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WILHELM VON STERNBURG
Lion Feuchtwanger
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WILHELM
VON STERNBURG
Lion
Feuchtwanger
Die Biographie
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Mit 24 Abbildungen
Überarbeitete und erweiterte Neuausgabe
der 1984 erstmals erschienenen Biographie
Lion Feuchtwanger. Ein deutsches Schriftstellerleben
von Wilhelm von Sternburg
ISBN 978-3-351-03275-3
Aufbau ist eine Marke der Aufbau Verlag GmbH & Co. KG
1. Auflage 2014
© Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin 2014
Einbandgestaltung hißmann, heilmann, Hamburg
Satz und Reproduktion LVD GmbH, Berlin
Druck und Binden CPI – Clausen & Bosse, Leck
Printed in Germany
www.aufbau-verlag.de
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Für meinen Sohn Maximilian
1977 – 2013
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INHALT
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Kapitel 1: Sie waren ausgesprochene Bajuwaren. Herkunft
und Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15
Kapitel 2: In der Früh nicht in der Synagoge gewesen, zur größten Verstimmung Papas. Kindheit und Jugend . . . . . . . . 24
Kapitel 3: In meiner Ästhetik hab’ ich mir eine feste Burg gebaut. Literarische Anfänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33
Kapitel 4: Mein Hirn denkt kosmopolitisch, mein Herz schlägt
jüdisch. Feuchtwangers Judentum . . . . . . . . . . . . . . . . . 49
Kapitel 5: Was nicht literarische, musikalische und theatralische Dinge berührt, kümmert uns nicht. Bohemien in
München . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63
Kapitel 6: Sie liebt das Gutbürgerliche, den Sonntag, den Bratenrock. Frühe Veröffentlichungen. . . . . . . . . . . . . . . . . 73
Kapitel 7: Die mit feinstem Ohr Hörenden unter meinen Kritikern in Annahme und Ablehnung waren Frauen. Ein erotisches Dichterleben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83
Kapitel 8: Dieser Bau ist das stolzeste und mächtigste Theater,
das meine armen Augen je gesehen. Vagabundenjahre: Die
Reise in den Süden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97
Kapitel 9: Staub stopft und Erde uns den Mund. Kriegsjahre
in München . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112
Kapitel 10: Ein jedes war irgendwann verboten. Feuchtwanger als Dramatiker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127
Kapitel 11: Ich kenne ihn gut, diesen Typ des Schriftstellers und
Revolutionärs. Feuchtwanger und die Revolution 1918/19 191
Kapitel 12: Brecht da. Im Grund sehr frech. Freunde und
Weggefährten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209
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Kapitel 13: … gegen Dummheit und Gewalt … Der Meister
des historischen Romans . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Kapitel 14: Der heutige Mensch ist durch den Film rascher
geworden. Die Berliner Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Kapitel 15: Sitze hier augenblicklich gänzlich ohne Geld.
Flucht nach Frankreich. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Kapitel 16: … zu dem man von Herzen ja, ja, ja sagen kann.
Die Reise nach Moskau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Kapitel 17: … was mit mir geschehen wird, liegt gänzlich
im dunkeln … Lagerhaft und Flucht aus Frankreich . . .
Kapitel 18: Im Grunde geht es mir hier nicht schlecht. Exil in
Amerika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Kapitel 19: Eine große Hoffnung auf Befreiung blieb: Amerika.
Revolutionsromane . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Kapitel 20: Überhaupt macht mir der Betrieb hier außerordentlich zu schaffen. Späte Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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ANHANG
Zeittafel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Bildnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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zweifelten Sätze: »Was bleibt? Selbstvernichtung? Ein Leben in
Dämmerung, Beklommenheit und Unfreude …, unfaßlich für
die Erleuchteten oder Seelenhaften, die nur zu wählen haben zwischen grenzenloser Einsamkeit und aussichtslosem Kampf –? Es
ist besser, nicht daran zu denken.«78
Nicht wenige unter ihnen ließen sich taufen. Aber das blieb
meist ein formaler Akt. Und besonders die sensiblen intellektuellen Juden erkannten die Doppelbödigkeit dieses Schrittes. Kurt
Tucholsky schrieb am 15. Dezember 1935, wenige Stunden vor
seinem Tod, an den in Palästina lebenden Schriftsteller Arnold
Zweig: »Ich bin im Jahre 1911 ›aus dem Judentum ausgetreten‹,
und ich weiß, daß man das gar nicht kann.«79
Andere wie Karl Marx, Karl Kraus oder Otto Weininger entwickelten aus dieser Not einen »Selbsthass«, der ihre Werke, noch
mehr ihre persönlichen Äußerungen über das Judentum kennzeichnet. Viele antworteten auf die antisemitische Herausforderung dagegen mit einem bewussten Bekenntnis. Der berühmte
Theaterkritiker Alfred Kerr ließ nie einen Zweifel daran, dass er
»die Herkunft von diesem Fabelvolk immer als etwas Beglückendes gefühlt« hat.80 Der Schriftsteller Joseph Roth, assimilierter
Jude aus Galizien, stand seinem Judentum ambivalent gegenüber.
Mit liebevoller Ironie schreibt er 1927 in seinem Buchessay »Die
Juden auf Wanderschaft«, in dem er ein hohes Lied auf das Ostjudentum anstimmt: »Ich sehe, daß man nicht umsonst 4000 Jahre
Jude gewesen ist, nichts als Jude. Man hat ein altes Schicksal, ein
altes, gleichsam erfahrenes Blut. Man ist ein geistiger Mensch.
Man gehört einem Volk an, das seit 2000 Jahren keinen einzigen
Analphabeten gehabt hat … Während ringsum die andern Bauern erst mühselig zu schreiben und zu lesen anfangen, wälzt der
Jude hinter dem Pflug die Probleme der Relativitätstheorie in seinem Hirn.«81
Nichts deutet darauf hin, dass der Schriftsteller Lion Feuchtwanger jemals einen Glaubensübertritt auch nur gedanklich in
Betracht gezogen hat. Im Gegenteil, er hat sich als Jude gefühlt
und sich immer wieder öffentlich dazu bekannt. Nachdem die
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jugendliche Empörung gegen die Zwänge des orthodoxen Elternhauses einer nüchternen Beurteilung gewichen ist, wird die
jüdische Identität sehr bald stärker empfunden und herausgestellt. Feuchtwanger sollte nicht nur ein deutscher Schriftsteller jüdischer Abstammung werden, sondern wie kaum ein anderer seiner Zeitgenossen, deren Bücher Weltruhm erlangten,
auch und vor allem ein jüdischer Schriftsteller, der in deutscher
Sprache schrieb.
In einer Zeitschriftennotiz zu seinem Roman Jud Süß wird er
1920 festhalten: Ich gebe ohne weiteres zu: mein Hirn denkt kosmopolitisch, mein Herz schlägt jüdisch.82 Feuchtwanger wird diese
geistig-emotionale Konstellation – sein Leben als Weltbürger und
Jude – in den späteren Jahren immer wieder betonen. So antwortet der Moskau-Reisende beispielsweise auf die Festrede eines russischen Schriftstellers während eines Banketts am 5. Januar 1937:
Ich wurde oft gefragt: »Sind Sie ein jüdischer, ein deutscher oder ein
kosmopolitischer Schriftsteller?« Darauf kann ich nur so antworten:
meine Vernunft ist international, aber mein Herz bleibt jüdisch.83 In
seinem 1933 in französischer Sprache veröffentlichten Essay Suisje un écrivain allemand ou international? (Bin ich deutscher oder internationaler Schriftsteller?) hält er fest, er sei weder das eine noch
das andere. Ich fühle mich als internationaler Schriftsteller. Wahrscheinlich sind meine Inhalte mehr jüdisch betont, meine Form mehr
deutsch.84 Weltbürger und Jude – diese für ihn existentielle Perspektive spiegelt sich in vielen seiner Geschichten wider. In den
drei Romanen über den Schriftsteller Flavius Josephus, den Juden
im Dienste der Römer, steht dieser Konflikt, diese Hoffnung im
Mittelpunkt. Der Zentralpunkt dieser Trilogie bildet das Problem:
Jude oder Weltbürger.85 Beides ungefährdet zu sein ist nicht nur im
Zeitalter der römisch-jüdischen Antike unmöglich, sondern auch
in Feuchtwangers Jahrhundert der nationalistischen Ideologien
und des Antisemitismus.
Welche Bedeutung das jüdische Element für sein Werk gewinnen sollte, zeigt bereits die Themenwahl. Drei der sechs Einakter
des noch jugendlichen Autors haben biblische Geschichten zur
Grundlage. Die Doktorarbeit beschäftigt sich nicht nur mit einem
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jüdischen Schriftsteller und einer Geschichte über Juden, sondern sie belegt auch, über welch gründliche Kenntnis jüdischer
Geistesgeschichte ihr Verfasser verfügt. In acht von seinen siebzehn Romanen sind die Hauptfiguren Juden, ist ihr erzähltes
Schicksal stark, wenn nicht entscheidend von ihrem Judentum
bestimmt. In fast allen anderen Romanen spielen jüdische Personen mit oder sind Schilderungen des jüdischen Milieus eingewoben.
Seine Haltung zum Judentum hat Feuchtwanger auch in den
Theaterstücken und in Vorträgen, in drei Aufsätzen und der Satire Gespräche mit dem Ewigen Juden deutlich gemacht. Die vier
umfangreicheren essayistischen Arbeiten sind zwischen 1920 und
1933 entstanden, als der Antisemitismus nationalsozialistischer
Machart sichtbar wird und sich Feuchtwanger vom Zeichen des
Hakenkreuzes politisch wie als Jude herausgefordert fühlt. Vorträge zum Judentum und zum Zionismus fallen vor allem in die
Zeit seines amerikanischen Exils.
Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass Feuchtwangers Judentum in seiner frühen Kindheit verankert ist. Wie exzellent
seine Bibelkenntnisse sind, zeigen die in jedem seiner Romane
auftauchenden Hinweise, Analogien und Querverbindungen zu
Textstellen dieser Schrift, die für Juden und Christen seit Jahrtausenden das Buch der Bücher gewesen ist. Feuchtwanger, sicher einer der belesensten und literarisch gebildetsten Männer seiner
Zeit, hat sich immer wieder geradezu euphorisch über das große
Buch seines Volkes geäußert. Einen Kanon haben wir zusammengestellt aus den Zehntausenden unserer Bücher …, und diese … Bücher haben wir zusammengefaßt zu einem Buch. Aber was für ein
Buch ist das! Das Buch der Bücher! Und wir sind das Volk dieses Buches … Das Buch ist der Inhalt unseres Lebens, es ist unsere Seele und
unser Staat. Unser Gott manifestiert sich nicht in einer Gestalt, er
offenbart sich in Geist, in diesem Buch.86
In seinem Aufsatz Der historische Prozeß der Juden, den er 1930
verfasste, heißt es: Nächst den Chinesen sind die Juden wohl das
literarischste Volk der Welt. Ihre Gruppe war seit zwei Jahrtausenden nicht mehr zusammengehalten durch ein staatliches Gebilde, auch
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der Begriff Rasse war ihnen fremd, sie waren zusammengehalten nur
durch ein Buch, durch die Bibel.87
Aber da spricht nicht nur der Jude, sondern auch der Philologe
und der Schriftsteller, der die Macht der Sprache beschwört und
sie im Namen der Vernunft und der Aufklärung schließlich im
politischen Kampf seiner inhumanen Zeit einsetzt. Das Bekenntnis des Flavius Josephus, als er die aus dem niedergebrannten Jerusalemer Tempel geretteten Thora-Rollen in die neu errichtete
Synagoge Roms trägt – es ist auch das Hohelied des Dichters Lion
Feuchtwanger auf die suggestive, unbesiegbare Kraft des Wortes:
Mit ein paar Buchstaben, durch die Magie des Wortes, besiegen wir
den Tod. In diesen kleinen Rollen haben wir Judäas Leben eingefangen, so daß es nie auslöschen wird. Das Reich Israel konnte untergehen, das Reich Juda, das zweite Reich Judäa, der Tempel: der Geist
der Rollen ist unzerstörbar.88 Die Wirklichkeit wird diese Sätze
bald grausam infrage stellen. Nicht die Macht, sondern die Ohnmacht des Geistes sollte das europäische Judentum in der
schlimmsten Prüfung seiner an Leiden ohnehin schon reichen
Geschichte erleben.
Feuchtwanger beendet den letzten Band seiner Josephus-Trilogie, Der Tag wird kommen, als ihm die Flucht aus dem französischen Internierungslager gelungen ist und er wieder vor einer unbekannten Zukunft steht. Dennoch lauten die letzten Sätze aus
dem Buch über das Leben und Sterben des Flavius Josephus: Der
Tag war da. Es war ein anderer Tag, als er ihn geträumt hatte, aber
er war es zufrieden.89 Die skeptische Zuversicht, die Lion Feuchtwangers Bücher trotz der politisch jahrelang fast hoffnungslosen
Entwicklungen zeigen, haben also auch viel mit seinem Judentum zu tun.
Die Juden sind unter den weißen Völkern das einzige, so schreibt
er in den ersten Wochen seines französischen Exils 1933 selbstbewusst, das alten Kulturbesitz aus sehr frühen Zeiten bis in unsere
Tage in ununterbrochener Tradition, in nie gestörtem Fluß herüberretten konnte. Es ist infolgedessen sehr wahrscheinlich, daß der Sozialismus dieser Menschengruppe, da er zweitausend Jahre älter ist
als der der übrigen Gruppen, weiter fortgeschritten ist auf dem Weg
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von bloßer Einsicht zum Instinkt, daß er in dieser Gruppe tiefer wurzelt als in andern.90
Judentum ist für Lion Feuchtwanger nicht eine Frage der Rasse,
der Nation, des Volkes, sondern einer in Jahrtausenden gewachsenen Geisteshaltung, einer gemeinsame(n) Mentalität. … Es ist
das Einverständnis aller dieser Gruppe Zugehörigen, der consensus
omnium, in allen entscheidenden Problemen. Es ist die Übereinstimmung, das Einverständnis einer dreitausendjährigen Tradition über
das, was gut ist und was schlecht, was Glück und Unglück, wünschenswert und hassenswert, ein Einverständnis in den Elementaranschauungen über Gott und Menschlichkeit.91
Diese »Geisteshaltung« hat Feuchtwangers Zugehörigkeitsgefühl gegenüber dem Judentum jenseits aller intellektuellen Einwürfe mitgeprägt, ihm nicht nur persönliche Kraft, sondern auch
einen über seiner Zeit stehenden »gläubigen« Optimismus geschenkt. Feuchtwanger bleibt zeitlebens ein stolzer Jude: Wo aber
in der Geschichte der neueren Welt gab es eine Gruppe, zahlenmäßig so gering, kaum eine halbe Million Menschen jeweils, die im
Lauf eines einzigen Jahrhunderts der Welt soviel Reichtum an Geist
geschenkt hatte wie im Lauf des neunzehnten diese Gruppe deutscher Juden? Heine und Schnitzler, Mendelssohn, Offenbach und
Mahler, Karl Marx und Sigmund Freud und Albert Einstein, Wassermann und Ehrlich und Hertz und Haber, konnte man die Leistungen dieser Männer aus unserer Zivilisation wegdenken? 92
Die historische Aufgabe der Juden sieht Feuchtwanger – und
hier zeigt er sich stark beeindruckt von den Gedanken Theodor
Lessings und seiner intensiven Beschäftigung mit den frühen Philosophien und Religionen des Ostens, dem Hinduismus und dem
Buddhismus – in der Vermittlerrolle zwischen den Kulturen und
Ideen von Morgen- und Abendland, von Ost und West. Gestellt
zwischen Europa und Asien, ein kleiner Pufferstaat zwischen den
Giganten Babylonien, Assyrien auf der einen, Ägypten auf der anderen Seite, mußte das winzige Volk, wollte es nicht zerrieben werden,
politisch und weltanschaulich immerzu lavieren. … Von Osten her
drang ständig auf sie ein die Lehre von der Notwendigkeit des Nichtwollens, des Nichttuns, des Aufgehens im großen Nichts. Vom Abend57
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land her hämmerte unablässig auf sie ein die Lehre, daß der Mensch
geboren sei zur Tat und zum Kampf.93 Wenig später – im Jahr
1931 – heißt es ganz ähnlich in einem Aufsatz für das Blatt der jüdischen Gemeinde in Berlin: Wir Juden, unter den noch lebenden
Völkern Europas das älteste, seinerzeit im eigenen Land gestellt zwischen Europa und Asien, wir haben vom Westen Aktivität, Tatendurst übernommen, vom Osten die große Friedenslehre, die Sehnsucht nach der Seligkeit des Nichttuns. Wir Juden, die Lockungen
kennend des Krieges und des Friedens, bewandert in der Gewissensschwere des Betrachtenden und der Gewissenslosigkeit des Handelnden, wir Juden scheinen vor den anderen berufen, die Zeit des Friedensmenschen vorzubereiten.94
Aufgrund dieser geschichtlichen Erfahrung, die das Volk der
Juden mit beiden Weltideen konfrontierte, sind sie die gegebenen
Vermittler, um eine Utopie Wirklichkeit werden zu lassen: Die
Welt wird nicht mehr aus zahlreichen Höhlen bestehen, deren Insassen sich gegeneinander absperren und sich gegenseitig belauern,
wie sie sich am erfolgreichsten überfallen können, sondern sie wird
ein großes Hotel sein, in dem eine geeignete Zentralstelle für alle unter den gleichen Bedingungen sorgt.95
Die Mentalität der Juden, die sie dazu befähigt, ihre von
Feuchtwanger so verstandene kosmopolitische Aufgabe zu lösen,
umschreibt der Schriftsteller mit einer kleinen – und berühmten – Anekdote aus dem Talmud, die mehrfach in seinem Werk
auftaucht. Auf die Frage eines Heiden, was denn die Grundlehre des Judentums sei, antwortet Rabbi Hillel: Was du nicht
willst, daß man dir tu, das füg auch keinem andern zu. Das ist alles.96
Das utopische Moment in Feuchtwangers theoretischen Äußerungen zum Judentum wird im erzählerischen Werk erheblich relativiert. Das Leiden und Versagen, das vergebliche Hoffen auf die
Morgenröte der Versöhnung ist ein immer wiederkehrendes Romanmotiv dieses Autors. Der sterbende Flavius Josephus, Jude
zwischen Jerusalem und Rom, zwischen Nationalismus und Weltbürgertum, weiß am Ende seines Weges, als er nach Palästina
heimgekehrt ist, dass sein Traum von einer kosmopolitischen
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Welt verfrüht gewesen ist. Das Land holte ihn, und er suchte es. Er
hatte die Welt gesucht, aber gefunden hatte er nur sein Land; denn
er hatte die Welt zu früh gesucht.97
Auch Jehuda Ibn Esra, der jüdische Ratgeber König Alfonsos,
muss schließlich erleben, wie seine Idee, durch die Schaffung von
Wohlstand und Sicherheit in Spanien den Frieden zwischen Moslems, Christen und Juden zu erhalten, auf dem Schlachtfeld zerbricht. Aber wie die Josephus-Trilogie das »Prinzip Hoffnung« aufrechterhält – »zu früh« verheißt ein Später –, so wird auch in der
Jüdin von Toledo der große Gedanke des Buches, eine Unze Frieden ist mehr wert als eine Tonne Sieg 98, vom geschlagenen und aller Illusionen beraubten Alfonso in seiner tieferen Wahrheit
schließlich erkannt und gelebt. Ich habe versucht, in meinen Büchern »Jud Süß« und »Der jüdische Krieg« den Weg von Juden aufzuzeigen, die von (der) Macht zum Geist gingen, die den Weg fanden von Nietzsche zu Buddha, die Verknüpfung des heutigen
Abendlandes mit der uralten Weisheit des Ostens, den Weg von Simson zu Jesaja.99
Feuchtwangers historische Romane haben mit Blick auf das
Judentum auch einen vielfachen aktuellen Bezug. Sie sind zum
Zeitpunkt ihres Entstehens nicht zuletzt als Warnung an die
deutschen Juden zu verstehen, die glauben, Anpassung und Verleugnung ihres Judentums könnten ihre persönliche Lage sichern.
Für Feuchtwanger spiegelt sich im Antisemitismus dieser Jahrzehnte eine Bedrohung, die alle Assimilierungsutopien fraglich
erscheinen lässt. Der jüdische Helfer der römischen Kaiser, Flavius Josephus, der sephardische Königsfreund Jehuda Ibn Esra,
der Hofjude des württembergischen Herzogs, Süß Oppenheimer,
der jüdische Möbelfabrikant Martin Oppermann – ihre Versuche, in einer feindlichen Umwelt um den Preis der Selbstverleugnung ihres Glaubens Macht zu erobern, scheitern. Am Ende ihres
Weges bleiben sie isoliert und einsam zurück, verachtet von Juden und Christen oder Römern. Warnungen vor den Gefahren
der Anpassung und der opportunistischen Aufgabe ihres Glaubens lässt Feuchtwanger in seinen Romanen stets die den jüdischen Gesetzen treu gebliebenen Figuren aussprechen. Aber Isaak
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Landauer wiegte nur den Kopf, rieb die fröstelnden Hände, lächelte,
sagte: »Wozu, Reb Josef Süß? … Wozu gleich dreißig Diener? Könnt
Ihr besser essen, besser schlafen, wenn Ihr habt dreißig Diener statt
drei? Ich begreife, daß Ihr Euch die Schickse haltet, ich begreife, daß
Ihr ein schönes Zimmer zum Essen wollt, ein gutes, breites Bett.
Aber wozu den Papagei? Was braucht ein Jud einen Papagei?«100
1942, im amerikanischen Exil und angesichts der Nachrichten über die Deportationen der im Machtbereich Hitlers noch
lebenden Juden, wird Feuchtwanger in einer Rede darauf noch
einmal zurückkommen: Die Juden nahmen an, eine Judenfrage
existiere nicht mehr, das Ziel der Emanzipation sei erreicht. …
Rasch und gründlich verloren sie den sicheren psychologischen Instinkt, den ihre Väter besessen hatten, die Juden des Ghettos. Es verschwand ihnen das instinktive Wissen, immer in Gefahr zu sein, jenes Wissen, das ihre Väter befähigt hatte, die Mächtigen richtig zu
behandeln, der Gefahr zu entrinnen.101
Gegenüber den Antisemiten wiederum, die unter anderem immer wieder mit der These von der »Verjudung der abendländischen Kultur« hausieren gehen, sind Feuchtwangers Antworten
scharf und spöttisch. Schon 1920 – Hitler hat in München gerade seine erste Veranstaltung durchschrien – schreibt er über die
angebliche Wirkung der »internationalen jüdischen Literatur«:
Man hätte ebensogut eine Literatur der Schwarzhaarigen oder der
Kurzsichtigen konstruieren können. … Nie hat ein Literaturhistoriker daran gedacht, aus der griechischen Literatur gewisse Poeten
hinauszuweisen, weil sie asiatischem oder ägyptischem Völkermischmasch entstammten. Wer zählt Chamisso zur französischen Literatur? Wer Nietzsche, Dehmel zur slawischen?102
Kriterium literarischer Zugehörigkeit ist für den Philologen
Feuchtwanger allein die Sprache: … ich habe mich oft mit größter Sorgfalt in die Werke deutscher Autoren jüdischer Herkunft vertieft, um irgendein sprachliches Merkmal zu finden, das eindeutig
auf ihre jüdische Abkunft hinwiese. Es ist mir trotz emsigsten Studiums nicht geglückt, in irgendeinem Werk der großen deutschen
Dichter jüdischer Abstammung, von Mendelssohn bis Schnitzler und
Wassermann, von Heine bis Arnold und Stefan Zweig, irgendein
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solches Merkmal zu entdecken.103 Sosehr also jüdische Philosophie
und Geistesgeschichte sein Denken und damit auch sein schriftstellerisches Werk beeinflusst haben – Feuchtwanger, dessen Englisch noch im amerikanischen Exil einen breiten bayerischen Akzent besaß und der zwar französisch, italienisch und spanisch
lesen, aber nur mäßig sprechen konnte, fühlte sich zeitlebens der
deutschen Sprache tief verbunden.
Bevor wir in das München der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg
zurückkehren, soll noch ein Blick auf Feuchtwangers Beziehungen zum Zionismus geworfen werden. Er stand ihm grundsätzlich positiv, aber vor dem Holocaust mit einer gehörigen Portion
idealistischer Geschichtsauffassung gegenüber. Im FeuchtwangerClan gab es Anhänger und Gegner des Zionismus. Mancher Verwandte besuchte Palästina in den Jahren nach der Wende zum
20. Jahrhundert, um zu prüfen, ob er dort leben wollte und
konnte. Der von Theodor Herzl als Reaktion auf die antijüdischen Kampagnen gegen den französischen Hauptmann Dreyfus
auf dem Basler Zionistenkongress von 1905 propagierte »Judenstaat« blieb Feuchtwanger allerdings bis in die Jahre des Dritten
Reiches hinein fremd. Er sprach noch 1933 in diesem Zusammenhang von einer Art jüdischer Hitlerei und stellte etwas erstaunt
fest, es sei seltsam, daß gerade zu der Zeit, da man sich unter den
Juden heiß bemüht, in Palästina eine neue Heimat zu schaffen, in
der übrigen Welt der Glaube an die verbindende Kraft von Heimat
und Scholle mehr und mehr ins Wanken kommt104. Eine für diesen
Zeitpunkt äußerst fragwürdige Feststellung, die mit Feuchtwangers optimistischer – und sich nicht bewahrheitender – Annahme
zusammenhing, die Welt sei auf dem Weg zu der Erkenntnis, daß
die Begriffe Nation und Territorium nicht notwendig miteinander
verbunden sein müssen105.
Aber der Weltbürger Feuchtwanger sah keinen grundlegenden
Widerspruch zwischen kosmopolitischem Denken und dem Zionismus. Jedenfalls solange dieser durchtränkt bleibt von der
stärksten Idee des Judentums, von der seiner messianischen Sendung.
Zionismus war für ihn nur als geistiger Nationalismus akzeptabel.
Der wahre jüdische Nationalismus erlaubt zur Erreichung all seiner
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Ziele lediglich geistige Mittel; er will den Gegner nicht besiegen, er
will überzeugen. … All sein Streben ist, sich aufzulösen in einer geeinten Welt. Sich aufzulösen wie Salz im Wasser, das, gelöst, unsichtbar, dennoch allgegenwärtig bleibt und ewig.106 Der Holocaust hat
den alternden Dichter jedoch korrigiert. Ein Jahr vor seinem Tod
bekennt er sich eindeutig zum Staat Israel: Auch das stolzeste Ereignis der neueren Geschichte der Juden, die Errichtung ihres Dritten Staates im Lande Israel, hat zur Quelle dieses lebendige Bewußtsein der historischen Kontinuität. Gründe der Vernunft rieten den
Männern, die ihr Leben der Errichtung eines solchen Staates widmeten, das Uganda-Angebot der britischen Regierung anzunehmen;
doch sie folgten nicht den Gründen der Vernunft, sondern ihrem geschichtlichen Bewußtsein, das sie auf Zion verwies, auf Zion allein.107
Da ist er am Ende seines Lebens wieder bei seinem geliebten
»Buch der Bücher«. Denn das Bewusstsein, von dem er in diesem
Aufsatz aus dem Jahr 1957 spricht, nimmt sichtbar Gestalt an in
der Bibel: Mohammed hat die Juden »Das Volk des Buches« genannt. Mit Recht. Das Buch, das Große Buch, ihre Heilige Schrift,
ist die Grundlage ihrer völkischen Existenz. Das Skelett dieses Buches aber ist die Darstellung und Deutung der Geschichte Israels. Die
Israeliter waren das erste Volk, das Geschichte schrieb.108
Und sein letzter Roman, den er kurz vor diesem Aufsatz veröffentlicht, dringt noch einmal in die historischen Tiefen des Judentums vor. Es ist die Geschichte des Richters Jefta, Sohn einer
Nebenfrau, von seiner Familie verjagt, vom HERRN berufen, sein
Volk zu führen, und vom Fluch dieser Auserwähltheit geschlagen: Aber er spürte qualvoll die Einsamkeit des Gipfels und seine
klare, schneidende, tödliche Kälte.109
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