Neue Z}rcer Zeitung ZEITFRAGEN Samstag, 15.09.2001 Nr.214 95 Die Stunde des Todes liegt allein in Gottes Hand Selbstmord und Euthanasie im Islam Von Eva Orthmann, Assistentin am Orientalischen Seminar der Universität Zürich* Wem gehört das Leben? Diskussionen um Selbstmord und Sterbehilfe haben im Islam in dieser Frage ihren Angelpunkt. Weniger das Individuum und sein persönliches Befinden als das Verhältnis zwischen Gott und Mensch stehen im Zentrum von Stellungnahmen zur vorzeitigen Beendigung von Leben. Debatten um passive und aktive Sterbehilfe, von islamischen Gelehrten auf der Grundlage von Koran und Tradition geführt, sind auch für die Rechtsprechung ihrer Länder von erheblichem Einfluss. Welche Prinzipien sind es, die die islamische Haltung zu Selbstmord und Euthanasie bestimmen? Gibt es für einen gläubigen Muslim Gründe, die einen absichtlich herbeigeführten Tod legitimieren, wie beispielsweise schweres Leid, das nur noch durch den Tod beendet werden kann? Wie werden Selbstmordattentäter beurteilt, die ihr Leben zur Durchsetzung politischer Ziele opfern? Gemeinsame Quellen von Recht und Ethik Fragen nach der Zulässigkeit von Selbstmord und Euthanasie, die bei uns im Rahmen ethisch-religiöser Vorstellungen diskutiert werden und – zumindest im Bereich der Euthanasie – Gegenstand juristischer Auseinandersetzungen sind, unterliegen nach muslimischem Verständnis den Regelungen der shari'a. Im Westen zumeist als ein verkrustetes Gesetzeswerk konservativer Mullahs missverstanden, bildet die shari'a für einen Muslim die Grundlage gottgefälligen Handelns. Sie wird als ein von Gott offenbartes Recht betrachtet, anhand dessen sämtliche Handlungen einer religiösen Beurteilung unterzogen werden können. Sie umfasst mithin auch all das, was bei uns dem Bereich der Ethik zuzurechnen ist. Die shari'a beruht auf dem Koran und auf Traditionen, in denen Aussprüche und Verhaltensweisen Mohammeds übermittelt werden (= hadith). Da sich hieraus jedoch kein umfassendes Regelwerk für alle Lebenslagen erstellen lässt, kommt den islamischen Rechtsgelehrten (= Muftis) von jeher eine wichtige Rolle zu beim Ermitteln des vermutlichen göttlichen Willens. Grundsätzlich ist dabei immer mit der Möglichkeit zu rechnen, dass verschiedene Gelehrte zu unterschiedlichen Ansichten gelangen. Rechtsgutachten (= fatwa) haben daher keinen Absolutheitsanspruch, sondern gelten als persönliche Meinung ihres Autors und somit als fehlbar. In ihren Unterschieden spiegelt sich gerade in der Moderne das Ringen um konsensfähige Haltungen zu strittigen ethischen Fragen. Das islamische Selbstmordverbot Die Methoden islamischer Rechtsfindung bringen es mit sich, dass Koran und hadith als erste Quellen nach ihrer Stellung zum Selbstmord zu befragen sind. Im Koran wird man dabei nicht unmittelbar fündig, denn explizite Aussagen zum Suizid sind in ihm nicht enthalten. Das in verschiedenen Suren zum Ausdruck gebrachte Verbot, Menschen zu töten, kann jedoch auf die Selbsttötung bezogen werden. Im hadith findet sich eine ganze Reihe von Traditionen, die sich dieses Themas annehmen. Übereinstimmend zeigen sie eine ablehnende Haltung: Es ist verboten, sich selbst zu töten. Dieses Verbot gilt selbst dann, wenn die äusseren Umstände den Tod als Erlösung aus einer schwierigen Situation erscheinen lassen. So ist es Schwerverletzten untersagt, ihre Qual abzukürzen. Moderne Rechtsgutachten führen aus, dass auch Geheimnisträger, die befürchten, sich unter Folter Informationen abpressen zu lassen, auf Gott vertrauen sollen, nicht aber sich das Leben nehmen. Ihre Begründung findet die negative Beurtei- © 2001 Neue Zürcher Zeitung AG lung von Selbstmord in der Vorstellung, dass der menschliche Körper und das mit ihm verbundene Leben ein Gut darstellen, das den Menschen gar nicht selbst gehört, sondern ihnen von Gott zur sorgsamen Verwahrung anvertraut ist. Mit diesem Gut dürfen sie folglich nicht nach eigenem Dafürhalten umgehen und es schon gar nicht vernichten. Leben und Sterben liegen vielmehr allein in Gottes Hand. Setzt man seinem Leben vorzeitig ein Ende, lehnt man sich gegen Gottes Ratschluss auf. Schweres Leid, ob psychisch oder physisch bedingt, soll ein Muslim idealerweise geduldig ertragen und den Tod akzeptieren, wenn seine Stunde gekommen ist. Stärkung erwachse ihm dabei aus dem Glauben, denn Gott verleihe ihm Kräfte, um gegen das Unglück anzukämpfen. Dieses Prinzip von Geduld und Ausdauer im Leid wird als sabr bezeichnet und gilt als hohe Tugend, für die jenseitiger Lohn winkt. Dem Selbstmörder hingegen drohen schwere Strafen und Höllenqualen, in denen er die von ihm gewählte Todesart stets aufs Neue durchleidet: «Wer sich selbst durchbohrt, um sich zu töten, der wird sich in der Hölle durchbohren, und wer sich von einem Berg stürzt, der wird sich in der Hölle in ewigem Fall befinden, und wer sich erwürgt, der wird sich in der Hölle erwürgen.» Der Umgang mit den sterblichen Überresten eines Selbstmörders ist umstritten: Hinsichtlich der Frage, ob es zulässig ist, dass ein Imam das Totengebet für ihn spricht, herrscht Dissens. Gegenstand kontroverser Diskussion ist in der Moderne weniger die Beurteilung von Suizid im Allgemeinen als diejenige zweier spezieller Bereiche: die religiöse Zulässigkeit von Selbstmordattentaten und der Verzicht auf lebensverlängernde Massnahmen in der Intensivmedizin. Selbstmord und Märtyrertod Diskussionen über die Zulässigkeit von Selbstmordattentaten wurden gerade in jüngster Zeit durch die zunehmende Gewalt zwischen Israeli und Palästinensern angefacht. Führende Gelehrte haben daher im Laufe der letzten Monate Stellung zu dieser Frage bezogen. Die Beurteilung eines Selbstmordattentates ist im Kontext zweier unterschiedlicher Prinzipien zu sehen: So ist es einerseits ehrenhaft, als Märtyrer im Kampf gegen den Feind zu sterben, andererseits jedoch darf man das eigene Leben nicht gewaltsam beenden. Die sich hieraus ergebende Problematik ist für die Muslime nicht neu. Bereits in sehr früher Zeit wurde versucht, klare Kriterien für eine Scheidung zwischen Selbstmord und Märtyrertod zu formulieren. Als ausschlaggebend wird die dem jeweiligen Handeln zugrunde liegende Absicht betrachtet: So ist es nicht zulässig, sich in den Kampf zu stürzen, um den Tod zu finden; der Tod ereilt den Märtyrer nur ungewollt. Im Falle eines Selbstmordanschlages ist der Tod eine von vorneherein eingeplante Folge des Kampfes; eine klare Scheidung von Kampf und Todesabsicht ist daher kaum möglich. Entsprechend uneinheitlich fallen die Stellungnahmen zeitgenössischer Gelehrter denn auch aus: Während der Grossmufti von Saudiarabien, Scheich Abdulaziz asch-Schaik, Selbstmordanschläge un- ter dem Hinweis auf das Suizidverbot als religiös unzulässig erklärt hat, kritisiert der ägyptische Gelehrte Yusuf al-Qaradawi die Benutzung des Wortes Selbstmord in diesem Zusammenhang. Seiner Ansicht nach handelt es sich um Märtyreroperationen, die dazu dienen, Tyrannei und Unrecht einzuschränken. Aktive und passive Euthanasie Der zweite Bereich aktueller Diskussionen zum Suizid, nämlich die religiöse Bewertung eines Verzichts auf lebensverlängernde Massnahmen, ist im Rahmen islamischer Auseinandersetzungen über die Zulässigkeit von Euthanasie zu sehen. Diese stehen ihrerseits in engem Zusammenhang mit anderen rechtlich-theologischen Debatten, die durch technische Innovationen gerade im Bereich der Medizin in den letzten Jahrzehnten ausgelöst worden sind. Hierzu zählt insbesondere die Definition des Todeszeitpunktes. Euthanasie wird im Arabischen zumeist als qatl ar-rahma (wörtlich: Gnadentötung) bezeichnet. Anders als in Bezug auf gewöhnlichen Selbstmord können islamische Gelehrte bei diesem Thema nicht auf Aussagen im hadith zurückgreifen. Dennoch bieten nach Ansicht von Jonathan Brockopp, Autor einer neuen Studie zum Umgang mit Sterbehilfe im Islam, traditionelle Rechtskonzepte Anhaltspunkte für die Bewertung von Euthanasie, denn nach islamischem Verständnis wird bei der Beurteilung einer Tat immer zwischen aktivem und passivem, freiwilligem und unfreiwilligem, eigenhändigem und durch einen anderen ausgeführtem Handeln unterschieden. Auch die äusseren Umstände zählen. Überträgt man diese Konzepte auf das Problem der Euthanasie, lässt sich hieraus eine differenzierte Bewertung aktiver und passiver Sterbehilfe ableiten, selbst wenn man an dem grundsätzlichen Verbot, sich selbst oder andere zu töten, festhält. Abgelehnt wird jedwede Form aktiver Sterbehilfe, die mit Selbstmord bzw. Totschlag gleichgesetzt wird. So wenig, wie ein Kranker selbst seinem Leid ein Ende setzen darf, ist dies anderen gestattet, selbst wenn sie mit Zustimmung oder auf Wunsch des Patienten handeln. Verboten sind dabei nicht nur Massnahmen, die eine direkte Tötung enthalten, wie beispielsweise das Verabreichen von Gift, sondern auch das Unterlassen von lebensverlängernden Hilfeleistungen. Ein Arzt, der sich nicht mehr mit allen Mitteln um einen Todkranken bemüht, macht sich der unrechtmässigen Tötung eines Menschen schuldig. Westliche Überlegungen zu aktiver Sterbehilfe werden von islamischer Seite oft als Zeichen von Dekadenz und fehlenden familiären Bindungen in einer zunehmend individualisierten Gesellschaft gedeutet; nur ein Mangel an Liebe und Aufopferung könne Verwandte dazu bewegen, ihre Angehörigen vorzeitig dem Tod preiszugeben. Zu stärkerer Differenzierung sehen sich die Gelehrten in Bezug auf das Abschalten lebenserhaltender Apparate in modernen Intensivstationen genötigt. Da solche Apparate zum einen teuer, vor allem aber auch nur in begrenzter Anzahl verfügbar sind, müssen hier Regelungen getroffen Blatt 1 Neue Z}rcer Zeitung werden, die sowohl die Interessen der Sterbenden als auch diejenigen anderer auf die Geräte angewiesener Patienten berücksichtigen. Wie eine solch differenzierte Haltung aussehen kann, zeigen die Ausführungen des obersten Religionsgelehrten der ägyptischen al-Azhar-Universität, Muhammad Said Tantawi, der kürzlich im Rahmen einer medizinischen Konferenz zu Fragen der Euthanasie Stellung bezogen hat. Dabei legte Tantawi zunächst die bekannte islamische Position dar, gemäss welcher der Körper nur ein dem Menschen anvertrautes Gut sei, dessen Leben weder Patient noch Arzt vorzeitig beenden dürfen. Anschliessend jedoch wies er darauf hin, dass der Tod eine Trennung vom Leben bedeutet und dass den Zeitpunkt dieser Trennung nicht die Religionsgelehrten, sondern die Mediziner zu beurteilen hätten. Einen Hirntoten von Maschinen abzuklemmen, die nur noch sein Herz am Schlagen hielten, stelle keinen unerlaubten Eingriff dar, sondern zeige vielmehr, dass man sich in Gottes Willen füge. Die Frage des Hirntodes stellt einen zentralen Punkt in islamischen Diskussionen über die Zulässigkeit des Abschaltens medizinischer Geräte dar. Tantawi vertritt diesbezüglich eine Position, die mit der bei uns üblichen Definition des Todes übereinstimmt. Doch ab wann ein Mensch als tot zu gelten hat, wird von den Gelehrten unterschiedlich beurteilt. Todeseintritt © 2001 Neue Zürcher Zeitung AG ZEITFRAGEN Als Todeszeitpunkt wird im Islam der Moment definiert, in dem die Seele aus dem Körper austritt. Da die Seele jedoch unsichtbar ist, lässt sich dieser Moment nicht beobachten. Traditionell wird der Tod daher auf Grund bestimmter körperlicher Merkmale festgestellt. Die moderne Medizin kann den Eintritt dieser Merkmale indes erheblich verzögern, weshalb unter Muslimen darüber diskutiert wird, inwieweit der Hirntod als eindeutiges Todeskriterium zu akzeptieren sei. Entsprechende Debatten werden erst seit den achtziger Jahren geführt. Die Argumente sind deswegen noch im Fluss und die Diskrepanzen in der rechtlichen Beurteilung von Hirntoten erheblich. Birgit Krawietz, Expertin für islamische Rechtsgutachten zu medizinischen Fragen, zeigt auf, dass einige Gelehrte zwischen völligem und partiellem Gehirntod unterscheiden. Während im Falle eines partiellen Hirntodes alle Anstrengungen unternommen werden müssen, um den Patienten am Leben zu erhalten, wird bei einem völligen Hirntod der Patient von vielen Gelehrten als in rechtlicher Hinsicht tot betrachtet, so dass alle Geräte abgeschaltet werden dürfen. Andere Gelehrte lehnen die Hirntodkonzeption kategorisch ab: der Hirntod biete keine absolute Gewissheit über den Eintritt des Todes. Auf einen anderen Aspekt der Hirntoddebatte verweist Jonathan Brockopp, denn nicht nur eine vorzeitige Beendigung des Lebens, sondern auch Samstag, 15.09.2001 Nr.214 95 seine künstliche Verlängerung über den eigentlichen Tod hinaus stellt eine Einmischung in Gottes Zuständigkeitsbereich dar. Das passive Sterbenlassen nur noch künstlich durch Geräte am Leben erhaltener Patienten kann deswegen als ein Akzeptieren von Gottes Willen gedeutet werden und damit eine positive Bewertung erfahren. Im Kern aller Diskussionen um die Euthanasie steht im Islam die Frage nach dem göttlichen Willen, dem sich zu unterwerfen erste Priorität ist. Irdische Schmerzen und irdisches Leid sind denn auch letztlich immer nur eine Etappe auf dem Weg ins ewige Leben und der Tod nichts als ein Übergang von einer Existenzform in eine andere. Islamische Gelehrte sind deswegen zwar sehr wohl intensiv um shari'a- konforme Antworten auf Herausforderungen der modernen Medizin bemüht, doch mag die Verheissung auf ein jenseitiges Leben im Paradies dazu führen, dass dem Tod und damit auch der Euthanasie dabei ein weniger wichtiger Stellenwert eingeräumt wird, als das in unserer Gesellschaft der Fall ist. Literatur: Jonathan Brockopp, The «Good Death» in Islamic Theology and Law, in: Jonathan Brockopp (Hrsg.), Islamic Ethics of Life: abortion, war and euthanasia. University of South Carolina Press, im Druck. Birgit Krawietz: Die Hurma. Schariatrechtlicher Schutz von Eingriffen in die körperliche Unversehrtheit nach arabischen Fatwas des 20. Jahrhunderts. Berlin 1991. * Die Autorin hat in Tübingen Islamwissenschaft tik studiert und in Halle/Saale im Fach Arabistik promoviert. und Iranis- Blatt 2