Raum und Religion

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05. ! Raum und Religion
05.
Zwei Schwerpunkte im Opern- und Konzertprogramm 2013/14
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»Im Prinzip sind alle meine Werke
mehr oder weniger geistlich inspiriert,
ohne daß es der zugrundeliegende Text
notwendigerweise wäre«, bekundete
der Komponist Edison Denisov gegenüber einem Gesprächspartner. »Man
muss den Begriff weiter fassen. [...] Der
Schaum der Tage ist vielleicht noch
geistlicher als mein Requiem, das ich
zur gleichen Zeit komponiert habe.«
Denisovs Schaum der Tage, eine Oper, die auf einem
Jazz-Song beruht, in der Jesus leibhaftig auftritt, um
sich die Hände in Unschuld zu waschen, in der junge
Menschen an Seerosen zugrunde gehen, in der die Feuerwehr als Brandstifter agiert und unschuldige blinde
Waisenmädchen einer Katze auf den Schwanz treten, woraufhin sie einer lebensmüden Maus den Kopf
abbeißt, sollte geistlicher sein als ein Werk, das sich
explizit auf einen liturgischen Text bezieht? Dieser
Gedanke fordert vom Leser in der Tat eine kleine geistige Lockerungsübung. Sieht man sich – solcherart in
seiner gedanklichen Beweglichkeit gedehnt – in der
Musikgeschichte um, zeigt sich auch bei anderen vermeintlich »weltlichen« Werken ein »geistlicher« Gehalt. Mündet nicht auch Mozarts Oper über den »größten Verführer aller Zeiten«, Don Giovanni, in eine
Höllenfahrt, die jede bildliche Darstellung einer »göttlichen Strafe« übersteigt? In der Versuchung durch seinen mephistophelischen Widerpart tritt die Thematik selbstverständlich auch in Fausts Verdammnis
zutage. Doch die Inbrunst, ja, die Übersüße, mit der
Hector Berlioz den Osterspaziergang seines Helden
oder auch die Schlussapotheose in den schillerndsten
Farben ausmalt, unterstreicht, dass es diesem revolutionären Geist, der auch vor den Abgründen des
Opiumrauschs nicht halt machte, in den Momenten, in
denen eine religiöse Aussage im Zentrum steht, ums
Ganze geht. Die übermenschliche, metaphysische Dimension der Konflikte in Verdis Nabucco zu erwähnen, erübrigt sich, kreist doch die ganze Handlung um
das Verhältnis von Individuum und Glaubensgemeinschaft, von Anbetung und Freiheit.
Zwischenräume der Transzendenz
In den drei zuletzt genannten Opern – sämtlich auf dem
Spielplan dieses Herbstes – scheint die religiöse Dimension der Werke durch die Handlung motiviert, mithin
durch die Dichtung. Doch auch ihre rein instrumentalen Werke weisen große Komponisten immer wieder
als spirituell inspiriert aus – und so bilden Anton Bruckners Neunte Sinfonie und Joseph Haydns Sieben
letzte Worte des Erlösers am Kreuz den Rahmen für
eine Konzertsaison, in der die Frage nach dem geistlichen Gehalt der Musik immer wieder aufscheint.
Eine Aufforderung, diesen Fragen nachzugehen,
stellt die bevorstehende Uraufführung des Musiktheaters wunderzaichen von Mark Andre dar. Der aus
Frankreich stammende Komponist, der bei seinem
Meisterstudium in Stuttgart durch seinen Lehrer
Helmut Lachenmann entscheidende Impulse empfangen hat, sucht in allen seinen Werken nach existenziellen Klangsituationen, die durch die Alltagserfahrung hindurch und über sie hinaus etwas von den
Zwischenräumen mystischer Erfahrungen berichten.
Sein Musiktheater, in dem Johannes Reuchlin, dem in
Stuttgart begrabenen ersten deutschen Humanisten,
eine wichtige Rolle zukommt, hat er immer wieder als
»metaphysischen Roadtrip« bezeichnet.
Wer der Musik von Mark Andre erstmals begegnet, wird von dieser Selbstaussage des Komponisten
vielleicht zunächst überrascht. Denn sie hat nichts
von der unerschütterlichen Selbstgewissheit blechgepanzerter Choräle und schon gleich gar nichts von
der harmlosen Betulichkeit frommer Lieder. Ganz
im Gegenteil scheint sie in ihrem unerschöpflichen
Reichtum der Nuancen und Schattierungen eine Enzyklopädie feinster sensorischer Daten zu entfalten,
aus deren Verbindung eine Ahnung von den Welten
entsteht, die jenseits unserer Wirklichkeit liegen
könnten.
Unterscheidet sich Mark Andre in dieser Hinsicht
tatsächlich so sehr von einem Johann Sebastian Bach,
dessen Werke ja unbestritten in geistlichen Zusammenhängen stehen – und dabei keine Kompromisse
der Satztechnik und der musikalischen Gestaltung
eingehen? Ist eine »weltliche Kantate« Bachs – wie die
Hochzeitskantate, die im 5. Liedkonzert mit Claudia
Barainsky erklingt – tatsächlich weniger »geistlich«
als seine h-moll-Messe ? (Die sich bekanntlich zudem auch aus »weltlichen« Werken des Komponisten
speist.) Sind die »Pfingstrosen« von Hespos – auf französisch Pivoines und dargeboten von Karl-Friedrich
Dürr im 2. Liedkonzert – schon pfingstliche Zungenrede, Glossolalie? Beraubt György Kurtág die Sprüche
des Peter Bornemisza (5. Liedkonzert) einer Dimension, wenn er diese in Form eines »Konzertes« für
Sopran und Klavier vertont, oder wird umgekehrt die
Virtuosität der Interpreten zu einem Moment der Hingabe, der über die Welt hinausweisen soll?
»Musik ist höhere Potenz der Poesie; die Engel müssen in Tönen reden, Geister in Worten der Poesie«,
schreibt Robert Schumann. Der Gedanke, dass die
Musik etwas sei, daß auf ein »Schatten-« oder »Geisterreich« hinter den Dingen verweise, ist tief romantisch. »Musikliebende Klosterbrüder« wie Wackenroder und Tieck formulierten sie in ihrer Idee einer
Kunstreligion immer wieder aus, niemand so prägnant
wie E.T.A. Hoffmann, der anlässlich von Beethovens
Fünfter schrieb: »Wie führt diese wundervolle Komposition in einem fort und fortsteigenden Climax den
Zuhörer unwiderstehlich fort in das Geisterreich des
Unendlichen«. Was hätte er geschrieben, hätte er
die Klangentäußerungen eines Anton Bruckner oder
eines Giacinto Scelsi gekannt? Anton Bruckner bezog seinen Auftrag für das Komponieren unmittelbar
vom »lieben Gott«, dem er seine Fragment gebliebene Neunte Sinfonie widmete: »Die wollen, dass ich
anders schreibe«, berichtete er. »Ich könnt’s ja auch,
aber ich darf nicht. Unter Tausenden hat mich Gott
begnadet und dieses Talent mir, gerade mir gegeben.
Ihm muß ich einmal Rechenschaft ablegen. Wie stünde ich vor unserem Herrgott da, wenn ich den anderen
folgte und nicht ihm.«
Der geheimnisvolle römische Graf Giacinto Scelsi
empfing seinen Auftrag während einer Reise nach
Indien und schuf eine nicht minder eigenwillige Musik
als Anton Bruckner, die in Anlehnung an fernöstliches
Gedankengut immer tiefer in das Innere des Einzeltones vorgedrungen ist – und so den Makrokosmos im
Mikrokosmos erschlossen hat. Scelsis Hymnos für
Orgel und zwei Orchester sowie Bruckners Neunte
umschließen im 7. Sinfoniekonzert eines der außergewöhnlichsten Werke der Musikgeschichte: Spem
in alium von Thomas Tallis, geschrieben um 1573 für
vierzig Stimmen, oder genauer, für acht fünfstimmige Chöre a cappella. Die Stimmen erschließen nicht
nur den Raum eines Konzertsaales – oder eines Kircheninneren, für den das Werk komponiert wurde –
sondern auch den göttlichen Kosmos. Tallis lässt die
Klänge spiralförmig rotieren und versetzt den Hörer
selbst in das Zentrum des klingenden Universums.
Solche Raummusik wurde im 16. Jahrhundert vor
allem in Venedig praktiziert, wo man im Dom von
San Marco Frage und Antwort aus unterschiedlichen
Ecken und Enden durch den Raum klingen ließ. Erst
die Komponisten des 20. Jahrhunderts haben diese
Idee von einer Musik, die nicht nur den ganzen Raum
erfüllt, sondern ihn auch von allen Seiten durchdringt,
wieder intensiver aufgegriffen und haben sich hierfür nicht nur der akustischen Instrumente, sondern
auch elektronischer Mittel bedient. Auch die Oper
wunderzaichen von Mark Andre wird sich am Ende
in den ganzen Opernraum hinein öffnen, den Raum
verwandeln und ein einzigartiges Hörerlebnis in der
Oper Stuttgart ermöglichen.
Ohren zum Hören
Auch die Stuttgarter Liederhalle, Heimstatt der Sinfoniekonzertreihe des Staatsorchesters Stuttgart, wird
in dieser Spielzeit auf ihre raummusikalischen Möglichkeiten befragt. Nicht nur durch den Staatsopernchor Stuttgart im 7. Sinfoniekonzert, sondern auch im
1. Sinfoniekonzert in einer Bearbeitung von Haydns
ursprünglich als Streichseptett verfassten Meditationen über Sieben letzte Worte unseres Erlösers am
Kreuz, die Generalmusikdirektor Sylvain Cambreling
selbst angefertigt hat. Vier Streichergruppen und ein
Solocellist werden an ungewohnten Orten im Konzertraum zu finden sein, während die Bühne von einem
Bläser- und Schlagzeugensemble okkupiert wird, mit
dessen Hilfe Olivier Messiaen über das Geheimnis der
Auferstehung sinniert.
Vermutlich liegt die Affinität der Musik zur Welt
des Transzendenten in ihrem Wesen begründet: Ihre
Substanz ist so wenig greifbar wie jene, die Menschen
göttlich zu nennen pflegen. Musik offenbart sich dem
Hörenden und entzieht sich zugleich. Um an ihren
geistvollen Spielen teilzuhaben muss man weder religiös, noch romantisch sein. Nur Ohren zu hören, die
wär’n gut.
Patrick Hahn
Ausführliche Informationen zu allen im Text genannten Konzerten und Opern finden Sie unter
www.oper-stuttgart.de
Auf dem »metaphysischen Roadtrip«: Aufnahmen in der
israelischen Wüste während der Recherche zum Musiktheater
wunderzaichen von Mark Andre (Uraufführung: 2. März 2014)
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Das Journal September /Oktober /November 2013
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