Wirtschafts soziologie

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Dies ist ein utb-Band aus dem Nomos Verlag.
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ISBN 978-3-8252-4293-0
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Maurer | Mikl-Horke
Die Wirtschaftssoziologie hat in den letzten Jahren
bahnbrechende Analysen zu Unternehmen, Märkten,
Wirtschaftsregionen und -systemen vorgelegt.
Wer sich über die Entwicklung und den Stand der neuen
Wirtschaftssoziologie informieren möchte, findet hier
wichtige Klassiker, wegweisende theoretische Konzepte
und bedeutende empirische Studien dargestellt.
Wirtschaftssoziologie
Soziologie
Andrea Maurer
Gertraude Mikl-Horke
Wirtschafts­
soziologie
Studienkurs
Soziologie
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Andrea Maurer | Gertraude Mikl-Horke
Wirtschaftssoziologie
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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in
der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische
Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
ISBN 978-3-8252-4293-0 (UTB)
1. Auflage 2015
© Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2015. Printed in Germany. Alle Rechte,
auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der
Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.
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Inhaltsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis ......................................................................
9
1. Der Gegenstand der Wirtschaftssoziologie .....................................
11
1.1 Zur Geschichte der Wirtschaft als Praxis ............................... 11
1.1.1 Wirtschaftsweisen und Gesellschaftsstrukturen .............. 12
1.1.2 Das „vormoderne“ Wirtschaftshandeln ......................... 14
1.2 Begriff und Ökonomie: Wirtschaft als Handlungs- und
Wissensbereich .................................................................... 16
1.2.1 Wirtschaft in praktisch-ethischen und politischen
Lehren ....................................................................... 17
1.2.2 Die klassische Ökonomie und ihre gesellschaftlichen
Grundlagen: Frankreich und England im Vergleich ........ 20
1.3 Wirtschaft als Markt: Die Wirtschaftstheorie und ihre
Modellwirtschaft .................................................................
1.3.1 Die naturwissenschaftlichen Grundlagen der modernen
Ökonomie ..................................................................
1.3.2 Subjektive Nutzentheorie und Marktmechanismus .........
1.3.3 Die Ökonomik der Gegenwart .....................................
23
23
25
28
1.4 Das Erkenntnisobjekt der Wirtschaftssoziologie .....................
1.4.1 Wirtschaft als praktisches Handeln ...............................
1.4.2 Vielfalt und Wandel der Wirtschaft der Gegenwart ........
1.4.3 Der Gegenstand der Wirtschaftssoziologie und die
Praxiswirkungen der Ökonomie ...................................
30
31
33
2. (Re)Konstruktion einer komplexen Tradition ................................
41
2.1 Visionen und Analysen der modernen Wirtschaftsgesellschaft ..
2.1.1 Die kommerzielle Gesellschaft des Adam Smith: Sozialer
Individualismus und moralische Ordnung .....................
2.1.2 Die industrielle Gesellschaft und die Soziologie ..............
2.1.3 Die kapitalistische Gesellschaft: Karl Marx und die
dialektische Dynamik der Produktionsverhältnisse .........
41
37
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47
5
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Inhaltsverzeichnis
2.2 Positionen und Perspektiven .................................................
2.2.1 Historische und institutionalistische Ökonomie und ihre
wirtschaftssoziologische Relevanz .................................
2.2.2 Reine Ökonomie, Wirtschaftssoziologie und
Sozialökonomie ..........................................................
2.2.3 Individualistische Sozialwissenschaft .............................
2.2.4 Die Krise der Gemeinschaft: Soziologische Kritik der
individualistischen Marktgesellschaft ............................
2.2.5 Kulturanalyse und Zeitdiagnostik: Simmel, Sombart und
Mannheim ..................................................................
2.2.6 Zwischen Markt und Staat: Die Krise des liberalen
Kapitalismus ...............................................................
52
2.3 „Klassiker“ der Wirtschaftssoziologie ....................................
2.3.1 Max Weber: Wirtschaftssoziologie in verstehenderklärender Absicht .....................................................
2.3.2 Joseph A. Schumpeter: Kapitalistische Entwicklung,
Wirtschaftsanalyse und Wirtschaftssoziologie ................
2.3.3 Karl Polanyi: Einbettung und institutionelle Einrichtung
der Wirtschaft .............................................................
2.3.4 Adolph Lowe: Ökonomie, Soziologie und soziale Ziele ...
2.3.5 Die funktionalistische Synthese von Wirtschaft und
Gesellschaft in Amerika: Talcott Parsons .......................
82
52
57
63
69
74
79
82
93
99
103
107
3. Grundfragen und Problemstellungen der Wirtschaftssoziologie ........ 113
3.1 Zur Gegenwartsrelevanz der klassischen Problemstellungen .....
3.1.1 Rationalisierung der Wirtschaft und der Kultur .............
3.1.2 Folgen wirtschaftlicher Transformation für Gesellschaft
und Gemeinschaft .......................................................
3.1.3 Wirtschaft, Macht und soziale Ungleichheit ...................
3.1.4 Soziale und kulturelle Grundlagen der Wirtschaft ..........
3.1.5 Wirtschaft als Mittel für soziale Ziele? ..........................
113
113
117
119
121
122
3.2 Grundlinien der Konstitution der Wirtschaftssoziologie in der
Nachkriegsphase ................................................................. 123
3.2.1 Zuordnung der Wirtschaftssoziologie ............................ 123
3.2.2 Wirtschaftssoziologie zwischen Empirie und Theorie ...... 125
6
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Inhaltsverzeichnis
3.2.3 Ökonomische Ansatzpunkte für eine
sozialwissenschaftlichen Integration .............................. 128
3.2.4 Ausblick und Grundfragen ........................................... 130
4. Neuere wirtschaftssoziologische Ansätze ....................................... 135
4.1 Der Neuaufbruch in den 1980er Jahren ................................. 135
4.2 „Neue Wirtschaftssoziologie“ ...............................................
4.2.1 Das Forschungsprogramm von Mark Granovetter ..........
4.2.2 Netzwerkforschung und neue Wirtschaftssoziologie .......
4.2.3 Position und Stand der neuen Wirtschaftssoziologie .......
141
142
152
164
4.3 Das Rational Choice-Programm ............................................
4.3.1 Das Forschungsprogramm von James S. Coleman ..........
4.3.2 Wirtschaftssoziologische Umsetzung .............................
4.3.3 Zur Bedeutung der Sozialtheorie Colemans ...................
166
170
174
181
4.4 Wirtschaftssoziologie nach Max Weber .................................
4.4.1 Die verstehend-erklärende Soziologie ............................
4.4.2 Handlungstypologie ....................................................
4.4.3 Kapitalismusthese .......................................................
4.4.4 Weber als Wirtschaftssoziologe und Sozioökonom .........
183
184
190
191
192
4.5 Institutionen-, feld- und konventionentheoretische Ansätze .....
4.5.1 Neuer Institutionalismus in der Wirtschaftssoziologie:
Nee, Fligstein ..............................................................
4.5.2 Feld- und Kapitaltheorie: Bourdieu ...............................
4.5.3 Konventionen und die Ökonomie der Wertigkeit:
Boltanski und Thevenot ...............................................
4.5.4 Institutionen und Konventionen in der
Wirtschaftssoziologie ...................................................
194
196
200
204
213
4.6 Anliegen und Prinzipien der Wirtschaftssoziologie .................. 216
5. Anwendungsfelder und empirische Studien .................................... 221
5.1 Märkte ...............................................................................
5.1.1 Die soziale Einbettung von Tausch und Markt ...............
5.1.2 Die institutionelle Ordnung von Märkten ......................
5.1.3 Die sozial-kulturelle Konstitution von Märkten .............
5.1.4 Marktkritik und Moral ................................................
221
221
223
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231
7
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Inhaltsverzeichnis
5.1.5 Entwicklungslinien und Herausforderungen .................. 232
5.2 Unternehmen und Wirtschaftsregionen ..................................
5.2.1 Unternehmen als Akteure auf Märkten:
Unternehmenskooperation ...........................................
5.2.2 Unternehmertum und unternehmerisches Handeln .........
5.2.3 Wirtschaftsregionen als Netzwerke von Unternehmen ....
5.2.4 Perspektiven ...............................................................
233
234
235
238
240
5.3 Der Kapitalismus als Wirtschaftsform ................................... 241
5.4 Aktuelle Forschungsfelder und Anwendungen ........................ 244
6. Herausforderungen und Perspektiven der Wirtschaftssoziologie ....... 249
Literaturverzeichnis .......................................................................... 257
Personenverzeichnis ......................................................................... 277
Stichwortverzeichnis ........................................................................ 279
8
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Abbildungsverzeichnis
Abb. 4–1:
Netzwerk mit schwachen und starken Beziehungen
154
Abb. 4–2:
Netzwerk mit Brücken
155
Abb. 4–3:
Strukturale Handlungstheorie nach Ronald Burt
157
Abb. 4–4:
Vergleich der Koordination durch Markt, Netz und
Hierarchie
160
Wirtschaft als wissenschaftlicher Gegenstand in den
1980er Jahren
165
Abb. 4–6:
Allgemeine Handlungstheorie und die Badewanne
171
Abb. 4–7:
Soziale Interdependenzformen – Handlungsformen –
Handlungssysteme bei Coleman
173
Abb. 4–8:
Koordinationsformen nach Coleman
176
Abb. 4–9:
Rational Choice-Theorie und neue
Wirtschaftssoziologie
182
Handlungsmotiv und Wirtschaftsformen bei Max
Weber
189
Interessen-basiertes soziales Handlungsmodell nach
Richard Swedberg
191
Abb. 4–12:
Weber und die neue Wirtschaftssoziologie
193
Abb. 4–13:
Akteure – Konventionen – Situationen
206
Abb. 4–14:
Institutionen als Gegenstand der
Wirtschaftssoziologie
215
Soziale Erklärungsfaktoren in der Wirtschaft
218
Abb. 4–5:
Abb. 4–10:
Abb. 4–11:
Abb. 4–15:
9
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1. Der Gegenstand der Wirtschaftssoziologie
„What I found is that the world is not dominated by big business in the
way I had thought. Sure, the big multinationals are making the big profits,
but the majority of the world’s trade is the product of small businesses owned by guys like John and Dennis … Of course it’s possible to trade the old
way, because that’s the way the world has always operated. It’s easy to sit
in an office in the City and think that it’s all about the big bucks; the fact is
that those big bucks are just the total of all the small bucks swirling round
the system, which are generated by people making a living. And that’s what
it’s really all about – living” (Woodman 2009, 243).
Die Beschäftigung mit Wirtschaftssoziologie muss zunächst vom Begriff der
Wirtschaft ausgehen. Wirtschaft als Praxis der Sicherung des materiellen Lebens ist so alt wie die Menschheit; sie ist keine Erfindung der westlichen Zivilisation, entstand nicht erst mit dem Kapitalismus der Neuzeit und auch
nicht mit der Erfindung des Marktes als zentralem Funktionsmechanismus
der Allokation, Produktion und Verteilung von Gütern und Geld; und auch
die Reflexion darüber und die gedankliche Abgrenzung eines Handlungsbereichs der Wirtschaft gegen andere Bereiche des Lebens haben eine lange
Geschichte. In der Gegenwart ist das Verständnis von Wirtschaft durch die
moderne Ökonomie und die Tatsache, dass wir unsere wirtschaftliche Realität als Marktwirtschaft bzw. als Kapitalismus begreifen, so sehr geprägt,
dass diese Deutung zum Synonym für Wirtschaft schlechthin geworden ist.
Sich dem Gegenstand aus einer anderen als der „ökonomischen“ Perspektive zu nähern, erfordert daher zunächst einen Prozess der Dekonstruktion,
der auf die Wirklichkeit des Wirtschaftens als Praxis des Lebens zurückverweist.
1.1 Zur Geschichte der Wirtschaft als Praxis
Das wirtschaftliche Handeln und dessen Organisationsformen haben das
Leben, die Lebensweisen, aber auch die Vorstellungswelten der Völker bestimmt und die Natur, die sozialen Beziehungen und die Machtverhältnisse
in ihren Gesellschaften verändert und sind ihrerseits durch diese verwandelt
worden. Natur, Arbeit und Geschichte greifen ineinander und manifestieren
sich in Wirtschaftsformen und Gesellschaftsstrukturen, denn der Mensch
hat die Fähigkeit, „sein Verhältnis zur Natur zu verändern, indem er die
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1. Der Gegenstand der Wirtschaftssoziologie
Natur selbst verändert. Und diese Fähigkeit gibt ihm die materiellen Mittel,
diese Bewegung zu stabilisieren, sie für einen mehr oder weniger langen
Zeitraum in einer neuen Gesellschaftsform zu fixieren und bestimmte von
ihm erfundene neue Formen des sozialen Lebens zu entwickeln und über
ihren Ursprungsort hinaus zu verbreiten.“ Denn: „Im Gegensatz zu den anderen sozialen Lebewesen begnügen sich die Menschen nicht damit, in Gesellschaft zu leben, sie produzieren Gesellschaft, um zu leben“ (Godelier
1990, 13).
1.1.1 Wirtschaftsweisen und Gesellschaftsstrukturen
Arbeit und
Verwandtschaftsstrukturen
Tausch
Produktion
Wirtschaft verbindet sich von Beginn der Menschheitsgeschichte an mit Arbeit, Arbeitsteilung und Kooperation sowie der Verteilung von Ressourcen
und Gütern bzw. der Verfügungsmacht über diese zwischen den Menschen
als Mitglieder ihrer Gemeinschaften. Über die bekannten Wirtschaftsstufen
der Jäger und Sammler, der Ackerbauern und Viehzüchter bis hin zur industriellen Fertigung von Gütern zeigt sich daher ein enger Zusammenhang
zwischen Wirtschaftsformen und Gesellschaftsstrukturen. Dabei ging es im
Leben der Gruppen, Stämme und Völker lange um die Bedarfsdeckung für
die Erhaltung des Lebens, um Subsistenzwirtschaft, bei der die Bedürfnisse
als gegeben und gleichbleibend angenommen werden können. Leben und
Wirtschaften vollzogen sich auf der Grundlage der Verwandtschaftsbeziehungen, die auch die Organisation der Arbeit und die Verteilung der Erträge innerhalb der Gruppe regelten. Wirtschaft wurde „als materieller Lebensprozess der Gesellschaft und nicht als rationaler Vorgang des individuellen
Verhaltens“ (Sahlins 1981, 74) begriffen.
Der Tausch von Gütern erfolgte zunächst typischerweise zwischen den Ethnien und war bestimmt durch die prekären Beziehungen, die zwischen den
Stämmen herrschten. Vielfach waren Rituale und zeremonielle Praktiken erforderlich, um die Sicherung friedlicher Beziehungen bzw. um den jeweiligen Status in einem Wettstreit des Schenkens wertvoller Güter zu demonstrieren. Der rituelle Gabentausch hatte daher symbolische Bedeutung, bestimmte oft auch die Ausgangspositionen für den eigentlichen Tausch von
notwendigen Gütern (Firth 1964; Malinowski 2001). Manche Beobachter
meinten jedoch, dass die frühen Völker keinen eigentlich „wirtschaftlichen“
Tausch kannten, sondern der Austausch dem Prinzip der Reziprozität folgte
bzw. nur rituelle Bedeutung hatte (Mauss 1990).
Mit der „Produktion“ von Gütern durch die Bearbeitung des Bodens, die
Veränderung der natürlichen Ressourcen und durch Verbesserung der
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1.1 Zur Geschichte der Wirtschaft als Praxis
Werkzeuge und Techniken wurde es möglich, Überschüsse zu erzeugen, die
zunächst für den zukünftigen Gebrauch aufbewahrt oder aber gegen andere
Güter eingetauscht werden konnten. Die Überschüsse veränderten aber
auch die Struktur der Gesellschaft, da nun nicht mehr alle Mitglieder an der
Beschaffung und Herstellung der Lebensmittel mitwirken mussten. Es entstanden spezielle Gruppen für bestimmte Funktionen, wie etwa Kriegerschichten, und Oberschichten entwickelten sich, die auch die Führungs- und
Herrschaftseliten darstellten. Eroberungen, Wanderungen und das Bevölkerungswachstum, das durch die Überschussproduktion ermöglicht wurde,
führten zu Überschichtungen und Differenzierungen in den „multiplexen
Gesellschaften“, zur Entstehung einer Hierarchie und zur Konzentration der
Herrschaft in einem Machtzentrum.
Die Organisation der Arbeit in den despotischen Gesellschaften erforderte
eine stärkere vertikale Arbeitsteilung und eine zentrale Lenkung der Verteilungsprozesse. Die Wirtschaftsaktivitäten konvergierten zu einem Zentrum,
das einerseits die Organisation der Arbeit und die Verteilung der Lebensmittel steuerte und andererseits eine neue Ebene der wirtschaftlichen Prozesse
durch den Luxusbedarf des Herrschers und der Elite schuf, der – sofern er
nicht in Kriegsbeute bestand − durch Fernhändler befriedigt wurde. Die
Wirtschaft in diesen Gesellschaften erscheint in hohem Maße durch die
Herrschaftsstrukturen bestimmt, auch wenn es „privaten“ Kleinhandel, etwa im Mesopotamien des 3. Jahrtausend v.Chr. oder in der Induskultur neben der wirtschaftlichen Zentralverwaltung durch Tempel oder Palast in gewissem Umfang gab. Die Wirtschaft in den alten Reichen Mesopotamiens,
Ägyptens, Indiens und Chinas beruhte auf Agrarwirtschaft, Beutewirtschaft,
Tributzahlungen. Denn die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen den
Gruppen, Völkern und Staaten waren nicht so sehr durch friedlichen Austausch gekennzeichnet, als vielmehr durch Kriege, Eroberungen, ethnische
Überschichtungen, Vertreibungen, Versklavungen etc. Kriege stellten einen
wichtigen wirtschaftlichen Faktor dar und umgekehrt waren wirtschaftliche
Interessen sehr oft ein Motiv für Konflikte, was sich auch in der Gegenwart
nicht geändert hat. In diesem Prozess bildeten sich die Strukturen von
Reichtum und Armut heraus und es veränderten sich die Wirtschaftsformen
und die gesellschaftlichen Institutionen.
Jede reale Wirtschaftsform beruht auf einer großen Zahl von Faktoren: auf
den natürlichen Bedingungen und deren Veränderung durch die Menschen,
also auf den Techniken, die angewandt werden; auf der dadurch bedingten
Art und Weise des Arbeitens, der Arbeitsteilung und der Koordination der
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Herrschaftsstrukturen
Ko-Evolution und
externe
Einflüsse
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1. Der Gegenstand der Wirtschaftssoziologie
Tätigkeiten sowie der Aufteilung der Erträge; aber auch auf den Bedingungen, Ereignissen und Veränderungen in den Gesellschaften, die ihre Geschichte prägen. Man kann diesbezüglich auch von einer Ko-Evolution von
wirtschaftlichen, politischen und sozialen Veränderungen sprechen, solange
dieser Begriff nicht mit der Bedeutung einer endogenen, quasi-gesetzmäßigen Entfaltung verbunden wird. Denn externe Einflüsse wie Wanderungen,
Kriege und Eroberungen sowie Diffusionseffekte durch die Verbreitung von
Ideen, Techniken und Praktiken hatten immer auch einen großen Einfluss
auf die Ausformung und Entwicklung von Wirtschaftsformen und Gesellschaftsstrukturen. Unter dem Eindruck des Aufstiegs der europäisch-amerikanischen Zivilisation im Laufe der letzten Jahrhunderte und der Dominanz
ihrer Deutungsmuster wurde daraus gedanklich eine unilineare Entwicklung
konstruiert, aber kulturelle Evolution bedeutet nicht einen kontinuierlichen
Prozess der inneren Entfaltung, sondern verläuft teils kontinuierlich, teils
diskontinuierlich und unter dem Einfluss sowohl interner wie externer Faktoren.
1.1.2 Das „vormoderne“ Wirtschaftshandeln
Magischmythische
Denkweisen
Multidimensionale
Rationalität
Wirtschaften als Handeln umfasst nicht nur Praktiken, sondern auch Denkweisen und Wertvorstellungen. Das Wirtschaften in den Gesellschaften, die
als „vormodern“ bezeichnet werden, weil sie sich in jenen Merkmalen, die
als typisch für die „modernen“ Gesellschaften gelten, von diesen unterscheiden, verband sich, wie Kulturanthropologen und Religionswissenschaftler
aufzeigen, mit magisch-mythischen Deutungen, die sich auf Natur und Gemeinschaft, aber auch auf einschneidende Ereignisse und Brüche in den Traditionen bezogen (Junge 2008).
Das Wirtschaften der Völker erschien den fremden Beobachtern im Vergleich zu ihrer eigenen Kultur mit dem Gemeinschaftsleben und den gesellschaftlichen Strukturen nicht nur praktisch untrennbar verbunden, sondern
es schien auch keine eigene Bedeutung im Sinne einer spezifisch ökonomischen Rationalität zu besitzen. Weder konnte es im Sinne der Verfolgung individueller Interessen noch als ein spezieller Handlungsbereich, der durch
beruflich-institutionelle Regeln und Strukturen charakterisiert war, verstanden werden. Das Wirtschaften der Völker war aus dem Lebensvollzug und
seinem sozialen und gesellschaftlichen Rahmen nicht losgelöst. In den alten
Reichen mit ihren zentralen Strukturen entstanden Glaubenssysteme, die
einen engen Bezug zu den Herrschaftsstrukturen und eine ethisch-politische
Deutung wirtschaftlicher Gegebenheiten aufwiesen. Man kann auch sagen,
14
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1.1 Zur Geschichte der Wirtschaft als Praxis
dass in den vormodernen Gesellschaften nicht-wirtschaftliche Institutionen
wirtschaftliche Funktionen mit erfüllt haben (Godelier 1990). Das bedeutet
jedoch nicht, dass das Handeln der Menschen nicht rational war. Es war allerdings nicht die Rationalität, die sich unter dem Eindruck des modernen
Wirtschaftsdenkens entwickelte. Das Denken war vielmehr durch eine
„multidimensionale Rationalität“ (Gellner 1990) charakterisiert, d.h. durch
eine Mehrzahl von gleichzeitig die Ziele und die Mittel des Handelns beeinflussenden Erwägungen religiöser, sozialer, politischer und wirtschaftlicher
Art beeinflusst.
Den Möglichkeiten zur individuellen Interessendurchsetzung stand aufgrund der natürlichen und technischen, aber auch der sozialen und politischen Gegebenheiten wenig Spielraum zu Gebote. Die Manifestation individueller Interessen und einer darauf bezogenen Zweckrationalität innerhalb
der Gesellschaften hing davon ab, wie stark die Wirkung der Normen der
Gruppe und wie groß die sozialen Distanzen in den Gesellschaften waren. Je
nachdem konnte es auch in vormodernen Gesellschaften zu „negativer Reziprozität“ und eigennützigem Handeln kommen (Sahlins 2005, 83). Befunde
über indigene Völker zeigen mitunter, dass es im Zuge des Kontakts mit der
westlichen Zivilisation oftmals rasch zur Übernahme „individueller“ Wirtschaftsmotive kommen kann. Auch galt immer schon die Verfolgung von
Vorteilen gegenüber Angehörigen anderer Stämme oder Fremden als mehr
oder weniger akzeptabel.
Die Wahrnehmung und das Verständnis der „modernen“ Wirtschaft als
Marktwirtschaft bestimmten vielfach die Deutung der „vormodernen“
Wirtschaft als anders, und die dieser zugeschriebenen Merkmale verstärkten
wiederum die Überzeugung vom Charakter der „modernen“ Wirtschaft als
auf individuellen Nutzenkalkülen und der gesetzmäßigen Eigendynamik von
Angebot und Nachfrage beruhend. So wird meist übersehen, dass es auch in
modernen Gesellschaften den rituellen Geschenktausch und symbolische, rituelle und soziale Aspekte in Marktprozessen und im Umgang mit Geld
gibt. Sie werden überdeckt durch den Rationalitätsschleier des modernen
Denkens. Die „moderne Wirtschaft“ ist ein gedankliches Konstrukt, denn
„modern“ ist nicht alles, was es in der Gegenwart gibt, sondern nur jene
Teile oder Facetten, die als typisch für die Besonderheit der Gegenwart im
Vergleich und in der Abgrenzung von den „vormodernen“ Formen verstanden werden. Aber Wirtschaftshandeln, Gesellschaftsstrukturen und Kulturmuster hängen auch in der Gegenwart eng miteinander zusammen.
15
Individuelle
Interessen
„Moderne“
und
„vormoderne“
Wirtschaft
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