Programmhefttext

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"Woher - Wohin?" - das erste Konzert dieser Reihe, die den historischen Ort zeitgenössischen
Komponierens beleuchten will, wurde von dem 1934 in Anderny/Lothringen geborenen
Posaunisten, Komponisten, Dirigenten und Lehrer Vinko Globokar zusammengestellt. Globokar
hat die Ausgangsfrage vor allem biographisch gewendet, und so widmet sich sein Programm
neben eigenen Werken denjenigen Komponisten, die für seine musikalische wie persönliche
Entwicklung bedeutend waren, zugleich aber auch Stationen und Entwicklungen der neuen Musik
dieses Jahrhunderts verkörpern. Vinko Globokar über seine Auswahl:
"Zwischen 1959 und 1963 studierte ich in Paris Komposition und Dirigieren bei René Leibowitz.
Gelegentlich veranstaltete er in seiner Wohnung Konzerte. Für eine solche Gelegenheit
komponierte er Marijuana, bei der Uraufführung war ich als Posaunist beschäftigt. Später studierte
ich ein Jahr lang in Berlin bei Luciano Berio. Iannis Xenakis habe ich während meiner Studienzeit
in Paris kennengelernt - von Anfang an beeindruckte mich seine kompromißlose Haltung, und ich
habe seine Musik seitdem oft aufgeführt."
Vinko Globokar - Discours VII
"Discours VII für Blechbläserquintett (1987, alternativ für Blechbläserquartett und Tonband) ist
Teil einer Werkreihe, die die Ähnlichkeiten zwischen Sprache und Instrumentalmusik erkundet und
dabei auf einer zentrale Idee beruht: Wie appliziert und übertragt man die Elemente und Regeln
des Gesprochenen auf das Gespielte und vice versa?
Die vorangegangenen Werke (Discours II bis VI) widmen sich u.a. dem phonetischen Aspekt
(Analogie zwischen den Vokalen bzw. Konsonanten und den Klängen bzw. Geräuschen, die von
fünf Posaunisten produziert werden), dem Einfluß eines poetischen Texts auf die Phantasie von
fünf Oboisten, den unterschiedlichen Weisen der Kontaktaufnahme innerhalb eines Klarinettentrios
(erklärend, befehlend, fragend...) oder der Analogie theatralischer und musikalischer Handlungen
bei einem Streichquartett etc., während Discours VII Probleme behandelt, die einhergehen mit der
Verräumlichung des Klanges, der Mobilität der Klangquellen und den unterschiedlichen Graden
von Kommunikation zwischen fünf Personen.
Die Tuba ist statisch (und eventuell durch einen Lautsprecher ersetzt), sie ist der Bezugspunkt,
dessen Rede mit Intentionen aufgeladen ist. Die anderen vier Spieler dagegen entwickeln und
kommentieren diese Rede, obgleich sie von Zeit zu Zeit nichts von ihr halten. Am Schluß vereinen
sich die verstreuten Musiker zum Quintett, um gemeinsam eine 'Ronde finale' in Angriff zu nehmen." (Vinko Globokar)
Iannis Xenakis - Thalleïn
Sowohl als Komponist wie als Architekt hat sich Iannis Xenakis einen Namen gemacht. Musik und
Architektur waren für ihn stets zwei ästhetische Modi, die unterschiedliche Erscheinungsformen ein
und desselben (oft mathematischen) Konstruktionsprinzips darstellen können, wie etwa die ideelle
Verwandtschaft zwischen seinen Entwürfen für den berühmten "Philips-Pavillon" der Brüsseler
Weltausstellung (1958) und den strukturellen Verfahren seiner Orchesterkomposition Metastaseis
(1953/54) zeigt. Zu solchen Prinzipien zählen u.a. die Wahrscheinlichkeitsrechnung und die
Spieltheorie; auch Begriffsbildungen wie "Stochastische Musik" sind Ausdruck eines mathematisch-wissenschaftlichen Denkens, von dem Xenakis immer betont hat, daß es das "Instrument"
sei, mit dem er "Vorstellungen nicht-wissenschaftlichen Ursprungs verwirkliche. Und diese
Vorstellungen sind Produkte gewisser Intuitionen oder Visionen." Und, so darf man anfügen: Auch
die klanglichen Resultate legen eher von dieser Herkunft als von ihrem wissenschaftlichen Zivilisationsprozeß Zeugnis ab.
Mit seinem 1984 entstandenen Werk Thalleïn (Sprießen, Keimen) für 14 Instrumentalisten - ein
solistisch besetztes Orchester (das Werk ist der London Sinfonietta gewidmet) - spielt Xenakis an
das wirkungsmächtige ästhetische Prinzip der Naturnachahmung an. Das Vorbild musikalischer
Entwicklung ist hierbei das organische Wachstum, wie es etwa Goethe in der Metamorphose der
Pflanze beschwor. Anders freilich als in der Tradition "sprießen" bei Xenakis keine Themen oder
Motive, sondern ganze "Klangwolken", deren Metamorphosen Gegenstand und Ergebnis
mathematischer Verfahren sind und dabei in den frappierenden Eindruck "natürlicher" Entwicklung
umschlagen.
Mit einem Tuttischlag im dreifachen fortissimo hebt Thalleïn den Vorhang zu mikrointervallisch
"hervorkeimenden" Wellenbewegungen, die den programmatischen Titel des Stücks umsetzen.
Abrupte Schlagzeug- und Klavierakzente zäsurieren dieses Tasten, das sich zu kurzen Motiven
und Skalen verdichtet. Wie beispielsweise in Metastaseis hat Xenakis dabei den innerlich auf das
Subtilste belebten Glissandoflächen besonderen Raum gewährt - die haltlosen Bewegungen
paralleler, imitativer oder kontrastierender Art erzeugen den Eindruck pulsierender
Massenstrukturen. Markante Abwärtsskalen machen den Weg frei für kammermusikalische
Neuanfänge, aus denen wiederum komplex vagierende oder repetitive Geflechte hervorsprießen,
bis das Stück nach mikrointervallisch verflüssigten Bläserklängen im Streicherglissando verhallt.
René Leibowitz - Marijuana
Einer der einflußreichsten Vermittler der Zwölftonmusik war der 1913 in Warschau geborene René
Leibowitz, der u.a. bei Anton Webern und Maurice Ravel Unterricht genommen hatte. Nach
Kriegsende trat er selber als Lehrer hervor, nicht zuletzt mit einschlägigen Büchern wie etwa
Schönberg und seine Schule (1946) und Einführung in die Zwölftonmusik (1949). Bei Leibowitz, zu
dessen Schülern auch Pierre Boulez und Hans Werner Henze zählen, studierte Globokar in den
Jahren 1959 bis 1963 Komposition und Dirigieren.
Seine eigenen Kompositionen, größtenteils im Umfeld der Wiener Schule angesiedelt, stehen im
Schatten seiner pädagogischen und publizistischen Arbeit. Immerhin drei Opern hat er
geschrieben, viel (Kammer-)Sinfonisches, Lieder, Streichquartette und Klaviersonaten. Aus dem
Jahr 1960 stammt Marijuana op. 54, eine jener Kompositionen, die Leibowitz für seine
Hauskonzerte schrieb. Es handelt sich um sechs Variationen über eine Zwölftonreihe mit
abschließender Coda für Geige, Posaune, Vibraphon und Klavier. Der Untertitel - Variations non
sérieuses (Unernste Variationen) - läßt mit seinem ironischen Gattungsbezug aufhorchen (man
denke etwa an Mendelssohns Variations sérieuses d-moll); erst recht die Zwölftonreihe, die den
Instrumenten in nahezu unablässigen Kleinsekundschritten zugeteilt wird. Und dennoch bleibt
angesichts der meisterlich gehandhabten, aber nichts weniger als "unernsten" Faktur der
Charaktervariationen ein wenig im Dunklen, wie das Stück zu Ober- und Untertitel kam...
Luciano Berio - Call
"Luciano Berio wohnte in Berlin einige Blocks weiter, und wir haben uns oft beim
Spaghettikochen über Musik unterhalten. [...] Berio ist ein Mann, der gründlich über das Leben
reflektiert. Er war nie ein strenger Serialist, sondern hat immer versucht, neue Gebiete zu
erkunden. [...] Vieles habe ich von ihm auch über das Verhältnis von Sprache und Musik erfahren."
(Vinko Globokar)
Nach seiner Pariser Lehrzeit kam Globokar nach Berlin, um in den Jahren 1964/65 bei Luciano
Berio zu studieren, bei dem sich insbesondere sein Sinn für das musikalische Potential von
Sprache und den sprachlichen Gestus von Musik schärfte - ästhetische Grenzgebiete, die Luciano
Berio in Kompositionen wie Tema. Omaggio a Joyce (1958) mit großer Neugier erkundet hat.
Berios 1985 entstandene und 1987 überarbeitete Komposition Call für Blechbläserquintett
hingegen ist eine tänzerische Ouvertüre mit offensivem, selten nur suspendierten
Divertimentocharakter, die hier gleichsam an Globokars frühe Jahre als Jazzposaunist und arrangeur erinnert. Als ein Eröffnungsstück der zweiten Programmhälfte ist es geradezu
prädestiniert, schrieb doch Berio über sein Werk: "Call ist eine kurze musikalische Zeremonie, ein
Aufruf an das Publikum, eine Einladung zum Zuhören."
Vinko Globokar - Blinde Zeit
"Wahrnehmungen der Einsamkeit
Wie vergeht die Zeit? Schnell? Langsam?
Die chaotische Zeit.
Die pulsierende Zeit.
Die elastische Zeit.
Die aufgehobene Zeit.
Das 'Außerhalb der Zeit' wird zum Brennpunkt der Fragen."
(Vinko Globokar über Blinde Zeit aus dem Jahr 1993)
*****
Und ... wohin? Für Globokar, den bekennenden Humanisten, ist musikalische Kommunikation
immer auch Modell, Spiegel und Utopie zwischenmenschlicher Verhältnisse, und diese bieten ihm
Anlaß zuhauf für die künstlerische Reflektion. Die blanke Nabelschau des "Rein"-Musikalischen
war ihm seit jeher suspekt: "Wenn man wirklich Neues in der Musik erfinden will, darf man nicht die
Quellen und Stimulationen in der Musik selbst suchen."
Am morgigen Sonntag, den 11. Oktober 1998 um 11.00 Uhr, hält Vinko Globokar unter dem Titel
"Spielen als ob man sprechen würde" einen Vortrag im Studiosaal der Hochschule für Musik
"Hanns Eisler".
© Horst A. Scholz
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