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Thema
Kein Lexikonartikel bietet uns eine griffige
Definition von Epochenbeginn und -ende
sowie von stilistischen Eigenheiten der
Romantik. Irgendwann nach 1800 soll sich die
allgemeine Neuerung auch in der Musik niedergeschlagen haben, und auch noch Richard
Strauss gilt bis zu seinen letzten Werken als
Spätromantiker. Was die stilistischen
Charakteristika angeht, welche sich vom
Vorangegangenen abheben, herrscht eine
unklare und uneinheitliche Gemengelage.
Schon als Schüler dachte ich, dass etwas nicht stimmt,
als ich Louis Armstrong vom angenehmen Leben in den
Südstaaten singen hörte, von reizenden Mädchen und
von „romantic blues“ beim Barbecue. Aber nicht nur in
die US-amerikanische Volksmusik ist der seltsam unpassende Gebrauch jenes alten Wortes eingeflossen.
Auch schon seit der deutschen Jugendbewegung gibt es
ja die „Lagerfeuerromantik“, wenn man mit glasigem
Blick in die Flamme starrt und zur Klampfe singt „Lande
versinken im Wolkenmeer“ oder „über die Berge so
weit“. Dabei wollte doch die Jugendbewegung nichts
weniger, als sich mit Romantik gemein machen. Wesentlich fürs Romantische dieser Art: kein begriffliches, am
besten gar kein Nachdenken und – wie man selbstironisch sagte – „Stimmung lutschen“, lauschendes und
schweigendes Eintauchen in eine erträumte Welt. Welche mag es in Alabama oder Georgia gewesen sein?
Auffallend ist, dass beide Beispiele mit Musik zu tun haben, so zufällig sie auch aus meinem Gedächtnis entsprungen sein mögen. Oder doch nicht so zufällig? Trifft
speziell Musik, diese Kunst des kollektiven Unbewussten, ins Zentrum dessen, was romantisch heißt? Ein historischer Rückblick hilft vielleicht zur Klärung.
In anderen Künsten lässt sich das, was romantisch heißt,
recht genau eingrenzen, zumindest was die Anfänge
Thema
Foto: Nihad Nino Pušija
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Was heißt hier
romantisch?
Deutsche Instrumentalmusik im frühen
19. Jahrhundert: zum Beispiel Flötensonaten
von Friedrich Schneider
Peter Schleuning
dieser Bewegung betrifft. Bei der Dichtung stehen Tieck,
Wackenroder und Novalis hierfür, so genannte Vorformen im Sturm und Drang der 1770er Jahre nicht unberücksichtigt. In der Malerei dürfte Caspar David Friedrich
einen Beginn in Deutschland markieren, weniger bekannte Künstler, auch englische, nicht zu vergessen,
ebenso wenig eine bedeutsame Alternative zu Friedrich,
die auch für die Musik prägend ist: der Historismus, wie
er bei den deutschen Nazarenern um 1810 in Rom in
Nachfolge altitalienischer Malerei blühte und sein Pendant im neugotischen Stil Schinkels fand. Auch in der
Dichtung gibt es ja diese Rückwendung zum Unerschütterlichen, Musterhaften alter Kunst, denkt man an die
Bemühungen von Brentano und Arnim um die alte
Volkspoesie oder an die Kunstmärchen parallel zur Sammeltätigkeit der frühen Forscher. In all diesen Kunstbereichen ist die Bezeichnung romantisch bei vielen Zeitgenossen schon gängig.
Und in der Musik? Es scheint, als sei der Epochen- und Stilbegriff Romantik der Musik erst später, aus anderen Künsten stammend, aufgeprägt worden, so wie es auch sonst
oft der Fall ist, bei Renaissance, Barock oder Klassik.
Doch halt! Hatte nicht einer der dichtenden und komponierenden Urromantiker, Ernst Theodor Amadeus Hoffmann, Beethovens Kunst als Zentrum romantischer Kunst
gerühmt, wie es auch schon seine oben genannten Dichterkollegen ganz allgemein im Hinblick auf die begriffslose sinfonische Musik getan hatten? „Hieroglyphe des
Unendlichen“, „Zauberreich der Phantasie“ herrschten
für Hoffmann in Beethovens 5. Sinfonie. Beethovens
Kunst galt den Zeitgenossen, ob Bewunderern oder
Kritikern, in Abgrenzung von derjenigen Haydns oder
Mozarts als wichtigstes Beispiel des Romantischen auf
[ In anderen Künsten lässt sich das,
was romantisch heißt, recht genau
eingrenzen, zumindest was die
Anfänge dieser Bewegung betrifft.
Und in der Musik? ]
dem Felde der Musik, repräsentierte der Ungestüme aus
Bonn, der alte Stürmer und Dränger doch die romantische Gegenposition zu den rationalistischen Tendenzen,
welche in der Aufklärung wirksam geworden waren und
seelische und gesellschaftliche Praxis entscheidend beeinflussten, ja allbeherrschend zu werden drohten. Der
Dichter Ludwig Börne 1830 über Hector Berlioz: „Das ist
ein Romantiker. Ein ganzer Beethoven steckt in diesem
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Franzosen.“ Aber nicht die „schwarze“ Romantik der
Franzosen, wie sie sich nach der Revolution mit Berlioz
und Victor Hugo Bahn brach, soll hier Thema sein, sondern die deutsche Spielart von der „blauen Blume“ des
Novalis bis hin zum Fantastischen Beethovens.
Erst spätere Volkserzieher haben Beethoven nach dessen Tod in die Trias der großen Klassiker gezwungen
und so mit dem Entzug des Epitheton „romantisch“ seinen Hang zum Ungewöhnlichen und Absonderlichen
verschwiegen. (Allerdings zeigen die von Beethoven organisierten Konzerte, dass er sich selbst auch schon als
Mitglied dieser Trias sah.)
HINWENDUNG ZUR
„KLEINEN FORM“
Wenn auch die Lexikonartikel wenig Klärendes zu Rhythmik oder Harmonik bieten – und bieten können –, so
doch einschlägige Bemerkungen zur Entwicklung der
Gattungen seit Beginn des 19. Jahrhunderts. Und es gibt
hin und wieder Hinweise, die eine Entsprechung dieser
Entwicklung – zumindest für Deutschland – zum „Zeitgeist“ der Epoche, zum politischen Stillstand und zur
Zurückgezogenheit der Individuen während der Restaurationszeit nach dem Wiener Kongress, des so genannten Vormärz, vermuten lassen. Sie sollen im Auge behalten werden.
[ Es irrt, wer meint, in diesen Kleinformen habe nur programmatische
Äußerlichkeit und gefühlvolles
Schwelgen sich ausgelebt. ]
Zunächst ist eine Hinwendung zur „kleinen Form“ festzustellen, speziell zum so genannten lyrischen Klavierstück seit John Field, Jan Vaclav Vorišek und Vaclav Jan
Tomašek – aber doch wohl auch schon seit Beethovens
Bagatellen! Sicherlich ist das kein Material für den Konzertsaal gewesen. Aber es passte ideal zu den Vorstellungen und zur Praxis intimer Hausmusik und bürgerlicher Salons, wo die anstrengende Sonate die Geduld
der Gäste und die Fähigkeiten der Gastgeber übersteigen konnte. Felix Mendelssohn Bartholdys Lieder ohne
Worte sind zweifelsohne die Erfolgsstücke dieses Genres gewesen, wenn er selbst auch abfällig darüber urteilte, ohne allerdings die Produktion – und den Gewinn
– zu schmälern. Doch darf man diese neuartige Gattung,
mag sie auch bei Modekomponisten wie Henri Herz,
Franz Hünten oder Karl Taubert welke Blüten getrieben
haben, nicht in Bausch und Bogen schlecht reden.
Neben einzelnen Stücken von Mendelssohn enthalten
auch entsprechende Stücke der oben Genannten sowie
von Schubert und Schumann vieles vom Besten der
Epoche.
Es irrt, wer meint, in diesen Kleinformen habe nur programmatische Äußerlichkeit und gefühlvolles Schwelgen sich ausgelebt. Gerade hier, im Mikrokosmos, las-
sen sich experimentelle Züge und wagemutige Erfindungen wahrnehmen, nach deren Parallelen in den „großen“ Gattungen, ob für Klavier oder Orchester, man
schon sehr genau suchen muss. In der Miniatur zeichnet
und sieht man mit mehr Aufmerksamkeit und Schärfe
das Besondere, welches sich im musikalischen Gemälde
leicht verliert und unentdeckt bleibt.
Als ein Beispiel hierfür mag das nur 58-taktige Andante
con espressione a-Moll op. 8 Nr. 2 von Felix Mendelssohn Bartholdys älterer Schwester Fanny Hensel (18051847) dienen, von ihr selbst noch zur Veröffentlichung
vorbereitet.1 In der Stille des kurzen Klavierstücks verbirgt sich eine Fülle ungewöhnlicher Einfälle, so eine
selbst als Reprisenfolge angelegte Reprise, sozusagen
eine Reprisenreprise, ebenso ein innerhalb dieser Miniatur unglaubliches, in scheinhafte Polyfonie und Orgelpunktstruktur eingebettetes Eilen durch die Tonarten, deren Grundtöne alle Intervalle der Grundtonleiter
erreichen, einmal im Schlussabschnitt h-Moll und B-Dur
dicht beieinander.2
EPOCHE DES ZAUDERNS UND
DER VERFESTIGUNG
Anders verhält es sich bei den „großen“ Gattungen wie
Sonate oder Sinfonie, wobei ein Rückblick auf die beiden erwähnten Pole der romantischen Malerei nützlich
sein kann, auf jenen durch Friedrich repräsentierten und
auf den durch die Nazarener besetzten. Nicht umsonst
wurde 1830 in Wien ein Wettbewerb für eine neue Sinfonie ausgeschrieben. Und nicht umsonst zögerten Schumann und Liszt so lange, ehe sie sich an die nach allgemeiner Übereinstimmung höchsten Gattungen der Instrumentalmusik wagten. Diese Epoche des Zauderns war
auch eine des beginnenden Akademismus, mithin der
Verfestigung des zuvor noch Lebendigen zum starren
Schema, wie man an der spätestens seit Adolph Bernhard Marx einsetzenden Kodifizierung der so genannten
Sonatenhauptsatzform beobachten kann, etwa im Vergleich dieser Gesetzhaftigkeit mit den recht lockeren
und für Abwandlungen offenen Beschreibungen und Anweisungen zum Gegenstand von Heinrich Christoph
Koch oder Anton Reicha aus den Zeiten um 1800, also zu
Zeiten, als der Umgang mit dem Typus noch kein für jedes Detail verbindliches Muster war.
Festhalten am Bewährten zeigt sich auch und noch
deutlicher im Rückgriff auf „alte“ Musik, auf die Garanten des Unbefleckten und Unerreichbaren, musterhaft
nicht nur für den Blick in die Vergangenheit, sondern
auch für jenen in die Zukunft, war es doch die Hoffnung
aller im Vormärz Verzagten, Deutschland möge, an solcher gesunden, urdeutschen Speise gestärkt, wieder in
seiner alten Pracht auferstehen. Die Bewunderung für
Werke von Georg Friedrich Händel und Johann Sebastian Bach – „ein Deutscher!“, wie Johann Nikolaus Forkel seine Bach-Biografie von 1802 abschloss – wuchs
machtvoll an bis hin zur Wiederaufführung der Matthäuspassion 1829 durch Mendelssohn Bartholdy. Man
Thema
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schaue nur einmal auf das Schubert-Lied Tränenregen
aus der Schönen Müllerin, um darin bachschen Klaviersatz zu entdecken, zu dessen Kenntnis dem Komponisten nicht nur Veröffentlichungen zur Verfügung standen,
sondern auch die Sammlungen der Wiener Bach-Kenner.
Kontrapunktische Kunst bachscher Art ist hier ebenso
deutlich wahrzunehmen wie in Werken anderer, so in
späten Werken Beethovens.
FRIEDRICH SCHNEIDER:
EIN TYPISCHER ROMANTIKER
Stahlstich um 1855 von L. Sichling
Wie zeigt sich jene Verfestigung von Sonatenhauptsatz
und Sonatenzyklus in Sinfonie und Sonate in den frühen
Jahren des Jahrhunderts, ab etwa 1810? Greifen wir aus
den zahllosen sich bietenden Beispielen ein beliebiges
heraus: zwei Flötensonaten von Friedrich Schneider
(1786-1853), op. 33 und op. 35 von 1814.3 Sie stammen
aus der richtigen Zeit und dürften im musikalischen
Volksmund umstandslos als romantische Instrumentalmusik durchgehen. Wie auch Entprechendes von Kuhlau
und Hummel sind sie in jeder Hinsicht um Nachfolge der
großen Tradition bemüht. Und der Komponist selbst,
was sein Lebenswerk betrifft, ist ebenso dieser Tradition
gefolgt. Nicht nur schrieb er zahlreiche Instrumentalund Vokalwerke eines Stils, den man ohne negativen
Zungenschlag angepasst nennen kann, darunter das
einst berühmte und für die Gattung wesentliche Oratorium Das Weltgericht (1819). Vielmehr war er zugleich
während seiner Tätigkeit in Leipzig an der Thomaskirche
wie auch dann als Hofkapellmeister in Dessau einer der
wichtigsten Begründer und Organisatoren von Konzertund Bühnenaufführungen, von Musikfesten, Sängertreffen, Orchester- und Chorvereinen, in denen die Pflege
älterer Musik Bestandteil war, schließlich auch von Kompositionskursen an seiner Musikschule. Wilhelm Müller,
der Dichter der großen schubertschen Liederzyklen, gehörte zu seinem Bekanntenkreis.
Schneider war einer der wichtigsten Arbeiter an der musikalischen Volksaufklärung, die heute allesamt vergessen sind, jedoch schon seit dem späteren 18. Jahrhundert die Grundlage dafür geschaffen haben, dass die
Werke der komponierenden Heroen unvergessen geblieben sind. Romantik? Durchaus, wenn man den Begriff
nicht als Chiffre für biedermeierlichen Gefühlsdusel
nimmt, sondern versteht als Sammelbezeichnung für
eine oppositionelle, ästhetisch-gesellschaftliche Bewegung, mithin Schneiders und anderer Wirken als eine
jener Anstrengungen, die unter der bleibenden politischen Reaktion in Deutschland eine Gegenkultur schufen und damit die bürgerliche Emanzipation vorantrieben.
Schneiders Sonaten sind – dies wiederum nicht abwertend gesagt – Durchschnittssonaten im guten, bewährten Stil, „gediegen“, wie man in Norddeutschland – also
passend zum Lebensraum des Komponisten – sagt und
wohl auch gesagt hat. Eine wohlwollende Rezension
über Schneiders frühe Klaviersonaten in der Allgemei-
Friedrich Schneider genoss
zu Lebzeiten in Deutschland hohes Ansehen. Er
galt als äußerst kreativer
Komponist. Zu seinen
Werken zählen Opern,
Klavierkonzerte, Oratorien,
Ouvertüren, Sinfonien,
Lieder sowie etwa 400
Chorwerke.
nen musikalischen Zeitung formuliert es 1805 folgendermaßen: „In diesem Werke zeigt sich ein lebhafter, kräftiger, an Erfindung nicht überreicher, aber nichts weniger als armer, vielseitig gewendeter, und durch gute
Schule gefestigter Geist, ein warmes Herz und eine weit
mehr als jugendliche Kunsterfahrung.“
Die beiden Stücke gehören zu den ersten viersätzigen
Flötensonaten, gegenüber der üblichen Dreisätzigkeit
um ein Scherzo ergänzt. Klavier- und Flötenpart sind,
was den Schwierigkeitsgrad betrifft, nicht allzu anspruchsvoll, verzichten aber dadurch auf die allbekannten reizlosen Virtuosenpassagen. Der Satz ist von jener
Art der Stimmführung, die Schneider als Vertreter mitteldeutscher, sprich Leipziger Tradition ausweist: Gerüst
der Außenstimmen, dazwischen harmoniefüllende, oft
selbstständig geführte Linien, die häufig ein Themenmotiv imitieren und so das für eine gute Komposition alter Schule notwendige „obligate accompagnement“ bilden. Das ist deutsche Schule reinsten Wassers, dabei
aber keineswegs ledern oder altbacken wie so viele
Stücke vergleichbaren Stils aus dieser Zeit. Denn
Schneider verbindet diese Satzart überall mit einer
leichten, luftigen, nirgends platten Melodik, die vor
allem in den langsamen Sätzen edle Züge trägt.
Beide Sonaten beginnen mit einem zweifachen Ansturm
des Hauptthemas nach „heroischer“ Tradition, der bald
in sanfte Resignation umschlägt. Der Kontrast eines gemütlich zu nennenden zweiten Themas in der „richtigen“ Tonart ist vergleichbar dem, was man in Klaviersonaten Webers oder anderer Zeitgenossen vorfindet –
nicht Beethovens. Dass der Sonatensatz nicht mehr eine Aufgabe darstellt wie noch gegen 1800, der man unterschiedliche Lösungen abgewinnen kann, sondern
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Thema
dass er bereits zum musterhaften Schema geworden ist,
zeigt sich an einem weiteren Merkmal: Motiv- und
Durchführungsarbeit beginnen nur selten schon in der
Exposition, sondern sind auf den dafür ausgesparten
und, der Aufgabe entsprechend, Durchführung genannten Mittelteil begrenzt, dann aber auch in einer monomanen Zuspitzung Thema für Thema, die die Geste,
nicht aber die Technik einer ausgefeilten kontrapunktischen Arbeit vorführt.
[ Romantik? Durchaus, wenn man
den Begriff nicht als Chiffre für
biedermeierlichen Gefühlsdusel
nimmt, sondern versteht als
Sammelbezeichnung für eine
oppositionelle, ästhetischgesellschaftliche Bewegung. ]
Auch die Schlussrondi haben etwas von der Spannung
aus den Kompositionen der vorangegangenen Generation verloren, neigen zum Neckischen und zeigen jene
ausladende Anlage, die zum Episodischen und Auseinanderfallen neigt, wie wir das aus fast allen nachklassischen Sonaten kennen, auch hin und wieder bei Schubert. Ganz bei sich scheint Schneider in den langsamen
Mittelsätzen zu sein und zeigt seine Kunst in schönen,
klaren und konzentrierten Gestalten, die in der Flötenliteratur nicht leicht ihresgleichen haben. Das ist hohes
Niveau kurz nach Beethovens schrittmachenden Werken.
GELÄHMTE STIMMUNG IM
DEUTSCHEN BÜRGERTUM
Sicherlich kann man bei allen großen Qualitäten der beiden Sonaten eine gewisse formale Unbeweglichkeit und
das erwähnte Zusammenbrechen der aufbrausenden
Anfangsgeste beobachten. Aber hierin ist Schneider keine Ausnahme unter seinen Zeitgenossen, ob sie auch
Weber oder Schubert heißen mögen, und nicht nur den
Zeitgenossen – noch in Brahms’ 1. und 4. Sinfonie ist
das Phänomen nicht zu verkennen. Es lässt sich verstehen als Zeichen der bei aller vorantreibenden Geschäftigkeit doch im Großen gedrückten, ja oft gelähmten
Stimmung des deutschen Bürgertums der Reaktionszeit
um 1815 und danach. Einzelne – bei Schneider viele –
glänzende Gedanken blitzen hervor, der Rahmen aber
bleibt starr. Kräftiges weicht zurück. Es ist und bleibt für
lange Zeit das Muster der „Großen Sonate“, wie sie sich
noch einige Jahrzehnte in der deutschen Instrumentalmusik hält. Der Niedergang der Sonate und des Sonatensatzes als zentrales Kompositionsprinzip ist in Werken wie jenen Schneiders bereits zu spüren.
Mit diesen Gedanken soll die Beurteilung Schneiders
nicht enden. Wie ungerecht ist doch eines der wenigen
noch erhaltenen Urteile über ihn, wenn es auch von ei-
nem der deutschen „Großmeister“ stammt! Da erscheint
Schneider als kreuzbraver, unbeweglicher Handwerker.
Robert Schumann ist es, der 1853 zum Tode Schneiders
Folgendes von sich gibt: „Es gibt Baumeister, die wissen, wie sie bauen; geschickte, praktische Männer, die
sich streng an den Riß halten, der sich ihnen schon oft
als zweckdienlich erwiesen; nichts ist da vergessen, die
Kirchentür an guter Stelle, der Glockenturm an seiner.
Ein solcher war der alte Dessauer Meister.“ Ein Zeugnis
romantischen Bewusstseins, wenn auch nicht von dessen angenehmster Facette.
Schneider wird auf den Komponisten reduziert. Seine
anderen Tätigkeiten gelten demgegenüber nichts. Nur
das Produzieren, das Hervorbringen ist von Wert, daher
auch erwähnenswert. Aber auch als Komponist gilt er
wenig. Seine Werke folgen herkömmlichen Mustern,
sind lediglich „geschickt“, „praktisch“, „streng“, „zweckdienlich“. Als „Handwerker“ hält er sich an Regeln. Der
wahre Künstler bricht sie, strebt nach Höherem, ist ein
„zweiter Schöpfer“, wie es schon 1709 heißt, bekümmert sich daher wenig um das Diesseitige – etwa die organisatorische Seite des Kunstbetriebs –, auch wenn er
dabei ungeschickt, unpraktisch oder nicht zweckdienlich sein sollte. Schneider dagegen ist dem platten Diesseits, der Gegenwart verhaftet. Er ist nur „Baumeister“,
nicht Visionär, Seher in die Zukunft, wie Leonardo, wie
Beethoven. Ist das ein Lob für den „alten“ Meister?
Es ist ein erzwungener Tribut, abgetrotzt der Genieästhetik, wie sie im 18. Jahrhundert aufkam und nun unter den wahren Künstlern und Kunstfreunden im Zeitalter der Romantik allbeherrschend geworden ist – bis
heute?
1 Neuausgabe: Fanny Hensel: Vier Lieder ohne Worte op. 8, Kassel
1989 (Furore, fue 142).
2 Näheres bei Peter Schleuning: Fanny Hensel geb. Mendelssohn.
Musikerin der Romantik, Köln/Weimar/ Wien 2007.
3 in Neuausgabe zugänglich bei Bärenreiter, Kassel 1987.
Dr. Peter Schleuning
ist Professor für Musikgeschichte und Musiktheorie
an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg.
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