Kamenz wird neue Heimat Der Zweite Weltkrieg machte Millionen von Menschen zu Flüchtlingen. Sie mussten ihre alte Heimat in Ostpreußen, Schlesien oder im Sudetenland oft binnen weniger Stunden für immer verlassen. Ihr Hab und Gut blieb zurück. Auf der Flucht erfuhren sie Schreckliches: Tieffliegerangriffe und Vergewaltigungen, Hunger und Kälte. Das Verständnis für die Lage der Menschen war, dort wo sie ankamen, teilweise gering. Die Not war groß, oft reichte es kaum zum eigenen Überleben. Doch es gab auch Menschen, die ohne viele Worte halfen. Sie stellten Quartiere, Kleidung und Lebensmittel zur Verfügung. Mit Spendengeldern konnte im Kamenzer Bahnhof eine Küche für die erste Versorgung der Flüchtlinge eingerichtet werden. Bei den Sammelaktionen der „Volkssolidarität“ kamen Hilfsbereitschaft und Anteilnahme zum Ausdruck. „ Flucht und Vertreibung 1 Am 18. Januar 1947 meldete die Lausitzer Rundschau 16.535 Flüchtlinge im Kreis Kamenz. Sie wurden offiziell als „Umsiedler“ bezeichnet. Der Ausdruck „Vertriebene“ durfte nicht verwendet werden. Die meisten kamen in den Landgemeinden unter, in den Städten wie Kamenz war ihr Anteil gering. Dennoch wurde auch hier der Wohnraum knapp. Wer in einer größeren Wohnung lebte, musste Flüchtlinge aufnehmen. „Zahlreichen Umsiedlern mussten Wohnungen zugewiesen werden, viele Hilfsbedürftige hatten Unterstützungsgelder zu empfangen. Das alles legte auch der Kamenzer Bevölkerung schwere Lasten auf. Im Saale des Gasthauses „Goldener Löwe“ wurde ein Umsiedlerlager eingerichtet, eine Krankenstube im „Sächsischen Hof“, eine Quarantäne-Station in der Endemühle, später in der Baracke des Krankenhauses, eine Entlausungsanstalt in der Endemühle.“ (Prof. Dr. Willy Muhle) Statistik zur Bevölkerung in Kamenz für Dezember 1947: Kernbevölkerung ............................. 11.609 (4.922 Männer, 6.687 Frauen) Flüchtlinge aus Sachsen................................................................................. 326 Flüchtlinge aus außersächsischen Gebieten........................................ 2.623 Mein Vater war zu der Zeit im Krieg und ich bin zusammen mit meiner Schwester, die vier Jahre älter ist als ich, und meiner Mutter am 22. Januar 1945 aus Brieg, Schlesien, geflüchtet. Wir mussten innerhalb von zwei Stunden die Stadt verlassen, weil die Front schon sehr nah war. Brieg liegt an der Oder, wo damals schon die Brücken gesprengt wurden, als wir weg sind.“ (Kamenzerin, anonym) 2 3 4 1 > Ankunft von Flüchtlingen am Bahnhof Dresden- Neustadt. Auch der Kamenzer Bahnhof wurde zur Station für zahllose Menschen. Einige Flüchtlinge fanden in der Lessingstadt eine neue Heimat. SLUB Deutsche Fotothek Dresden | Aufnahme: Erich Höhne & Erich Pohl, 1945 2 >Umsiedler in Dresden-Trachenberge: Ein Hand- wagen mit den allernötigsten Sachen war häufig das Einzige, was den Menschen geblieben war. Bei ihrer Ankunft mussten sie praktisch mit allem versorgt werden: Kleidung, Lebensmittel und Unterkunft SLUB Deutsche Fotothek Dresden | Aufnahme: Erich Höhne & Erich Pohl, 1945 3 >„Goldner Löwe” heute 1 Foto: Carsta Off 4 >Schaufenster Flüchtlingselend. Die Flüchtlinge kamen zuerst in Quarantänelager. In Kamenz gab es eine Entlausungsanstalt in der Endemühle. Als Auffanglager diente die Gaststätte „Zum Goldenen Löwen“ 5 SSK SG 5 >Bahnhof Kamenz heute Kamenzer auf der Flucht Kurz vor Kriegsende war die Front so weit vorgerückt, dass viele Kamenzer vor den nahenden Truppen flüchteten. Angst vor dem, was kommen würde, trieb die Einwohner gen Westen. Vor dem Hotel „Stadt Dresden“ fuhren Busse ab. Viele gingen auch zu Fuß oder fuhren mit dem Fahrrad. Die meisten konnten nach wenigen Wochen wieder in ihre Heimatstadt zurückkehren. Trotzdem prägte sich diese Zeit tief in das Gedächtnis der Menschen ein. „Der erste Schuss auf Kamenz fiel schon als ich noch einmal beim Vater an der Just-Kirche war. Der Einschlag traf ein Dach in der Theaterstraße. Ich sah zu, dass ich nach Hause kam und ging hoch auf den Aussichtspunkt auf dem Hauptfriedhof. Hier sah ich schräge Rauchfahnen und wusste, dass wir bereits umzingelt waren. Aber wie gesagt, die Flucht in den Wald nach Lückersdorf gelang uns noch in letzter Minute. Dort waren wir dann drei oder vier Tage. Meine Mutter fuhr immer mal nach Hause, um nach dem Rechten zu sehen und Essen zu besorgen. Sie war eine ältere Frau und wir schätzten die Gefahr für sie am geringsten ein.“ (Kamenzerin, anonym) Foto: Carsta Off „Wir gingen wieder nach Aussig auf den Bahnhof und mussten dann auf einem offenen Güterzug von früh um neun bis zum nächsten Tag gegen Mittag zubringen. Dort konnte man nicht runter und gar nichts. Wir saßen zusammengequetscht wie die Heringe. Wenn jemand dringend austreten musste, ging das nur auf dem Wagon.“ (Kamenzerin, anonym) “ „Ich war eine junge Frau. Da haben mich zwei Mann vergewaltigt, trotzdem ich schwanger war. Mein Mann war besinnungslos und hat das gar nicht mitbekommen. (Kamenzerin, anonym) Das Einmaleins in der Ofen-Fabrik Die Kamenzer Schulen waren während des Krieges ausgelagert, weil die Gebäude für andere Zwecke benötigt wurden. Die Lessingschule diente als Lazarett, die Volksschule als Flüchtlingsquartier. Unterrichtet wurde in verschiedenen Gaststätten und Betrieben der Stadt, zum Beispiel in der Gaststätte „Zum Schlossberg“. Grundschullehrer unterrichteten kurzzeitig zum Teil auch in Gymnasialklassen und mussten sich oft mühsam in ein bestimmtes Fach einarbeiten.(Kamenzerin, anonym) Das Schulhaus bot ein Bild arger Verwahrlosung und Verschmutzung Vor Wiederaufnahme des Schulbetriebes musste die Volksschule gründlich aufgeräumt und gesäubert werden. Die Räume waren in einem beklagenswerten Zustand. Außerdem waren viele Lehrmittel verschwunden und neue schwer zu organisieren. Der Unterricht konnte trotzdem am 1.10.1945 wieder beginnen. Es gab sogar eine Schuleinführungsfeier im Hotel „Stadt Dresden“. Der Zuckertütenbaum war trotz aller Not gut gefüllt. Auch die Lessingschule öffnete im Oktober wieder ihre Pforten. Im Winter 1947 mussten die Kamenzer Schulen schließen, weil es keine Kohle zum Heizen gab. Die Kinder holten sich jeden Tag ihre Hausaufgaben in der Schule ab und brachten sie erledigt zur Durchsicht zurück. Trotz aller Widrigkeiten waren die Direktoren und Lehrer um einen reibungslosen Unterrichtsablauf bemüht. Außerdem gab es eine Schulspeisung, die aus einem dunklen Brötchen und einem warmen Getränk bestand. „Alle früheren Lehrer und Lehrerinnen, die Parteigenossen gewesen waren, wurden nur noch kurze Zeit notgedrungen, da sie zunächst unersetzlich waren, im Schuldienst belassen. Neulehrer traten an ihre Stelle. Viele von diesen brachten zwar allen guten Willen für ihr neues Amt mit, allein es fehlten ihnen die zur Erteilung eines erfolgreichen Unterrichts unbedingt erforderlichen Kenntnisse. Wenn nur die nötige Gesinnung da ist, so kann auf Wissen und Können verzichtet werden: das war die Einstellung in der Zeit der neuerstandenen Schule.“ (Prof. Dr. Willy Muhle) Osterfreude in der Kamenzer Volksschule Ostern 1947 bereitete der Frauenausschuss den Kindern eine besondere Überraschung: heißer Kakao für alle! Jeder sollte dazu einen kleinen Topf oder Krug mitbringen. Viele der jüngeren Schüler waren sehr skeptisch und kosteten vorsichtig. Sie hatten noch nie in ihrem Leben Kakao getrunken. 1 >Bewerbung einer Neulehrerin: Nach ihrer schnel- len Wiedereröffnung sahen sich die Schulen mit vielen Problemen konfrontiert. Es fehlte an fast allem: Personal, Papier, Kohle, Glühbirnen, Schuhe und Essen für die Schüler. Neulehrer wur- den im Schnellverfahren ausgebildet. Die Klassen waren hoffnungslos überfüllt, vor allem auch durch die Aufnahme zahlreicher Flüchtlings- kinder. 2 Dorothea Pietzsch, Kamenz 2 >Schlossberg heute: Unterrichtsräume der Volks- schule befanden sich im April 1945 außerdem bei der Evangelisch-Kirchlichen Gemeinschaft in der Feigstraße, im Lehrsaal der Luftschutz- Hauptschule in der Breiten Straße, in der Fabrik Steudel, in der Tuchfabrik Linke im Herrental, der Fabrik Friedrich Müller, Bautzner Straße, im „Deutschen Haus“ und in der Handelsschule. Foto: Carsta Off 3 >Elsterbrücke heute: Auch in und um Kamenz zerstörte die Wehrmacht in den letzten Kriegs- tagen noch zahlreiche Brücken. Der Vormarsch der Roten Armee sollte mit allen Mitteln aufge- halten werden. Durch die zerstörte Infrastruktur war der Transport von Waren und Personen nur bedingt möglich, so dass der Handel nur schlep- pend anlief. 4 >Stundentafel für Volksschulen 1945: Der Unter- richt an den Schulen sollte entsprechend dieser Stundentafel gehalten werden. Aufgrund des Lehrermangels war es in der Praxis aber schwie- rig, diese Vorgaben zu erfüllen. Schule und Arbeit „ Foto: Carsta Off 1 aus: Dokumente zur Geschichte des Schulwesens in der DDR. Teil 1: 1945-1955 2 3 4 Arbeit gab es genügend. Aber wo Werkzeug hernehmen? Manche brachten welches von zu Hause mit. Material gab es genügend, die große Halle lag voll von Autowracks, nur nichts Passendes, es musste alles irgendwie passend gemacht werden. Geht nicht, gab es nicht! (Kamenzer Zeitzeuge, anonym) Arbeitslosigkeit trotz Wiederaufbau Im September 1945 meldete das Arbeitsamt Kamenz 395 offene Stellen. Dem gegenüber standen 1.435 männliche und 2.506 weibliche Arbeitssuchende. Es mangelte hauptsächlich an Fach- und Spezialkräften. Häufig waren Arbeitslose aufgrund von Kriegsverletzungen nicht voll einsatzfähig. Die Produktion in den Betrieben lief nur langsam wieder an. Demontagen durch die Besatzungsmacht gestalteten den Neuanfang äußerst schwierig. Oft waren kaum noch Maschinen und Materialen vorhanden. Viele Betriebe waren auf Kohle angewiesen – diese war bekanntlich knapp. Für die Aufbauarbeiten waren vor allem Baufacharbeiter gefragt – starke Männer, die zupacken konnten. Aber genau an diesen mangelte es. Viele hatten ihr Leben im Krieg verloren, viele waren noch in Gefangenschaft. Ein Großteil derer, die zur Verfügung standen, war entweder alt oder verletzt. Aus der Kochtopfperspektive Das wichtigste Thema der Nachkriegszeit war die Versorgung. An der Bewältigung dieses Problems wurde eine erfolgreiche Politik gemessen – die Bevölkerung betrachtete alles aus der so genannten „Kochtopfperspektive“. Gerüchte, wann und wo es irgendetwas Essbares gab, verbreiteten sich wie ein Lauffeuer. Kein Wunder, denn der Durchschnittsdeutsche wog in jener Zeit ungefähr 45 Kilogramm. Lebensmittel wurden rationiert und nur gegen Marken ausgegeben. Nachdem die letzten Vorkriegsvorräte aufgebraucht waren und Missernten die Situation verschlimmert hatten, hielt Schmalhans auch in vielen Kamenzer Küchen Einzug. Essensreste gab es keine – aus allem wurde etwas gemacht. „ So hatten russische Soldaten an der Endemühle mehrere Rinder geschlachtet. Die Innereien verwendeten sie jedoch nicht. Sie gestatteten uns, die Pansen mit nach Hause zu nehmen. Mit einem vom Fleischer ausgeliehenen Schaber wurden diese im Waschhaus gereinigt. Dann kochten die Frauen Eintopf für alle Hausbewohner. 3 1 >Kartoffelstoppeln: Ganze Völkerwanderungen waren in der Zeit der Kartoffelernte zu beobach- ten. Jung und Alt machte sich auf zum Kartoffel- stoppeln. SLUB Dresden Deutsche Fotothek | Aufnahme: Richard Petersen., um 1948 2 >Haushaltspass Rückseite Dietmar Scheumann, Kamenz 3 >Haushaltspass: Zugeteilt wurden nicht nur Lebensmittel. Auch andere Dinge des täglichen Gebrauchs konnten nur in begrenztem Ausmaß erworben werden Dietmar Scheumann, Kamenz Versorgung 1 Wer konnte, baute selbst Obst und Gemüse an. Neue Schrebergärten schossen aus dem Boden, zum Beispiel an der Endemühle. Der Wald wurde zum „Selbstbedienungsladen“. Pilze und Beeren, Eicheln und Kastanien waren heiß begehrt. Die Behörden legten feste Termine zum Sammeln fest, um eine gewisse Ordnung zu wahren. Denn nicht selten wurden unreife Früchte geerntet oder Pflanzen bei der Suche nach Essbarem rücksichtslos niedergetreten. Jeder Sammler benötigte übrigens einen gebührenpflichtigen Ausweis. 3 Blühender Einzelhandel „Jede Woche war ein Höhepunkt, wenn es Butter gab, da durften wir eine zusätzliche Schnitte essen. Brot gab es nur morgens, mittags irgendetwas mit Kartoffeln, abends gab es auch Pellkartoffeln mit einer Mehltunke, gewürzt mit Majoran. In einem Laden („Winzereck“ am Markt) gab es Speckaroma (markenfrei)! Diese Mehltunke nannten wir Stalinfett.“ “ Das Angebot war natürlich primitiv: Mehl, Butter, Zucker, Salz, Seifenpulver...[…] Es gab die Grundnahrungsmittel, keinen Bohnenkaffee, Kakao oder so. Wenn man weggefahren ist und einkehren wollte, musste man in die Gaststätten etwas Essbares mitnehmen, damit man eine Mahlzeit bekam. (Kamenzer Zeitzeugin, anonym) Not hin oder her: Es gab damals wesentlich mehr Einzelhandelsgeschäfte in Kamenz als heute. Zeitzeugen erinnern sich an eine Vielzahl von Lebensmittelläden. 1948 boten im Stadtgebiet allein 23 Bäckereien frische Brötchen und Brot an. Falsches Schmalz Rezepte Jedermann wird zum Gärtner 2 Aus Wasser, Salz und Grieß einen dicken Brei kochen. Viel kleingeschnittene Zwiebel in etwas Fett glasig dünsten und unter den erkalteten Grießbrei rühren. Je nach Jahreszeit mit Petersilie, Schnittlauch oder Dill würzen. Einen Teppich für die Kuh Als meine Frau und ich heiraten wollten, standen wir vor dem Problem Hochzeitsanzug. Bei Fernseh-Böttcher war damals ein Tauschladen. Dort tauschten wir ein Fahrrad gegen Stoff für einen Hochzeitsanzug ein. „ Alles, was über die Grundnahrungsmittel hinausging, musste teuer „unter dem Ladentisch“ erhandelt werden. Auch in Kamenz hatten Schwarzhandel und Hamsterwirtschaft Hochkonjunktur. Geschäftsleute hielten Ware für bessere Zeiten zurück oder verkauften sie „schwarz“ zu Wucherpreisen. Hamsterfahrten aufs Land waren in fast jedem Haushalt an der Tagesordnung. Dabei tauschten die Stadtbewohner alles, was sie entbehren konnten, gegen Essbares ein. Es hieß, manche Bauern könnten ihre Ställe mit Teppichen auslegen. Getauscht wurde nicht nur auf dem Land sondern auch in Kamenz selbst. An der Ecke Kurze Straße / Markt gab es eine Art Tauschbörse. 4 1 >HO auf dem Kamenzer Markt 1950 Privat 2 >HO-Zelt im Forst 1950: Nicht nur im Forst schlug die HO ihre Zelte ab 1950 auf. Ab Juni 1949 konn- ten die Kamenzer das erste „Nachkriegs-Sahne- eis“ in der HO-Eisdiele zu 3 Mark je Portion genie- ßen. Ein HO-Kaufhaus im Gebäude der ehema- ligen „Modeperle“ bot bald ein großes Sortiment: Lebensmittel, Kosmetika, aber auch Rundfunk- geräte waren hier erhältlich. Privat 3 >Deutsches Haus heute: Wärmestuben öffneten in den Gaststätten „Sachsentreue“, „Feuerhaus“ und „Deutsches Haus“. Hier konnten sich die Menschen aufwärmen, wenn die eigene Woh- nung wieder kalt bleiben musste. Versorgung Foto: Carsta Off 4 >Die Not in der Dresdner Heide 1946: Die Men- schen sammelten Brennholz in den umliegenden Wäldern. Sogar vor der Bepflanzung ihres ge- liebten Hutbergs machten die Kamenzer keinen Halt – die Not war zu groß. 1 3 SLUB Dresden Deutsche Fotothek | Aufnahme: Richard Peter, sen., um 1946 2 4 “ Hutberg-Gehölz wärmt Stuben Besonders kritisch war die Versorgung mit Brennmaterialien in den Wintern 1947 und 1948 durch den Verlust der oberschlesischen Kohlereviere. Außerdem mangelte es an Transportmöglichkeiten. In den umliegenden Ziegeleien wurden ersatzweise Nasspresssteine hergestellt, deren Heizwert aber gering war. Es wurde aus nichts etwas gemacht und überall, wo es etwas zu holen gab, musste man dabei sein. Jeder gab auch an andere weiter: dort und dort gibt es etwas! Dresdener Stollen 1946 Lebkuchen mit Möhren (ohne Fett und Ei) 500g Weizenmehl 150g Zucker 100g Margarine 125g Quark (Topfen) ½ Päckchen Puddingpulver 1 Ei 4 EL Milch Backaroma etwas Salz 150g Rosinen oder geschnittenes Backobst 150g Sirup 150g Zucker 150g geriebene Möhren 500g Weizenmehl 1 Päckchen Backpulver Pfefferkuchengewürz Aufwärts Um 1949 verbesserte sich die Situation spürbar. Die ersten HO-Geschäfte* wurden eröffnet. Die Preise waren zwar fast unerschwinglich, aber zumindest gab es wieder legal markenfreie Waren zu kaufen. *HO steht für Handelsorganisation. Sie wurde am 03. November 1948 gegründet. HO-Geschäfte boten Waren im freien Verkauf an, die es sonst nur noch auf dem Schwarzmarkt gab. Damit sollte der illegale Handel bekämpft werden. Freizeit – Was ist das? Übertriebener Tanzsaal-Rummel Die Organisation von Lebensmitteln und den notwendigen Dingen des täglichen Gebrauchs nahm viel Zeit in Anspruch. Die Devise lautete: „Selbst ist der Mann bzw. die Frau“. Da es kaum etwas zu kaufen gab, hieß es Einkochen, Nähen, Flicken, Gärtnern, Werkeln… Da blieb kaum Freizeit. Trotzdem waren Vergnügungen aller Art gefragter denn je. Der Krieg war vorbei – die Lebensfreude kehrte zurück. Schon am 4. September 1945 erlaubte der Kreiskommandant Tanzveranstaltungen und Tanzunterricht. „Besonders in Erinnerung ist uns das Tanzorchester von Gustel Klose geblieben. Denn er war mit seinem Orchester immer ein Garant für gute Stimmung. Durst hatten wir auch, aber das Bier war sehr dünn. Es gab aber auch einen Likör names „Alkolat“ – böse Zungen behaupteten aber, dass drei Flaschen Alkolat ein Pferd töten könnten!“ (Kamenzer Zeitzeuge, anonym) Tanzveranstaltungen erfreuten sich größter Beliebtheit. Mittwochs, sonnabends und sonntags spielte im Hotel „Stadt Dresden“ eine Kapelle auf. Allerdings endeten die Veranstaltungen spätestens 22 Uhr. Eine Stunde später war Polizeistunde und jeder musste zu Hause sein. Alkohol gehörte zu dem geselligen Vergnügen selbstverständlich dazu. Verbotene Bücher „Dagegen müssen wir den herabziehenden demoralisierenden Tendenzen eines übertriebenen Tanzsaal-Rummels unbedingt entgegentreten. Es müsste auch Ehrensache der Jugend sein, nicht dem Alkohol- und Nikotingenuss in unverantwortlicher Weise zu frönen.“ (Kamenzer Landrat an die Jugendausschüsse der Gemeinden des Kreises Kamenz, 12.02.1946) Wer seine Freizeit gern mit Lesen zubrachte, konnte ab dem 2. Oktober 1945 wieder in der Städtischen Bücherei im Lessinghaus schmökern und Lektüre ausleihen. Allerdings war vorher sämtliche Literatur der NS-Zeit ausgesondert worden. Dafür standen nun die von den Nazis verbotenen Bücher wieder im Regal und die des neuen politischen Geists waren hinzugekommen. Bücher, die diesem nicht entsprachen, wurden kurzerhand aus der Bibliothek verbannt. „ 5 Mein schickes langes Kleid war nichts anderes als ein paar rosa gefärbte fehlerhafte Futterstofffetzchen, die mein Onkel aus Zittau von seinem Betrieb als Deputat bekommen hatte. Als Schuhe trug ich Wildledersandaletten mit Absatz von meiner Mutter, die eine Nummer zu klein waren. Zum Glück waren sie an den Spitzen nicht ganz geschlossen. (Kamenzer Zeitzeugin, anonym) 2 Stadtbad trotz Wasserknappheit Preise des Stadtbades um 1947: Tageskarte Dauerkarte Kinder......................... 0,05 RM .................... 2,50 RM Schüler....................... 0,10 RM .................... 4,00 RM Erwachsene.............. 0,20 RM .................... 6,00 RM 1 > Pfingst-Spaziergang in Familie 1949 aus dem Besitz von Johanna Schuster, Kamenz 2> „Stadt Dresden“ heute Freizeit Foto: Carsta Off 3 >Tanzstundenausweis: Die Tanzstunde fand wie- der im Hotel „Stadt Dresden“ statt. Dabei war die Bekleidungsfrage sehr schwierig. Wer hatte schon ein schönes Kleid oder einen Anzug? Stoffreste, Gardinen und Futterstoff verschlissener Jacken wurden unter den Händen der Frauen zur Abend- garderobe. 4 Dietmar Scheumann, Kamenz 4 >An der Freibaddusche aus dem Besitz von Johanna Schuster, Kamenz 5> Kammerlichtspiele in der Bautzner Straße heute 1 3 Foto: Carsta Off 6 >Familie im Stadtbad 1949: Im Mai 1946 öffnete das Stadtbad wieder seine Pforten. Liegewiesen und Schwimmbecken lockten die Kamenzer ins Freie. Der Eintritt war erschwinglich. Trotz akuter Wasserknappheit hielt die Stadt an diesem som- merlichen Spaß fest. 5 6 aus dem Besitz von Johanna Schuster, Kamenz Lebendige Kleinstadt-Kultur: Theater, Kinos und Konzerte Im Mai 1947 wurde das Lessing-Museum eröffnet. Es gab sogar ein gleichnamiges Theater mit eigenem Ensemble in der Stadt. Die Aufführungen waren immer gut besucht und sorgten für niveauvolle Unterhaltung. Chorauftritte und musikalische Abende in den Kamenzer Kirchen ergänzten das kulturelle Programm. Nicht zu vergessen das Kino. In Kamenz gab es damals gleich zwei: Kammerlichtspiele und Filmeck. Hutberg statt Eifelturm Größere Urlaubsfahrten konnten sich die wenigsten leisten. Beliebt waren deshalb Ausflüge in die Umgebung. Fast jede Familie unternahm am Wochenende Spaziergänge in die Cafés und Gaststätten der Stadt. „Nach dem Krieg wurden in den Gaststätten anfangs nur Getränke ausgeschenkt, aber in den Cafés gab es auch Gebäck. Die waren immer gut besucht, natürlich vorrangig an den Sonntagen. Große Urlaubsreisen gab es ja noch nicht. Aber Sonntags ging es immer raus ins Grüne und dann wurde auch eingekehrt.“ (Kamenzerin, anonym) Eisbahn, Punsch und Rodelwiese Im Winter vergnügten sich viele Kamenzer beim Schlittschuhlaufen auf dem Jahnplatz oder auf den Rodelwiesen des Hutbergs. „Der Kamenzer Turnverein goss jeden Winter auf dem Jahnplatz eine Eisbahn. Dort gab es auch einen Raum mit Bänken drunter und Punsch ohne Alkohol. Es kostete Eintritt, aber nur sehr wenig. […]Man löste einmal Eintritt, konnte mittags heimgehen und danach wiederkommen ohne nochmals zu bezahlen. […] Unsere Kindheit verbrachten wir im Winter dort und auf der Rodelwiese. Die ganzen Ferien!“ (Kamenzer Zeitzeugin, anonym) Endlich wieder Forstfest! Nach sechsjähriger, kriegsbedingter Pause feierten die Kamenzer im August 1946 erstmals wieder ihr Forstfest. Das Fest sollte ein Zeichen setzen und besonders für die Kinder Ablenkung und Hoffnung im harten Nachkriegsalltag bringen. Einfallsreichtum und Improvisation sorgten für das Gelingen des Festes in jener schweren Zeit. Im Vorfeld waren einige Probleme zu lösen. Beispielsweise besaßen viele Schüler keine Sommerschuhe. Bürgermeister Schmidt verfügte deshalb, dass sie zur Not barfuß gehen sollten – mit gewaschenen Füßen. Außerdem waren die Bräuche des Forstfests wegen der langen Pause bei den Lehrern und Schülern kaum noch präsent. Aus diesem Grund mussten sogar ehemalige Lehrer zu Rate gezogen werden, die wegen ihrer politischen Vergangenheit aus dem Schuldienst entfernt worden waren. 3 Forstfest 6 „ Die Forstfestveranstaltungen bewegten sich im althergebrachten Rahmen. Die Festzüge am Montag und Donnerstag zeigten in Blumenschmuck und Kleidung fast wieder das Bild von früher. An die Stelle des Lehrerschießens vergangener Jahre waren Wiedersehensfeiern und Klassenzusammenkünfte ehemaliger Kamenzer Schüler und Schülerinnen mit ihren Lehrern getreten. (Prof. Willy Muhle, S. 68) 2 1 > Forstfestumzug 1946: Forstfestumzug in traditi- oneller weißer Kleidung mit bunten Schärpen und Blumenschmuck SSK SG 2 >Mädchen in traditioneller weißer Kleidung mit Schärpe 1946: Offiziell durften bereits ein Jahr später keine Schärpen mehr getragen werden. Fotos zeigen, dass in der Praxis noch lange an der alten Tradition festgehalten wurde. Neu im Fest zug waren Transparente mit politischen Losungen. 1 Privatbesitz 3 > Programmausschnitt aus der Lausitzer Rund schau vom 17.8.1946: Trotz der schlechten Lage gab es zahlreiche Fahrgeschäfte und Verkaufs- stände auf dem Festplatz im Forst. Natürlich war das Angebot den Zeitumständen entsprechend eingeschränkt. Aber Stadtväter und Bewohner waren fest entschlossen alles zum Gelingen ihres Fests aufzubieten. SSK StAv Vivat, vivat hoch – Hunger haben wir ooch! Für die 2000 Kinder gab es je ein halbes Pfund Pulsnitzer Pfefferkuchen, eine Rolle Bonbons, 100 Gramm Wurst und eine weiße Semmel sowie fünf Freifahrten für die Karussells. Tradition kontra Politik 1948 musste verkürzt gefeiert werden: Auszug am Sonntag, Einzug am Dienstag. Der Arbeitsausfall sollte auf diese Weise minimiert werden. Doch 1949 fand das Forstfest wieder von Sonnabend bis Donnerstag statt. Die Gründe für die schnelle Rückkehr zur Tradition waren eindeutig: Die Kamenzer wollten ihr Forstfest in der ursprünglichen Form bewahren und lehnten einschneidende Veränderungen ab. Aber 1947 war die Versorgungslage besonders dramatisch. Verantwortlich dafür waren eine schlechte Ernte und der harte Winter. Die Vorräte waren aufgebraucht. Zum Forstfesteinzug am Donnerstagabend wandelten Kinder und Erwachsene den traditionellen Ausruf entsprechend ab in „Vivat, vivat hoch – Hunger haben wir ooch!“ “ Im Forste draußen herrschte reges Leben und Treiben, wenn auch die meisten Gastzelte fehlten, Süßigkeiten und Backwaren schmerzlich vermisst wurden. (Prof. Willy Muhle, S. 68) Der Alltag in der Stadt Kamenz in der Zeit von 1945 bis 1949 – das ist das Thema dieser Ausstellung. Grundlage bildete das Zeitzeugenprojekt des Kamenzer Geschichtsvereins e. V. Dafür gaben zahlreiche Kamenzer ihre Erinnerungen aus der Nachkriegszeit preis und manch einer öffnete sogar sein privates Fotoalbum. Um ein Stück Stadtgeschichte für nachfolgende Generationen zu bewahren, wurden die Erlebnisse niedergeschrieben und dem Stadtarchiv übergeben. Ziel war keine historische Faktensammlung sondern das Zusammentragen von Erinnerungen, die natürlich hier und da von der Realität abweichen können. Subjektivität und die große Zeitspanne zwischen Erleben und Erzählen führten zu unterschiedlichen Einschätzungen. Doch gerade das machte den Reiz dieses Projekts aus: Jeder hat seine persönliche Geschichte erzählt. Impressum Vivat, vivat hoch – Hunger haben wir ooch! Für die Ausstellung und die begleitende Broschüre wurden neben den Zeitzeugen-Berichten auch Quellen aus Archiven und Literatur verwendet, um einen gesicherten historischen Rahmen zu bieten. Ergänzend zur Ausstellung hat der Kamenzer Geschichtsverein e. V. eine Broschüre herausgegeben, in der die Zitate von Zeitzeugen in ungekürzter Fassung nachgelesen werden können. Doch weder in der Ausstellung noch in der Broschüre konnten alle Probleme ausführlich erörtert werden. Verschiedene Sachverhalte blieben trotz weitreichender Recherchen im Verborgenen und sicherlich gibt es noch das eine oder andere Erlebnis, das unbedingt festgehalten werden sollte. Wir sind deshalb für Ihre Ergänzungen und Anregungen jederzeit dankbar! Am Ende der Ausstellung finden Sie unser Gästebuch, in dem Sie Ihre Gedanken und Kommentare niederschreiben können. Sie können aber auch gern Kontakt mit uns aufnehmen. Schließlich möchte ich allen danken, die zum Gelingen unserer Ausstellung beigetragen haben. Ganz besonderer Dank gilt den Zeitzeugen, die unser Projekt überhaupt erst ermöglichten. Ebenso dem Stadtarchiv Kamenz, der Stadtgeschichte im Malzhaus, dem Hauptstaatsarchiv Dresden, Carsta Off und Marion Kutter für die redaktionelle und organisatorische Unterstützung. Mein Dank gilt auch meiner Oma Rosemarie Kothe, die den Kontakt zu vielen Zeitzeugen vermittelte, meiner Schwester Karin Schmidt für zahllose Korrekturlesungen, meinen Eltern Steffen und Simone Schmidt, die sich um meine Tochter kümmerten, während ich an dem Projekt arbeitete. Abschließend möchte ich meinem Mann danken, der immer bestärkend an meiner Seite steht. Ausstellung und Begleitheft: Konzeption und Texte: Anja Zschornak Fotos: Städtische Sammlungen Kamenz Stadtarchiv und Stadtgeschichte Carsta Off Anonym (private Fotonachweise sind dem Kamenzer Geschichtsverein bekannt) Sächsische Universitäts- und Landesbibliothek (SLUB) Deutsche Fotothek Dresden Organisation und Interviews: Bernd Moschke Anja Zschornak Gestaltung der Ausstellung: Schweiger Design Potsdam Druck der Ausstellung: Sachsenfahnen Kamenz © Kamenzer Geschichtsverein e. V. 2010 Postfach 1190 01911 Kamenz www.kamenzer-geschichtsverein.de [email protected]