Haus der Wannsee-Konferenz Raum 11 – Deportationena Nach der Wannsee-Konferenz wurde die jüdische Bevölkerung nach und nach aus allen von Deutschland beherrschten Gebieten und aus den meisten mit dem Deutschen Reich verbündeten Staaten verschleppt. Die zentrale Planung der Deportationen lag in den Händen des Referates IV B 4 des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA) unter Adolf Eichmann. Das Auswärtige Amt war an den Verhandlungen über die Auslieferung der Juden verbündeter oder abhängiger Staaten beteiligt. Die Deutsche Reichsbahn sorgte für die Logistik der Transporte. Der Grad der Abhängigkeit der Länder vom Deutschen Reich, die Bereitschaft ihrer Regierungen zur Auslieferung der jüdischen Bevölkerung und der Kriegsverlauf bestimmten den Ablauf der Deportationen. Im Reich, in Westeuropa und in den verbündeten Staaten prägte die arbeitsteilige verwaltungsmäßige Durchführung das Erscheinungsbild der Deportationen. Im besetzten Osteuropa trat dagegen der Vernichtungswille durch das äußerst gewalttätige und willkürliche Vorgehen offen zu Tage. Seit Kriegsbeginn waren Deportationen ein zentrales Element der nationalsozialistischen Bevölkerungspolitik. Durch die Ermordung bestimmter Bevölkerungsgruppen, den todbringenden Entzug von Versorgungsgütern und die zwangsweise Verschleppung von Millionen von Menschen, darunter der jüdischen Bevölkerung, sollte eine „Neuordnung“ Europas erreicht werden. Da der geplante „Blitzkrieg“ gegen die Sowjetunion Ende 1941 scheiterte, konnten die mörderischen „Siedlungsplanungen“ nicht verwirklicht werden. Im Rahmen der Entwicklung der „Endlösung der Judenfrage“ wurden die Juden nun zur Ermordung in den Osten deportiert. 11.1. Frankreich Frankreich wurde nach der Niederlage im Juni 1940 in eine besetzte Zone unter deutscher Militärverwaltung im Norden und in eine unbesetzte Zone im Süden aufgeteilt. Die abhängige französische Regierung hatte ihren Sitz in Vichy im unbesetzten Süden. Ihre Autorität erstreckte sich nominell auf ganz Frankreich, doch stand die Administration im Norden in der Praxis unter deutscher Aufsicht. Die Verwaltungsstrukturen blieben im ganzen Land weitgehend erhalten. Das Vichy-Regime versuchte, seinen Handlungsspielraum durch Kollaboration zu sichern. Innenpolitisch dominierte eine „Politik der nationalen Einheit“ – Ausländer, Minderheiten und vor allem Juden wurden ausgegrenzt. Nach der alliierten Landung in Nordafrika besetzte die Wehrmacht Anfang November 1942 auch den Süden des Landes. In Frankreich lebten über 300.000 Juden, etwa zu gleichen Teilen in der besetzten und der unbesetzten Zone. Fast die Hälfte von ihnen hatte eine ausländische Staatsangehörigkeit, darunter Zehntausende von Flüchtlingen. Im Sommer 1942 unterstützte Vichy massiv die deutschen Deportationspläne. Aufgrund entschiedener Proteste der Kirchen und der ablehnenden Haltung der Bevölkerung sah sich das Regime im September gezwungen, von seiner bisherigen Praxis abzurücken. Dennoch gingen die Deportationen aus Frankreich weiter. Erst am 22. August 1944, drei Tage vor der Befreiung von Paris, wurden die Transporte gestoppt. Innerhalb dieser knapp zweieinhalb Jahre sind insgesamt etwa 76.000 Juden deportiert worden, allein rund 32.000 von ihnen zwischen dem 19. Juli und 30. September 1942. Marseille, 24. Januar 1943 (BA Koblenz) 1 Bekanntmachung des Militärbefehlshabers in Frankreich, 14. Dezember 1941, veröffentlicht in der Tageszeitung „Le Matin“ vom 15. Dezember 1941 „In der letzten Zeit sind wieder Sprengstoffanschläge und Pistolenattentate auf deutsche Wehrmachtsangehörige verübt worden. Urheber dieser Attentate sind teilweise auch jugendliche Elemente, die im Solde der Angelsachsen, Juden und Bolschewisten stehen und nach deren heimtückischen Parolen handeln. Deutsche Soldaten wurden hinterrücks ermordet und verwundet. Die Täter wurden in keinem Falle ergriffen. Um die Urheber dieser feigen Verbrechen zu treffen, habe ich die sofortige Durchführung folgender Maßnahmen befohlen: 1) Den Juden des besetzten französischen Gebietes wird eine Geldbusse von 1 Milliarde Francs auferlegt. 2) Eine große Zahl verbrecherischer jüdisch-bolschewistischer Elemente wird zu Zwangsarbeiten nach dem Osten deportiert. Weitere Deportationen sind neben den in jedem einzelnen Falle mir noch notwendig erscheinenden Maßnahmen im größerem Umfange vorgesehen, wenn sich neue Anschläge ereignen sollten. 3) 100 Juden, Kommunisten und Anarchisten, die dem Täterkreis nahestehen, werden erschossen. Diese Massnahmen treffen nicht das französische Volk, sondern nur Individuen, die im Solde der Feinde Deutschlands Frankreich in`s Unglück stürzen wollen und darauf ausgehen, die Verständigung zwischen Deutschland und Frankreich zu sabotieren.“ Die angekündigten Maßnahmen beruhten auf einer „Führerweisung“. Tatsächlich begannen die Deportationen aus Frankreich mit einem ersten so genannten Geiseltransport am 27. März 1942. Mit ihm wurden Juden, die nach mehreren, gegen die deutschen Besatzer gerichteten Anschlägen in Paris im Dezember 1941 verhaftet und in Compiègne interniert worden waren, nach Auschwitz verschleppt: „Betr.: Abschub von 5000 Juden aus Frankreich (Quote 1942). [...] Bei der Tagung der Judenreferenten im RSHA – IV B 4 – am 4.3.1942 in Berlin habe ich in ganz knapper Form Lage und Schwierigkeiten unserer Einschaltung in Frankreich dargestellt. Dabei ging ich auch auf die Notwendigkeit ein, der französischen Regierung einmal etwas wirklich Positives, wie etwa den Abschub mehrerer tausend Juden vorzuschlagen. SS-Obersturmbannführer Eichmann hat [...] folgendes festgelegt: Vorbehaltlich der endgültigen Entscheidung des CdS [Chef der Sicherheitspolizei] und des SD [Heydrich] kann jetzt schon in Vorverhandlung mit französischen Regierungsstellen eingetreten werden wegen des Abschubs von rd. 5000 Juden nach dem Osten. Dabei habe es sich zunächst um männliche, arbeitsfähige Juden, nicht über 55 Jahre, zu handeln.“ Auszug aus einem Vermerk des Leiters des Judenreferates der Sicherheitspolizei im besetzten Frankreich, Theodor Dannecker, 10. März 1942 (CDCJ Paris) Die Anzahl der 1942 aus Frankreich deportierten Juden ging bei weitem über die im März festgelegte Quote hinaus. 2 3 Fernschreiben (2 Seiten) des Leiters des Judenreferates der Sicherheitspolizei im besetzten Frankreich an das RSHA, betr.: Judenabschub aus Frankreich, 6. Juli 1942 (CDJC Paris) Erst Mitte August 1942 gab das RSHA in Berlin die Deportation von Kindern unter 16 Jahren aus Frankreich frei. Doch bereits zuvor hatte die französische Polizei Kinder zwischen 12 und 16 Jahren mit abtransportieren lassen, um die mit den Deutschen vereinbarten Deportationskontingente zu erfüllen. 4 Am 8. August 1942 sicherte sich Vichy durch ein Abkommen mit dem Deutschen Reich die weitestgehende Autonomie der französischen Polizei. Im Gegenzug hatte sich das Regime dazu verpflichten müssen, alle „Feinde des Deutschen Reichs“ zu bekämpfen. Aufgrund dessen lieferte das Vichy-Regime ab Anfang August 1942 die staatenlosen Juden aus der unbesetzten Zone aus. Der Abtransport in die Sammellager im besetzten Norden wurde ausschließlich von der französischen Polizei durchgeführt. 5 Schreiben des Befehlshabers der Sicherheitspolizei im besetzten Frankreich an den Militärbefehlshaber in Frankreich, an den Kommandanten von Groß-Paris und an die Deutsche Botschaft in Paris, 7. Juli 1942 (CDJC Paris) Angesichts des entschiedenen Protests der Kirchen und der ablehnenden Haltung der Bevölkerung sah sich das Vichy-Regime im September 1942 gezwungen, seine massive Unterstützung der deutschen Deportationsforderungen vorerst zurückzunehmen. Das Regime fürchtete, anderenfalls die bestehende grundsätzliche Zustimmung zu seiner Politik der Kollaboration zu gefährden. 6 7 Fernschreiben des Befehlshabers der Sicherheitspolizei im besetzten Frankreich an das RSHA, 25. September 1942 (CDJC Paris) 8 Das Vichy-Regime sperrte sich gegen die systematische Deportation der französischen Juden. Erst ab September 1943 wurden diese ohne die Unterstützung der französischen Polizei in größerem Umfang deportiert. Insgesamt waren nur etwa 30 Prozent aller Deportierten französische Staatsbürger. Fernschreiben des Kommandeurs der Sicherheitspolizei und des SD (KdS) in Lyon, SS-Obersturmführer Klaus Barbie, an den Befehlshaber der Sicherheitspolizei in Frankreich, betr.: Jüdisches Kinderheim in Izieu-Ain, 6. April 1944 (CDJC Paris) Auch die siebenjährige Mina und die dreijährige Claudine Halaunbrenner wurden von Izieu, 80 Kilometer südöstlich von Lyon, zunächst ins Sammellager nach Drancy gebracht. 9 11.2. Bulgarien Seit 1935 herrschte in Bulgarien unter Zar Boris III. ein autoritäres Regime mit einem Parlament, das über begrenzte Vollmachten verfügte. Durch die Annäherung an das Deutsche Reich erhoffte sich das Land wirtschaftliche Hilfe und eine Revision seiner nach dem Ersten Weltkrieg erlittenen Gebietsverluste. Am 1. März 1941 trat es dem Dreimächtepakt zwischen dem Deutschen Reich, Italien und Japan bei. Im April 1941 erlaubte Bulgarien der Wehrmacht, von seinem Territorium aus ihren Feldzug gegen Griechenland und Jugoslawien zu beginnen. Im Gegenzug erhielt Bulgarien Teile des ehemals griechischen Thraziens und jugoslawischen Mazedoniens. In Bulgarien lebten 1943 etwa 60.000 bis 63.000 Juden, fast die Hälfte von ihnen in Sofia. In den annektierten Gebieten Thraziens und Mazedoniens waren es 12.000 Juden mit zumeist griechischer bzw. jugoslawischer Staatsangehörigkeit. Mit Kriegsbeginn im September 1939 führte das Land in Anlehnung an das Deutsche Reich eine antijüdische Gesetzgebung ein. Diese wurde allerdings nur auf vermögensrechtlichem Gebiet konsequent umgesetzt. Im März 1943 lieferte Bulgarien die „fremden“ Juden Thraziens und Mazedoniens zur Deportation aus. Die bulgarischen Juden blieben aufgrund von Protesten aus der Bevölkerung und dem Parlament verschont. Im weiteren Verlauf des Jahres 1943 war die bulgarische Führung angesichts der Kriegswende immer weniger bereit, sich durch die Auslieferung der bulgarischen Juden international in Misskredit zu bringen. So konnten die Juden des bulgarischen Kernlandes überleben. Auszug aus einer Vereinbarung zwischen dem bulgarischen „Kommissar für Judenfragen“, Aleksander Belev und dem vom RSHA entsandten „Berater für Judenfragen“ beim Polizeiattaché des deutschen Gesandten in Bulgarien, Theodor Dannecker, 22. Februar 1943 (CDA Sofia) Als der Ministerrat die Vereinbarung am 2. März billigte, war ihm bewusst, dass in den annektierten Gebieten nur etwa 12.000 Juden lebten. Unter strenger Geheimhaltung sollten auch 8.000 Juden aus ganz Bulgarien, ausgenommen aus Sofia, deportiert werden. Belev strich die Passagen „aus den neuen bulgarischen Gebieten Thrazien und Mazedonien“ später handschriftlich aus: „Vereinbarung Über die Umsiedlung von vorerst 20.000 Juden aus den neuen bulgarischen Gebieten Thrazien und Mazedonien nach den deutschen Ostgebieten wird folgende Vereinbarung zwischen dem bulgarischen Kommissar für jüdische Fragen Herrn Aleksander Belev, einerseits und dem deutschen Bevollmächtigten Hauptmann der Sicherheitspolizei/ SS-Hauptsturmführer/ Theodor Dannecker, andererseits getroffen: Nach Bestätigung durch den Ministerrat sollen 20.000 Juden, ohne Unterschied von Alter und Geschlecht, aus den neuen bulgarischen Gebieten Thrazien und Mazedonien für die Umsiedlung bereitgestellt werden. [...] Gestattet ist, ausschließlich nur Juden für die Transporte abzustellen. [...] Die bulgarische Regierung wird auf keinen Fall die Rückkehr der umgesiedelten Juden verlangen.“ (Übersetzung aus dem Bulgarischen) Über 4.000 thrazischen Juden wurden von Lom aus am 20. und 21. März 1943 nach Wien verschifft, dort in Züge verladen und ins Todeslager Treblinka deportiert. Zwischen dem 22. und 29. März 1943 wurden über 7.000 mazedonische Juden in Zügen der bulgarischen Staatsbahn vom zentralen Sammelort Skopje aus ebenfalls in das Todeslager Treblinka verschleppt. 10 Auszug aus einem Bericht des Polizeiattachés der deutschen Gesandtschaft in Sofia an das RSHA, Attachégruppe, betr.: "Judenabschub" aus Bulgarien, 5. April 1943 (PAAA Berlin): „Es bestehen hier weder die weltanschaulichen noch rassischen Voraussetzungen um das Judenproblem dem bulgarischen Volk gegenüber so dringlich und lösungsbedürftig erscheinen zu lassen, wie dies im Reich der Fall ist. Die bulgarische Regierung verfolgt mit der Evakuierung der Juden überwiegend materialistische Interessen., die darin bestehen, in das Eigentum der abgeschobenen Juden zuverlässige Bulgaren einzuweisen, hiermit diese zufriedenzustellen und gleichzeitig in den neu erworbenen Gebieten die unruhigen Juden gegen zuverlässige Bulgaren einzutauschen. Die bulgarische Regierung ist ohne Zweifel auch bereit, die Juden aus AltBulgarien abzuschieben; sie will es jedoch auf jeden Fall vermeiden, daßdas Judenproblem in Bulgarien durch die Weltpresse gezogen wird.“ Auszug aus einem Schreiben des Leiters der Gruppe Inland II des Auswärtigen Amtes an den Chef des RSHA, Dr. Ernst Kaltenbrunner, 31. August 1943 (PAAA Berlin): „Wiederholt ist seitens des Reichssicherheitshauptamtes die Anregung an das Auswärtige Amt herangetragen worden, den Druck auf die Bulgarische Regierung in der Judenfrage zu verstärken, um eine tunlichst unverzügliche Bereinigung dieses Problems im Sinne einer Evakuierung in die Ostgebiete zu erreichen. [...] Gesandter Beckerle hat aus Gesprächen [...] den Eindruck gewonnen, daßz.Zt. seitens der Bulgarischen Regierung jeder Antrag deutscherseits auch bei noch so starkem Druck abgelehnt werden würde. [...] Trotzdem glaubt Gesandter Beckerle, daßes in absehbarer Zeit gelingen werde, die Judenfrage restlos zu lösen, und zwar dann, wenn wieder deutsche Erfolge im Vordergrund stehen und die feindliche politische Offensive dadurch in den Hintergrund gedrängt wird. [...] Es dürfte daher nicht nur aussichtslos, sondern vom allgemein politischen Standpunkt aus sogar gefährlich sein, in der Judenfrage im derzeitigen Augenblick Schritte zu unternehmen. Ich wäre jedoch dankbar, wenn dem Auswärtigen Amt alles dort etwa anfallende Material über die Schädlichkeit des Judentums in Bulgarien zugeleitet werden würde, damit die Gesandtschaft keine Gelegenheit versäumt, die bulgarischen Behörden anhand aktuellen Materials auf die Gefahren des Judentums hinzuweisen.“ 11.4. Deutsches Reich Zwischen Oktober 1941 und April 1945 wurden etwa 174.000 Juden aus dem Deutschen Reich nach Litzmannstadt, Minsk, Kaunas, Riga, Warschau, in den Distrikt Lublin, nach Theresienstadt, Maly Trostinec, Raasiku bei Reval und Auschwitz deportiert – über 100.000 Menschen allein im Jahr 1942. Das Reichssicherheitshauptamt (RSHA) bestimmte die Abfolge der Transporte und gab durch Richtlinien den äußeren Rahmen der Deportationen vor. Die Dienststellen der Gestapo organisierten den Ablauf vor Ort. Die Finanzverwaltung führte die Beraubung der Betroffenen durch. An der Erfassung, der Konzentrierung in Sammelstellen, am Abtransport selbst, sowie an der sich anschließenden endgültigen Abwicklung der bürgerlichen Existenz eines jeden einzelnen Menschen waren weite Teile der deutschen Verwaltung und zahlreiche private Unternehmen beteiligt. Der Abtransport der jüdischen Nachbarn war in der deutschen Bevölkerung bekannt. Viele bereicherten sich am geraubten Besitz der Deportierten. Etwa 10.000-15.000 Juden entzogen sich den Deportationen durch Flucht in den Untergrund. Ihr Leben und Überleben war in der Regel nur mit Hilfe von Nichtjuden möglich. 11 Organisation und Durchführung der Deportationen Die vom RSHA herausgegebenen Richtlinien schränkten den zu deportierenden Personenkreis ein. Über 65 Jahre alte, in Mischehe lebende oder im kriegswichtigen Arbeitseinsatz eingesetzte Juden sollten zu diesem Zeitpunkt ebenso wie bestimmte ausländische Juden noch von den Deportationen ausgeschlossen bleiben. Die Betroffenen durften nur wenige Bekleidungsstücke und Alltagsgegenstände mit auf den Transport nehmen. Ihre gesamten Vermögenswerte mussten sie zurücklassen. Das Transportziel Trawniki wurde kurzfristig geändert. Die im Frühjahr und Sommer 1942 in das Generalgouvernement deportierten deutschen Juden wurden anfangs in verschiedene Durchgangsghettos im Distrikt Lublin und nach Warschau, später zumeist über das Konzentrationslager Majdanek in das Todeslager Sobibór verschleppt. Verladung des Gepäcks und Marsch zum Bahnhof Aumühle, 25. April 1942. Seite aus dem Fotoalbum der Würzburger Gestapo (NA Washington D. C.) Die Bildunterschriften lauten: „... bei der Verladung des Gepäcks müssen „unsere Leut“ schon wieder fest arbeiten!... muß i denn, muß i denn zum Städtele hinaus" ....“. 12 Staatlich organisierter Raub Schreiben des Finanzamts Grevenbroich an den Oberfinanzpräsidenten in Düsseldorf, betr.: Grundbesitz aus eingezogenem und verfallenem Vermögen, 16. August 1945 (Privatbesitz) Steuerinspektor Josef Krüppel, 1944 zum Heeresdienst einberufen, nahm unmittelbar nach dem Krieg seine Tätigkeit im Finanzamt Grevenbroich wieder auf und wickelte die Rückgabe der geraubten Vermögenswerte ab. Juden über 65 Jahre, Inhaber des Verwundetenabzeichens und Träger hoher Kriegsauszeichnungen des Ersten Weltkrieges waren nach den Richtlinien des RSHA bis zum Sommer 1942 von den Deportationen ausgenommen. Ab Anfang Juni wurden sie in das „Altersghetto Theresienstadt“ transportiert. Durch den Abschluss von „Heimeinkaufverträgen“ mit der unmittelbar dem RSHA unterstehenden „Reichsvereinigung der Juden in Deutschland“ erkauften sie sich vermeintlich das Recht auf lebenslange Unterbringung in einem Heim „bezw. in einer sonstigen Gemeinschaftswohnung auch ausserhalb des Altreichs“. 13 Vor aller Augen Auszug aus einem Schreiben des NSDAP Kreisleiters des Kreises Göttingen an die Geheime Staatspolizei Göttingen, 19. Dezember 1941 (BA Berlin): „Unterbringung von Judenfamilien in Göttingen. Da die Absicht, die Juden in nächster Zeit von Göttingen abzutransportieren, in der Bevölkerung bereits bekannt geworden ist, wird die Kreisleitung [der NSDAP] mit Anträgen auf Wohnungszuweisungen überlaufen.“ Helfer von Untergetauchten In Berlin gingen seit dem Beginn der Deportationen im Oktober 1941 etwa 5.000 bis 7.000 Juden in den Untergrund, nur etwa 1.500 bis 1.700 gelang es zu Überleben. Das Leben und Überleben in der Illegalität war in der Regel nur mit Hilfe von Nichtjuden möglich. Die Motive der Helfer waren nicht einheitlich. Sie reichten von schlichter Menschlichkeit bis zu materieller Vorteilsnahme. Hilfe für Antonie und Adalbert Lieban Otto Jogmin trug das jüdische Ehepaar Lieban unter dem Namen „Lüdeke“ als „evangelisch“ in das Meldebuch ein. Nachdem das Melderegister des zuständigen Polizeireviers durch einen Bombentreffer zerstört worden war, meldete er sie als Ausgebombte an. Dadurch erhielten sie Lebensmittelkarten. Die Liebans hatten bereits zuvor schon über ein Jahr im Untergrund gelebt, zumeist in den Wohnungen ihrer „deutschblütigen“ Schwägerin Madeleine Lieban, geborene Schmitt. Nachdem sie in der Zähringerstraße 20/21 in Wilmersdorf ausgebombt worden waren, kamen alle drei in der Wielandstraße unter. Unter ihrem falschen Namen Lüdeke lebten sie praktisch legal im Haus und konnten sich dort frei bewegen. Andere Juden versteckte Jogmin in den nur ihm als Hauswart zugänglichen Kellern des Hauses und hielt sie an, nur zeitweise dort zu wohnen. Das Ehepaar Lieban wurde im Sommer 1944, wahrscheinlich von einer Mitbewohnerin des Hauses, denunziert und am 11. August 1944 nach Theresienstadt deportiert. Dort wurden sie am 8. Mai 1945 befreit. Otto Jogmin Otto Jogmin wurde am 28. November 1894 als drittes von acht Kindern in Berlin-Schöneberg geboren. Die Familie lebte in sehr einfachen Verhältnissen. Nach verschiedenen Hilfstätigkeiten erhielt er 1935 die Stelle eines Hauswarts in der Wielandstraße 18, einer Seitenstraße des Kurfürstendamms und bezog eine kleine Eineinhalbzimmerwohnung im Gartenhaus. Ab 1936 war er auch im Nachbarhaus der Nummer 17 tätig. Im Verlauf des Krieges zog seine Frau mit der Adoptivtochter angesichts der Bombenangriffe aufs Land. Nach seinem Ausscheiden aus dem Hausmeisterdienst in der Wielandstraße 18 im Jahre 1957 waren er und seine Frau gezwungen, in eine Sozialwohnung zu ziehen. 1958 wurde Otto Jogmin vom Berliner Senat für seine Hilfeleistungen für Verfolgte geehrt. Otto Jogmin starb am 2. Juni 1989. 14 Auszug aus einem Interview mit Otto Jogmin, 31. Mai 1985 (ZfA Berlin) „Hatten Sie manchmal das Gefühl, Sie möchten lieber aufhören und den ganzen Druck von sich schaffen? Nein, da habe ich überhaupt nicht dran gedacht. Nein, ich saß ja drinne und ich konnte ja nicht raus. Ich konnte ja gar nicht. Wo sollte ich hin? Erstens mal, ich hatte da meinen Arbeitsplatz. Ich war auf den angewiesen, nicht wahr, weil ich da auch mein Essen und mein Brot verdiente. Ich konnte ja gar nicht anders. Nein, nein, nein, ausweichen war da nicht, gar nicht dran zu denken. Ausweichen gab es nicht! Vogel friß oder stirb. Eines von die beiden. [...] Na, ja, ich weiß ja nicht, wir haben ja… mit den Menschen, es gab ja gar keine Entscheidung, es gab ja überhaupt gar nichts – was, wo ich fragen konnte, ob das Recht ist oder Unrecht, das gab’s ja nicht, nicht wahr. Ich war der einzige, entweder ich tat es oder ich tat es nicht und da ich von Hause aus – meine Mutter war eben so ein Mensch, war der – so mitleidig war, nicht wahr, da konnte ich einfach nicht anders, ging nicht, ging nichts anderes. Ich hab auch gar nicht überlegt, also überhaupt nicht, denn wenn ich ehrlich überlegt hätte, hätte ich vieles vielleicht überhaupt gar nicht gemacht.“ 15