Dies ist ein utb-Band aus dem Nomos Verlag. utb ist eine Kooperation von Verlagen mit einem gemeinsamen Ziel: Lehrbücher und Lernmedien für das erfolgreiche Studium zu veröffentlichen. ISBN 978-3-8252-4293-0 ,!7ID8C5-cecjda! QR-Code für mehr Infos und Bewertungen zu diesem Titel utb-shop.de Maurer | Mikl-Horke Die Wirtschaftssoziologie hat in den letzten Jahren bahnbrechende Analysen zu Unternehmen, Märkten, Wirtschaftsregionen und -systemen vorgelegt. Wer sich über die Entwicklung und den Stand der neuen Wirtschaftssoziologie informieren möchte, findet hier wichtige Klassiker, wegweisende theoretische Konzepte und bedeutende empirische Studien dargestellt. Wirtschaftssoziologie Soziologie Andrea Maurer Gertraude Mikl-Horke Wirtschafts­ soziologie Studienkurs Soziologie http://www.nomos-shop.de/23651 utb 4293 0000 Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage Böhlau Verlag · Wien · Köln · Weimar Verlag Barbara Budrich · Opladen · Toronto facultas · Wien Wilhelm Fink · Paderborn A. Francke Verlag · Tübingen Haupt Verlag · Bern Verlag Julius Klinkhardt · Bad Heilbrunn Mohr Siebeck · Tübingen Nomos Verlagsgesellschaft · Baden-Baden Ernst Reinhardt Verlag · München · Basel Ferdinand Schöningh · Paderborn Eugen Ulmer Verlag · Stuttgart UVK Verlagsgesellschaft · Konstanz, mit UVK / Lucius · München Vandenhoeck & Ruprecht · Göttingen · Bristol Waxmann · Münster · New York BUT_Maurer_4293-0_UTB_150x215_M.indd 1 UTB (M) Impressum_15.indd 1 05.05.15 09:06 08.12.14 10:56 http://www.nomos-shop.de/23651 Studienkurs Soziologie Herausgegeben von Markus Schroer BUT_Maurer_4293-0_UTB_150x215_M.indd 2 05.05.15 09:06 http://www.nomos-shop.de/23651 Andrea Maurer | Gertraude Mikl-Horke Wirtschaftssoziologie Nomos BUT_Maurer_4293-0_UTB_150x215_M.indd 3 05.05.15 09:06 http://www.nomos-shop.de/23651 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8252-4293-0 (UTB) 1. Auflage 2015 © Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2015. Printed in Germany. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. BUT_Maurer_4293-0_UTB_150x215_M.indd 4 05.05.15 09:06 http://www.nomos-shop.de/23651 Inhaltsverzeichnis Abbildungsverzeichnis ...................................................................... 9 1. Der Gegenstand der Wirtschaftssoziologie ..................................... 11 1.1 Zur Geschichte der Wirtschaft als Praxis ............................... 11 1.1.1 Wirtschaftsweisen und Gesellschaftsstrukturen .............. 12 1.1.2 Das „vormoderne“ Wirtschaftshandeln ......................... 14 1.2 Begriff und Ökonomie: Wirtschaft als Handlungs- und Wissensbereich .................................................................... 16 1.2.1 Wirtschaft in praktisch-ethischen und politischen Lehren ....................................................................... 17 1.2.2 Die klassische Ökonomie und ihre gesellschaftlichen Grundlagen: Frankreich und England im Vergleich ........ 20 1.3 Wirtschaft als Markt: Die Wirtschaftstheorie und ihre Modellwirtschaft ................................................................. 1.3.1 Die naturwissenschaftlichen Grundlagen der modernen Ökonomie .................................................................. 1.3.2 Subjektive Nutzentheorie und Marktmechanismus ......... 1.3.3 Die Ökonomik der Gegenwart ..................................... 23 23 25 28 1.4 Das Erkenntnisobjekt der Wirtschaftssoziologie ..................... 1.4.1 Wirtschaft als praktisches Handeln ............................... 1.4.2 Vielfalt und Wandel der Wirtschaft der Gegenwart ........ 1.4.3 Der Gegenstand der Wirtschaftssoziologie und die Praxiswirkungen der Ökonomie ................................... 30 31 33 2. (Re)Konstruktion einer komplexen Tradition ................................ 41 2.1 Visionen und Analysen der modernen Wirtschaftsgesellschaft .. 2.1.1 Die kommerzielle Gesellschaft des Adam Smith: Sozialer Individualismus und moralische Ordnung ..................... 2.1.2 Die industrielle Gesellschaft und die Soziologie .............. 2.1.3 Die kapitalistische Gesellschaft: Karl Marx und die dialektische Dynamik der Produktionsverhältnisse ......... 41 37 41 44 47 5 http://www.nomos-shop.de/23651 Inhaltsverzeichnis 2.2 Positionen und Perspektiven ................................................. 2.2.1 Historische und institutionalistische Ökonomie und ihre wirtschaftssoziologische Relevanz ................................. 2.2.2 Reine Ökonomie, Wirtschaftssoziologie und Sozialökonomie .......................................................... 2.2.3 Individualistische Sozialwissenschaft ............................. 2.2.4 Die Krise der Gemeinschaft: Soziologische Kritik der individualistischen Marktgesellschaft ............................ 2.2.5 Kulturanalyse und Zeitdiagnostik: Simmel, Sombart und Mannheim .................................................................. 2.2.6 Zwischen Markt und Staat: Die Krise des liberalen Kapitalismus ............................................................... 52 2.3 „Klassiker“ der Wirtschaftssoziologie .................................... 2.3.1 Max Weber: Wirtschaftssoziologie in verstehenderklärender Absicht ..................................................... 2.3.2 Joseph A. Schumpeter: Kapitalistische Entwicklung, Wirtschaftsanalyse und Wirtschaftssoziologie ................ 2.3.3 Karl Polanyi: Einbettung und institutionelle Einrichtung der Wirtschaft ............................................................. 2.3.4 Adolph Lowe: Ökonomie, Soziologie und soziale Ziele ... 2.3.5 Die funktionalistische Synthese von Wirtschaft und Gesellschaft in Amerika: Talcott Parsons ....................... 82 52 57 63 69 74 79 82 93 99 103 107 3. Grundfragen und Problemstellungen der Wirtschaftssoziologie ........ 113 3.1 Zur Gegenwartsrelevanz der klassischen Problemstellungen ..... 3.1.1 Rationalisierung der Wirtschaft und der Kultur ............. 3.1.2 Folgen wirtschaftlicher Transformation für Gesellschaft und Gemeinschaft ....................................................... 3.1.3 Wirtschaft, Macht und soziale Ungleichheit ................... 3.1.4 Soziale und kulturelle Grundlagen der Wirtschaft .......... 3.1.5 Wirtschaft als Mittel für soziale Ziele? .......................... 113 113 117 119 121 122 3.2 Grundlinien der Konstitution der Wirtschaftssoziologie in der Nachkriegsphase ................................................................. 123 3.2.1 Zuordnung der Wirtschaftssoziologie ............................ 123 3.2.2 Wirtschaftssoziologie zwischen Empirie und Theorie ...... 125 6 http://www.nomos-shop.de/23651 Inhaltsverzeichnis 3.2.3 Ökonomische Ansatzpunkte für eine sozialwissenschaftlichen Integration .............................. 128 3.2.4 Ausblick und Grundfragen ........................................... 130 4. Neuere wirtschaftssoziologische Ansätze ....................................... 135 4.1 Der Neuaufbruch in den 1980er Jahren ................................. 135 4.2 „Neue Wirtschaftssoziologie“ ............................................... 4.2.1 Das Forschungsprogramm von Mark Granovetter .......... 4.2.2 Netzwerkforschung und neue Wirtschaftssoziologie ....... 4.2.3 Position und Stand der neuen Wirtschaftssoziologie ....... 141 142 152 164 4.3 Das Rational Choice-Programm ............................................ 4.3.1 Das Forschungsprogramm von James S. Coleman .......... 4.3.2 Wirtschaftssoziologische Umsetzung ............................. 4.3.3 Zur Bedeutung der Sozialtheorie Colemans ................... 166 170 174 181 4.4 Wirtschaftssoziologie nach Max Weber ................................. 4.4.1 Die verstehend-erklärende Soziologie ............................ 4.4.2 Handlungstypologie .................................................... 4.4.3 Kapitalismusthese ....................................................... 4.4.4 Weber als Wirtschaftssoziologe und Sozioökonom ......... 183 184 190 191 192 4.5 Institutionen-, feld- und konventionentheoretische Ansätze ..... 4.5.1 Neuer Institutionalismus in der Wirtschaftssoziologie: Nee, Fligstein .............................................................. 4.5.2 Feld- und Kapitaltheorie: Bourdieu ............................... 4.5.3 Konventionen und die Ökonomie der Wertigkeit: Boltanski und Thevenot ............................................... 4.5.4 Institutionen und Konventionen in der Wirtschaftssoziologie ................................................... 194 196 200 204 213 4.6 Anliegen und Prinzipien der Wirtschaftssoziologie .................. 216 5. Anwendungsfelder und empirische Studien .................................... 221 5.1 Märkte ............................................................................... 5.1.1 Die soziale Einbettung von Tausch und Markt ............... 5.1.2 Die institutionelle Ordnung von Märkten ...................... 5.1.3 Die sozial-kulturelle Konstitution von Märkten ............. 5.1.4 Marktkritik und Moral ................................................ 221 221 223 228 231 7 http://www.nomos-shop.de/23651 Inhaltsverzeichnis 5.1.5 Entwicklungslinien und Herausforderungen .................. 232 5.2 Unternehmen und Wirtschaftsregionen .................................. 5.2.1 Unternehmen als Akteure auf Märkten: Unternehmenskooperation ........................................... 5.2.2 Unternehmertum und unternehmerisches Handeln ......... 5.2.3 Wirtschaftsregionen als Netzwerke von Unternehmen .... 5.2.4 Perspektiven ............................................................... 233 234 235 238 240 5.3 Der Kapitalismus als Wirtschaftsform ................................... 241 5.4 Aktuelle Forschungsfelder und Anwendungen ........................ 244 6. Herausforderungen und Perspektiven der Wirtschaftssoziologie ....... 249 Literaturverzeichnis .......................................................................... 257 Personenverzeichnis ......................................................................... 277 Stichwortverzeichnis ........................................................................ 279 8 http://www.nomos-shop.de/23651 Abbildungsverzeichnis Abb. 4–1: Netzwerk mit schwachen und starken Beziehungen 154 Abb. 4–2: Netzwerk mit Brücken 155 Abb. 4–3: Strukturale Handlungstheorie nach Ronald Burt 157 Abb. 4–4: Vergleich der Koordination durch Markt, Netz und Hierarchie 160 Wirtschaft als wissenschaftlicher Gegenstand in den 1980er Jahren 165 Abb. 4–6: Allgemeine Handlungstheorie und die Badewanne 171 Abb. 4–7: Soziale Interdependenzformen – Handlungsformen – Handlungssysteme bei Coleman 173 Abb. 4–8: Koordinationsformen nach Coleman 176 Abb. 4–9: Rational Choice-Theorie und neue Wirtschaftssoziologie 182 Handlungsmotiv und Wirtschaftsformen bei Max Weber 189 Interessen-basiertes soziales Handlungsmodell nach Richard Swedberg 191 Abb. 4–12: Weber und die neue Wirtschaftssoziologie 193 Abb. 4–13: Akteure – Konventionen – Situationen 206 Abb. 4–14: Institutionen als Gegenstand der Wirtschaftssoziologie 215 Soziale Erklärungsfaktoren in der Wirtschaft 218 Abb. 4–5: Abb. 4–10: Abb. 4–11: Abb. 4–15: 9 http://www.nomos-shop.de/23651 1. Der Gegenstand der Wirtschaftssoziologie „What I found is that the world is not dominated by big business in the way I had thought. Sure, the big multinationals are making the big profits, but the majority of the world’s trade is the product of small businesses owned by guys like John and Dennis … Of course it’s possible to trade the old way, because that’s the way the world has always operated. It’s easy to sit in an office in the City and think that it’s all about the big bucks; the fact is that those big bucks are just the total of all the small bucks swirling round the system, which are generated by people making a living. And that’s what it’s really all about – living” (Woodman 2009, 243). Die Beschäftigung mit Wirtschaftssoziologie muss zunächst vom Begriff der Wirtschaft ausgehen. Wirtschaft als Praxis der Sicherung des materiellen Lebens ist so alt wie die Menschheit; sie ist keine Erfindung der westlichen Zivilisation, entstand nicht erst mit dem Kapitalismus der Neuzeit und auch nicht mit der Erfindung des Marktes als zentralem Funktionsmechanismus der Allokation, Produktion und Verteilung von Gütern und Geld; und auch die Reflexion darüber und die gedankliche Abgrenzung eines Handlungsbereichs der Wirtschaft gegen andere Bereiche des Lebens haben eine lange Geschichte. In der Gegenwart ist das Verständnis von Wirtschaft durch die moderne Ökonomie und die Tatsache, dass wir unsere wirtschaftliche Realität als Marktwirtschaft bzw. als Kapitalismus begreifen, so sehr geprägt, dass diese Deutung zum Synonym für Wirtschaft schlechthin geworden ist. Sich dem Gegenstand aus einer anderen als der „ökonomischen“ Perspektive zu nähern, erfordert daher zunächst einen Prozess der Dekonstruktion, der auf die Wirklichkeit des Wirtschaftens als Praxis des Lebens zurückverweist. 1.1 Zur Geschichte der Wirtschaft als Praxis Das wirtschaftliche Handeln und dessen Organisationsformen haben das Leben, die Lebensweisen, aber auch die Vorstellungswelten der Völker bestimmt und die Natur, die sozialen Beziehungen und die Machtverhältnisse in ihren Gesellschaften verändert und sind ihrerseits durch diese verwandelt worden. Natur, Arbeit und Geschichte greifen ineinander und manifestieren sich in Wirtschaftsformen und Gesellschaftsstrukturen, denn der Mensch hat die Fähigkeit, „sein Verhältnis zur Natur zu verändern, indem er die 11 http://www.nomos-shop.de/23651 1. Der Gegenstand der Wirtschaftssoziologie Natur selbst verändert. Und diese Fähigkeit gibt ihm die materiellen Mittel, diese Bewegung zu stabilisieren, sie für einen mehr oder weniger langen Zeitraum in einer neuen Gesellschaftsform zu fixieren und bestimmte von ihm erfundene neue Formen des sozialen Lebens zu entwickeln und über ihren Ursprungsort hinaus zu verbreiten.“ Denn: „Im Gegensatz zu den anderen sozialen Lebewesen begnügen sich die Menschen nicht damit, in Gesellschaft zu leben, sie produzieren Gesellschaft, um zu leben“ (Godelier 1990, 13). 1.1.1 Wirtschaftsweisen und Gesellschaftsstrukturen Arbeit und Verwandtschaftsstrukturen Tausch Produktion Wirtschaft verbindet sich von Beginn der Menschheitsgeschichte an mit Arbeit, Arbeitsteilung und Kooperation sowie der Verteilung von Ressourcen und Gütern bzw. der Verfügungsmacht über diese zwischen den Menschen als Mitglieder ihrer Gemeinschaften. Über die bekannten Wirtschaftsstufen der Jäger und Sammler, der Ackerbauern und Viehzüchter bis hin zur industriellen Fertigung von Gütern zeigt sich daher ein enger Zusammenhang zwischen Wirtschaftsformen und Gesellschaftsstrukturen. Dabei ging es im Leben der Gruppen, Stämme und Völker lange um die Bedarfsdeckung für die Erhaltung des Lebens, um Subsistenzwirtschaft, bei der die Bedürfnisse als gegeben und gleichbleibend angenommen werden können. Leben und Wirtschaften vollzogen sich auf der Grundlage der Verwandtschaftsbeziehungen, die auch die Organisation der Arbeit und die Verteilung der Erträge innerhalb der Gruppe regelten. Wirtschaft wurde „als materieller Lebensprozess der Gesellschaft und nicht als rationaler Vorgang des individuellen Verhaltens“ (Sahlins 1981, 74) begriffen. Der Tausch von Gütern erfolgte zunächst typischerweise zwischen den Ethnien und war bestimmt durch die prekären Beziehungen, die zwischen den Stämmen herrschten. Vielfach waren Rituale und zeremonielle Praktiken erforderlich, um die Sicherung friedlicher Beziehungen bzw. um den jeweiligen Status in einem Wettstreit des Schenkens wertvoller Güter zu demonstrieren. Der rituelle Gabentausch hatte daher symbolische Bedeutung, bestimmte oft auch die Ausgangspositionen für den eigentlichen Tausch von notwendigen Gütern (Firth 1964; Malinowski 2001). Manche Beobachter meinten jedoch, dass die frühen Völker keinen eigentlich „wirtschaftlichen“ Tausch kannten, sondern der Austausch dem Prinzip der Reziprozität folgte bzw. nur rituelle Bedeutung hatte (Mauss 1990). Mit der „Produktion“ von Gütern durch die Bearbeitung des Bodens, die Veränderung der natürlichen Ressourcen und durch Verbesserung der 12 http://www.nomos-shop.de/23651 1.1 Zur Geschichte der Wirtschaft als Praxis Werkzeuge und Techniken wurde es möglich, Überschüsse zu erzeugen, die zunächst für den zukünftigen Gebrauch aufbewahrt oder aber gegen andere Güter eingetauscht werden konnten. Die Überschüsse veränderten aber auch die Struktur der Gesellschaft, da nun nicht mehr alle Mitglieder an der Beschaffung und Herstellung der Lebensmittel mitwirken mussten. Es entstanden spezielle Gruppen für bestimmte Funktionen, wie etwa Kriegerschichten, und Oberschichten entwickelten sich, die auch die Führungs- und Herrschaftseliten darstellten. Eroberungen, Wanderungen und das Bevölkerungswachstum, das durch die Überschussproduktion ermöglicht wurde, führten zu Überschichtungen und Differenzierungen in den „multiplexen Gesellschaften“, zur Entstehung einer Hierarchie und zur Konzentration der Herrschaft in einem Machtzentrum. Die Organisation der Arbeit in den despotischen Gesellschaften erforderte eine stärkere vertikale Arbeitsteilung und eine zentrale Lenkung der Verteilungsprozesse. Die Wirtschaftsaktivitäten konvergierten zu einem Zentrum, das einerseits die Organisation der Arbeit und die Verteilung der Lebensmittel steuerte und andererseits eine neue Ebene der wirtschaftlichen Prozesse durch den Luxusbedarf des Herrschers und der Elite schuf, der – sofern er nicht in Kriegsbeute bestand − durch Fernhändler befriedigt wurde. Die Wirtschaft in diesen Gesellschaften erscheint in hohem Maße durch die Herrschaftsstrukturen bestimmt, auch wenn es „privaten“ Kleinhandel, etwa im Mesopotamien des 3. Jahrtausend v.Chr. oder in der Induskultur neben der wirtschaftlichen Zentralverwaltung durch Tempel oder Palast in gewissem Umfang gab. Die Wirtschaft in den alten Reichen Mesopotamiens, Ägyptens, Indiens und Chinas beruhte auf Agrarwirtschaft, Beutewirtschaft, Tributzahlungen. Denn die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen den Gruppen, Völkern und Staaten waren nicht so sehr durch friedlichen Austausch gekennzeichnet, als vielmehr durch Kriege, Eroberungen, ethnische Überschichtungen, Vertreibungen, Versklavungen etc. Kriege stellten einen wichtigen wirtschaftlichen Faktor dar und umgekehrt waren wirtschaftliche Interessen sehr oft ein Motiv für Konflikte, was sich auch in der Gegenwart nicht geändert hat. In diesem Prozess bildeten sich die Strukturen von Reichtum und Armut heraus und es veränderten sich die Wirtschaftsformen und die gesellschaftlichen Institutionen. Jede reale Wirtschaftsform beruht auf einer großen Zahl von Faktoren: auf den natürlichen Bedingungen und deren Veränderung durch die Menschen, also auf den Techniken, die angewandt werden; auf der dadurch bedingten Art und Weise des Arbeitens, der Arbeitsteilung und der Koordination der 13 Herrschaftsstrukturen Ko-Evolution und externe Einflüsse http://www.nomos-shop.de/23651 1. Der Gegenstand der Wirtschaftssoziologie Tätigkeiten sowie der Aufteilung der Erträge; aber auch auf den Bedingungen, Ereignissen und Veränderungen in den Gesellschaften, die ihre Geschichte prägen. Man kann diesbezüglich auch von einer Ko-Evolution von wirtschaftlichen, politischen und sozialen Veränderungen sprechen, solange dieser Begriff nicht mit der Bedeutung einer endogenen, quasi-gesetzmäßigen Entfaltung verbunden wird. Denn externe Einflüsse wie Wanderungen, Kriege und Eroberungen sowie Diffusionseffekte durch die Verbreitung von Ideen, Techniken und Praktiken hatten immer auch einen großen Einfluss auf die Ausformung und Entwicklung von Wirtschaftsformen und Gesellschaftsstrukturen. Unter dem Eindruck des Aufstiegs der europäisch-amerikanischen Zivilisation im Laufe der letzten Jahrhunderte und der Dominanz ihrer Deutungsmuster wurde daraus gedanklich eine unilineare Entwicklung konstruiert, aber kulturelle Evolution bedeutet nicht einen kontinuierlichen Prozess der inneren Entfaltung, sondern verläuft teils kontinuierlich, teils diskontinuierlich und unter dem Einfluss sowohl interner wie externer Faktoren. 1.1.2 Das „vormoderne“ Wirtschaftshandeln Magischmythische Denkweisen Multidimensionale Rationalität Wirtschaften als Handeln umfasst nicht nur Praktiken, sondern auch Denkweisen und Wertvorstellungen. Das Wirtschaften in den Gesellschaften, die als „vormodern“ bezeichnet werden, weil sie sich in jenen Merkmalen, die als typisch für die „modernen“ Gesellschaften gelten, von diesen unterscheiden, verband sich, wie Kulturanthropologen und Religionswissenschaftler aufzeigen, mit magisch-mythischen Deutungen, die sich auf Natur und Gemeinschaft, aber auch auf einschneidende Ereignisse und Brüche in den Traditionen bezogen (Junge 2008). Das Wirtschaften der Völker erschien den fremden Beobachtern im Vergleich zu ihrer eigenen Kultur mit dem Gemeinschaftsleben und den gesellschaftlichen Strukturen nicht nur praktisch untrennbar verbunden, sondern es schien auch keine eigene Bedeutung im Sinne einer spezifisch ökonomischen Rationalität zu besitzen. Weder konnte es im Sinne der Verfolgung individueller Interessen noch als ein spezieller Handlungsbereich, der durch beruflich-institutionelle Regeln und Strukturen charakterisiert war, verstanden werden. Das Wirtschaften der Völker war aus dem Lebensvollzug und seinem sozialen und gesellschaftlichen Rahmen nicht losgelöst. In den alten Reichen mit ihren zentralen Strukturen entstanden Glaubenssysteme, die einen engen Bezug zu den Herrschaftsstrukturen und eine ethisch-politische Deutung wirtschaftlicher Gegebenheiten aufwiesen. Man kann auch sagen, 14 http://www.nomos-shop.de/23651 1.1 Zur Geschichte der Wirtschaft als Praxis dass in den vormodernen Gesellschaften nicht-wirtschaftliche Institutionen wirtschaftliche Funktionen mit erfüllt haben (Godelier 1990). Das bedeutet jedoch nicht, dass das Handeln der Menschen nicht rational war. Es war allerdings nicht die Rationalität, die sich unter dem Eindruck des modernen Wirtschaftsdenkens entwickelte. Das Denken war vielmehr durch eine „multidimensionale Rationalität“ (Gellner 1990) charakterisiert, d.h. durch eine Mehrzahl von gleichzeitig die Ziele und die Mittel des Handelns beeinflussenden Erwägungen religiöser, sozialer, politischer und wirtschaftlicher Art beeinflusst. Den Möglichkeiten zur individuellen Interessendurchsetzung stand aufgrund der natürlichen und technischen, aber auch der sozialen und politischen Gegebenheiten wenig Spielraum zu Gebote. Die Manifestation individueller Interessen und einer darauf bezogenen Zweckrationalität innerhalb der Gesellschaften hing davon ab, wie stark die Wirkung der Normen der Gruppe und wie groß die sozialen Distanzen in den Gesellschaften waren. Je nachdem konnte es auch in vormodernen Gesellschaften zu „negativer Reziprozität“ und eigennützigem Handeln kommen (Sahlins 2005, 83). Befunde über indigene Völker zeigen mitunter, dass es im Zuge des Kontakts mit der westlichen Zivilisation oftmals rasch zur Übernahme „individueller“ Wirtschaftsmotive kommen kann. Auch galt immer schon die Verfolgung von Vorteilen gegenüber Angehörigen anderer Stämme oder Fremden als mehr oder weniger akzeptabel. Die Wahrnehmung und das Verständnis der „modernen“ Wirtschaft als Marktwirtschaft bestimmten vielfach die Deutung der „vormodernen“ Wirtschaft als anders, und die dieser zugeschriebenen Merkmale verstärkten wiederum die Überzeugung vom Charakter der „modernen“ Wirtschaft als auf individuellen Nutzenkalkülen und der gesetzmäßigen Eigendynamik von Angebot und Nachfrage beruhend. So wird meist übersehen, dass es auch in modernen Gesellschaften den rituellen Geschenktausch und symbolische, rituelle und soziale Aspekte in Marktprozessen und im Umgang mit Geld gibt. Sie werden überdeckt durch den Rationalitätsschleier des modernen Denkens. Die „moderne Wirtschaft“ ist ein gedankliches Konstrukt, denn „modern“ ist nicht alles, was es in der Gegenwart gibt, sondern nur jene Teile oder Facetten, die als typisch für die Besonderheit der Gegenwart im Vergleich und in der Abgrenzung von den „vormodernen“ Formen verstanden werden. Aber Wirtschaftshandeln, Gesellschaftsstrukturen und Kulturmuster hängen auch in der Gegenwart eng miteinander zusammen. 15 Individuelle Interessen „Moderne“ und „vormoderne“ Wirtschaft