Fall 03 b Loesung _Parteien

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Institut für Öffentliches Recht
Universität Augsburg
Wintersemester 2011/2012
Fallbesprechungen zum Grundkurs Öffentliches Recht I
(Staatsorganisationsrecht)
Fall 3: Parteienrecht
Teil 1:
In Betracht kommt eine abstrakte Normenkontrolle gemäß Art. 93 I Nr. 2 GG i.V.m.
§§ 13 Nr. 6, 76 ff. BVerfGG. Sie hat Erfolg, wenn sie zulässig und begründet ist.
A. Zulässigkeit
I. Zuständigkeit
- Art. 93 I Nr. 2 GG, § 13 Nr. 6 BVerfGG
II. Antragsberechtigung
- Bundesregierung gem. Art. 93 I Nr. 2 GG, § 76 BVerfGG
III. Antragsgegenstand
- Parteiengesetz ist Bundesrecht
- tauglicher Antragsgegenstand gem. Art. 93 I Nr. 2 GG
IV. Antragsgrund
- Art. 93 I Nr. 2 GG, § 76 I Nr. 1 BVerfGG
(P): Gem. § 76 I Nr. 1 BVerfGG muss Antragsteller gerügtes Bundesrecht für nichtig halten vs. Art. 93 I Nr. 2 GG Meinungsverschiedenheiten oder Zweifel reichen
Argument: Grundgesetz geht dem BVerfGG als höherangiges Recht vor
Ergebnis: Bundesregierung hat Zweifel, damit Antragsgrund gem. Art. 93 I Nr. 2 GG gegeben
V. Form
- § 23 I BVerfGG
VI. Zwischenergebnis
- Antrag zulässig
B. Begründetheit
I. Formelle Verfassungsmäßigkeit
1. Gesetzgebungskompetenz
- Gesetzgebungskompetenz des Bundes aus Art. 21 III GG
2. Gesetzgebungsverfahren und Form
a) Gesetzesinitiative
-
gem. Art. 76 I GG Gesetzentwurf aus der Mitte des Bundestages
Tatbestandsmerkmal „aus der Mitte des Bundestages“ bestimmt § 76 GOBT näher
danach ist Fraktion bzw. sind 5% der Mitglieder des Bundestages initiativberechtigt
die Abgeordneten der S-Fraktion sind somit berechtigt, Gesetzesinitiativen einzubringen
b) Beschlussfassung
aa) im Bundestag
(1) Beschluss nach zwei Lesungen
- Art. 78 I 1 GOBT schreibt drei Lesungen vor
- es wurde auch keine Abweichung von der Geschäftsordnung nach § 126 GOBT beschlossen
(P): Wie wirkt sich Verstoß gegen § 78 I 1 GOBT aus?
- Verstoß gegen GOBT nicht mit Verstoß gegen GG gleichzusetzen
- Art. 82 I 1 GG verlangt lediglich, dass ein Gesetz nach den Vorschriften dieses Grundgesetzes zustande gekommen ist
- Verfassungswidrigkeit nur dann, wenn Inhalt der GOBT-Regel auch in der Verfassung
Ausdruck gefunden hat, sog. „verfassungsrelevanter“ Inhalt
- Art. 76 ff. GG äußern sich zu Notwendigkeit von drei Lesungen nicht, in Art. 77 I 1 GG
wird nur vorgegeben, dass der Bundestag Beschluss zu fassen hat
- wie der Prozess der parlamentarischen Meinungsbildung bis dahin gestaltet wird, ist
Sache der Satzungsautonomie des Bundestages (Art. 40 I 2 GG)
- das Erfordernis von drei Lesungen gehört nicht zu den unabdingbaren Grundsätzen
demokratischer rechtsstaatlicher Ordnung
- damit kommt es nicht auf die Anzahl der Lesungen eines Gesetzes an, sondern darauf,
dass ein Meinungsbildungsprozess stattfindet und in einer Beschlussfassung endet
Ergebnis: Verstoß gegen § 78 I 1 GOBT führt nicht zur Verfassungswidrigkeit
(2) Beschlussfähigkeit des Bundestages
- wirksamer Beschluss des Bundestages nur gegeben, wenn Bundestag beschlussfähig
- Beschlussfähigkeit des Bundestages in § 45 I GOBT geregelt, danach müssen die Hälfte seiner Mitglieder anwesend sein, hier (–)
- § 45 II GOBT bestimmt jedoch, dass zur Feststellung der Beschlussunfähigkeit die Beschlussfähigkeit bezweifelt werden muss und ihr Fehlen ausdrücklich festgestellt werden muss
- vorliegend wurde die Beschlussunfähigkeit des Bundestages nicht festgestellt, die Beschlussfähigkeit wird vermutet
- § 45 II GOBT ist dadurch gerechtfertigt, dass die wesentliche Arbeit an der Gesetzesvorlage in den Ausschüssen und zwischen den Fraktionen geleistet wird und daher die
geringe Präsenz während der Schlussabstimmung idR ein Zeichen für einen breiten
Konsens ist
- möglicherweise muss trotz fehlender Feststellung aber von der Beschlussunfähigkeit
ausgegangen werden, wenn nicht genug Mitglieder anwesend sind, um die Beschlussunfähigkeit überhaupt feststellen zu können
- im Falle einer solch geringen Beteiligung könnte das Demokratieprinzip aus Art. 20 II
GG verletzt sein
- derzeit hat der Bundestag 620 Abgeordnete, damit müssten mindestens 32 Abgeordnete (620*5%=31; beachte auch: nur „ganze“ Abgeordnete zählen) anwesend sein,
um die Beschlussfähigkeit gem. § 45 I GOBT zu bezweifeln
- vorliegend sind 40 Abgeordnete anwesend, die Beschlussfähigkeit hätte also von mindestens 5% der Abgeordneten gem. § 45 I GOBT angezweifelt werden können
Ergebnis: Beschlussfähigkeit wird vermutet, damit liegt kein formeller Verfassungsverstoß vor
bb) im Bundesrat (+)
- kein Einspruch gem. Art. 77 III GG, daher ordnungsgemäße Beteiligung des Bundesrates
c) Ausfertigung und Verkündung (+)
3. Zwischenergebnis
- Gesetz formell verfassungsgemäß
II. Materielle Verfassungsmäßigkeit
Verstoß gegen den Grundsatz der Chancengleichheit der Parteien?
1. Herleitung
- nicht ausdrücklich normiert
- Grundlage des Grundsatzes der Chancengleichheit umstritten:
- die Entscheidung des Grundgesetzes für eine parlamentarische Demokratie hat ein
Mehrparteiensystem und die Chancengleichheit der miteinander konkurrierenden Parteien zur unabdingbaren Folge, insofern Folge aus Art. 21 I 2 GG
- vgl. auch Art. 21 I 1 GG i.V.m. Art. 38 GG bzw. Art. 21 I GG i.V.m. Art. 3 I GG
- einfachgesetzliche Ausprägung § 5 PartG
2. Beeinträchtigung der Chancengleichheit
- Vereinigungen, die unterhalb der Mitgliedsschwelle bleiben, werden Vorteile die Parteienstatus mit sich bringt, genommen
- (Vgl. Parteienprivileg des Art. 21 II GG, Berücksichtigung bei Wahlwerbung gem. § 5
PartG, staatliche Finanzförderung gem. §§ 18 ff. PartG, Beteiligung bei der Bildung
von Wahlorganen gem. § 9 II 4 BWahlG, Listenprivileg gem. § 27 BWahlG)
3. Rechtfertigung
- Differenzierung, welche Vereinigungen Parteien sind, ist jedoch nicht absolut verboten
- Parteien sind ein Element des demokratischen Gefüges des GG, Beschränkungen können daher um das Funktionieren des Systems willen gerechtfertigt sein
- der Grundsatz der Chancengleichheit verlangt jedoch eine strenge, schematische und
formale Gleichbehandlung, eine Differenzierung ist nur aus zwingenden Gründen
gerechtfertigt:
Argument: Zersplitterung der Parteienlandschaft
Argument (–): Art. 21 I 2 sieht die Freiheit der Parteiengründung und ein Mehrparteiensystem gerade vor, Funktionsfähigkeit des Parlaments ist überdies
mittels der 5 %-Hürde gesichert
Argument: Radikalität kleiner Parteien
Argument (–): zwar sind mitunter einzelne kleinere Parteien radikaler als andere; dies
gilt gleichwohl nicht für alle, überdies Parteienprivileg aus Art. 21 II GG
Argument: Ausschluss von weniger ernsthaften Vereinigungen
Argument (–): ausschlaggebend muss zur Wahrung einer Chancengleichheit auch für
jüngere Vereinigungen die tatsächliche Bedeutsamkeit und Aktivität der
Partei sein, eine starre Mitgliederschwelle kann dafür keinen sachgerechten Maßstab geben
Argument: ernsthafte politische Betätigung erst möglich, wenn sich Partei über das
Gründungsstadium hinaus hinreichend gefestigt; laut Bundesverfassungsgericht kann eine Partei auf Dauer nicht nur aus den Gründern und einigen
Funktionären bestehen, sondern bedarf eines hinreichend Mitgliederbestandes
Argument (–): die hier gewählte Grenze ist insoweit aber jedenfalls zu hoch, überdies
ist eine starre Grenze nicht geeignet, die Verfestigung der Partei in der
politischen Landschaft sicherzustellen
4. Zwischenergebnis
- Differenzierung nicht verfassungsrechtlich gerechtfertigt
- Verstoß gegen den Grundsatz der Chancengleichheit der Parteien
- Gesetz auch materiell verfassungswidrig
III. Ergebnis
- Antrag begründet
Teil 2:
I. Verletzung des Art. 21 II GG, sog. Parteienprivileg
1. Regelungsinhalt des Art. 21 II GG
- nur das Bundesverfassungsgericht ist befugt, die Verfassungswidrigkeit einer Partei
festzustellen
- daraus folgt: keine andere staatliche Stelle darf, solange das Bundesverfassungsgericht nicht tätig geworden ist, die Verfassungswidrigkeit einer Partei geltend machen
2. Eingriff in Art. 21 II GG
- Bundesminister schätzt die R-Partei zwar als verfassungswidrig ein, M macht die Verfassungswidrigkeit der Partei damit nicht rechtlich geltend
- es entstehen keine Rechtsfolgen für die R-Partei (anders z.B. bei Weigerung einer
Stadt einer Partei die Stadthalle für eine Wahlkampfveranstaltung zu vermieten)
- die Kundgabe der eigenen Einschätzung ist nicht durch Art. 21 II GG verboten
3. Zwischenergebnis
- kein Eingriff in Art. 21 II GG
II. Verletzung des Art. 21 I GG
1. Regelungsinhalt des Art. 21 I GG
- ausdrücklich geschützt wird die Gründungsfreiheit von Parteien
- die Freiheit, eine Partei zu gründen, wäre aber bedeutungslos, wenn daraus nicht weitere Freiheiten erwachsen würden
- so umfasst Art. 21 I GG auch die Betätigungsfreiheit und das Recht auf Gleichbehandlung (vgl. dazu oben)
- diese Freiheiten sind Abwehrrechte gegenüber staatlichen Behinderungen und Eingriffen
2. Eingriff in Art. 21 I GG
- die Äußerung ist geeignet die Partei beim Wähler herabzusetzen und die Ergebnisse
der Partei bei Wahlen zu verschlechtern
- gerade Grundsatzdebatte im Bundestag ist an die Öffentlichkeit gewandt, keine rein
parlamentsinterne Äußerung
3. Rechtfertigung
- der Eingriff könnte aber gerechtfertig sein, wenn M mit der Äußerung seinerseits verfassungsrechtlich garantierte Rechte wahrgenommen hat
- welche Rechte dem M zustehen, hängt davon ab, in welcher Funktion er die umstrittene Äußerung getätigt hat
(P): Ist Äußerung im Rahmen amtlicher Funktionswahrnehmung als Bundesminister oder
als Abgeordneter des Bundestages erfolgt?
- M ist Mitglied der Bundesregierung und als solches dem ganzen Volk verpflichtet, nicht
nur seiner politischen Partei, ihn könnte also eine Pflicht zur Neutralität treffen
- demnach kann der Eingriff in Art. 21 I GG nicht gerechtfertigt werden
- jedoch gilt es auch zu bedenken, dass die Bundesregierung, legitimiert durch Wahl,
gerade die Aufgabe hat, in ihrem Amt das politische Programm der sie tragenden Partei(en) zu verwirklichen, dazu gehören auch Äußerungen zum parteipolitischen Programmen der politischen Gegner
- es würde die Bundesregierung daher unter Umständen zu sehr einengen, ihr solche
Äußerungen vollständig zu untersagen
- wie weit die Neutralitätspflicht unter diesem Aspekt reicht, kann aber möglicherweise dahinstehen:
- M tätigt die Äußerung nämlich als Abgeordneter des Bundestages, insofern steht ihm
im Rahmen der politischen Auseinandersetzung das Recht zu, seine Meinung zu politischen Gegner frei zu äußern (Art. 38 I 2 GG, Rederecht des Abgeordneten)
- zwar sind die Abgeordneten des Bundestages in ihrer Gesamtheit ebenfalls Vertreter
des ganzen Volkes, mit diesem Grundsatz (Kollektivrepräsentation) ist es aber vereinbar, wenn M als einzelner Abgeordneter Interessen nur von Teilen des Volkes vertritt,
z.B. von seiner Partei
- den Parteien kommt im freien und offenen Prozess der Willenbildung des Volkes eine
wichtige Rolle zu (vgl. Art. 21 I 1 GG), die R-Partei kann und muss sich daher am öffentlichen Disput um politische Meinungen beteiligen, kann insoweit aber auch Gegenstand einer solchen Diskussion werden
- die Äußerungen des M dürfen allerdings nicht willkürhafte oder sachfremde Züge tragen
- vorliegend hält die Äußerung sogar einer Überprüfung anhand des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes stand:
- legitimer Zweck: die Abgeordneten des Bundestages trifft die Pflicht die freiheitliche,
demokratische Grundordnung zu wahren und zu verteidigen, insofern besteht auch eine Pflicht, Diskussionen über evtl. besorgniserregende Entwicklungen anzustoßen bzw.
sich an solchen zu beteiligen
- geeignet: die Äußerungen des M sind geeignet über die Vereinbarkeit der politischen
Ziele der R mit dem GG zu diskutierten, insbesondere halten sie sich im zulässigen
Rahmen für eine parlamentarische Debatte, sie wurden nicht unsachlich oder besonders aggressiv vorgetragen
- erforderlich: die öffentliche Diskussion über die politischen Ziele von Parteien ist gegenüber der (sofortige) Anstrengung eines Verbotsverfahrens das mildere Mittel
- angemessen: M belegt sein Werturteil („R-Partei sei tendenziell verfassungswidrig“)
mit Tatsachen (Veröffentlichung in Zeitschrift), die von R auch nicht bestritten wurden
4. Zwischenergebnis
- die Äußerungen des Abgeordneten M sind damit jedenfalls nicht willkürhaft oder sachfremd
- die R-Partei ist damit nicht in ihren Rechten aus Art. 21 I 1 GG verletzt
III. Ergebnis
- Verstoß gegen Bestimmungen des GG, insbesondere gegen Art. 21 I GG, ist nicht ersichtlich
Literaturhinweise:
Vgl. zum Fall insgesamt: Schmidt-Jortzig/Schliesky, 40 Klausuren aus dem Staats- und
Völkerrecht mit Lösungsskizzen, 2002, 6. Auflage, Fälle 19 und 20
Zum Gesetzgebungsverfahren: Nolte/Tams, Das Gesetzgebungsverfahren nach dem
Grundgesetz, Jura 2000, S. 158 ff.
Zum Parteienrecht allgemein: Maurer, Die Rechtsstellung der politischen Parteien, JuS
1991, S. 882 ff.
weitere Anwendungsfälle zum Grundsatz der Chancengleichheit von Parteien:
- zur Ausgestaltung des Wahlrechts, vgl. insoweit Fall 1
- bzgl. Wahlwerbung etwa Degenhart, Klausurenkurs im Staatsrecht, Fall 1
- Parteienfinanzierung
Zur unzulässigen Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung vor Bundestagswahlen: BVerfGE 44, 125 ff. = NJW 1977, S. 751 ff.; Stundenroth, Wahlbeeinflussung durch staatliche
Funktionsträger, AöR 125 (2000), S. 255 ff.
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