Nestroy-Produktion_des_Vorarlberger_Landestheaters

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„Tannhäuser oder Die Keilerei auf der Wartburg“
Von Nestroy
Produktion des Vorarlberger Landestheaters
Wagners Tannhäuser
Tannhäuser und der Sängerkrieg auf Wartburg
Große romantische Oper in drei Akten
Libretto: Richard Wagner
Uraufführung: 19.10.1845 am Königliche Sächsischen Hoftheater, Dresden
Entstehung:
Wagner hatte sich im Winter 1841/42 in Paris mit der Tannhäuser-Sage beschäftigt. Sie
war damals bekannt durch Ludwig Tiecks "Der getreue Eckart und der Tannhäuser"
(1793) und durch das Tannhäuserlied von 1521, das Achim von Arnim und Clemens von
Brentano in ihre Sammlung "Des Knaben Wunderhorn" (1806) aufgenommen hatten. Die
Geschichte vom "Sängerkrieg" auf der Wartburg, die ursprünglich nichts damit zu tun
hatte, kannte Wagner aus E. T. A. Hoffmanns "Serapionsbrüdern" (1819). Eine erste,
wenn auch flüchtige Verbindung beider Sagenkreise lernte Wagner in Ludwig Bechsteins
Sammlung "Die Sagen von Eisenach und der Wartburg, dem Hörselberg und
Reinhardsbrunn" (1835) kennen.
Wagner begann nun eigene philologische Forschungen über diese Gegenstände
anzustellen und die verschiedensten Quellen zu diesen Themen zu studieren.
Ausschlaggebend wurde die Schrift "Über den Krieg von Wartburg" von Dr. C. T. L. Lucas
(1838). Nach dessen These ist Heinrich von Ofterdingen in der Legende vom Sängerstreit
identisch mit Tannhäuser; da er zudem die Gestalt der heiligen Elisabeth einführt, kann
mit gutem Grund angenommen werden, dass diese Schrift die wesentliche Quelle für das
"Tannhäuser"-Libretto wurde.
Im Juni 1842 reiste Wagner nach Böhmen und unternahm lange Wanderungen, während
derer er den großen Prosaentwurf zur dreiaktigen Oper "Der Venusberg" abfasste.
Wenige Wochen zuvor hatte er erstmals die Wartburg gesehen, nun inspirierten ihn
Naturerlebnisse. In der Kirche von Aussig ließ er sich ein Madonnenbild zeigen, das ihn in
dem Beschluss bestärkte, der Figur der Elisabeth breiten Raum in der neuen Oper zu
geben. Doch die Uraufführungen von "Rienzi" und "Der fliegende Holländer" und die
daraus folgende Ernennung zum Königlich Sächsischen Hofkapellmeister nahmen seine
Zeit in Anspruch, sodass er erst im Sommer 1843 die Dichtung des Textbuchs vollenden
konnte. Ein weiteres Jahr dauerte es, bis Wagner Zeit und Muße hatte, um mit der
Komposition zu beginnen. Am 13. April 1845 wurde die Partitur abgeschlossen. Nun erst
wurde der Titel von "Der Venusberg" in "Tannhäuser und der Sängerkrieg auf Wartburg"
geändert. Im September begannen die Proben, die sich wegen
Einstudierungsschwierigkeiten und Dekorationsproblemen ungemein kompliziert
gestalteten. Ausgerechnet die Dekoration zum zweiten Akt, die Sängerhalle, wurde nicht
rechtzeitig fertig. So war die Uraufführung, die am 19. Oktober 1845 über die Bühne der
Dresdner Hofoper ging, noch sehr provisorisch.
Zur Musik:
Wagners Verlangen nach einer Reform der Oper hat im "Tannhäuser" erstmals
weitreichende Konsequenzen: Die dramatische Handlung ergibt sich mit logischer
Zwangsläufigkeit aus der durch die psychische Disposition der Figuren bestimmten
Situation - dramatisch nicht motivierte Einschübe um des Effekts willen fehlen völlig.
Dennoch gibt es natürlich "Effekte", und zwar solche der stärksten Art: Der "Venusberg"
ist ein Stück Zaubertheater, und die großen Chorszenen wie der "Einzug der Gäste" im
zweiten Akt stehen hinter denen der Grand opera durchaus nicht zurück.
"Tannhäuser" ist ein Werk des Übergangs, kein Musikdrama. Im durchkomponierten
Ablauf sind noch immer die "Nummern" zu erkennen (Elisabeths "Hallenarie", Wolframs
"Lied an den Abendstern"), und auch die Umgestaltung der herkömmlichen Opernmelodie
in einen gesteigerten musikalischen Ausdruck der "im Sprachvers ausgedrückten
Empfindung" ist noch nicht vollkommen verwirklicht. Die völlig neue Kongruenz von Wort
und Ton, die Wagner anvisiert, erreicht er nur stellenweise in der "Romerzählung" (dritter
Akt), die als der eigentliche Beginn des Musikdramas gilt.
Wirkung:
Die Dresdner Aufführung war nach Wagners eigener Einschätzung "missglückt", die
Publikumsreaktion geteilt. Mit "Tannhäuser" war Wagner endgültig zum
avantgardistischen "Zukunftsmusiker" geworden, dessen Werk bei einer Minderheit
enthusiastische Zustimmung fand, bei der konservativen Mehrheit hingegen auf
entschiedene Ablehnung stieß. Nach nur acht Vorstellungen wurde "Tannhäuser"
abgesetzt. Für die Wiederaufnahme 1847 änderte Wagner den Schluss und fügte, um das
Geschehen verständlicher zu machen, Elisabeths Trauerzug und den Auftritt mit ihrer
Totenbahre ein. Diese "Dresdner Fassung" ist eine der beiden heute gebräuchlichen
Versionen der Oper.
Den Durchbruch erlebte "Tannhäuser" bei der umjubelten Weimarer Erstaufführung am
16. Februar 1849 unter Franz Liszt. Den weiteren Weg der Oper konnte ihr Schöpfer nur
mehr aus dem Schweizer Exil verfolgen: In Kassel brachte Louis Spohr, der zuvor bereits
den "Fliegenden Holländer" aufgeführt hatte, die Novität 1853; in Hannover (1855) sang
erstmals der berühmte Tenor Albert Niemann die Titelrolle. Allmählich zeigten auch die
großen Theater Interesse: München brachte am 12. August 1855 eine nach den genauen
Anweisungen Wagners erstellte "Musteraufführung" heraus, obwohl die Presse gegen den
"landesflüchtigen Verbrecher" Front machte. Mit dieser prunkvoll dekorierten
Inszenierung begann die lange Reihe der Aufführungen, deren Erfolg weniger auf die
nach wie vor umstrittene Musik, als vielmehr auf den Schauwert der Ausstattung
zurückgeführt werden muss. Berlin folgte, nach langen Querelen, 1856. Die Wiener
Erstaufführung 1857 in einem großen hölzernen Sommertheater in der Vorstadt
Neulerchenfeld machte die Oper so populär, dass Johann Nestroy sie zum Gegenstand
einer bis heute bekannten Parodie ("Tannhäuser und die Keilerei auf der Wartburg")
machen konnte. 1859 war "Tannhäuser" in New York die erste Wagner-Aufführung in
Amerika.
Die wohl berühmteste aller "Tannhäuser"-Aufführungen fand 1861 an der Pariser GrandOpera statt. Wagner hatte, um die an diesem Haus übliche Balletteinlage zu ermöglichen,
die Venusberg-Szene im ersten Akt zum großen "Bacchanal" erweitert. Dennoch wurde
die Aufführung, die nach der enormen Zahl von 164 Proben herauskam, zum
wahrscheinlich größten Theaterskandal des 19. Jahrhunderts. Nach drei chaotisch
verlaufenen Vorstellungen zog Wagner die Partitur zurück, obwohl zu diesem Zeitpunkt
alle weiteren Vorstellungen ausverkauft waren und sich ein Sensationserfolg abzeichnete.
Dennoch begann mit diesen drei Aufführungen eine schwärmerische Wagner-Verehrung
in Frankreich, die, propagiert vor allem von Charles Baudelaire, die französische Musik
für mehrere Jahrzehnte auf die Wagner-Nachfolge festlegte. Die für Paris erstellte
Bearbeitung des Werks aber wurde als "Pariser Fassung" die zweite der heute üblichen
Standardversionen der Oper. Da beide Fassungen Wagner nicht befriedigten - die erste
wegen der zu knappen Ausführung der Gegenwelt des Venusbergs, die zweite der
stilistischen Uneinheitlichkeit wegen -, änderte er das Werk immer wieder um, ohne
jemals eine definitive Fassung festzulegen; noch in seinem Todesjahr bemerkte er
Cosima gegenüber, er sei "der Welt noch den Tannhäuser schuldig". 1891 folgte, gegen
den Widerstand konservativer Wagnerianer, die Bayreuther Erstaufführung, inszeniert
von Cosima Wagner. Sie versuchte, ihre Inszenierung ganz aus der Musik heraus zu
entwickeln und damit den musikdramatischen Charakter des Werks zu unterstreichen.
Diese "Modellaufführung" wurde alsbald überall in Europa (z. B. in Mailand und Paris)
kopiert.
Siegfried Wagners Neuinszenierung bei den Bayreuther Festspielen 1930 blieb vor allem
deshalb im Gedächtnis, weil hier Rudolf von Laban das Bacchanal - wie zuvor schon 1921
in Mannheim - im Stil des deutschen Ausdruckstanzes choreographierte. Maria Müller
wurde als ideale Elisabeth gerühmt. Das eigentliche Ereignis dieser Aufführung aber war
das viel diskutierte Dirigat Arturo Toscaninis.
Von den Nachkriegsinszenierungen ist vor allem Wieland Wagners Bayreuther Aufführung
von 1961 zu nennen, die das Geschehen in einem abstrakten Symbolraum vor Goldgrund
abrollen ließ, und das Debüt von Grace Bumbry, der "schwarzen Venus", brachte. Götz
Friedrichs sozialkritische Inszenierung von 1972, ebenfalls in Bayreuth, die in
Beckettscher Leere und Verzweiflung endete, beschwor einen der größten Skandale in
der Festspielgeschichte herauf. Unter dem Dirigat von Erich Leinsdorf sang hier Gwyneth
Jones die Venus und die Elisabeth.
zit.n. http://richard-wagner.bayern-online.de
Die Tannhäuser-Parodien
Die Hauptvorlage zur Tannhäuser-Parodie (Nestroys) ist Richard Wagners große
romantische Oper "Tannhäuser und der Sängerkrieg auf Wartburg", als faktische
Vorlage aber ist das Stück des Breslauer Arztes Dr. H. Wollheim (1817-1855)
"Tannhäuser. Opern-Posse (Parodie)" zu betrachten, das 1854 in Breslau gedruckt
wurde, nachdem es 1853 für einen Hoftag der Breslauer Burschenschaft "Silesia"
geschrieben und von derselben uraufgeführt worden war. (...)
Dem kundigen Wagnerianer wird sofort klar sein, daß Wollheims Text weit enger
Wagners Wortlaut folgt als der Nestroys. Das Ausmaß, in dem Nestroy sich an seinen
Vorgänger anlehnt, ist (...) ersichtlich. In Ermangelung jeglichen Beweises kann man
sich nur vorstellen, daß Nestroy seinen anonymen Text dadurch schuf, dass er an
einem Exemplar von Wollheims Text strich, feilte und umstellte, wobei er sich
weitgehend damit begnügte, das Burschikose der Vorlage zu vermindern, stark zu
straffen (die ersten beiden Akte Wollheims werden von Nestroy zu einem umgeformt,
wie bei Wagner), den Wortwitz und das falsche Pathos zu entschärfen, die
Anachronismen zu reduzieren, das Ganze den Wiener Verhältnissen anzupassen
sowie die Trivialisierung sinnfälliger zu machen. Nestroy hat - wohl als Vorzensur, auch
weil er im Gegensatz zu Wollheim für ein öffentliches Theater schrieb - einige
Anzüglichkeiten Wollheims abgeschwächt, vor allem aber alle religiösen Momente
und Anspielungen entfernt. Das bei Wagner stark betonte christliche Element, von
Wollheim parodistisch übernommen, fehlt bei Nestroy zwangsläufig, d.h., wird leise
und subtil angedeutet (...).
Noch augen- bzw. ohrenfälliger als all diese Abänderungen muss aber für das
zeitgenössische Publikum das musikalische Ereignis gewesen sein: anstatt des
Musikgemisches, das Wollheim seinem (unbekannten) Komponisten oder
musikalischen Bearbeiter vorschrieb, schuf Binder für Nestroy eine konsequent
durchgeführte, weit und breit bewunderte Originalpartitur, die einen feinen
komischen Ausgleich zwischen leicht persiflierten Wagnerismen und dem
Volkstümlichen erzielt.
Wollheim folgt ziemlich beharrlich sowohl dem Handlungslauf als auch dem Sinn von
Wagners Text; allerdings fügt er nach Tannhäusers Abschied eine längere Szene für
Venus und die Nymphen ein, die bei Wagner keine Parallele hat, und dazu führt,
dass Wollheim zwei Akte benötigt, wo Wagner (und Nestroy) einer genügt. Ein
anderes Beispiel für Wollheims Versuch von Wagner wegzukommen, bietet sein
Entschluss, sowohl seinen dritten wie auch seinen vierten Akt mit Soli für Elisabeth zu
beginnen; hierin folgt ihm Nestroy. Ob bewusst oder unbewusst, zollt Wollheim dem
Wiener Satiriker ein Kompliment, indem er seinen Wolfram im "Sängerspiele" als
Preislied den Gassenhauer "Eduard und Kunigunde" anstimmen lässt, der seit der
Premiere von "Der böse Geist Lumpazivagabundus" zirka dreißig Jahre vorher überall
bekannt geworden war. Ein weiterer Unterschied zwischen den drei Versionen des
Stoffes verdient hier angeführt zu werden: Wollheim sowie Nestroy, im Gegensatz zum
tragischen Ende bei Wagner, lassen Venus als "dea ex machina" die Toten, Elisabeth
und Tannhäuser, zu neuem Leben auferwecken (im letzten Akt ist die Reihenfolge
der Szenen bei Wollheim und Nestroy anders als bei Wagner).
Aus: Peter Branscombe (Hrsg.): Johann Nestroy, Historisch-ktitische Ausgabe, Stücke 36, Wien
2000
JOHANN NEPOMUK EDUARD AMBROSIUS NESTROY (1801 - 1862)
Österreichischer Schauspieler, Sänger, Stückeschreiber, Possendichter; geboren am
7. Dezember 1801 studiert als Sohn eines Hof- und Gerichtsadvokaten zunächst Jura
in Wien, ehe er sich der darstellenden Kunst zuwendet; beginnt 1822 zunächst als
Opernsänger am Hoftheater Wien, wechselt 1823 an das Deutsche Theater in
Amsterdam, wo er bereits einige Sprechrollen in Lustspielen übernimmt.
1825 geht er nach Brünn, Mitte 1826 nach Graz, wo die komischen Sprechrollen
bereits die Gesangspartien überwiegen.
1831 engagiert ihn Direktor Carl ans Theater a.d. Wien. Dort feiert Nestroy nicht nur als
Schauspieler große Erfolge, sondern macht auch erste Schreibversuche, die über
Textbearbeitung und kleine Vorspiele hinausgehen.
1832 erzielt er als Bühnenautor bereits einige beachtliche Erfolge.
1833 gelingt ihm mit “Lumpacivagabundus”, seinem (auch später) meistgespielten
Werk, endgültig der große Durchbruch als Autor. Er wird zur Leitfigur des
vormärzlichen Wiener Volkstheaters, brilliert als Schauspieler künftig vor allem in
eigenen Stücken, die er sich und seinen Partnern Scholz, Carl, Grois, später auch
Treumann auf den Leib schreibt.
1845 geht er mit Carl ans Leopoldstädter Theater, das er 1854 als Direktor übernimmt
und bis 1860 erfolgreich leitet, ehe er sich altersbedingt nach Bad Ischl und Graz
zurückzieht, wo er am 25. Mai 1862 stirbt.
Richard Wagner (1813-1883)
Richard Wagner wurde 1813 in Leipzig als Sohn des Polizeiaktuarius Carl Friedrich
Wilhelm Wagner und der Tochter des Weissbäckermeisters Pätz, Johanna Rosine,
geboren. Als den wahren Vater hat man oft den Schauspieler Ludwig Geyer
angenommen, der oft bei der Familie zu Gast war. Als Carl Friedrich Wilhelm Wagner
starb, verheiratete sich Johanna im Jahre 1814 mit eben diesem Geyer.
Als Richard sieben Jahre alt war, zog die Familie nach Dresden, wo der Knabe in der
berühmten Dresdner Kreuzschule seinen ersten Musikunterricht erhielt. 1828 kehrte die
Familie dann wieder nach Leipzig zurück, wo sich Richards Interesse an der Musik
nochmals verstärkte, auch wenn er beim Klavierspielen keine hervorstechende
Begabung an den Tag legte.
Vor 1833 komponierte der junge Wagner traditionellem Stil und Themen
entsprechend. Erst, als er die 20 überschritten hatte und sich auf das Komponieren
von Opern verlegte, zeichnete sich ein Wendepunkt ab. Alles in allem zogen die
Fürsten in den Jahren zwischen den Revolutionen von 1789 und 1848 die Oper vor.
Die Bürgerschaft hingegen tendierte dazu, ihr Geld anzusammeln, anstatt es für die
Kunst zu vergeuden. War doch die Oper nicht zuletzt eine besonders teure
Musikform, da hinter jeder Vorstellung eine grosse Aufführungsmaschinerie steht.
Wagners erste Oper, Die Feen, wurde im Jahre 1834 fertig. Das Werk knüpfte klar an
die Traditionen an, die von u.a. Heinrich Marschner, Giacomo Meyerbeer, Gasparo
Spontini, Carl Maria von Weber und vielen anderen vertreten wurden. Der
berühmteste Name der Branche war Meyerbeer, den man unumstritten als Genie
ansah.
Seine Opernproduktion setzte Wagner mit dem Werk Das Liebesverbot (1836) fort,
gefolgt von Rienzi (1840). Wagners 'geistiges Vaterland', war, wie Maurice BOUCHER
es sah, zu dieser Zeit noch die Kunst, während 'Deutschland' für ihn lediglich eine
Seite im Geographiebuch darstellte. Diese Haltung kommt vorzüglich in einem Brief
Wagners an Robert Schumann vom Jahre 1836 zum Ausdruck: Schumann sollte ihm
dabei behilflich sein, Kontakte zu den Pariser Komponistenkreisen zu etablieren;
gleichzeitig scheint er sich noch auf die kosmopolitische Einstellung Schumanns zu
verlassen.
Gerade zu jener Zeit, in den 30ern des letzten Jahrhunderts, erlebte der Nationalismus
seine starke Aufschwungsphase sowohl in Deutschland als auch anderswo in Europa.
Schon die französische Revolution hatte die nationale Identität gestärkt und gezeigt,
dass der Lauf der Geschichte beeinflusst werden kann. In Deutschland waren es
besonders die Zeit des antinapoleonischen Krieges und der französischen Besetzung,
die das Aufkommen des Nationalismus in Gang setzte und das Gefühl der nationalen
Zusammengehörigkeit stärkte. Als Gegengewicht zu der traumatischen Zersplitterung
der Deutschen entstand der Traum von Vereinigung. Nach der französischen
Julirevolution von 1830 entstand überall in Europa im Geiste Giuseppe Mazzinis das
"Junge Italien", das "Junge Polen", die "Junge Schweiz", das "Junge Frankreich" und
das "Junge Deutschland" (1831-36). Alle Bewegungen propagierten ein stark
nationalistisches Programm.
Der Paris-Aufenthalt in den Jahren 1839-1842 stellte den Wendepunkt für Wagner dar.
Er träumte davon, die Metropole der Musik zu erobern - es kam aber anders: Die
Illusionen zerschellten. Die Pariser Jahre hatten nicht nur eine Änderung in Wagners
künstlerischem Stil zur Folge; auch seine Beziehung zum Deutschtum veränderte sich.
Es lässt sich die Behauptung aufstellen, dass gerade zu jener Zeit Kunst und Politik im
Wagnerschen Weltbild einander begegneten. Wagners eigener Kompositionsstil
entwickelte sich parallel zu seinem erwachenden Nationalempfinden. Wagner
machte bei seiner Suche nach dem Deutschtum keinen Rückgriff auf sonstige
nationale Elemente, wie z.B. die Volksmusik. Von Anfang an war Deutschtum in seiner
Gedankenwelt mit den Charakteristika seiner Kunst verknüpft.
Noch im Jahre 1837 hielt er sogar Meyerbeer für einen Deutschen; Dieser habe
lediglich des Franzosentums als Mittels benutzt, um seine Vorstellungen zu realisieren,
ähnlich wie Napoleon dies tat, um Weltgeschichte zu schaffen. Nun war Wagner
allerdings der Ansicht, dass sich Meyerbeer zum Tyrann des französischen
Musiklebens entwickelt habe, der keinerlei Interesse für den Rienzi zeige, obgleich
diese Frühwerk Wagners klar durch Meyerbeer beeinflusst war. Aus Meyerbeer hatte
man einen Teil der glamourösen Fassade der französischen Kultur gemacht, und dies
sogar in dem Umfang, dass noch im Jahre 1854 Eugéne de Mirecourt begeistert
feststellen konnte: "Meyerbeer n'appartient ni à l'Italie, ni à l'Allemagne; il est à nous
seuls!"
Als sich Wagners Auffassung von seinem kulturellen Hintergrund änderte, änderte
sich auch seine Ästhetik. Er begann, sich immer mehr als Musikdramatiker denn als
Komponisten zu sehen. Er hielt sich für eine Art Kombination zwischen Shakespeare
und Beethoven, dazu im Stande, sowohl das Libretto als auch die Musik zu schaffen.
Diese neue Denkweise wuchs sich über kurz oder lang zu einer ganzen
Weltanschauung aus, in der sich seine Auffassungen von Vergangenheit, Volk, Staat,
Kultur und Politik vereinigten. Er strebte danach, nationale, ganzheitliche Kunst zu
schaffen. Alfred EINSTEIN konstatierte über Wagner:
He was the first to use music as a means of influensing, of entrancing, of intoxicating, of
conquering. To be sure, all musicians direct their attention to the 'world' - to connoisseurs, to
a community great or small, to the nation. Even before Wagner a few composers had felt
impelled to create a community for themselves because there was none at hand. Handel did so
in his oratorios; Beethoven, in his symphonies. So far as Wagner concerned, however, Handel
scarcely existed [...] But in Beethoven Wagner saw his true predecessor - or, more precisely,
in the Beethoven of the Ninth Symphony, with which the reign of pure instrumental music
seemed to have come to an end and that of opera, of his opera, to have begun.
Die Vermischung von künstlerischen und politischen Ambitionen ist in Wagners Fall
offenkundig; kein Wunder also, dass er danach trachtete, aktiv im politischen Leben
mitwirken zu können. In diesem Zusammenhang sind Wagners Dresdner Jahre (18421849) sowie die Münchner-Triebschener Jahre (1864-1872) von Bedeutung.
Im Jahre 1842 erhielt Wagner eine Stellung als Hofkapellmeister in Dresden, beglückt
darüber, dass die feste Anstellung seine chronische Geldnot linderte. Das ehrwürdige
Amt bot ihm die Gelegenheit, die Verwirklichung seiner reformistischen
Opernauffassung zu versuchen. Der fliegende Holländer kam 1843 auf die Bühne,
Tannhäuser 1845. Während der 40er Jahre arbeitete Wagner auch am Lohengrin,
aber die Uraufführung fand erst im Jahre 1850 in Weimar statt. Gleichzeitig
entwickelte Wagner ein immer lebhafteres Interesse an politischen Fragen und
begann an den Aktivitäten des in der Stadt wirkenden Vaterlandsvereins
teilzunehmen. (Diese Sitzungen lässt er in seiner Autobiographie unerwähnt.) Auf
diese Art machte er die Bekanntschaft des revolutionär gesinnten Journalisten
August Röckel und des Anarchisten Michail Bakunin, der zu dieser Zeit im Schutze des
Decknamens Dr. Schwarz politische Agitation in Dresden betrieb. Wagner nahm mit
anderen Revolutionären am Dresdner Aufstand im Mai 1849 teil. Röckel und Bakunin
wurden gefangen genommen, Wagner jedoch gelang die Flucht über die Grenze zu
Franz Liszt nach Jena.
Die zweite politisch interessante Phase stellen die Jahre in München (1864-65) und
Triebschen (1866-72) dar. Nach dem Aufstand von Dresden war Wagner von direkter,
aktiver politischer Handlungsweise enttäuscht: Nach seiner Flucht begnügte er sich
mit Einflussnahme hinter den Kulissen. In München unterhielt er eine freundschaftliche
Beziehung zu dem jungen Bayernkönig Ludwig II. Dies grösstenteils deshalb, weil er
vermutete, dass Deutschland unter Bayerns Führung geeint werden würde.
Gleichzeitig unterstützte Ludwig in wirtschaftlicher Hinsicht Wagners
Opernproduktion. So wurden in München die folgenden Opern uraufgeführt: Tristan
und Isolde 1865, Die Meistersinger von Nürnberg 1868, Das Rheingold 1869 und Die
Walküre 1870. Das Rheingold und Die Walküre waren die zwei ersten Teile der
Operntetralogie Der Ring des Nibelungen, mit dem Wagner schon seit Beginn der
50er Jahre beschäftigt war. Die zwei letzten Teile der Tetralogie, Siegfried und
Götterdämmerung wurden erst 1876 in dem von Wagner selbst geplanten
Opernhaus anlässlich der ersten Festspiele aufgeführt.
Im Frühling 1866 fand Wagner in Triebschen in der Schweiz ein neues Domizil. Er
musste München im Dezember 1865 verlassen, weil die öffentliche Debatte um
seinen Einfluss auf den jungen König immer schärfer wurde und in direkte Feindschaft
gegen ihn ausgeufert war. Obwohl Wagner nach Triebschen zog, brach sein Kontakt
zu Ludwig nicht ab. Als es zwischen Preussen und Österreich im Juli 1866 zum Krieg
kam, begann Wagner, ein immer stärkeres Wohlwollen für die Preussen zu
entwickeln. Er begriff, dass der Architekt der Umwälzungen nicht Ludwig sondern
Bismarck hiess. Wagner begann nun, Kontakte nach Berlin zu suchen; als Vermittler
fungierte Lothar Bucher, mit dem Wagner durch die revolutionären Ereignisse in
Dresden bekannt war. Bedauerlicherweise zeigte Bismarck jedoch kein grösseres
Interesse an Wagner. Folglich beklagte Cosima Wagner (seine zweite Frau und die
Tochter Franz Liszts) in ihrem Tagebuch, dass Bismarck, weil er Wagner seine
Unterstützung verweigert hatte, nur preussische und keine gesamtdeutsche Politik
getrieben habe. Cosima sah also in der Kunst ihres Mannes die gesamtdeutsche
Kunst par exellence, deren wahrhaftes Verständnis Hand in Hand mit der natürlichen
Entwicklung des deutschen Staates ginge.
Obwohl Bismarcks offizielle Absegnung ausblieb, veranstaltete Wagner seine Kunst
als grossangelegte Organisation, zu der zahlreiche Wagner-Vereinigungen, die
Bayreuther Festspiele, die Zeitschrift Bayreuther Blätter und der sog. Bayreuther Kreis
gehörten, die nach Wagners Tod die Pflege seines musikalischen und
schriftstellerischen Erbes zu besorgen hatten. Der Komponist starb am 13.2.1883 an
einem Herzinfarkt, als er gerade damit beschäftigt war, für die Bayreuther Blätter
einen Artikel "über das Weibliche im Menschlichen" zu verfassen.
NESTROY - ASPEKTE DER PERSÖNLICHKEIT UND WELTANSCHAUUNG
Nestroys innere Biographie macht der Forschung nach wie vor große Probleme. Die
älteren Monographien (u. a. Necker, Rommel 1930, Forst de Battaglia, Rommel 1948)
erklären Persönlichkeit und Werk zumeist aus psychologischer Perspektive, stellen
Nestroys neurotische Grundstruktur mit Neigung zum Exhibitionismus heraus, betonen
Schüchternheit und Angst vor dem Tod; aus seiner Handschrift las man neben Unrast
einen Mangel an Mut und Konsequenz (Pokorny). Neue und ganz verschiedene
Wege gehen Preisner, Mautner und Sengle, indem sie Nestroys Spielsucht,
Intellektualität und Gebundenheit an die bürgerliche Herkunft betonen. Vereinzelt
wird auch nach dem spezifisch Österreichischen in Leben und Werk gefragt. Durch
die Forschung insgesamt zieht sich das widerspruchsvolle Bild einer schwachen
Persönlichkeit im Leben mit starker, intellektuell geprägter Spiel- und Darstellungskraft
auf der Bühne.
Einer der frühen Versuche, auf die sich spätere Verstehensmodelle bewußt oder
unbewußt beziehen, ist Kochs Psychogramm aufgrund z. T. unsicherer oder
anekdotischer Quellen. Er führt den befreienden Witz und die Spielleidenschaft
Nestroys auf eine Kompensation des Mangels an Selbstbewußtsein zurück. Er habe
sein mimosenhaftes Ich vor der Umwelt dadurch geschützt, daß er sich hinter
Höflichkeit und Bescheidenheit verbarg, im Maskenbild des Schauspiels habe er dies
dann demaskierend kompensiert. Sein wahres Inneres habe er hinter der Maske des
guten Bürgers verborgen, in den Theaterrollen erreichten die dämonischen Kräfte
seines Inneren diejenige Bewegungsfreiheit, die sich dann im Aktivismus und
hemmungsloser Aggressionslust äußerten (S. 160). Auf diesem Hintergrund sieht Koch
in Titus Feuerfuchs (Der Talisman) eine der tiefsten psychologischen
Selbstdarstellungen Nestroys, in welcher der Wechsel von Aggression und ängstlicher
Passivität intellektuell-spielerisch bewältigt werde, in Der Färber und sein
Zwillingsbruder werde die Ambivalenz als Doppelrolle in zwei gegensätzliche
Charaktere zerlegt, und auch in Die Papiere des Teufels und Kampf findet er dieses
Maskenspiel des Menschen Nestroy. Nestroy spreche in der Bühnenrolle gerade als
Ich, nur als Ich (S. 163). Koch verknüpft seine Interpretation mit der These von K. Kraus,
Nestroy sei der kostümierte Anwalt seiner satirischen Berechtigung (1912, S. 8);
Beweise für das Sprechen des Ichs in Masken findet er, unabhängig von den
dargestellten Figuren, u. a. in den Monologen und Couplets. Triebleben,
Schüchternheit, Angst vor dem Tod, die im Spiel kompensiert würden, paßten gut in
das Bild eines aus Extremen zusammengesetzten Charakters, der durch einen
überragenden Intellekt zur Künstlerpersönlichkeit werden konnte. Auch neuere
Arbeiten heben, den einseitigen Psychologismus relativierend, bestimmte
Zusammenhänge zwischen Theater und Leben in der Biographie hervor (u. a. E.
Fischer, Hüttner, v. Matt, Hannemann, Sengle); Nestroy habe Trieb und Angst
ästhetisiert, das Ausspielen von Theaterklischees im bürgerlichen Leben könnten
Überlebenstechniken (Hüttner 1982, S. 109) gewesen sein, sein Witz entstehe aus dem
Zusammenstoß eines schüchternen, aber leidenschaftlichen Menschen mit
mächtiger Intelligenz mit dem System.
Daß die Spielleidenschaft ein Schlüssel zu Leben und Werk ist, darüber ist sich die
Forschung einig. Nestroys Theaterbesessenheit geht nach Brill weit über das
Berufliche hinaus, totale Spiellust bestimme sein Leben, das er inszeniere, wie die
Köfer-Affäre deutlich mache. Auf der Bühne und in der Liebe zeige er keine
Schüchternheit (vgl. S. 199ff.). Das Sprachspiel durchzieht auch die Briefe und
manifestiert sich selbst in Formulierungen des Testamentes. Für Brill zeigen sich Umrisse
einer Deutung der Person, die mit psychoanalytischen Methoden auszufällen wären
(S. 200, vgl. auch v. Matt). Er vermutet, daß die Spielmanier Verdrängung und
Sublimierung aggressiver Triebregungen ist (ebd.), und zwar in der Komödie als
Sprachspiel. Die Bindung zwischen Person und Werk sowie zwischen psychischer
Struktur und Realität sei enger, als man bisher gesehen, aber das Werk lasse sich
nicht einfach aus der Biographie erklären, die Zusammenhänge seien komplexer (S.
201).
Zwirns (Lumpazivagabundus) Herzensbangigkeit und Ich halt’s nicht aus kann man
auf Nestroy selbst beziehen; die Leben und Theater verbindenden Geld und Liebe,
das Theater als Arbeitsplatz und Stätte des Sich-Auslebens, Häuslichkeit und
Liebesfreiheit, Kontrolle durch die Frau und heimliches Geld, Erfüllung bürgerlicher
Normen und ästhetische, aggressive Befreiung in Witz und Spiel, Schüchternheit und
narzißtische Ichbezogenheit, Planbarkeit des Lebens und Rolle des Zufalls (vgl. HKA,
Briefe, S 136) sind immer wieder genannte Aspekte zur Beschreibung der
Persönlichkeit. Auch seine Todesfurcht wird aus dem Persönlichkeitsbild erklärt (vgl.
Rommel, SW Bd. 15, S. 212-218). Schick kritisiert die charakterologische Ableitung und
bringt die Einstellung zum Tod mit der Haltung des Satirikers und vitalen Komikers zur
Welt zusammen. Vor dem zersetzenden Verstand des Satirikers halte der religiöse
Trost eines besseren Jenseits nicht stand; der Tod sei Feind des Satirikers, weil er ihn an
der Erfüllung seiner Sendung hindere. Eine tiefere Dimension deckt v. Matt auf. Er
erkennt auf dem Bild, das Nestroys seelischen Kollaps auslöste und seine Todesfurcht
verstärkte, Ähnlichkeiten mit den dargestellten Personen und seiner Familiensituation.
Die heftige Identifikation (Panik), in der er sich als Schauspieler und Mensch betroffen
erkennt, bringe die tieferen Schichtungen seiner Seele in unkontrollierbare Bewegung
und sein Bewußtsein vorübergehend zum Einsturz (S. 16). Es gelingt für den Interpreten
ein tieferer Einblick in den Zusammenhang von Leben und Werk, die gleichermaßen
von Angst und Panik bestimmt seien. Am Beispiel der Köfer-Affäre werde klar (vgl.
HKA Briefe, S. 114-117):
In den intimsten Zonen seines Lebens reproduziert er dergestalt das Polizeisystem,
unter dem seine öffentliche Arbeit steht. Die politische Verfolgung der Sexualität hat
zuletzt zur Sexualisierung der Verfolgungsmechanismen selber geführt. Die Panik ist zu
einem Element der Liebe geworden (S. 20).
Die Gleichzeitigkeit von Lust und Terror läßt sich nach v. Matt in den Stücken
studieren (z. B. Der Zerrissene, Höllenangst). Die Angstzustände in den Stücken dürften
nicht allein auf privatpsychologische Gegebenheiten zurückgeführt werden, sondern
es werde deutlich, daß der Autor mit diesen von den Zeitgenossen zum Instrument
gewählt und geformt wird, mit dessen Hilfe sie sich die wahre Beschaffenheit ihres
Daseins handgreiflich vor Augen führen – anästhesiert in der Narkose eines
unablässigen Gelächters (S.22). Nestroys Todesfurcht kann einerseits auf dem
Hintergrund einer Kollektivneurose gesehen werden (z. B. E. A. Poe, G. Keller), der er
hilflos ausgeliefert war, andererseits und im Unterschied zu Raimunds Todeserfahrung
spiegele die Todesangst einen Scharfblick für die in Bewegung geratene
gesellschaftliche Ordnung:
Für Raimund ist das gesellschaftliche Gefüge solid und unbewegt. Das spiegelt sich in
seinem Glauben an den guten Tod mit einem festen Ort im Ganzen. Wenn
demgegenüber Nestroy den Tod als etwas empfinde, was er nicht einzuordnen,
nicht zu bewältigen, nur zu verdrängen ist [...], so bricht sich darin, genau konträr, die
Erschütterung aller verläßlichen gesellschaftlichen Strukturen (S. 27).
Und noch eine weitere Nestroy existentiell betreffende Dimension werde sichtbar. Er
erkennt die ökonomische Katastrophe der kleinen Gewerbetreibenden, beobachte
die rücksichtslosen Karrieristen; sein Blick werde an einem Ort geschärft, an dem er
selber ökonomisch angesiedelt war. Im Umbruch der Volkstheater zu hart
kalkulierenden Unternehmen entdeckte er Theaterschaffende, die um ihre Existenz
bangen. Durch Erfahrungen in der Jugend (finanzieller Niedergang des Vaters und
soziale Ächtung) gewarnt, kapitalisiere Nestroy sein Talent, stets sitze ihm das
Gespenst sinkender Popularität im Nacken, sei er an die Leiter seiner eigenen Karriere
gefesselt, von seiner Frau daran festgehalten und gehindert, alles zu vertun und ins
soziale Nichts zu fahren (S. 29). Diese Gefahr sei ihm als Spieler vertraut, schon früh
habe er sie im Lumpazivagabundus dargestellt. Die Angst vor dem Selbstverspielen
der bürgerlichen Existenz bilde auch die Grundlage seines sozialpsychologischen
Scharfblicks.
Weitere Bausteine und Verstehensmodelle der Biographie wären aus Briefen und
anderen Quellen zu gewinnen, z. B. zum Verhältnis Nestroys zu Freunden,
Zeitgenossen und Konkurrenten (etwa F. Kaiser), zur Obrigkeit, insbesondere auch zu
Frauen (von der Kollegin bis zum Lustobjekt im Unterhaltungs-Ambiente des Theaters)
auf dem Hintergrund der beginnenden Bemühungen um Emanzipation.
Am ausführlichsten in der neueren Forschung hat man sich mit weltanschaulichen
Grundpositionen Nestroys und seines Gesellschaftsbildes beschäftigt (u. a. R. Bauer,
Corriher, Berghaus, Hannemann, Preisner, Sengle) und verschiedene Komponenten
sichtbar gemacht: barocke und aufklärerische Einflüsse auf die Geisteshaltung in der
Biedermeierzeit, Zusammenhänge zwischen Katholizismus, Josephinismus und
Quietismus einerseits und liberalen bis oppositionelle Strömungen im Vormärz
andererseits. Die politische Standortbestimmung – er wird in die Nähe des aufgeklärtkonservativen Bürgertums gerückt – macht Schwierigkeiten, wie besonders Preisners
Interpretation zeigt.
Für Berghaus 1982 sind eine Reihe von Lücken in der Kenntnis der Sozialisation zu
schließen, u. a. seien Untersuchungen notwendig zur gesellschaftlichen Erlebniswelt
und sozialen Anschauungen der aufstrebenden Juristenschicht, zu Bildung und
Ausbildung (zu einem Teilaspekt vgl. Neuber), zur Wiener Salon- und Kaffeehauskultur
und deren politisch-gesellschaftlicher Struktur, zu Nestroys früherem Freundeskreis (S.
5). Er stellt dazu einige spekulative, vielleicht aber doch weiterführende
Überlegungen an (z. B. mögliche Begegnung Nestroys mit der Sozialethik B. Bolzanos,
die seine Schicksalsphilosophie und sozialen Standpunkt verändert haben könnte).
Nach Berghaus 1977 geriet Nestroys ganzheitliche, dem barocken Ordo-Gedanken
verpflichtete Weltauffassung in den 30er Jahren mit dem kapitalistischen Durchbruch
ins Wanken. Die Position zwischen den beiden Zeitaltern bewirke eine Zerrissenheit,
die sich auch auf das Werk auswirke (vgl. auch Olles). Das dort ausgebreitete
Ideenmaterial lasse sich nicht eindeutig einer dieser beiden Welten zuordnen. Er
diagnostizierte die Unmenschlichkeit des Kapitalismus und sehnte sich nach den
vergangenen Zeiten einer geordneten Welt (S. 337). Auf diesem Hintergrund ließen
sich Nestroys Schicksalsphilosophie und die Fortschritts-Skepsis ebenso verstehen wie
die politische oder metaphysische Haltung zur Welt. Berghaus spricht von
Konservativer Ontologie (vgl. auch Preisner): Wo der Politiker Nestroy mit
schonungsloser Härte analysierte, ontologisierte der Metaphysiker die bestehende
Ungerechtigkeit [...] (S. 340). Nach 1848 habe der Fatalismus die Oberhand
gewonnen, der sich in Resignation und Pessimismus auf humanistischer Grundlage
ausdrücke, niemals aber als Nihilismus.
Im Zusammenhang solcher Zuschreibungen, ideen- und stilgeschichtlicher Fragen
sowie der Perspektiven des Wirklichkeitsbezuges und der Satire werden u.a. folgende
Positionen Nestroys betont: Nihilismus (Höllerer, Preisendanz, Hannemann, Preisner
u.a., dagegen: Sengle), Skeptizismus (Corriher); die pessimistische Weltsicht des an
die Unverbesserlichkeit des Menschen glaubenden Satirikers wird in den meisten
Arbeiten konstatiert, ebenso die Implikationen des Schicksalsbegriffs, dem mit der
Ratio nicht beizukommen ist (vgl. Kuhn, Corriher u. a.). Kuhn arbeitet die
verschiedenen Perspektiven der Weltbetrachtung heraus, für Corriher ist der
skeptische Rationalismus Antwort auf eine von macht- und Sinnlosigkeit geprägte
Lebenserfahrung. In der Freiheit des Geistes gelinge die Bewahrung der Identität und
der Schutz vor den verschlingenden Kräften von Zeit, Schicksal und Tod. Die
Possenhelden agieren komplementär zu dem Nestroy nachgesagten Verhalten im
Alltag; sie erkennen die Fremdbestimmung, durchschauen die Hoffnung als Illusion,
setzen sie aber als Überlebenstechnik gegen die Verzweiflung ein. Allein der
Verstand garantiere Bestand und Leben des selbstgewissen Ich, meint Corriher.
Sengle sieht hinter der satirischen Negation ein positives Wertsystem, das sich in
sozialer Haltung, Humanismus artikuliere, letzterer basiere freilich weniger auf
christlich-religiöser Grundlage. Nestroys Atheismus sei kein moderner sondern hänge –
wie die Skepsis – mit der Witz- und Spielkultur des 18. Jahrhunderts zusammen.
Die Suche nach weiteren Klammern zwischen Stil- und Geistesgeschichte,
Persönlichkeit und Rollenaussagen muß weitergehen, z. B. in der Frage nach Nestroys
Verhältnis zum Volk, auf dessen Seite er stand, das er aber nicht verklärte, sondern
mit Skepsis betrachtete. Seine Reflexion sozialen und politischen Wandels ist
vielschichtig, sein Werk ist mehr als eine Quelle für den Historiker, es ist selbst
historische Analyse einer Epoche des Umbruchs, deren Dialektik nur von wenigen so
verstanden wurde wie von ihm. Er erkannte den durch die Niederwerfung der
Revolution 1848 reduzierten Fortschrittsbegriff des Bürgertums, das die historische
Chance seiner Emanzipation versäumt hatte, auf den materiellen, ökonomischen
und technischen Aspekt. Nestroy sah solchen Fortschritt, die Zerstörung der Natur und
Menschennatur, mit einer auf Wittgenstein vorausweisenden Skepsis (vgl. Barker,
Häusler 1989). In dieses Bild paßt die theatralische Bestandsaufnahme der sozialen
Veränderungen in der Posse (Darstellung von Elend und Proletarisierung, Genußsucht
und primitive Lebenslust, das rücksichtslose Tempo der neuen Zeit; vgl. Leib, Häusler,
Berghaus) und die Spiegelung von Emanzipationsbestrebungen (vgl. Berghaus, Neck,
Rett, Yates). Zwar lassen sich nach Berghaus 1985 die Figuren der Frühzeit in ein
soziologischen Klassenschema einordnen, doch habe Nestroy dramaturgisch nur mit
dem Gegensatz von Arm und Reich gearbeitet mit positivem Akzent auf den
Unterprivilegierten, später (z. B. im Schützling) stelle er den antagonistischen
Klassenwiderspruch zwischen Arbeitern und Kapitalisten dar. In den Stücken der
mittleren Phase falle die unrealistische Darstellung des Elends der Unterschichten auf.
Nestroy entwickele Problembewußtsein, werde realistischer versuche die Kleinbürger
von falschen Illusionen zu befreien; die Ausbruchsversuche der Figuren der frühen
vierziger Jahre mit ihren phantastischen Aufstiegswünschen erhielten einen
tragischen Zug. (Zur Gesellschaftskritik vgl. Kap. V. 4.) In den Possen im Umkreis der
Revolution läßt er keinen Zweifel, daß er die gesellschaftlichen Veränderungen
befürwortet, aber er sieht seine Kritik am unfähigen Bürgertum bestätigt, das nicht in
der Lage war, ein zum Wandel führendes politisches Bewußtsein (Wir sind das Volk) zu
entwickeln. Satirisch geißelt er jene Revolutionäre, die das Geschehen in einem Ulk,
Freiheitspathos in lächerliche Phrasendrescherei verkommen ließen (vgl. u. a.
Berghaus, Häusler, Rett, Schmieder).
Nestroys schwankender Heroismus wird von v. Matt charakterisiert. Er habe wie Heine
keine Neigung zum politischen Märtyrertum gehabt, mehr habe ihm am persönlichen
Wohlergehen und an Theatergeschäften gelegen. Nestroy sicherte sich ab, er
lieferte den politischen Funktionären die eindimensionalen Sätze innerhalb
vielschichtiger Gebilde, besonders nach 1848 (vgl. S. 22-24). Ein prägender Zug dieser
Vielschichtigkeit, hinter der die Person Nestroy schwer auszumachen ist, ist der sich
verstärkende Schicksals-Pessimismus, der einerseits satirisch die Unveränderbarkeit
des Menschen und des Sozialen hervorhebt, andererseits Werte des Herzens und
humanistische Positionen in reflektierter Skepsis und persönlichen Charakterzügen
haben wir auch Nestroys Selbstverständnis als Autor zu suchen. Daß er sein Handwerk
verstand, zeigen Blicke in die dramatische Werkstatt, die planende Komisierung und
Sprachkunst. Ebenso wissen wir, daß er sich den Spielregeln des Theatergeschäfts zu
unterwerfen hatte (vgl. Rollen-Aussagen des Dichters Leicht in Weder Lorbeerbaum
[...], ferner in Der Talisman, Theaterg’schichten u. a.) und auf Erfolg hin arbeitete
unter den institutionellen Bedingungen (vgl. Kap. III. 1.). Vielleicht war ihm seine
Genialität unbewußt, die sich u. a. in der Dialektik von Absicht und Absichtslosigkeit,
von Naivität und Reflexion im Werk zeigt (vgl. Brill, S. 204).
zit. n. www.nestroy.at
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