Coquelico

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 Coquelicot Liebe Liese Als Kind liebte ich den Sommer. Nicht nur wegen der Heuhaufen, die auf den Wiesen standen und in denen es sich herrlich Verstecken spielen liess. Nicht nur wegen der himmlisch duften-­‐
den Beeren, die in Körben in der Küche darauf warteten, von unseren Müttern zu köstlichen Marmeladen verarbeitet zu werden. Den Sommer liebte ich ganz besonders der Farben we-­‐
gen: Die sandbeigen Weizenfelder, die von feuerroten Mohnblüten und nachtblauen Kornblu-­‐
men durchflutet waren. Und mit unserer Kindheit verschwand der Mohn aus den Feldern und von den Wegrändern. Doch nun scheint er da und dort aufzuerstehen. Rotblinde Bienen In der Provence in der Nähe von Murs habe ich an einem trüben Tag wandernd gleich mehrere Klatschmohnfelder entdeckt. Nur hie und da hat die Sonne die Wolken durch-­‐
brochen. Aber dann, liebe Liese, dann leuchteten die Mohn-­‐
blüten auf, gleich einem Brand, gleich einem Feuer. Ich blieb stehen, musste dieses Aufglühen betrachten. Es sind nicht nur die auffällig grossen Blüten, nein, es ist dieses einmalig klare Rot, das sonst kaum in der Natur zu finden ist, das mich innehalten liess. Du findest bei Blüten wild wachsender Pflanzen alle Schattierungen von Rot. Vom zartestem, hell-­‐
stem Rosa bis hin zum kräftig tiefem Rotviolett, hingegen selten ein solches Rot. Das überrascht eigentlich nicht, kön-­‐
nen die Bienen ein reines Rot doch gar nicht sehen! Überdies besitzt die Mohnblüte weder Duft noch Nektar. Ja, jetzt fragst du dich sicherlich, wie die Bienen diese Blüten überhaupt fin-­‐
den! Nun, man vermutet, dass Bienen das von den seidig glänzenden Mohnblüten zurückge-­‐
spiegelte, ultraviolette Licht wahrnehmen. Ist es dieses Leuchten, Strahlen, das selbst uns auf-­‐
fällt? Mohnblüten, Mohnfelder – sie wurden von unzähligen Künstlern auf Leinwand und Pa-­‐
pier gebannt. Sie tauchen auch in den Werken von Claude Monet und Vincent Van Gogh, die-­‐
sen grossartigen Impressionisten, immer wieder auf. Just an jenem Wandertag in der Provence habe ich selbst bei einer Künstlerin in Gordes zwei kleine Aquarelle mit Klatschmohnblüten – Coquelicots – erstanden. Von der Knospe bis zur reifen Frucht Der dünne, abstehend behaarte und kaum beblätterte Stängel des Klatschmohns steht aufrecht. Zuoberst aber neigt er sich, mit einer einzigen, länglichen Blütenknospe behangen, dem Boden zu. Diese ist von zwei grünen, ebenfalls behaarten Kelchblättern umschlossen. Sie birgt vier, wohl tausendmal zusammen gefältelte Blütenblätter. Dann ist’s soweit: Der Blütenstängel richtet sich auf, in-­‐
dessen die beiden Kelchblätter aufplatzen, sich teilen und bald abfallen, die seidendünnen, zerknitterten Blütenblätter freige-­‐
bend, die sich nun mehr und mehr entfalten und glätten. Bald siehst du ein kugeliges, gerilltes Ding, den Fruchtknoten in ihrer Mitte auftauchen, darum herum zahlreiche, dunkle Staubblätter. Bereits bevor sich die Blüte ganz geöffnet hat, setzen sich schwarz glänzende Blütenkäferchen in ihren roten Schoss. Die Staubblätter sind über und über mit grünschwarzen Pollen ge-­‐
pudert. Ja, sie bringen so viel Pollen hervor, das selbst Windbe-­‐
stäubung möglich ist. Die etwa zehn grünlichen Rillen des Fruchtknotens – die Narben – färben sich dunkler. Sie sind strah-­‐
lenförmig angeordnet und liegen auf einer Scheibe, die ein wenig über den darunter liegenden knolligen Teil hinaus ragen. Hier tummeln sich Bienen und Käfer, die sich an der Pollenfülle güt-­‐
lich tun. Obwohl die Blüte selbststeril ist, also Pollen einer ande-­‐
ren Blüte brauchen, ist die Bestäubung bald vollendet. Jetzt fal-­‐
len die Blütenblätter ab, der Fruchtknoten reift zur Sa-­‐
menkapsel heran. Zuerst noch grün, bald braun und dörr hängt sie im Wind. Wenn du sie schüttelst, so hörst du ein feines Rasseln: Es sind winzige, federleich-­‐
te Samen. Aus kleinsten Öffnungen, die gleich unter dem Narbendach liegen, werden sie durch den Wind hinausgeblasen. Sie fliegen weit, vier Meter oder mehr. Zwei Dinge noch: Der Stängel, die fiederteiligen Blätter und die noch grüne Kapsel enthalten einen weissen Milchsaft, der austritt, wenn sie verletzt werden. Und die Wurzel reicht etwa einen Meter tief in den Boden. Der Klatschmohn und seine Geschwister Der Klatschmohn liebt nährstoffreiche, sonnen-­‐
beschiene Böden und gedeiht an Stellen, wo der Boden frisch aufgebrochen ist. Ich habe ihn in Raps-­‐ und Getreidefeldern und an Wegrändern angetroffen. Er blüht dort von Mai bis Septem-­‐
ber. Doch bevor ich dir mehr über den Klatsch-­‐
mohn, Papaver rhoeas mit wissenschaftlichem Namen, berichte, muss ich dir seine beiden für uns wichtigsten Geschwister vorstellen: Da ist einmal der Saatmohn, Papaver dubium. Ihn er-­‐
kennst du leicht an seiner mehr ins Orange gehenden Blütenfarbe. Vier bis acht Narben sitzen auf einem keulenförmigen Fruchknoten – beim Klatschmohn ist dieser verkehrt eiförmig. Sein Milchsaft schliesslich ist gelborange. Der Name „Saat“-­‐Mohn täuscht – es ist der Klatschmohn, den du vorwiegend in den Äckern findest – nein, der Saatmohn bevorzugt warme Schutthügel und Wegränder, wo er von Mai bis Juli blüht. Der berüchtigte Schlafmohn, Papaver somni-­‐
ferum, triffst du sowohl in Gärten wie verwildert auf Schuttplätzen an. Seine Blütenblätter sind lila oder weiss, selten rot, aber immer mit einem auffällig dunklen Fleck zur Blütenmitte hin. Die Anzahl der Narbenstrahlen variiert von fünf bis zwölf, seine Kapsel ist kugelig, seine Staub-­‐
beutel sind dunkelviolett. Sein weisser Milchsaft enthält – nebst vielen weiteren – die bekann-­‐
ten Alkaloide Morphin und Codein, jedoch nicht seine Samen, die essbar sind. Von den Ursprüngen und Verbreitung des Mohns Das grosse Nachschlagwerk über die Schweizer Flora gibt an, dass das Herkunftsgebiet des Klatschmohns das Mittelmeergebiet, jenes des Saatmohns zusätz-­‐
lich Westeuropa sei. Hingegen kenne man die Her-­‐
kunft des Schlafmohns nicht. Andere Quellen geben an, dass diese Mohnarten seit der Jungsteinzeit, also seit etwa 8'000 Jahren bekannt seien. Fest steht, dass der Klatschmohn sich als Ackerunkraut mit dem Getreideanbau weltweit verbreitet hat, wie die al-­‐
ten Namen Feldmohn, Kornrose und Kornmohn bezeugen. Er ist also ein Kulturbegleiter, wäh-­‐
rend der Schlafmohn zu den wichtigsten und ältesten Kulturpflanzen überhaupt gehört. So ha-­‐
ben Funde von Pflanzenresten bei den Pfahlbauten in ganz Europa– so auch in „Robenhausen“ beim Pfäffikersee – gezeigt, dass nebst Gerste, Nacktweizen, Emmer, Einkorn und Flachs Schlafmohn angebaut wurde. Seine ölhaltigen Samen, die leicht nussartig schmecken, waren ein wichtiges Nahrungsmittel. Sehr wahrscheinlich wurde zudem der opiumhaltige Milchsaft zu medizinischen Zwecken genutzt. Schlafmohn wurde also seit jeher angepflanzt, kultiviert und weitergezüchtet, sodass es heute zahlreiche Varietäten gibt. Du findest Schlafmohn mit ver-­‐
schiedenster Blütenfarbe, von dunkelviolett bis reinweiss, mit verschiedenfarbigen Samen, weissen, grauen, blauen, schwarzen oder ockerfarbenen. Es gibt sogar Sorten, bei welchen die Kapseln keine Öffnungen mehr aufweisen, was für die Ernte der Samen natürlich sehr prak-­‐
tisch ist. Weshalb jedoch bei den Getreide und eben Schlafmohn anbauenden Pfahlbauern in Mitteleuropa Funde von Klatschmohn fehlen, ist ein Rätsel. Ebenso mysteriös scheint es, dass zwar im Alten Ägypten Klatschmohn bekannt war – es wurde eine wunderschöne Klatschohn-­‐
Blumengirlande bei einer weiblichen Mumie gefunden – es hier und in jener Zeit dagegen kei-­‐
ne Hinweise für das Vorkommen von Schlafmohn gibt! Doch warum ist bei uns der Klatschmohn weitge-­‐
hend aus den Feldern verschwunden und taucht jetzt hie und da wieder auf? Zum einen konnte das Saatgut immer besser gereinigt werden, ist al-­‐
so frei von den Samen der Ackerunkräuter. Den Garaus machte ihm aber der Einsatz von Pestizi-­‐
den und mineralischer Düngemitteln. Seit etwa zehn Jahren wird in der Schweiz mässig erfolg-­‐
reich mit Hilfe von Ökobeiträgen die ursprüngliche Ackerbegleitflora aktiv gefördert. Dabei wird in Äckern mit Getreide, Raps oder Sonnenblumen auf einem mehrere Meter breiten so-­‐
genannten Ackerschonstreifen Samen von Ackerunkräutern eingebracht. Diese Streifen dürfen selbstverständlich weder mit Pestiziden noch mit mineralischem Dünger behandelt werden. Klatschmohn als Heil-­‐ und Nutzpflanze Bereits im antiken Griechenland wurde Klatschmohn als leichtes Be-­‐
ruhigungsmittel und als Zugabe zu Hustenmischungen gebraucht. Am Ende des Mittelalters wurden praktisch alle Pflanzenteile „bei-­‐
der Klapperrosen“, also Klasch-­‐ wie Saatmohn, gegen vielerlei Ge-­‐
brechen beschrieben: Der Blütensirup bei Seitenstechen, Fieber, Le-­‐
berbeschwerden, Husten und – äusserlich! – bei Kopfschmerzen. Die in Wein gesottenen Kapseln förderten den Schlaf, der zerstos-­‐
sene und mit Honig vermischte Samen half bei Bauchkrämpfen. Fri-­‐
sche oder getrocknete Wurzeln oder Blätter als Tee zubereitet lin-­‐
derten Schmerzen, Fieber und Entzündungen des Halses. Frische, zerquetschte Blätter wurden auf Wunden und Geschwüre aufgelegt. Eigentlich erstaunlich, dass der Klatschmohn zumindest im deutsch-­‐
sprachigen Raum in der Naturheilkunde kaum noch eine Rolle spielt. Allenfalls werden die ge-­‐
trockneten Blätter als Farbtupfer zu Teemischungen zugefügt. Ganz anders in Frankreich! Dort wird der Tee aus den Blütenblättern des Coquelicot als mildes Beruhigungsmittel, bei Husten und Halsschmerzen, vor allem für kleine Kinder, gepriesen. Ja selbst seine Samen werden für Patisserie und zur Aromatisierung von Gebäck verwendet. Ein wundervoll aromatischer, pro-­‐
venzalischer Likör, der Gau Galin, wird aus den roten Blütenblättern des Klatschmohns und den Samen des Schlafmohns hergestellt. Gau Galin ist das provenzalische Wort für Klatsch-­‐
mohn und bedeutet wörtlich: „Huhn, das den Ruf des Hahns nachahmt“. Der Schlafmohn als Heilpflanze ... Der weisse Mohnsaft des Schlafmohns enthält etwa vierzig Alkaloide. Die wichtigsten beiden, Morphin und Codein, habe ich dir bereits genannt. Zur Ge-­‐
winnung von Rohopium werden die noch grünen Kapseln am Abend mit einem mehrklingigen Messer sorgfältig angeritzt. Der Milchsaft tritt aus, verfärbt sich und trocknet ein. Am darauf folgenden Tag wird er behutsam abgeschabt. Diese Prozedur wird mehrmals wiederholt. Von einer einzigen Kapsel gewinnt man so höchstens 0.05 Gramm Rohopium. Du kannst dir nun leicht ausrechnen, dass es etwa 20'000 Mohnkapseln braucht, um nur ein einziges Kilogramm Rohopium zu gewinnen. Opium ist ein starkes Schmerz-­‐ und Schlafmittel. Bereits in 6'000 Jahre alten Keilschriften wurde die Herstellung von heilenden, betäubenden und hustenstillenden Anwendungen des Schlafmohns beschrieben. Nannten ihn die Sumerer deshalb „Pflanze der Freude“? Im antiken Griechenland war die Mohnkapsel ein Sinnbild des Hypnos, des Gottes des Schlafes, und seines Zwillingsbruders, Thanatos, des Got-­‐
tes des Todes, sowie ihrer beider Mutter, Nys, der Göttin der Nacht. ... und als Nahrungsmittel Jede Kapsel des Schlafmohns enthält unzählige essbare Mohnsa-­‐
men. Sie sind überaus reich an mehrfach ungesättigten Fettsäuren, gehören zu den kalziumreichsten Nahrungsmitteln und enthalten überdies viele B-­‐Vitamine. Wie gesagt gehört der Mohn zu den äl-­‐
testen und wichtigsten Kulturpflanzen. Mohnsamen als Zutat zu Gebäck und das aus Mohnsamen gewonnene, kaltgepresste Mohnöl waren bereits in der Antike bekannt. Ja, bei der vorhin ge-­‐
nannten Fundstätte am Pfäffikersee fand sich ein zusammengeba-­‐
ckener Mohnkuchen. Doch ob es tatsächlich ein Mohngebäck oder allenfalls einem Feuer zum Opfer gefallener Vorrat von Mohnsa-­‐
men war, darüber kann nur spekuliert werden. Im antiken Griechenland war der Mohn wegen seiner auffälligen Blüte Sinnbild der Schönheit und wegen seines Samenreichtums Sinnbild der Fruchtbarkeit. So war er der Erdgöttin Demeter geweiht, welche den Feldern ihre Fruchtbar-­‐
keit schenkte. In Abbildungen wurde sie mit einem Büschel Ähren und mit Mohnblüten ge-­‐
kränzt dargestellt. In der Schweiz wurde Schlafmohn zur Gewinnung von Mohnöl bis in die 40er-­‐Jahre angebaut. In Österreich jedoch ist der Anbau des „Waldviertel Graumohns“ legen-­‐
där. Ebenso bedeutend sind die österreichischen Mohnspezialitäten von Mohnstrudel bis zu Germknödel, die wiederum alle ihren Ursprung im Orient haben. Der Blaumohn, den du bei uns erhältst, stammt aus der Türkei, Tschechien, Ungarn oder Australien. In Indien und der Türkei wird der Schlafmohn legal zur Gewinnung von – medizinischem – Opium angebaut, in Afghanistan und Südostasien illegal. In Flanderns Fields Ach, liebe Liese, wie Vieles hätte ich dir noch schreiben mögen! Dass der Klatschmohn Sinnbild der gefallenen Soldaten des ers-­‐
ten Weltkrieges ist, weil auf den Schlachtfeldern zuerst der leuch-­‐
tend rote Mohn blühte. Dass das bulgarische Wort für Klatsch-­‐
mohn „Bulka“ gleichzeitig Braut bedeutet. Dass antike Süssspei-­‐
sen oft mit Mohn und Honig gefüllt waren und deshalb vielleicht eine Vorform der heute bekannten Baklava sind. Und zuletzt hät-­‐
te ich dir gerne die Sage der Demeter erzählt, die, um ihren toten Geliebten Mekon trauernd, diesen in eine Mohnblume verwandelte. Mekon ist gleichsam das altgriechische Wort für Schlafmohn. Du siehst, wie der Mohn einen Reigen beschreibt – Tod, Hoffnung, Leben in Fülle, Sterben und Wandlung – ein Reigen, der wohl niemals endet. Verena Quellen: Konrad Lauber, Gerhart Wagner „Flora Hel-­‐
vetica“; Hellmut Bauman „Flora Mythologica, Griechi-­‐
sche Pflanzenwelt der Antike“; Wolfgang Schmid-­‐
bauer, Jürgen Bom Scheidt „Handbuch der Rausch-­‐
drogen“; C.Hartwich, „Über Papaver somniferum und speziell dessen in den Pfahlbauten vorkommende Res-­‐
te“, Schweizerische Wochenschrift für Chemie und Pharmacie, 1899; www.jungsteinsite.de (das Neoli-­‐
thikum in der Schweiz); www.theoi.com (Griechische Mythologie); www.schweizerbauer.ch „Lebensraum Ackerschonstreifen: die unterschätzte Ökofläche“; www.uni-­‐graz.at (Gernot Katzers Gewürzseiten); www.herboristerie-­‐grenoble.fr . 
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