GESTALTEN DER KRAFT-DYNAMIK (FORCE-DYNAMIC GESTALTS) IN NATURWISSENSCHAFTEN Vorlesung 2 zu Metaphern in Natur und Technik Schneemänner und Drachen. Figurative Strukturen von Phänomenen wie Wärme, Fluide, Elektrizität, chemische Prozesse, Bewegung. Differenzierung der Aspekte. Struktur des Aspekts der Menge, Struktur des Aspekts der Intensität (Skala und Vertikalität, Adjektive und assoziierte Nomen), duale Metaphern als Beziehung zwischen Menge und Intensität. Struktur des Aspekts der Kraft (Macht), Beziehung zur Kausalität. Analogie. Talmy’s force-dynamic schemas (resistance, enabling), Schema der Balance (Gleichgewicht). Konzeptuelle Strukturen in Alltagssprache und formaler Wissenschaft. Wissenschaften gelten oft als die klarsten Beispiele der Verwendung von wörtlicher (buchstäblicher) Sprache zur Darstellung von objektiver Wahrheit. Wir sehen im Folgenden, dass die gleichen figurativen Strukturen, die wir bei anderen Phänomenen und Konzepten identifizieren, auch in den Wissenschaften auftreten und ein eigentliches Verstehen ermöglichen. Der fünfjährige Alex erklärt seiner Grossmutter, was Kälte und Wärme sind (Sassy, 2006). Kälte ist ein Schneemann. Wenn er einen umarmt, kann man krank werden. Als die Grossmutter einen grossen Schneemann bauen will, sagt Alex, ein kleinerer sei besser. Der grosse wäre viel kälter und könnte ihn so krank machen, dass er sterben würde. Wärme ist ein Drachen, der einen brennen kann. Mit einem kleinen Drachen kann mal spielen, aber einer grosser kann einem töten. Die grundlegenden Phänomene, die mit Fluiden, Wärme, Elektrizität, chemischen Stoffen und Bewegung zu tun haben, werden als Kraft-Dynamik Gestalten (force-dynamic gestalts) wahrgenommen. Bewusst oder unbewusst gibt man ihnen die Aspekte der Substanz oder Menge, der Intensität oder Qualität und der Kraft (Macht). Als Beispiel: man spricht von mehr oder weniger Wärme, der Temperatur als Intensität der Wärme, und von der Kraft der Wärme (Wärmekraftmaschienen). Im Alltag differenziert man die Aspekte der Gestalt dieser Phänomene nicht oder nur schwach. Wörter für die verschiedenen Aspekte werden (teilweise) gleichbedeutend verwendet. Für die Entwicklung eines tieferen Verständnisses oder gar einer formalen Wissenschaft ist die bewusste Differenzierung der Aspekte einer Kraft-Dynamik Gestalt wichtig. Kann man das, hat man viel für das Verständnis der Beschreibung und Erklärung natürlicher Phänomene gewonnen, und man ist auch für eine quantitative mathematische Beschreibung vorbereitet (umgekehrt hilft – ein bisschen – Mathematik auch, diese Differenzierung zu erreichen). Force-Dynamic Gestalts in Science Aspekt der Substanz oder Menge. Sowohl in der Alltagssprache als auch in der formalen Wissenschaft spricht man über Fluiden, Elektrizität, Wärme, Stoffen und Bewegung auf eine Weise, die die Übertragung eines Schemas der (fluiden) SUBSTANZ auf diese Phänomene sichtbar macht (wenig Wärme, viel Schwung, Elektrizität fliesst, Wärme wird erzeugt, etc.). Zusätzlich werden andere Schemas gebraucht, wie z.B. CONTAINMENT, IN-OUT, BECOMING. Aspekt der Intensität oder Qualität. Wir verbinden mit den genannten Phänomenen ein SkalenSchema (SCALE), das durch Adjektive ausgedrückt wird (stark-schwach, warm-kalt, schnelllangsam). Die Konzepte, die mit diesen Skalen beschrieben werden, entsprechen mythischen Polaritäten (bei Licht und Schall kann man noch hell-dunkel und laut-leise dazu nehmen). Zusätzlich werden für die Konzepte Nomen eingeführt (Druck, elektrisches Potential, Temperatur, chemisches Potential, Schnelligkeit, Helligkeit, Lautstärke). Diese Konzepte werden durch das Schema der VERTIKALITÄT metaphorisch strukturiert (HOCH-TIEF). Diese Strukturen sieht man sowohl in der Wissenschaft als auch in der Alltagssprache. Duale Metaphern für natürliche Phänomene. Wenn man das Schema der Substanz benutzt (z.B. Wärme als Menge), dann ist die Substanz die Figur, die in Körper (Grund) hinein und aus ihnen heraus geht. Das Schema der Skala oder Vertikalität macht Körper zu Figuren, die sich vor dem Grund (eine durch warm-kalt oder Temperatur gebildete “Landschaft”) bewegt. Also erscheinen die beiden grundlegenden Konzeptualisierungen (durch Substanz und durch Intensität) durch Figur-Grund-Umkehr auseinander hervor zu gehen. Zusätzlich kreiert die Metapher MORE IS UP eine weitere Beziehung zwischen den beiden Konzeptualisierungen, die uns im Alltag veranlasst, diese beiden Aspekte nicht klar zu trennen. Aspekt der Kraft oder Macht. Ein Phänomen wird als kraftvoll oder “mächtig” gesehen, da es einen Einfluss auf andere Erscheinungen hat. Damit wird die Projektion von Schemas der KRAFT dazu benutzt, Kausalität zu konzeptualisieren. Da die “Kraft” eines Phänomens mit der Menge und der Intensität steigt, ist das in den Naturwissenschaften gebräuchliche Konzept der Energie oder Leistung ein Mass für Kraft oder Macht. Analogie. Da die gleichen grundsätzlichen Schemas metaphorisch auf die verschiedenen Phänomene projiziert werden, erscheinen diese einander ähnlich. Diese Ähnlichkeit wird für die Konstruktion analoger Beziehungen benutzt. Diese Beziehungen sind gegenseitig, allerdings nicht vollständig. Da die projizierten Schemas am direktesten mit dem Phänomen der Fluide in Beziehung stehen, verwendet man am Leichtesten Fluide, um andere Phänomene zu verstehen. Force-dynamic schemas. Die in der kognitiven Linguistik identifizierten Schemas der force-dynamics (Talmy) werden – vermutlich in einem Vorgang der konzeptuellen Integration (blending) werden Konzepte durch Vorstellungen von Widerstand und Balance (Gleichgewicht) erweitert. Die konzeptuellen Strukturen, die man in Alltag und Wissenschaft zur Beschreibung der Phänomene wie Elektrizität, Wärme, etc. findet, sind sich sehr ähnlich. Dies widerspricht gängigen Fuchs: Metaphern in Natur und Technik 2 Force-Dynamic Gestalts in Science Vorstellungen vom Unterschied zwischen Alltagsvorstellungen und formaler Wissenschaft. Die gängigen Vorstellungen verleiten uns dazu, die Notwendigkeit grundsätzlicher konzeptueller Änderungen für jemanden zu postulieren, der eine Wissenschaft lernen will. In der hier entwikkelten Sicht ist der Unterschied zwischen Alltagsvorstellungen und Wissenschaft anders zu interpretieren. 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