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VO Europa von der Spätantike bis zum Interregnum
Pädagogische Akademie der Diözese Linz
Sommersemester 2004
Dr. Christian ROHR
Grundprobleme des spätantiken Staates
Die Zeit der Soldatenkaiser
Nach der friedlichen Zeit des 2. Jahrhunderts, in der die so genannten
Adoptivkaiser für eine stabile Lage im Inneren sorgten, kam es im 3.
Jahrhundert zur so genannten Zeit der Soldatenkaiser. In den Jahren
193-284 regierten nicht weniger als 39 Kaiser und Gegenkaiser, die
zumeist von den Soldaten wichtiger Heeresverbände (Legionen) zum
Kaiser ausgerufen wurden. Somit gab es häufig mehrere Kaiser im
Reich, die sich gegenseitig bekämpften. Die inneren Kriege verschlangen riesige Kosten, für die die Soldatenkaiser immer neue
Geldquellen suchten. Der Kaiser Septimius Severus (193-211) etwa
verstaatlichte die gesamten landwirtschaftlichen Großbetriebe (Latifundien) in Spanien. Der bis dahin rege Handel mit Wein, Getreide,
Olivenöl, etc. von Spanien in alle Teile des Römerreiches brach
schlagartig ab, weil die Wirtschaftsführung unter den Soldatenkaisern
offenbar kurzsichtig war und nur auf die Finanzierung der eigenen
Kriegsführung ausgerichtet war.
Die Spätantike
Mit den notwendigen Reformen, die nach fast 100 Jahren des Chaos
von Kaiser Diokletian (284-305) durchgeführt wurden, wird zumeist
der Beginn einer Zeit angesetzt, die als Spätantike bezeichnet wird.
Diese unterscheidet sich sowohl verfassungsgeschichtlich (Ende der
Prinzipatszeit, Teilung des Römerreichs) als auch geistesgeschichtlich
(Aufstieg des Christentums) von den Zeiten davor. Mit dem Eindringen der Hunnen (ab 375) und germanischer Stämme ins Römerreich
und ihrer Ansiedlung an dessen Grenzen beginnt die große „Völkerwanderung". Diese wird zumeist mit dem Einfall der Hunnen in den
Schwarzmeerraum im Jahr 375 und dem Einfall der Langobarden in
Norditalien im Jahr 568 begrenzt und bildet einen fließenden Übergang von der Antike ins Mittelalter.
Die Verwaltungsreformen Kaiser Diokletians
Diokletian sah, dass das Römerreich in der bisherigen Form und Größe nicht mehr regierbar war. Er teilte es in einen Westteil und einen
Ostteil, in denen jeweils ein Oberkaiser (Augustus) und ein Unterkaiser (Caesar) regierte. Diese 4 Kaiser (= Tetrarchen) teilten sich die
Macht auf, wobei die Unterkaiser die Nachfolger der Oberkaiser sein
sollten. Dieses System wurde in den nächsten 100 Jahren mehrmals
abgewandelt, bis es im Jahr 395 unter Kaiser Theodosius zur endgültigen Teilung in ein lateinischsprachiges Westreich und in ein weitgehend griechischsprachiges Ostreich kam. Beide Reiche waren weitgehend voneinander unabhängig und unterstanden jeweils einem Kaiser.
Seit Diokletian bekamen die Kaiser auch gesetzlich deutlich mehr
1
Macht. Der Prinzeps-Kaiser wurde durch den Dominus-Kaiser abgelöst (Name von der offiziellen Anrede für Diokletian: „dominus et
deus“ = Herr und Gott). Die Zeit ab Diokletian wird daher auch als
Dominatszeit bezeichnet. Allerdings hielt sich nach Diokletian die
Gleichsetzung des Kaisers mit einem Gott nicht lange, weil das Christentum sich immer mehr durchsetzte.
Der Aufstieg des Christentums
Diokletian hatte die Christen nicht zuletzt deswegen hart verfolgt, weil
diese die Verehrung des Kaisers als Gott vehement ablehnten. Unter
seiner Regierungszeit starben viele Tausend Christen im Reich den
Märtyrertod. Einer der Nachfolger Diokletians, Kaiser Konstantin
(305/312-337), setzte sich gegen seine Mitkaiser durch und verfügte
im Jahr 313 im Edikt (= Gesetzeserlass) von Mailand, dass das Christentum, das unter Diokletian noch schwer verfolgt wurde (z. B. der
Märtyrer Florian), toleriert werde. Konstantin selbst war aber vermutlich noch kein Christ. Erst unter Kaiser Theodosius wurde das Christentum im Jahr 391 zur Staatsreligion erhoben, es war also gegenüber
allen anderen Religionen bevorzugt und für die Staatsbediensteten
Vorschrift.
Römer und Barbaren – Die Völkerwanderung(en)
Völker auf Wanderschaft
Die germanisch dominierten Siedlungsverbände im Norden und Osten
Europas waren Halbnomaden, die nur für einige Zeit an einem Ort
blieben. Sie zogen weiter, wenn aus dem Gebiet nicht mehr genug
Nahrung für das Volk zu bekommen war. Auch dürfte sich in der
Spätantike das Klima merkbar verschlechtert haben. Durch diese
Wanderbewegungen, die im 2. Jh. n. Chr. begannen, wurden andere
Gruppen verdrängt, die wiederum bis ins Römerreich vorstießen.
Wenn ein Stamm erfolgreiche Führer hatte, schlossen sich ihm andere
Stämme zur Gänze oder teilweise an, sodass diese Stämme immer
größer wurden (Wanderlawine). Die Bezeichnung für ein derartiges
Volk auf ständiger Wanderschaft richtete sich stets nach den Führungsschichten, das Volk selbst bestand aus Teilen vieler Völkerschaften. Unter „den Hunnen“ ist also ein großer Siedlungsverband auf
Wanderschaft zu verstehen, bei dem die Führungsschicht aus Hunnen
besteht. Darunter befanden sich aber auch Mitglieder vieler anderer
Herkunft.
Römer und Barbaren
Der Beginn der Völkerwanderung wird zumeist mit dem Einfall der
Hunnen in die Siedlungsgebiete der Goten am Schwarzen Meer im
Jahr 375 angesetzt. Als Folge dieses „Hunnensturms“ gerieten viele
Stämme in Bewegung, doch sind die Wanderungen oft ziemlich undurchsichtig und verwirrend. Die Goten teilten sich seit 375 in Westund Ostgoten, wobei die Westgoten zunächst ins Römerreich eindran2
gen und dort als „Föderaten“ (= Bündnispartner) angesiedelt wurden.
Sie übernahmen die Grenzverteidigung für einen Teil des Römerreiches und bekamen im Gegenzug Land und Geldzahlungen.
Reichsgründungen
Am Ende oft jahrzehntelanger Wanderungen stand häufig die Sesshaftwerdung eines Stammes und die Gründung eines Reiches. Die
Westgoten gelangten nach Südfrankreich und nach Spanien, die Vandalen aus Ostdeutschland nach Nordafrika, die Angeln und Sachsen
aus Dänemark nach England, die Franken aus den Niederlanden nach
Nordfrankreich, die Ostgoten nach vielen Irrwegen nach Italien. Mit
dem Einfall und der Reichsgründung der Langobarden in Norditalien
im Jahr 568 wird zumeist das Ende der Völkerwanderungszeit angesetzt.
Odoaker und Theoderich
An der Spitze eines Heeres aus verschiedenen Germanenstämmen
drang der Söldnerführer Odoaker ins Römerreich ein und setzte im
Jahr 476 den letzten Kaiser des weströmischen Reiches, Romulus Augustulus, ab. Wenn man die Schwäche der damaligen weströmischen
Kaiser bedenkt, wird klar, dass das häufig als Epochendatum (Ende
der Antike und Beginn des Mittelalters) angeführte Jahr 476 nur ein
eher mittelmäßig bedeutendes Ereignis war, und man den Übergang
von der Antike zum Mittelalter auch anderswo ansetzen könnte. Um
das Jahr 500, aber nicht durch ein bestimmtes Datum eingrenzbar,
kommt es zu einem gleitenden Übergang von der Antike zum Mittelalter. Odoaker wurde schon nach wenigen Jahren vom ostgotischen
König Theoderich abgesetzt und ermordet (493). Die Ostgoten hingegen konnten in Italien ein Reich für etwa 60 Jahre aufrechterhalten,
das in den prächtigen Bauwerken von Ravenna noch bis heute seine
Spuren hinterließ.
Wie die Vandalen zu ihrem Image kamen
Die Vandalen machten sich kurz nach 400 vom Osten des heutigen
Deutschland auf und zogen über Frankreich und Spanien nach Nordafrika. Im Gebiet des heutigen Tunesien gründeten sie ein Reich auf
römischen Boden, das etwa 100 Jahre Bestand hatte. Wie viele andere
Gruppen wurden sie nicht von Katholiken, sondern von den so genannten Arianern christianisiert. Den Vandalen dürfte der feine theologische Unterschied kaum aufgefallen sein; sie wussten wohl nur,
dass sie sich in Opposition zur katholischen Kirche verhalten sollten
und unterdrückten daher die Katholiken in ihrem Reich. In er späteren
(katholischen) Kirchengeschichtsschreibung wurden diese Verfolgungen – und auch eine Plünderung Roms im Jahr 455 – äußerst drastisch
dargestellt, sodass die Vandalen zu ihrem schlechten Ruf kamen. Tatsächlich dürften sie sich aber kaum anders verhalten haben als etwa
die Westgoten, die ebenfalls lange Zeit dem Arianismus folgten und
im Jahr 410 Rom plünderten.
3
Arianer
Anhänger des griechischen Theologen
Areios, der im Gegensatz zur offiziellen Lehre behauptete,
dass Jesus nur Gott
ähnlich, nicht aber
Gott gleich sei.
Das Merowingerreich und andere frühmittelalterliche Reichsbildungen
Das Frankenreich unter den Merowingern
Im Rahmen der Völkerwanderung zog der Stamm der Franken vom
Gebiet der heutigen Niederlande nach Nordfrankreich. Unter ihrem
König Chlodwig (482-511) dehnten sich die Franken über weite Teile
des heutigen Frankreich aus. Chlodwig bekehrte sich auch zum katholischen Glauben und ließ sich taufen. Unter seinen Nachfolgern kamen
weitere Gebiete in Südfrankreich und im Gebiet des heutigen Deutschland hinzu. Die Siedlungsräume der Schwaben (im heutigen deutschen
Bundesland Baden-Württemberg) und der Bayern standen unter einem
fast königsgleichen Herzog und waren nur lose von den Merowingerkönigen im Frankenreich abhängig. Die Macht der Könige war vor
allem deswegen gering, weil häufig kleine Kinder an die Macht kamen, für die beispielsweise die Großmutter regierte, bis diese Könige
in jungen Jahren ermordet wurden. Außerdem war das Frankenreich
häufig unter mehreren Königen aufgeteilt. In diesem Chaos, das auch
dadurch spürbar ist, dass in dieser Zeit die Kenntnisse der antiken
Kultur meist verloren gingen, stieg die Familie der Karolinger auf.
Diese waren als Hausmeier, eine Art oberste Verwaltungsbeamte, die
eigentlichen Regenten.
Westgoten, Angelsachsen, Langobarden
Während die Reiche der Ostgoten in Italien und der Vandalen in
Nordafrika nicht über das 6. Jahrhundert hinaus Bestand hatten, konnten sich die Westgoten zunächst in Südfrankreich und dann in weiten
Teilen Spaniens festsetzen. Ihr Reich, das bis ins 7. Jahrhundert noch
als Heimat spätantiker Kultur diente, wurde erst 711 mit dem Übergreifen der muslimischen Mauren nach Spanien beendet. Viele Errungenschaften, etwa eine eigene westgotische Buchschrift oder die westgotische Zeitrechung (sie rechnet vom Jahr 38 v. Chr. weg), blieben
für nicht nur für den christlich verbliebenen Norden Spaniens für das
gesamte Mittelalter von Bedeutung. Die Langobarden wiederum waren 568 nach Nord- und Mittelitalien gekommen. Ihre Herrschaft wurde erst von Karl dem Großen beendet. Kulturell knüpften sie an spätantik-christliche Traditionen, aber auch die Kultur der Ostgoten an.
Durch zahlreiche Heiratsverbindungen mit den Bajuwaren fand auch
ein reger Kulturaustausch über den Alpenhauptkamm statt.
Die Angeln, Sachsen und Jüten waren aus dem heutigen Norddeutschland und Dänemark nach Südengland aufgebrochen und füllten dort
das Machtvakuum, das seit dem Abzug der Römer 410 geblieben war.
Die Königreiche waren zwar zumeist regional begrenzt, doch wiesen
sie eine für die damalige Zeit durchaus beachtliche Verwaltungstätigkeit auf, wie mehrere erhaltene Urkunden beweisen. Außerdem stießen Missionare aus Rom und Irland auf fruchtbaren Boden. Sie schufen mit der Gründung der beiden Erzbistümer Canterbury und York
die noch heute aufrechte Kirchenorganisation und errichteten Klöster,
die zu Zentren frühmittelalterlicher Gelehrsamkeit wurden.
Die Neuchristianisierung Europas
4
Auch das Christentum nahm in der Merowingerzeit vorerst wieder ab,
christlicher Glaube vermischte sich mit germanischen Kulten. Ab dem
frühen 7. Jh. kam es aber zu einer Neumissionierung, die vor allem
von Irland und England ausging. Besonders die irischen Mönche führten ein sehr radikales und enthaltsames Leben. Um das „grüne Martyrium“ zu erleiden, zogen sich die Mönche auf unwirtliche Inseln zurück oder fuhren mit kleinen Schiffen auf das europäische Festland,
das auf weite Strecken von Urwald bedeckt war. Dort gründeten sie,
häufig mit Unterstützung des Königs und der Adeligen, Klostergemeinschaften, die auch viele Bewohner des Frankenreiches anzogen.
Man spricht daher von einer irofränkischen Klosterkultur, die zu einem der wenigen Kulturträger der Merowingerzeit wurde. Auch der
Neugründer von Salzburg, der Heilige Rupert, stand unter irofränkischem Einfluss; einer seiner Nachfolger, der Heilige Virgil von Salzburg, war selbst Ire.
Es ist außerdem wahrscheinlich, dass der irische Mönch Brendan vom
Golfstrom getrieben über Grönland bis nach Kanada kam. Der Ire Tim
Severin baute in den 1970er-Jahren das Schiff Brendans exakt nach
den genauen Beschreibungen der „Navigatio Sancti Brendani“ (Seefahrt des Hl. Brendan) nach und gelangte bis nach Amerika. Somit
wären die Iren und nicht die Wikinger oder Christoph Kolumbus die
„Entdecker“ Nordamerikas.
Kulturtransfer oder Kulturverlust? Transformation oder Zusammenbruch?
Das Fortleben antiker Kultur
Der Beitrag des frühen Christentums zur spätantiken Literatur und
Kunst wurde lange Zeit in der Forschung unterschätzt. Die Christen
nahmen die klassisch-römische Kultur zum Vorbild, um daraus neue
Formen zu gestalten. Die Basilica, ursprünglich eine hohe gewölbte
Markthalle, wurde zur typischen Kirchenform der ausgehenden Antike. Dichter wie Iuvencus übertrugen Teile des Neuen Testaments in
Versform und folgten dabei dem sprachlichen Vorbild der klassischen
Dichter Vergil und Ovid. Gebildete Römer wie Ennodius und Cassiodor schrieben noch am Beginn des 6. Jahrhunderts unter der Herrschaft der Ostgoten in Italien ihre Werke in einem hochstilisierten
Latein und ließen dabei den Ostgotenkönig Theoderich wie einen römischen Kaiser erscheinen. Schließlich fasste der gebildete Bischof
Isidor von Sevilla am Beginn des 7. Jahrhunderts den Wissensstand
der Antike nochmals zusammen. Seine „Etymologiae“ fehlten in kaum
einer Klosterbibliothek des Mittelalters und wurden so zur führenden
Enzyklopädie für mehr als 800 Jahre.
Spätrömische Verwaltungsstrukturen im Frühmittelalter
Auch wenn es seit 476 keinen Kaiser mehr im Weströmischen Reich
gab – ein Umstand, der den Zeitgenossen kaum aufgefallen sein dürfte
–, so lebten doch viele Strukturen der römischen Verwaltung auf regionaler Ebene weiter. An die Stelle städtischer Beamter traten meist die
5
Der englische Universalgelehrte
Edward Gibbon hatte in
seinem
1776-1788
erschienenen Werk
„The Decline and
Fall of the Roman
Empire“ das Bild
vom Untergang des
Römerreichs
und
einem weitgehenden
Kulturverlust durch
den Aufstieg des
Christentums entstehen lassen. Nach
neueren Forschungen
ist dieses Bild allerdings deutlich zu
präzisieren, weil viele
Errungenschaften der
Antike in oft veränderter Form das Mittelalter und seine
christlichen Bischöfe, die vor allem im Frankenreich zu Trägern der Gesellschaft
entStadtherrschaft wurden. Sie entstammten oft denselben Familien wie scheidend prägten.
die Magistratsbeamten vor dem Ende des Römerreichs. Der gebildete
Bischof und Chronist Gregor von Tours (538-594) stellte über seine
Vorfahren fest, dass er nur mit fünf seiner 18 Vorgänger als Bischof
von Tours nicht verwandt gewesen sei. In Churrätien, dem heutigen
Schweizer Kanton Graubünden, hielt die Familie der Viktoriden das
Amt des Bischofs und damit auch des weltlichen Verwalters der einst
römischen Provinz bis ins 9. Jahrhundert inne.
Auch die Wurzeln des Lehenswesens reichen in die Spätantike und
Völkerwanderungszeit zurück: Die Besitz- und Machtverhältnisse auf
den großen landwirtschaftlichen Einheiten des Römerreichs, den Latifundien, wurden prägend für die Grundherrschaften des Mittelalters;
das System des militärisch legitimierten Heerführer-Königs mit seiner
Gefolgschaft an Adeligen ist wiederum typisch für die germanisch
dominierten Verbände der Völkerwanderungszeit und blieb für das
gesamte Mittelalter und die Frühneuzeit bestimmend.
Abgrenzungen Antike – Mittelalter
Die Abgrenzungen des Mittelalters werden heute nicht mehr so klar
mit Jahreszahlen umrissen. Als Beginn des Mittelalters wurde zumeist
das Jahr 476 n. Chr. (Absetzung des letzten weströmischen Kaisers)
angegeben, als Ende das Jahr 1492 (Entdeckung Amerikas durch
Christoph Kolumbus). Eine derartig klare Abgrenzung lässt sich allerdings inhaltlich nicht wirklich begründen. Die Hauptmerkmale, die
„das Mittelalter“ ausmachen, finden sich teilweise auch in den Zeiten
davor und danach. Sieht man beispielsweise die Durchdringung allen
Lebens mit dem christlichen (katholischen) Glauben an, so begänne
das Mittelalter eher 391 (Erhebung des Christentums zur Staatsreligion) und endete mit dem Jahr 1517 (Beginn der Reformation Martin
Luthers). Die Absetzung des letzten weströmischen Kaisers hat kaum
größere Auswirkungen gezeigt, sodass man das Jahr 476 getrost als
„Epochendatum“ vernachlässigen kann. Die Reformation Luthers
wiederum hatte für die Umgestaltung der mittelalterlichen Welt sicherlich mehr Bedeutung - zumindest in Mitteleuropa - als die „Entdeckung“ Amerikas.
Es wird daher sinnvoll sein, von festen Jahreszahlen wegzugehen und
stattdessen von Übergangszeiten auszugehen, die jeweils einen fließenden Übergang von einer Epoche zur nächsten bilden. Zwischen der
Römerzeit und dem Mittelalter liegt die Völkerwanderung (375-568),
in der sich die staatliche Organisation des gesamten Mittelmeerraumes
und weiter Teile West- und Mitteleuropas von einem Großreich (Römerreich) zu mehreren kleineren Reichen verschob (germanisch oder
slawisch geprägte Reiche). Während der Völkerwanderungszeit etablierte sich weiters das Christentum zur Staatsreligion im Römerreich
und wurde auch für die neu entstehenden Germanenreiche bestimmend.
Die Ausbildung des Feudalwesens
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Die Entwicklung des Feudalwesens
Schon seit dem 7./8. Jh. bildete sich in ganz Europa ein System gegenseitiger Abhängigkeit zwischen den verschiedenen Schichten der Gesellschaft heraus, das bis ins 18. Jh., also bis in die Neuzeit, Gültigkeit
besaß: Man nennt es Lehenswesen oder Feudalwesen.
Was ist das Lehenswesen?
Unter dem Lehenswesen versteht man ein System, bei dem jeweils der
Nächsthöhere seinen unmittelbaren Untertanen ein Amt bzw. ein
Stück Land, das sogenannte Lehen (lateinisch feudum), verleiht. Der
Kaiser/König belehnt somit seine unmittelbaren Untertanen, die sogenannten Kronvasallen (Hochadelige, z. B. Herzöge, wichtigere Grafen, Bischöfe, Äbte). Diese wiederum belehnen ihre Untertanen. Vor
allem seit dem 10. Jh. war dieses Feudalsystem oder Lehenssystem
voll ausgebildet.
Prinzipiell galt ein derartiges Lehensverhältnis für die Lebenszeit der
beiden Rechtspartner, es musste also beim Tod einer Seite vom bzw.
für den Nachfolger bestätigt werden. Dieser Schritt war normalerweise
reine Formsache, indem der Untertan um das Lehen bat, und der Vorgesetzte das Lehen meist in einem Zeremoniell, bei dem dem Untertan
ein Schwert auf die Schulter gelegt wurde, verliehen bekam. Wenn ein
Rechtspartner ohne einen eindeutigen Erben starb, konnte das Lehen
an jemand anderen verliehen werden, z. B. an den zweiten Gatten der
Witwe des Verstorbenen. Es war daher im Mittelalter häufig, dass die
Frauen oder Schwestern der letzten Vertreter eines Geschlechts sehr
begehrt waren, auch wenn sie teilweise schon in hohem Alter standen.
Die Lehenspyramide
Kaiser/König
Kronvasallen
später Landesherrn, Landesfürsten genannt
(Hochadelige, z. B. Herzöge, wichtige Grafen, Bischöfe)
Grundherrn/Landherrn
(niedere Adelige, z. B. kleinere Grafen,
Ritter, später auch Bürger)
Bauern
Ein gegenseitiges Verhältnis von Rechten und Pflichten
Das Abhängigkeitsverhältnis war gegenseitig: Der Vorgesetzte gewährte das Lehen, Schutz und Vertretung nach oben, der Untertan war
zu Abgaben (v. a. den Zehent, das ist eine 10 %-Steuer auf den Ertrag)
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und zum Heeresdienst verpflichtet, wobei jeder für seine eigene militärische Ausrüstung (Waffen, Pferd, etc.) sorgen musste.
Mit der Zeit kam es innerhalb des Feudalwesens zu Verschiebungen
der Machtverhältnisse: Der König verlor viele königliche Rechte (sogenannte Regalien) an die ihm unterstellten Hochadeligen (Landesherrn). Davon betroffen waren beispielsweise Rechte, die Bodenschätze abzubauen, Mauten einzuheben, Stadtrechte zu verleihen, etc. Auch
die Stellung der Bauern veränderte sich.
Die Stellung der Bauern
Die Bauern wiederum waren zwar ursprünglich meist frei, konnten
aber der Mehrfachbelastung (Bebauung des Ackers, Abgaben, oft
mehrjähriger Heeresdienst) oft nicht standhalten. Sie begaben sich
daher in der Regel stärker in die Abhängigkeit ihres Vorgesetzten (des
Grundbesitzers = Grundherr), gaben Teile ihrer Freiheit auf, mussten
aber nicht mehr Heeresdienst leisten. Man nennt diese halbfreien Bauern „Hörige“. Die stärkere Unfreiheit bestand beispielsweise darin,
dass sie auch für Privates (z. B. Heirat) die Zustimmung des Grundherrn benötigten und mehr Abgaben leisten mussten, z. B. in Form
von unbezahlter Zwangsarbeit in der Burg oder am „Privatgrundstück“ des Grundherrn (so genannte Robotleistung). In manchen
Gebieten, vor allem in Osteuropa, ging diese Abhängigkeit so weit,
dass die Bauern keinerlei Rechte mehr besaßen und als sogenannte
„Leibeigene“ fast wie Sklaven gehalten wurden.
Von der Großreichsidee Karls des Großen zum Heiligen Römischen Reich Deutscher
Nation
Von Hausmeiern zu Königen
Schon in den Wirren der Merowingerzeit war die Familie der Karolinger als Hausmeier (eine Art oberste Verwaltungsbeamte) die eigentliche Herrscherfamilie. Schließlich stürzte der Hausmeier Pippin
im Jahr 751 den letzten Merowingerkönig und machte sich mit Hilfe
des Papstes, der ihn feierlich zum König salbte, zum König der Franken (regierte als König 751-768). Pippin schenkte aus Dank dem Papst
ganz Mittelitalien (die so genannte Pippinische Schenkung). Aus diesem Gebiet entwickelte sich der sogenannte Kirchenstaat, in dem der Der Kirchenstaat
Papst auch weltlicher Herrscher war. Der Kirchenstaat).
existierte weitgehend
bis 1870, wurde im
Rahmen der Einigung
Karls Aufstieg
Pippins Sohn und Nachfolger Karl der Große (geboren um 747, König Italiens beseitigt und
768-814), stärkte seine Macht im Reich noch dadurch, dass er die letz- unter Mussolini 1929
ten verbliebenen mächtigen Herzöge schrittweise absetzte. Wichtig ist wieder in symbolifür unseren Raum vor allem die Absetzung des Bayernherzogs Tassilo scher Form errichtet.
(788), der beispielsweise Kremsmünster gründete (777); der Tassilo- Der Vatikanstadt bekelch, einer der wichtigsten Kunstgegenstände aus dem Frühmittelal- steht aus dem Peterster, stammt ebenfalls aus dieser Zeit. Bayern reichte bis zur Enns, das dom und einigen anGebiet östlich davon gehörte zum Reich der Awaren. Anstelle der deren große Kirchen
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mächtigen Herzöge setzte Karl Grafen ein, deren Gebiet deutlich klei- Roms und ist der
kleinste Staat der
ner war und die ausschließlich enge Gefolgsleute von ihm waren.
Erde
Die Ausdehnung des Karolingerrreichs
Karl dehnte sein Reich im Laufe seiner langen Regierungszeit auch in
alle Richtungen aus. Die Kämpfe waren dabei oft sehr langwierig und
blutig: Wichtig ist vor allem die Besiegung der Langobarden in Norditalien, der Sachsen in Norddeutschland und der Awaren im Süden
und Osten Österreichs sowie in Westungarn. Karls Reich reichte somit
von den Pyrenäen bis Dänemark und von Nordfrankreich bis zum
Plattensee und bis in die Toskana. An den Grenzen errichtete Karl
sogenannte Marken, das sind Gebiete mit besonderer Militärpräsenz.
Auch Österreich war als Awarenmark und Karantanenmark (gegen die
Karantanen, die slawischsprachigen Bewohner Kärntens und „Vorläufer“ der Slowenen) als eine Art Militärbezirk organisiert.
Die Reformen im Inneren
Zur Organisation eines solchen Großreiches war es notwendig, eine
funktionierende Verwaltung einzurichten: Karl sorgte sich deswegen
um die Pflege der lateinischen Sprache und um eine gut lesbare
Schrift. An seinem Hof wurde daher die sogenannte „karolingische
Minuskel“ entwickelt, die in weiten Zügen unserer Druckschrift entspricht. Für diese Reformzwecke holte Karl auch die gebildetsten Leute aus ganz Europa an seinen Hof, die fähig waren, die Werke der Antike zu verstehen, zu sammeln und abzuschreiben. Viele Texte aus der
Antike sind deswegen in Handschriften aus der Karolingerzeit erhalten, während ältere Handschriften meist verlorengegangen sind oder
beseitigt wurden, weil man sie nicht mehr lesen konnte.
Die Reform bezog sich nicht nur auf die Vereinheitlichung von Sprache, Schrift und Literatur, sondern auch auf das Mönchswesen. Unter
Karl und seinem Nachfolger Ludwig dem Frommen wurde für alle
Klöster die Regel des Hl. Benedikt verpflichtend. Diese Regel war bis
dahin nur eine von vielen, zeichnete sich aber dadurch aus, dass sie
sehr praktisch war und Gebet und Arbeit vereinigte („Bete und arbeite!“).
Die Regierungspraxis Karls
Die Verwaltung des Reiches war nur dadurch möglich, dass Karl sein
ganzes Leben im Reich herumzog und jeweils für einige Zeit in einer
seiner vielen Hauptstädte (Pfalzen) die Regierungsgeschäfte wahrnahm. Die Lieblingspfalz Karls war Aachen (westlich von Köln).
Auch in späteren Zeiten war es notwendig, dass der König oder Kaiser
zu seinen Untertanen kam und deswegen ständig im Reich umherzog.
Der König hatte auch sogenannte Königsboten, die darüber wachten,
dass die Gesetze eingehalten wurden.
Die Kaiserkrönung
Am Weihnachtstag des Jahres 800 wurde Karl in Rom vom Papst zum
Kaiser gekrönt. Offensichtlich sollte damit ausgedrückt werden, dass
Karl auf derselben Stufe wie die Kaiser im Oströmischen Reich (Byzantinischen Reich) stehe. Noch dazu gab es damals in Konstantinopel
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(dem heutigen Istanbul) Thronstreitigkeiten, sodass ein neuer Kaiser allerdings im Frankenreich auf dem Gebiet des ehemaligen Weströmischen Reiches - gekrönt werden könne (sogenannte „renovatio imperii“).
Die Teilung des Karolingerreichs
Unter den Nachfolgern Karls wurde das Reich mehrmals geteilt, weil
keiner der nachfolgenden Herrscher genug Autorität hatte, ein derartiges Großreich zu regieren. Die Teilung in ein Westfränkisches und
ein Ostfränkisches Reich spiegelt sich noch heute in der Teilung
zwischen französisch- und deutschsprachigem Gebiet wider. Wegen
der Schwäche der letzten Karolinger, die im Ostfränkischen Reich
schließlich im Jahr 911 ausstarben, entwickelten sich wieder starke
Herzogtümer in Bayern, Sachsen und anderen Gebieten, die nach einer
königsgleichen Macht strebten.
Nach dem Aussterben der Karolinger kamen im Ostfrankenreich
(Deutschland, Österreich, Schweiz, Norditalien, Ostfrankreich / Burgund) die Ottonen (auch Sachsenkönige genannt) an die Macht (9191024). Ihr Geschlecht ist nach den drei wichtigsten Königen (Otto I.III.) benannt. Von besonderer Wichtigkeit ist in vielerlei Hinsicht die
Herrschaft des Königs Otto I. (auch mit dem Beinamen „der Große“,
regierte 936-973).
Das Heilige Römische Reich
Da die Vorgänger Ottos I. eher schwache Könige waren, erstarkten
wieder Herzöge in manchen Kernbereichen des Ostfränkischen Reiches (Bayern, Sachsen, Schwaben). Der König war daher auf den guten Willen dieser mächtigen Reichsfürsten (ein Überbegriff für alle
geistlichen und weltlichen Hochadeligen, die direkt unter dem König
stehen) angewiesen. Andererseits versuchte er, den Einfluss der
Reichsfürsten zu beschränken und selbst eine übergeordnete Rolle
einzunehmen. Otto ließ sich daher im Jahr 962 vom Papst in Rom zum
Kaiser krönen. Der Unterschied zum Kaisertum Karls des Großen und
seiner Nachfolger war, dass Otto bewusst den Anschluss an das Römerreich suchte. Nach der christlich-mittelalterlichen Lehre gab es
nämlich insgesamt vier Reiche (die Reiche der Ägypter, der Babylonier, der Perser und der Römer), danach werde die Welt untergehen.
Otto sah sich daher in der Tradition der weströmischen Kaiser und
sein Reich in der Tradition des römischen Reiches. Diese Idee von der
„Übertragung des Reiches“ („translatio imperii“) machte somit aus
dem deutschsprachigen Ostfrankenreich ein „Römisches“ Reich. Man
spricht daher seit dieser Zeit vom „Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation“ (Sacrum Imperium Romanorum), auch kurz „RömischDeutsches Reich“ genannt. Der Kaiser wird daher auch als „Römisch-Deutscher Kaiser“ bezeichnet. Dieses Reich, das sich zwar in
sich und in seiner Ausdehnung immer wieder veränderte, dauerte bis
1806.
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Die Reform der Kirche – Cluniazensische Reform und Investiturstreit
Krise in der Kirche
Besonders seit dem 8. und 9. Jh. gab es in der katholischen Kirche
viele Missstände. Die Päpste in Rom führten manchmal einen sehr
unheiligen Lebenswandel; zudem stritten sich die Adelsgeschlechter
in Rom vehement um dieses Amt, sodass geistliche Kriterien in den
Hintergrund traten. Nicht selten lebten Priester in eheähnlichen Verhältnissen - übrigens konnten Priester und sogar Bischöfe bis ins Frühere Mittelalter heiraten und Familie besitzen; Auch die Simonie war
weit verbreitet. Außerdem wurde die Freiheit der Kirche durch das
Reichskirchensystem der Ottonen (919-1024) und der nachfolgenden
Salier (1024-1125) stark eingeengt. Im ostfranzösischen Kloster Cluny
und anderen Zentren formierte sich seit dem 10. Jh. eine Reformbewegung, deren Ziel es war, die Kirche zu ihren Wurzeln und zu einer
größeren Eigenständigkeit zurückzuführen. Die Ideen dieser so genannten Cluniazensischen Reform verbreiteten sich schnell über
ganz Europa und zeigten in mehreren Bereichen nachhaltigen Niederschlag.
Die Reform des Mönchswesens
Auch in den Klöstern, die seit der Zeit Karls des Großen und seiner
Nachfolger allgemein nach der Regel des Heiligen Benedikt lebten,
kam es zu Missständen und verweltlichten Erscheinungsformen. Außerdem waren viele Klöster vom Willen der weltlichen Herrscher abhängig, weil diese oder deren Vorfahren die jeweiligen Klöster gegründet und mit Besitzungen ausgestattet hatten. Geprägt von den
Reformgedanken aus Cluny und anderen Zentren der Kirchenreform
entstand der Zisterzienserorden, der besonders vom berühmtesten
Theologen der damaligen Zeit, Bernhard von Clairvaux, gefördert
wurde. Es handelt sich dabei um eine Mönchsgemeinschaft, die ähnlich wie die Benediktiner leben, allerdings im unwegsamen Gelände
ihre Klöster gründeten und die Gegend rundherum rodeten und bebauten. Sie strebten danach, von ihrer Umwelt wirtschaftlich unabhängig
zu sein. Bis heute hängen an den Zisterzienserklöstern größere Wirtschaftsbetriebe, v. a. Holzschlägerung und Holzverarbeitung, wofür
sowohl früher als auch noch heute weltliche Angestellte herangezogen
wurden. Wichtige Klöster der Zisterzienser in unserem Raum sind
Heiligenkreuz (NÖ), Zwettl (NÖ), Lilienfeld (NÖ), Wilhering (OÖ)
oder Schlierbach (OÖ),.
Das Wiedererstarken des Papsttums im Investiturstreit
Durch die Cluniazensische Reform gelangte auch das Papsttum zu
neuem Selbstbewusstsein. Besonders das Reichskirchensystem der
Ottonen und Salier bedeutete eine starke Einengung der päpstlichen
Gewalt, weil das Recht, hohe kirchliche Würdenträger (Bischöfe, Äbte) zu bestimmen, nur mehr beim Kaiser/König lag. Der Konflikt
spitzte sich zu, als auf der einen Seite König Heinrich IV. (1056-1105)
und auf der anderen Seite Papst Gregor VII. (1073-1085) nicht nachgeben wollten. Schließlich bannte der Papst den König, d. h. er schloss
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Simonie
Ämterkauf, benannt
nach der Gestalt des
Simon Magus in der
Apostelgeschichte,
der die Gunst der
Apostel und seine
Erlösung
erkaufen
wollte
ihn aus der Gemeinschaft der Kirche aus. Dieser Schritt war für den
König vor allem deswegen gefährlich, weil die Herrschaft des Königs
nach der mittelalterlichen Meinung von Gott gegeben war. Wenn der
König aus der Gemeinschaft Christi ausgeschlossen werde, müssten
daher auch seine Untertanen ihn nicht mehr anerkennen. Da die
Reichsfürsten immer versuchten, gegenüber dem König möglichst
viele Rechte zu erwirken, konnte ihnen diese Situation nur dienlich
sein. König Heinrich IV. zog daher dem Papst nach Italien entgegen
und bat auf der Burg Canossa in der nördlichen Toskana den Papst um
Aufhebung des Banns (1077). Dieser sogenannte „Canossagang“ ist
heute noch sprichwörtlich, wenn jemand klein beigeben und um Vergebung bitten muss. Der Streit um die Investitur, also die Frage, ob
der Papst oder der König die hohen kirchlichen Würdenträger einsetzen dürfe, zog sich noch einige Jahrzehnte mit teilweise bürgerkriegsähnlichen Zuständen im Heiligen Römischen Reich dahin, bis man
sich schließlich 1122 im sogenannten Wormser Konkordat (ein staatsrechtlicher Vertrag zwischen dem Papst und einem Staat) auf einen
Kompromiss einigte: Der Papst dürfe die geistlichen Würden (Spiritualia) verleihen, der König die weltlichen Würden (Temporalia), d. h.
die Würde eines Bischofs wird vom Papst verliehen, ein eventuell
dazugehöriges Land vom König.
Investitur
Einsetzung in ein
Amt, vgl. auch Investition = Einsatz)
Geistliche und weltlicher Herrscher in einer Person
Im heutigen Österreich besaßen der Erzbischof von Salzburg und der
Bischof von Passau jeweils eigene Hoheitsgebiete, in denen sie wie
ein weltlicher Fürst regierten. Unter einem Bistum ist die gesamte
Kirchenprovinz zu verstehen, für die der Bischof als geistiges Oberhaupt zuständig ist. Der Bischof von Passau besaß beispielsweise ein
relativ kleines Gebiet (das so genannte Erzstift Passau nördlich von
Passau), war aber als Bischof für ein Bistum zuständig, das bis ins 18.
Jh. auch Ober- und Niederösterreich umfasste. Das Land Salzburg
bildete sogar bis 1803 den weltlichen Herrschaftsbereich des Erzbischofs von Salzburg. Somit gehörte Salzburg bis dahin nicht zu Österreich, sondern war ein eigenes, gleichrangiges Gebiet.
Miteinander, nebeneinander, gegeneinander – Das Verhältnis von Christentum, Judentum und Islam
Inhaltliche Gemeinsamkeiten
Judentum, Christentum und Islam sind drei untereinander eng verwandte Weltreligionen. Sie weisen von ihrer Entstehungsgeschichte
und von ihren Inhalten her viele Parallelen auf. Trotzdem oder gerade
deswegen war das Verhältnis untereinander oft sehr von Unverständnis und Intoleranz geprägt.
Alle drei Religionen haben im Zentrum den Glauben an einen einzigen Gott (sogenannte monotheistische Religionen), nämlich Jahwe,
Gott Vater/Sohn/Hl. Geist und Allah. Jede Religion hat eine Heilige
Schrift (Thora, Bibel, Koran), die über Propheten offenbart wurde;
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daher werden die drei Religionen auch als die „Offenbarungsreligionen“ bezeichnet. Die drei Religionen bauen jeweils aufeinander auf:
Das Judentum hat die Schriften des Alten Testaments, erweitert um
die Rechtsgutachten der Rabbiner (zusammen Talmud genannt), als
Basis. Das Christentum übernimmt die Schriften des Alten Testaments
unter Ergänzung des Neuen Testaments. Der Islam sieht Judentum
und Christentum als Vorläufer an: Jesus ist beispielsweise im Islam
einer der Propheten, doch vollzieht sich die Erfüllung erst durch die
Offenbarungen Mohammeds.
Mohammed und seine Lehre
Der Kaufmann Mohammed wurde um 570 n. Chr. in der Stadt Mekka
(heute Saudi-Arabien) geboren. Auf seinen Handelsreisen kam er mit
Judentum und Christentum in Berührung. In einer Nacht soll ihm der
Koran offenbart worden sein. Allerdings stieß Mohammed bei der
Verkündigung seiner neuen Lehre auf Widerstand, besonders in Mekka, wo sich um einen großen Meteoriten (ein auf die Erde gefallener,
großer, schwarzer Sternklumpen - die sogenannte Kaaba, die heute das
Zentrum der Großen Moschee von Mekka bildet) ein heidnisches Pilgerheiligtum befand. Da man dort Mohammed als Konkurrenten ansah, vertrieb man ihn im Jahr 622 in die Nachbarstadt Medina. Diese
Flucht, die sogenannte Hedschra, bedeutet den Beginn der islamischen
Zeitrechnung. Von Medina aus setzte sich Mohammed allerdings
schnell durch; er selbst starb im Jahr 632.
Die Ausbreitung des Islam
Unter seinen Nachfolgern breitete sich der Islam sehr rasch über den
ganzen Orient und nach Nordafrika aus. Auch ganz Spanien wurde
von den islamischen Mauren besetzt. Erst im Jahr 1492 (also im selben Jahr wie die „Entdeckung“ Amerikas) konnten die christlichen
Könige Spaniens endgültig die letzten islamischen Reste in Spanien
(um die südspanische Stadt Granada, wo viele Bauwerke im islamischen Stil noch an die damalige Zeit erinnern) zurückerobern. Die
schnelle Ausbreitung des Islam lag vor allem daran, dass im Koran die
Verbreitung des Glaubens auch mit gewaltsamen Mitteln (Dschihad =
„Heiliger Krieg“) verankert ist. Das Reich der islamischen Araber
erstreckte sich somit vom Iran bis nach Spanien und wurde von Kalifen regiert, die zumeist in Bagdad residierten. Das Verhältnis des Islam zu anderen Religionen war relativ tolerant. So gab es beispielsweise im Mittelalter immer wieder „Religionsgespräche“, zu denen
christliche und jüdische Gelehrte eingeladen wurden.
Die Kreuzzüge
Während die Araber den Fernhandel mit Indien und China (v. a. Gewürze) nicht oder nur kaum behinderten, erschwerten die Seldschuken
ab dem 10. Jh. den Handel. Dieses Volk stammt aus Ostasien, nahm
den islamischen Glauben an und eroberte vor allem den asiatischen
Teil der heutigen Türkei. Durch die erhöhten Kosten beim Fernhandel
kam die Idee auf, den Weg nach Ostasien freizukämpfen. Dabei verwendete man für wirtschaftliche Interessen religiöse Argumente zur
Rechtfertigung: Die Seldschuken hätten den freien Zugang zu den
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Heiligen Stätten in und um Jerusalem blockiert.
Mit Billigung des Papstes bildeten sich seit 1095/96 mehrere Kreuzzüge, an denen Hochadelige und Ritter aus ganz Europa teilnahmen.
Infolge des 1. Kreuzzuges (1096-1099) gelang es den Kreuzrittern, ein
christliches „Königreich Jerusalem“ zu schaffen, an dessen Spitze
Gottfried von Bouillon stand. Es geriet jedoch bald in schwere Krisen.
Im Zuge der Kreuzzüge kam es zur Entstehung von Ritterorden. In
ihnen verbanden sich ritterliche und mönchische Ideale. Am bedeutendsten waren die Johanniter (Malteser), die seit dem Ende der
Kreuzzüge v. a. in der Krankenpflege tätig sind, weiters die Templer
(1312 aufgelöst) und der Deutsche (Ritter-)Orden, der sich seit dem
Spätmittelalter v. a. mit der Kolonisation des Ostseeraumes beschäftigte. Die meisten Städte in den baltischen Staaten gehen auf Gründungen des Deutschen (Ritter-)Ordens zurück.
Alle weiteren Kreuzzüge waren nur mäßig erfolgreich oder führten zu
Katastrophen. Auf dem Seeweg ins Heilige Land wurden mehrere
gewaltige Burgen als Stützpunkte errichtet (u.a an der Südküste der
heutigen Türkei und in Syrien). Wichtig ist vor allem der 3. Kreuzzug
(1189-1192), an dem unter anderem der Römisch-Deutsche Kaiser
Friedrich I. Barbarossa (er ertrank 1190 im Fluss Saleph in der Türkei), der französische König Philipp II. August, der englische König
Richard Löwenherz und der Herzog von Österreich, Leopold V., teilnahmen. Richard Löwenherz zerstritt sich aber mit den meisten anderen Herrschern und kehrte vorzeitig nach Hause zurück. Bei seiner
Durchreise durch Österreich wurde er – verkleidet als Sänger Blondel
– gefangengenommen und auf der Burg Dürnstein in der Wachau festgenommen. Erst gegen ein hohes Lösegeld, das zur Errichtung der
Stadt Wiener Neustadt verwendet wurde, kam Richard frei und kehrte
nach England zurück, wo während seiner Abwesenheit sein Bruder
Johann Ohneland (John Lackland) eine Schreckensherrschaft geführt
hatte (vgl. die Sage um Robin Hood).
Juden in der Diaspora
Schon zur Zeit der Apostel vollzog sich die immer stärker werdende
Trennung von Judentum und Christentum. Die Anhänger Christi hatten sich als eigenständige Strömung etabliert. Auf dem sogenannten
Apostelkonzil von Jerusalem (48/49 n. Chr.) berieten die Apostel beispielsweise, ob sie im Christentum die jüdischen Gebräuche übernehmen sollten. Zumeist entschied man sich dagegen, z. B. ob neugeborene Buben beschnitten werden sollten. Außerdem breitete sich das
Christentum vor allem im nichtjüdischen Bereich in den Unterschichten des Römischen Reiches aus. Die Sprache der Evangelien ist daher
nicht wie im Alten Testament Hebräisch, sondern Griechisch. Die
Juden hingegen wurden nach einem lange andauernden, aber erfolglosen Aufstand gegen die Römerherrschaft (66-73 n. Chr. und nochmals
um 135 n. Chr.) über das ganze Römerreich verstreut, besonders
nachdem ihre Heiligtümer in Jerusalem zerstört worden waren und
jede öffentliche Religionsausübung in Synagogen verboten wurde.
Diesen Aufenthalt außerhalb Israels nennt man Diaspora. Auch heute
noch lebt – trotz der Gründung des Staates Israel im Jahr 1948 – der
Großteil der Juden auf der ganzen Welt verstreut.
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Juden in der mittelalterlich-christlichen Gesellschaft
Schon im Mittelalter lebten die Juden verteilt auf ganz Europa. Sie
wurden meist ausgegrenzt und nur zu wenigen Berufen zugelassen
(Kaufleute, Bankiers); auch der erste für das Jahr 1194 belegte
Münzmeister von Wien war ein Jude namens Schlomo. Alle Berufe,
die mit Geldgeschäften zusammenhingen, galten als schmutzig im
Mittelalter; außerdem war es den Christen verboten, Zinsen zu nehmen. Gerade als Geldgeber waren die Juden im Mittelalter und in der
Neuzeit von großer Bedeutung für die Landesherrn. Sie wurden deswegen bei Bedarf gut behandelt, bei Rückzahlungsproblemen aber oft
vertrieben und teilweise ermordet.
Besonders auch nach dem Ausbruch von Seuchen kam es zu systematischen Vertreibungen und Verfolgungen von Juden (sogenannte Pogrome), weil man meinte, jüdische Fernhändler hätten die Seuche eingeschleppt. Durch ihren unterschiedlichen Glauben blieben sie von der
übrigen Gesellschaft ausgegrenzt. Ein Beispiel für dieses Unverständnis sind die sogenannten Ritualmordlegenden. Dabei dichtete man den
Juden an, christliche Kinder entführt zu haben und für kultische Zwecke getötet zu haben. Das bekannteste Beispiel auf österreichischem
Gebiet ist die Legende um das sogenannte „Anderl von Rinn“ (in Tirol), doch ist diese Anschuldigung heute eindeutig als falsch und erfunden nachgewiesen worden.
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