige Publikation ist stark von
den Werken seiner verschiedenen Lehrmeister beein-
Abbildung 1
Histologische Darstellung von Peyer-Plaques im Ileum.
Quelle: Plainpaper; Wikimendia Commons.
flusst; besonders zu nennen ist hier ohne Zweifel die
Lehre der klinisch-pathologischen Gegenüberstellung
von Heinrich Glaser. 1681 erhält Peyer schliesslich den
Doktortitel der Universität Basel und kehrt nach Schaffhausen zurück, um dort eine Arztpraxis zu eröffnen.
Neben zahlreichen Artikeln, vor allem über die peristaltischen Bewegungen des Darms, aber auch über die
Quinoaschale und deren Verwendung, erschienen in der
Zeitschrift der Akademie deutscher Naturforscher, veröffentlicht Conrad Peyer 1685 ein letztes Werk über die
Verdauung der Wiederkäuer, das von seinen Zeitgenossen positiv aufgenommen wird. Es enthält eine detaillierte Beschreibung des Magens dieser Tiere. Peyer erörtert zudem die Entstehung der Tiere aus der Eizelle,
in der vor der Befruchtung Abbildungen, Darstellungen
oder formgebende Konzepte in einer derart grossen Anzahl vorhanden seien, dass ihre Art sich von dieser Basis ausgehend durch alle Zeitalter hindurch vermehren
könne. Für Conrad Peyer entbehrt diese Hypothese
durchaus nicht einer Grundlage, denn die Organisation
der Tiere erweise sich als ein solch ausserordentliches
Wunderwerk, dass an deren Ursprung nur göttliche
Weisheit stehen könne. «Es ist Irrsinn, den Tieren
selbst die Fähigkeit zuzusprechen, ihren Fötus zu zeugen; hierin offenbart sich eine bemerkenswerte Verstiegenheit der Atomisten und Anderer, die die Epigenese
Abbildung 2
Wappen der Familie Peyer aus den genealogischen Registern der
Stadt Schaffhausen, angelegt von Hans Wilhelm Harder (1810–1872),
7. Band (N–P). Quelle: http://www.stadtarchiv-schaffhausen.ch/
Schaffhausen-Geschichte/Genealogie/Register/.
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(1656–1711), einen kontinuierlichen Briefwechsel, in
dem er auch den Hermaphrodismus der Lungenschnecke
sowie eine Tierseuche ähnlich der Maul- und Klauenseuche beschreibt. In Zusammenarbeit mit Harder veröffentlicht Peyer Bemerkungen über die Lebenskraft des
Herzens und ihre Unabhängigkeit von der Seele. Jakob
Wepfers berühmtes Experiment bringt sie auf die Idee,
das Herz toter Tiere und sogar erhängter Menschen
durch Einblasen von Luft in den gemeinschaftlichen
Stamm der Lymphgefässe der Hohlvene wieder in Bewegung zu bringen, und sie beobachten, dass das auf
diese oder ähnliche Weise angeregte Organ oft mehrere
Stunden lang fortfährt, sich zu bewegen. Die glückliche
Konsequenz dieser bedeutenden Entdeckung ist, dass
Descartes Theorie nun gänzlich fallengelassen wird; ihr
grosser Nutzen liegt indes vor allem darin, den Weg für
diejenigen zu ebnen, die das Rätsel der eigentümlichen,
den Muskeln innewohnenden Kraft entschlüsseln sollten.
Als Mitglied der Kaiserlichen Akademie der Naturforscher erhält Peyer den Beinamen Pythagoras. Seine anschliessende Laufbahn ist vom Zerwürfnis mit seinem
Lehrmeister Jakob Wepfer und seinem Fachkollegen
Conrad Brunner gekennzeichnet. Dies veranlasst ihn
dazu, ab 1890 am Gymnasium Unterricht in Redekunst
zu erteilen, um seinen Lebensunterhalt bestreiten zu
können.
Abbildung 3
Originalabbildung aus Peyers 1677 publizierter Arbeit. Quelle: Peyer JC.
Exercitatio anatomico-medica de glandulis intestinorum earumque usu et affectionibus.
Scafhusae: Waldkirch; 1677.
befürworten und von einer gewissen zufälligen Ansammlung spezieller Moleküle ausgehen, die aufeinandertreffen» [5].
Die Lebenskraft des Herzens und ihre
Unabhängigkeit von der Seele
Das Gesamtwerk Conrad Peyers ist so in weniger als
zehn Jahren entstanden. Darüber hinaus unterhält er
mit seinem Freund, dem Basler Arzt Jakob Harder
Korrespondenz:
Prof. Albert Mudry
Docteur en Médecine, Docteur ès Lettres
Spécialiste FMH en ORL, Spécialiste chirurgie de l’oreille
OHNS Stanford University School of Medicine
Av. de la Gare 6
CH-1003 Lausanne
albert[at]oreillemudry.ch
Literatur
1 Peyer JC. Exercitatio anatomico-medica de glandulis intestinorum
earumque usu et affectionibus. Scafhusae: Waldkirch; 1677, S. 7–9.
2 Mandach F. Über das klassische Werk des Schweizer-Artzes Joh. Konr.
Peyer De glandulis Intestinorum. Korrespbl Schweizer Ärtze. 1903;
33:445–50, 479–82.
3 Sappey PC. Traité d’anatomie descriptive. Vol. III. Paris: Masson;
1864, S. 194.
4 Peyer B. Der Arzt Johann Conrad Peyer 1653–1712. Zürich: Berichthaus; 1932.
5 Société de naturalistes et d’agriculteurs. Nouveau dictionnaire d’histoire
naturelle. Nouvelle ed. Vol. XXII. Paris: Deterville; 1818, S. 345.
Schweiz Med Forum 2014;14(29–30):531–533
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