Krieg, Militär 129 128 Krieg, Militär Das Militärwesen hat in Russland stets die besondere Aufmerksamkeit der Regierenden auf sich gezogen und die )'Gesellschaft geprägt. Kriege im lnneren und gegen die Nach­ bam begleiteten den russischen )'Staat durch die Jahrhunderte und drückten dem russi­ schen Geschichtsbild ihren Stempel auf. Militärische Stärke war in der Rus' der Schlüssel zur Macht, sie war notwendig zum Schutz der fließenden Grenzen und im 19. und 20. Jahrhundert grundlegend fur die russische bzw. sowjetische Großmachtrolle. Nach innen war die Armee stets Stütze des Staats und multinationale Schule in Orthodoxie und Patri­ otismus. Erst die Sowjetmacht suchte die extensive Nutzung des Menschenpotentials mit einem erhöhten Prestige des einzelnen Soldaten zu kompensieren. Kern des altostslavischen Heeres - und prägend fur die Tradition des Fürsten- und Za­ rendienstes _ war die *Gefolgschaft (druiina). Mit ihr verfugte der Fürst über einen durch Eid verbundenen Kreis von Gefolgsleuten, der ihm zugleich Verwaltungs- und Regie­ rungsinstrument war. Nicht jeder Adlige diente in ihr, nicht alle Mitglieder waren Adelige. auch war das Treueverhältnis zum Fürsten aufkündbar. Seit Ende des 11. Jahrhunderts bil­ dete sich eine "große" dntiina von Adligen mit eigenem Grundbesitz heraus, die sich VOll der Versorgung durch den Fürsten emanzipierte, jedoch seine administrative und konsultll­ tive Stütze blieb. Die druiina war ursprünglich von erheblicher Mobilität, sie bestritt die Fürstenfehden und fiihrte die jährlichen *Tributerhebungen (poljudie) durch. Im Falle äuße­ rer Bedrohung wurde sie ergänzt durch andere Gefolgschaften, Söldnerheere und Truppea tributärer Völker, die jedoch zunehmend von *Aufgeboten (opolcenie) aus den Städten ver­ drängt wurden. Diese nur im Kriegsfall mobilisierten freien Stadtbewohner wurden 1 einem *Wojewoden (voevoda) bzw. seit dem 12. Jahrhundert auch vom *Tausendschafis. führer (tysjackij) geleitet. Das Volk konnte jederzeit zu physischer Arbeit werden, trat jedoch selten im Kampf in Erscheinung. In Reaktion auf die regelmäßigen Überfälle der berittenen Steppennomaden die Rus' deren Taktik und Bewaffnung. Die Tataren konnten jedoch auch durch ein meinsames Aufgebot mit den polovcern an der Kalka 1223 nicht aufgehalten Während die übrige Rus' durch die *Goldene Horde 1236--1240 unterworfen wurde, hauptete sich Novgorod gegen die Schweden an der Neva (1240) und gegen "Deutschen Orden auf dem Peipussee (1242). Zwar kOlU1ten die Tataren 1380 vom M kauer Großfürsten Dmitrij lvanovic (Donskoj) auf dem Kulikovo pole erstmals gen werden. Bis ins 16. Jahrhundert hinein blieben sie jedoch neben den sich in die russischen Machtkämpfe einmischenden Litauern emsthafte Gegner für das ~llf~tr"henIII Moskau. Dessen Aufstieg basierte nicht zuletzt auf einem geschickten Werben um die Elite der Rus'. Seit den 1330er Jahren erfolgte ein Zuzug von Bojaren-Gefolgschaften Moskau. Deren Erwartung materieller Besserstellung durch den Erhalt von *kormlenie­ Gebieten konnte das kleine Fürstentum nur durch territoriale Expansion befriedigen. In Zusammenhang mit dem Aufkommen des *Dienstguts (pomest'e) steht die Verdrängung des opolcenie durch das Adelsaufgebot, d. h. einer von den *Bojaren gestellten Truppe. Die unter lvan III. abgeschlossene "Sammlung russischen Landes" mit dem Höhepunkt der militärischen Unterwerfung von Novgorod (1478) und Tver' (1485) war nur durch die Dienstverpflichtung und Belohnung des niederen Adels möglich, der die Masse der Ar­ mee stellte. Aufgrund dieser Konstellation bewahrte der Adel seine Position im /'Mos­ kauer Reich sowohl im militärischen Bereich als auch in der Verwaltung. lvan IV. bemühte sich um eine Professionalisierung des Militärwesens. Er setzte die *Rangplatzordnung (mestnicestvo) mit ihren langwierigen Rangstreitigkeiten (?Bürokra­ tie) in diesem Bereich außer Kraft und formulierte Normen für den Wehrdienst des Adels. Trotzdem erwies sich die vom Adel gestellte Armee während des *Livländischen Kriegs als schwerfällig, schlecht ausgerüstet und anfällig für Desertionen. Mit den *Strelizen (strel'cy) schuf Ivan IV. eine Art Berufsheer, das zunächst als Elitetruppe fungierte und bei der Eroberung von Kazan' 1552 erstmals eingesetzt wurde. Es rekrutierte sich aus steu­ erpflichtigen Städtern und Bauern, deren Nachkommen ebenfalls dienstverpflichtet wurden. Um der Staatskasse nicht ZUr Last zu fallen, wurde den Strelizen in Moskau gestattet, Kleinhandel und Handwerk zu betreiben (bis 1667); die Strelizenkolonien in den Grenzge­ bieten lebten von der Landwirtschaft. Eine vergleichbare Kaste bildeten - neben den /'Ko­ saken - die *Artilleristen (puskari), die sich aus städtischen Handwerkern rekrutierten. Wenngleich die soziale (Ein-)Ordnung der neuen Berufsarmee als spezifisch russisch be­ zeichnet werden muss, so ist doch: nicht zu übersehen, dass hier die *military revolution des Westens, d. h. die Einführung stehender, aus gemeinen Soldaten gebildeter, mit Geweh­ ren bewaffneter und von Artillerie unterstützter Infanterieverbände nachvollzogen wurde. Nach den *Wirren (Smuta) verloren die Strelizen ihre militärische Bedeutung (s. u.), obgleich ihre Zahl auf 55.000 Mann in den 1680er Jahren anstieg. In der Hauptstadt spiel­ ten sie nur noch eine zeremonielle Rolle, in der Provinz mussten sie polizeiliche Aufga­ ben übemehmen. Gerade hier galten sie zunehmend als potentieller Unruheherd: Tatsäch­ lich waren sie auf bei den Seiten der Revolte Stepan Razins zu finden und nutzten den Thronwechsel 1682 rur einen eigenen Aufstand. Peter 1. schließlich schlug weitere Erhe­ bUngen 1696 und 1698 blutig nieder. Die Ursache für den Bedeutungsverlust der Strelizen lag in den *Truppen neuer Ord­ nung (polki novogo stroja). Für den *Smolensker Krieg waren 1631 ausländische Söldner und Spezialisten angeworben worden, mit deren Hilfe aus der Strelizen-Infanterie und der Adelskavallerie ca. 17.000 Mann zusanunengezogen wurden. Nach ihrer Demobilisierung entstanden diese Regimenter in den 1640er Jahren neu. Während sich zunächst landlose Ad­ tge auf Grundlage eines lebenslangen Dienstes verpflichteten, trugen zunehmend unterpri­ il,.O';prte Soldaten die militärischen Lasten, nachdem während des *Dreizehnjährigen ein neues Rekrutierungssystem eingeführt worden war. Jede Gemeinde hatte von an Soldaten zu stellen. Damit verfügte Russland lange vor anderen Ländern über ein ~ndes, aber kostspieliges Heer. 1679/80 flossen knapp 60 % der Staatsausgaben in Militär, woraufhin seine Größe (1681 ca. 190.000 Mann) drastisch verringert wurde. verbliebene Rest diente als Nukleus der regulären Armee Peters 1. 130 Grundlagen Krieg, Militär 131 Peters Regierungszeit war eine Ane inanderreihung von expansiven Kriegen gegen die Türken, Perser und Schweden. Er schuf eine integrierte Armee aus den Elementen des alten Militärs, flihite einen auf Hierarchie beruhenden Disziplinarkodex ein, ließ eine Kriegsflotte bauen und bestückte jedes Regiment mit eigener Artillerie. Er begründete Militärschulen und ersetzte das alte dezentrale *prikaz-System durch das Petersburger Kriegskollegium. Er hinterließ jedoch ein erschöpftes Land, dessen Bevölkerung mehr als zuvor dem Staat zu dienen hatte. Bis 1725 wurden knapp 200.000 Rekruten aus dem Kreis der Steuerpflichtigen zu den Fahnen gerufen, die auf Lebenszeit der Familie und der Landwirtschaft entrissen waren. Der Entscheid Katharinas H. von 1793, die Dienstzeit auf 25 Jahre zu reduzieren, änderte hieran wenig. Die juristische Emanzipation dank des Soldatenstatus ' hatte flir die Bauern geringe Bedeutung, da sie, wenn sie den Dienst über­ lebten, zu Hause erneut in die Leibeigenschaft gezwungen wurden. Die zwangsläufig hohe Desertionsrate begründete harte Gegenmaßnahmen seitens des Staates. Flucht oder Selbst­ verstümmelung der Rekruten waren bei der meist jährlich stattfindenden Aushebung ebenso gang und gäbe wie Manipulationen der flir ihre Auswahl zuständigen Gutsbesitzer und Gemeinden, die sich bei dieser Gelegenheit Krimineller oder Arbeitsunwilliger zu entle­ digen suchten. Seit der Einruhrung der Seelensteuer 1724 war die Versorgung der Arme.: zwar prinzipiell Sache des Staats, doch ernährte sie sich weiterhin aus dem Land und trieb die ihr zustehenden Steuern selbst ein. Die von Peter I. eingeruhrte Dienstverpflichtung des Adels wurde 1762 wieder abge­ schafft. Ohnehin gab es kaum Anzeichen einer Professionalisierung der militärischea Führung. Die Bedeutung des 1731 begründeten ersten Kadettenkorps hielt sich in zen, da mehr Wert auf Etikette und eine eklektizistiscbe Allgemeinbildung gelegt als auf militärische Fähigkeiten. Garderegimenter und Kadettenschulen dienten vor als Sprungbrett in die Staatsverwaltung. Nur in speziellen Militärschulen wurden Spezialisten rur die verschiedenen Waffengattungen herangebildet, denen sich hporpn~ Aufstiegschancen boten. Nach dem Sieg über Napoleon im "Vaterländischen Krieg" von 1812 wurde mit einer Armee von 800.000 Mann zur dominierenden Macht in Europa. Nach der *Zaren verlangte dies die Verwundbarkeit der Grenzen. Die Aufstellung einer ren Reserve verhindeJie nicht nur die ungenügende Infrastruktur, sondern auch die eigenschaft. Der Ansatz Alexanders I., Militärkolonien zu gründen, die sich selbst sorgen und Wehrbauern fUr den Kriegsfall bereitstellen sollten, war gescheitert. einer Reihe von Revolten aufgrund ihres repressiven Systems sowie Schwierigkeiten wurden sie später abgeschafft. Nikolaus r. stand trotz siegreicher gegen Persien (1826-28) und das Osmanische Reicb (1828/29) vor dem Problem, sparen und gleichzeitig die Effizienz von Armee und korrupter Militärbürokratie zu müssen. Hatte das Kriegsministerium seit 1812 nur noch die Versorgung der Arme.: lenken, während die Stäbe die militärische Führung übernahmen, wurden jetzt alle J1mgsfunktionen beim Ministerium konzentrieJi, was als entscheidende Voraussetzung die Reformen seit den I 860er Jahren angesehen werden muss. Schließlich gründete laus 1831 eine Generalstabsakademie, die auf lange Sicht eine deutliche ProfessionallSllll rung des Führungskorps bewirkte. Die Armee blieb Instrument der autokratischen Zwangseinberufungen stellten weiterhin ein Mittel zur Disziplinierung dar. Zahlreiche medizinische oder prOfessionsbedingte Ausnahmeregelungen reduzierten den Kreis der potentiellen Rekruten zunehmend. Die Belastung rur das Volk wurde dadurch jedoch nicht geringer, da der Schnitt der jährlich Einberufenen von 80.000 Mann (1800­ 1825) auf 151.000 Mann (1840--1852) anstieg. Die Niederlage im *Krirnkrieg zeigte die Schwächen des Massenheeres (1856: ca. 2,1 Mio.). Erneut stand der Staat vor dem finanziellen Kollaps. Die unter Alexander II. und seinem Kriegsminister Dmitrij A. Miljutin durchgeruhrten Reformen führten zu einer administrativen Straffung und Dezentralisierung des Militärwesens (Einruhrung der Mili­ tärkreise 1862). Schon 1859 wurde die Dienstzeit auf generell 15 Jahre reduz.iert. Nach der Aufhebung der Leibeigenschaft 1861 konnte die Regelung, nach dem aktiven Dienst fünf Jahre in die Reserve zu gehen, auf die gesamte Armee angewandt werden. Bereits in den 1870er Jahren war es daher möglich, die Armee allein durch Aktivieren der Reserve auf Kriegsstärke zu bringen. Endlich wurde auch das Aushebungsverfahren hwnaner gestaltet, die Körperstrafe abgeschafft und durch die Refornl der MilitäJjustiz ein Minimum an Rechtssicherheit fiir die Soldaten geschaffen. Das Kernstück der Reformen war jedoch die 1874 eingeführte allgemeine Wehrpflicht bei einer grundSätzlichen Dienstzeit von sechs Jahren, die je nach Bildlli1gsgrad des Rekruten auf wenige Monate reduziert werden konnte. Ob diese strukturell modernisierte Armee auch den ZiviJisierungsprozess der Bauern­ Soldaten forderte, bleibt umstritten. Trotz der Kasernierung in zumeist urbanen Gebieten, lrotz der in der Armee vermittelten Elementarbildung blieben die Soldaten "Bauern in Uniform" (Bushnell, -27). Ohnehin waren nur die ersten Monate militärischem Training gewidmet, ansonsten funktionierte das Regiment wie eine Gutswirtschaft mit dem Kom­ mandeur als Gutsherren. Die Diskrepanz zwischen zentraler Regulation und lokaler Will­ kür blieb zudem eine prägende Erfahrung in der Almee. Dieser potentielle Zündstoff entlud sich in den Jahren 1904/05, als Russlands Militär nicht nur im Osten die äußeren Grenzen gegen Japan verteidigen und die Revolution im Inneren niederhalten musste, sondern auch erstmals durch zahlreiche Unruhen und Meutereien erschüttert wurde. Hier vergrö­ Berten sich die Diskrepanz zwischen den unteren Rängen und ihren Vorgesetzten und gleichzeitig die Skepsis bei der gegenüber der Autokratie. Das Selbstverständnis des mitt­ weile professionalisierten Offizierskorps konzentrierte sich auf den Krieg gegen äußere . de, was es mit seiner vom Zar eingeforderten traditionellen Polizistel1rolle in Kon­ brachte. Der Eintritt Russlands in den Ersten Weltkrieg, der mit Erfolgen in Ostpreußen und lizip.n begann, ftlhrte zu einer völligen Überforderung der Ressourcen. Zudem waren die politische noch die militärische Spitze in der Lage, sich auf einen modernen einzustellen. Munitionsmangel und hohe Verluste (ca. 5,5 Mio. Tote und Verwun­ ließen die Moral unter den ohnehin vom "Krieg der Herren" wenig begeisterten ~lOa[en dramatisch sinken. Als Personalersatz stiegen jüngere Offiziere in die Befehls­ au( die nicllt mehr als Verteidiger der Autokratie anzusehen waren. Die Februarre­ fand ihren Widerhall an der Front gerade unter diesen Offizieren, die Soldaten­ Inmitpes organisierten und dadurch die alte Kommandostruktur lähmten. Die bäuerliche der Armee erhoffte sich von der ?Revolution Frieden und eigenes Land. Die *Bolschewiki begannen nach ihrem Machtantritt sofort mit der Demontage der al­ Armee, die sie durch eine revolutionäre Volksarmee (TerritorialmiJiz) zu ersetzen ge­ 132 Grundlagen Krieg, Militär 133 dachten. Jedoch waren die ersten, nach dem Beispiel der Arbeitermilizen (Rote Garden) aufgestellten Freiwilligenverbände der "Roten Arbeiter- und Bauernarmee" den deut­ schen Truppen derart unterlegen, dass die Milizidee und mit ihr der freiwillige Dienst aufgegeben wurden. Kriegskommissar Lev D. Trockij begann daher noch im Fruhjahr 1918 mit dem Aufbau einer streng disziplinierten und hierarchisierten regulären Armee. an deren Spitze "Militärspezialisten" genannte Exoffiziere der Zaren armee traten, deren Handlungen von "Militärkommissaren" überwacht wurden. Trotz aller Kontrolle blieb die Desertionsrate während des gesamten Bürgerkriegs gegen die "weißen Armeen hoch. auch wenn erst 1919 im verstärkten Maße auf die kriegsmüden und ideologisch als unzu­ verlässig angesehenen Bauern zuruckgegriffen wurde. Hier schuf erst die Privilegierung der Soldatenfamilien Abhilfe, die eine Art "Sozialvertrag" mit den als notwendige Ver­ bündete eingestuften "Mittelbauern" markierte. Von 1918 bis Ende 1920 wuchs die Armee von knapp 200.000 auf gut 5 Mio. Mann an; nach Ende des Bürgerkriegs wurde sie auf 560.000 Mann reduziert. Die MiJitärrefor­ men von 1924/25 trugen diesem Umstand auch organisatorisch durch die Einfuhrung des "Territorialprinzips" Rechnung. Die Infanterieeinheiten wurden personell stark verklei­ nert, um im Ernstfall durch die in kurzen Übungen ausgebildeten Reservisten aufge.fiilh zu werden. Der einfache Soldat hatte in der sowjetischen Gesellschaft erstmals in der rus­ sischen Geschichte einen hohen Stellenwert und nach dem Dienst gute Aufstiegschancen in Partei und Administration, galt doch die Annee als " Schule des Sozialismus". Dies band die Armeefilhrung eng an die Regierung, deren Fürsorge filr die Streitkräfte niebt nur außenpolitisch motiviert war. Der Truppeneinsatz während der Kollektivierung stieß zwar auf die Kritik der Militärs, die um die Moral der Soldaten furchteten, erfüllte jedoch seinen Zweck, indem er den Widerstand der Bauern brach. Immerhin verhalf die rils­ tungsorientielte Industrialisierung des Landes der Armee zu modernem Gerät. Mit dem. Verzicht auf die Militärkommissare noch in den 1920er Jahren, der Auflösung der Terri­ torialmilizen, dem sukzessiv auf alle Nationalitäten und ohne Rücksicht auf die klasse~ mäßige Herkunft ausgedehnten Wehrdienst sowie der Wiedereinfilhrung der Generals­ ränge 1940 kehrte die Rote Armee die revolutionären Prinzipien ihrer Gründung um. Die *Säuberungen Stalins (J'Gewalt, J'Stalinismus) schwächten vor allem die Armee­ filhrung: Ca. 35.000 Offiziere wurden entlassen, zahlreiche Generäle erschossen. Die allem seit Kriegsbeginn 1939 forcierte Vergrößerung der Arnlee auf über 4 Mio. Maua Ende 1940 bedingte zudem einen Mangel an Führungskadern, der jedoch rasch ausge~ chen wurde. Allerdings machte die blamable Vorstellung der Armee im *Winterkrieg gen Finnland die fehlende Erfahrung der Kommandeure deutlich. Die Niederlagen . Sommer 1941 sind jedoch auch darauf zuruckzufilhren, dass zu diesem Zeitpunkt groß angelegte Umbau der Streitkräfte noch nicht abgeschlossen war und Hitlers macht unterschätzt wurde. Widersinnige Angriffsbefehle und ein Rückzugsverbot verlustreiche Einkesselungen zur Folge. Trotzdem bewährte sich im ,.Großen VaterländiO sehen Krieg" schließlich eine jüngere Generation von Frontoffizieren. Der spätestens der Jahreswende 1942/43 abzusehende Sieg wurde getragen von der Mobilisierung Ressourcen des Landes. Er begrundete die WeltmachtsteIlung der UdSSR und verschafll! der Staatsführung eine Legitimation, die bis in die 1980er Jahre hinein hielt, und sich die Führung im "neuen Russland" wieder demonstrativ stützt. Die Armee blieb in den Staat eingebunden und tastete den Führungsanspruch der Par­ tei nicht an. Sie diente weiterhin als Instrument der nationalen Integration unter slavischer Führung: Anneespitze und Offizierskorps wurden von Russen und Ukrainern dominiert. .oer Wehrdienst, der 1967 von drei auf zwei Jahre verkürzt wurde, war filr die Rekruten aller Republiken eine ausschließlich russischsprachige Erfahrung mit politischer Schu­ lung im Geiste der Doktrin der "Verschmelzung der Völker" (slijanie narodov) _ in der Praxis waren Soldaten nichtslavischer Herkunft trotzdem Diskriminierungen ausgesetzt. Alle Rekruten litten zudem unter Übergriffen ihrer älteren Kameraden (dedovsCina). Der Krieg in Afghanistan seit 1979 zeigte nicht nur die militärischen Schwächen der Streitkräfte auf, sondern schuf zudem die sozialen Probleme der Kriegsinvaliden und des Drogenkon­ sums. Vor allem in den Städten wuchs schon vor der J'Perestrojka die Zahl derjenigen, die sich dem Dienst an der Waffe zu entziehen suchten . Die Diskrepanz zwischen der staatlichen Wertschätzung der Armee und ihrem Ansehen in der Bevölkerung machte deutlich, wie sehr das System mittlerweile an Legitimation verloren hatte. Während sich in ideologischer Hinsicht der Weltmachtanspruch der Staatsfuhrung in der ÜbeflÜstung der Streitkräfte manifestierte, trug diese maßgeblich zum ökonomischen Zusammenbruch der UdSSR bei. Auswahlbibliographie l. Denikin, Anion!.: Starajaarmija [Die alte Armee]. 2 Bde. Paris 1929-1931. 2. Direktivy komandovanija frontov Krasnoj armii (1917- 1922 gg.). Sbomik dokumentov [Direktiven der Frontkommandos der Roten Armee (1917-1922). Dokumentensammlung]. 4 Bde. Moskva 1971-1974. 3. Grif sekretnosti snjat. Poteri Vooruiennych sil SSSR v vojnach, boevych dejstvijach i voen­ nych konfliktach: Statisticeskoe issledovanie. Moskva 1993; eng]. als: Soviet Casualities and Combat Losses in the Twentieth Century. Hrsg. v. G. F Krivosheev. London u. a. 1997. 4. KPSS 0 vooruzennych silach Sovetskogo Soj uza. Dokumenty 1917-1968 [Die KPdSU über die Streitkräfte der Sowjetunion. Dokumente 1917-1968]. Hrsg. v. K. U. Cernenko. Moskva 1969. 5. Narodnoe opolcenie v otecestvennoj vojne 1812 goda. Sbomik dokumentov [Die Volkser­ hebung im Vaterländischen Krieg 1812]. Hrsg. v. L. G. Beskrovnyj. Moskva 1962. 6. Russkij archiv. Hrsg. v. V A. Zololarev. Bisher 25 Bde. Moskva 1993ff. 7. 60 let Vooruzennych sil SSSR. Dokumenty i materialy [60 Jahre Streitkräfte der UdSSR. Dokumente und Materialien]. Moskva 1978. 8. SIein, F v.: Geschichte des russiscben Heeres. Hannover 1885. Nachdruck: Krefeld 1975. 9. Stoletie Voennogo Ministerstva [Hundert Jahre Kriegsministerium] 1802-1902. 13 Bde. S.-Peterburg 1902-1914. ilfsmittel 10. Novickij, V F : Voennaja enciklopedija [Militärenzyklopädie]. 16 Bde. S.-Peterburg 1911-1914. 11. Parri.l'h, Michael: The U.S.S.R. in World War Ir. An Annotated Bibliography of Books Published in the Soviet Union 1945-1975. With an Addenda for the Years 1975-1980. NewYork 1985. 134 Krieg, Militär 135 12. Rossijskij Flot (1720-1917). Bibliograficeskij spravocnik izdanij morskogo vedomstva [Die russische Flotte. Bibliographisches Handbuch der Publikationen der Marineverwal­ tung). S.-Peterburg 1995. 13. Rossijskij Imperatorskij flot, 1696-191 7. Voenno-istoriceskij spravocnik [Die Kai serlich­ russische Flotte. Ein militärhistorisches Nachschlagewerk). Hrsg. v. N. lu. Berezovskij u. a. Moskva 1993. 14. Russkij voenno-istoriceskij slovar' [Russisches militärhistorisches Wörterbuch). Hrsg. \_ V. Krasnov, V Dajnes. Moskva 2002. 15. Sovetskaja Voennaja Enciklopedija. Hrsg. v. A. A. Grec7w, N. V. Ogarkov. 8 Bde. Mosh 1976-1980; eng!. als: The Soviet Military Encyclopedia. Hrsg. v. William C. Green. 4 Bde. Boulder u. a . .1993. 16. The Military Encyclopedia of Russia and Eurasia. Hrsg. v. David R. lones. Gulf 1978ff. (Bd. 1-4 als The Military-Na val Encyclopedia of Russia and the Soviet-Union). 17. The Soviet Armed Forces, 1918-1992. A Research Guide to Soviet Sources. Zusamme.1 gest. v. lohn Erickson. Westport, London 1996. 18. Voennaja enciklopedija [Militärenzyklopädie). 8 Bde. Hrsg. v. M A. Mo isee v. 1990-2004. Darstellungen 19. Adams, Michael: Napoleon and Russia. London 2006. 20. Armija i obscestvo. Stat'i i dokumenty [Armee und Gesellschaft. Artikel und Dokumen!el Moskva 1999. 2\. Benecke. Werner: Militär, Reform und Gesellschaft im Zarenreich. Die Wehrpflicht Russland 1874-1914. Paderborn 2006. 22. Beskrovnyj, Ljubomir G. : Russkaja armija i flot v XVIII veke [Die russische Armee Flotte im 18. Jahrhundert). Moskva 1958. 23. Ders.: Russkaja armija i flot v XIX veke [Die russische Armee und Flotte im 19. dert). Moskva 1973 . 24. Ders.: Armija i flot Rossii v nacale XX v. Ocerki voenno-ekonomices'kogo poten~ [Annee und Flotte in Russland am Beginn des 20. Jahrhunderts. Studien zum mischen Potential). Moskva 1986. 25. Beyrau, Dietrich: Militär und Gesellschaft im vorrevolutionären Russland. Köln, W 1984. 26. Bushnell, John: Mutiny amid Repression, Russian Soldiers in the Revolution of 1 1906. Bloomington 1985. 27, Ders.: Peasants in Uniform: The Tsarist Army as a Peasant Society. In: Journal ofSocial tory 13 (1979/80), S. 565- 576. 28. Ders.: The Tsarist Officer Corps 1881-1914. Customs, Duties, Inefficiency. In: Historical Review 86 (1981), S. 753-780. 29. Colton, Timothy J.: Commissars, Commanders, and Civilian Authority. The Soviet Military Politics. Cambridge 1979. 30. Fuller, Wil/iam c.: Civil-Military Conflict in Imperial Russia, 1881-1914. Princeton 3 \. Ders.: Strategy and Power in Russia, 1600-1914. New York 1992. 32. Canzenmüller, lörg: Das belagerte Leningrad 1941-1944: die Stadt in den Strategien Angreifern und Verteidigern. Paderborn 2005 , 33. Clantz, David M.: The Military Strategy of the Soviet Union. A History. 1992. 34. Gosztony, Peter.' Die Rote Armee. Geschichte und Aufbau der sowjetischen Streitkräfte seit 191 7. Wien 1980. 35. Hagen, Mark von: Soldiers in the Proletarian Dictatorship. The Red Army and the Soviet Socialist State, 1917- 1930. Ithaca u, a. 1990. 36. Hellie, Richard F.: Enserfment and Military Change in Muscovy. Chicago 1971. 37. Ders.: Warfare, Changing Military Technology, and the Evolution ofMuscovite Society. In: Tools of War. Instruments, Ideas, and Institutions of Warfare, 1445-1871. Hrsg. v. lohn A . Lynn. Urbana, Chicago 1990, S. 74-99. 38. Istorija Velikoj Otecestvennoj vojny Sovetskogo Sojuza 1941-1945. 6 Bde. Moskva 1960-1965; dt. als: Gesch ichte des Großen Vaterländischen Krieges der Sowjetunion. 6 Bde. Berlin 1962-1968. 39. Kagan, Frederick W: The Military Reforms of Nicholas I. The Origins of the Modem Russian Army. New York 1999. 40. Keep, lohn L. H: Soldiers of the Tsar. Army and Society in Russia, 1462-1874. Oxford 1985. . 41. Kenez, Peter: A Profile of the Prerevolutionary Officer Corps. In: Califomia Slavic Stu­ dies 7 (1973), S, 121-158. 42. Lapin, V. v.: Wehrpflicht im zaristischen Russland, In: Die Wehrpflicht. Entstehung, Er­ scheinungsformen und politisch-militärische Wirkung. Hrsg. v. Roland C. Foerster. München 1994, S. 171-180. 43. Leonov, 0. C.; UlJanov, 1. E.: Reguljarnaja pechota 1698-1801 [Die reguläre Infanterie 1698- 1801). Moskva 1995. 44. Menning, Bruce: Bayonets Before Bullets: The Imperial Russian Army, 1861-1914. Bloo­ mington, Indianapolis 1992, 45 . Merridale, Catherine: Iwans Krieg. Die Rote Armee 1939-1945. Frankfurt am Main 2006. Nicolle, David: Armies ofMedieval Russia 750-1250. London u. a. 1999. 47. Phillips, Edward J.: The Founding of Russia's Navy: Peter the Great and the Azov Fleet, 1688-1714. Westport 1995. Reese, Roger R.: Tbe Soviet Military Experience. A History of the Soviet Army, 1917­ 1991. London, New York 1999. Rich, David A,: The Tsar's Colonels. Professionalism, Strategy, and Subversion in Late Imperial Russia. Cambridge, London 1998. Sanborn, Joshua: Drafting the Russian Nation. Military Conscription, Total War, and Mass Politics, 1905- 1925. DeKalb 2003. I . Seaton, Albert und loan: The Soviet Army, 1918 to Present. London 1986. Segbers, Klaus: Die Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg. Die Mobilisierung von Verwal­ tung, Wirtschaft und Gesellschaft im "Großen Vaterländischen Krieg" 1941-1943. Mün­ chen 1987. . Die Sowjetunion als Militärmacht. Hrsg. v. Hannes Adomeit. Stuttgart 1987. Steinberg, John Warner: The Education and Training ofthe Russian General Staff. A His­ tory of the Imperial Nicholas Military Academy, 1832-1914. Columbus 1990. Stevens, Carol Belkin: Soldiers on the Steppe. Arrny Reform and Social Change in Early Modem Russia. DeKalb 1995. The Russian l.mperial Arrny 1796-1917. Hrsg. v. Rager R. Reese. Ashgate 2006. Wildman, Allen K.: The End of the Russian Imperial Army, Bd. 1: Tbe Old Army and the Soldier's Revolt. Bd. 2: The Road to Soviet Power and Peace. Princeton 1980- 1987. [Kimerling-)Wirtschajier, Elise. From Serfto Russian Soldier. Princeton 1990. 137 136 59 . Zajonckovskij, P. A.: SamodeIiavie i russkaja annija na rubeze XIX-XX stoletija [Die Selbstherrschaft und die russische Armee an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert). Moskva 1973. 60. Zamoyski, Adam: 1812. Napoleon's Fatal March on Moscow. London 2004. Karsten Brüggemalln Wie in jedem anderen Land haben geographische, politische, ökonomische, religiöse und kulturelle Einflüsse die russische und sowjetische Außenpolitik in unterschiedlicher Aus­ prägung mitgeforrnt. In erster Linie richtet die Forschung den Blick auf die staatlichen Strukturen: Regierung, Minister, Apparate und öffentliche Meinung. Erst in den le~en Jahren wendet man sich verstärkt auch den "weichen" Faktoren der Beziehungen mit dem Ausland, d. h. mentalitätsgeschichtlichen Aspekten oder gesellschaftlichen Wahrnehmun­ gen (Stereotypen, Feindbildern) zu. Neben dem inuner wieder angefuluien, aber zumeist sehr verschieden deftnierten "nationalen Interesse" sind demnach auch psychologische As­ pekte, von außen herangetragene Erwartungen, bürokratische Abläufe, Gruppendynamik und Rollenverhalten zu berücksichtigen. Außenpolitische Motivationen werden vor allem dann kontrovers diskutiert, wenn es um den Einfluss kultureller Prägungen geht. Die Herausgeber der jüngsten funtbändigen "Geschichte der Außenpolitik Russlands" als bestimmende Faktoren auf: die ideologischen, politischen und sozial-ökonomi­ schen Grundlagen der Politik, die geographische und demographische Situation (J'Histo­ Geographie, )'Demographie, BeVÖlkerungsverteilung), das industrielle und militä­ Potential, das Kulturniveau und das nationale Selbstbewusstsein, die )'Mentalität Eliten und der Bevölkerung sowie historische Besonderheiten und Traditionen im i .... "'gang mit der Außenwelt. Bis Anfang der 1990er Jahre waren ganze Epochen und Bereiche fur die westliche und ische Forschung völlig gesperrt. Die Quellenvcröffentlichungen zu sowjetischer Zeit amtlichen Charakter, was dazu fuhrte, dass unangenehme Dokumente ausgelassen verstümmelt wurden. Klassisches Beispiel fur diese Praxis war der Text des gehei­ Zusatzprotokolls zum *Hitler-Stalin-Pakt 1939, dessen Existenz Moskau erst kurz dem Zusammenbruch der UdSSR zugab. zur Außenwelt und territoriale Ausdehnung Russlands der internationalen Bühne nahm und nimmt Russland als Staat auf zwei Kontinenten seinem ambivalenten Erbe aus Europa und Asien stets einen besonderen Platz ein. Christianisierung (J'Religionen, Kirchen) stellte das Land in einen gesamteuropäi­ Kontext, der durch die mongolische Eroberung aufgehalten, aber nicht rückgängig wurde. Die von italienischen Meistem geschaffenen Bauwerke des Kremls ste­ stellvertretend fur den fruchtbaren Wissenstransfer und die engen Bindungen zwi­ den dynastischen und kaufmännischen Eliten Europas. Die *Ausländervorstadt s wurde zum Schauplatz fur die Begegnung mit den Fremden. Seit dem 17. Jahr­ musste die russische Führung Konflikte auf mehreren Schauplätzen gleichzeitig Außenpolitik 139 138 einkalkulieren, was im Zuge der Expansion nach Süden (Schwarzes Meer, l'Kaukasien und l'Mittelasien noch zunahm. Seit Peter 1. sollte die wahrgenommene innere Rückstän­ digkeit durch Reformen im Sinne einer l' "Europäisierung" überwunden werden. Dies postulierte den engen Kontakt zu den europäischen Höfen, Handelshäusern und Manufak­ turen zur Modemisierung von Annee (?Krieg, Militär) und l'Bürokratie. Die allmähliche Expansion nach l'Sibirien, an die Ostsee, den Kaukasus und Mittelasien verdrängte die ein­ heimischen Völker und wurde erst durch die Schwächung der einst mächtigeren Kontrahenten. der ?Mongolen, Osmanen, l'polen und Schweden ennöglicht. Das allmähliche Vor­ schieben der Grenzen schuf ein quasi-koloniales Imperium und verwandelte Russland .. einen Vielvölkerstaat. Symbolisiert wurde die Entwicklung vom Randstaat in Europasi Osten zur Hegemonialmacht durch die Gründung der neuen Hauptstadt St. Petersbura. en Die *Nordischen Kriege, die Gewinnung des Baltikums, die *Teilung Polens sowie Engagement am Balkan rund um die *Orientaliscbe Frage führten trotz mancher schläge zu einem enormen Machtzuwacbs des russischen Staates, der von der über die regionale Ebene zu einem globalen Akteur aufstieg. Die St. Petersburger Bürokratie suchte die dynastischen und nationalen Interessen Landes zu sichern und den Einfluss zu mehren. Eine Besonderheit der russischen matie war die Rekrutierung nicht-russischer, insbesondere deutschbaltischer A (l'Deutsche). Das konkrete Gewicht im Mächtekonzert hing von der Stabilität der' Lage ab, die sich auf das Potential und die Handlungsfreiheit der Regierung Ob "Koloss auf tönernen Füßen" oder "russische Dampfwalze" - das schwer einzuset.­ zende Ungleichgewicht zwischen zahlerunäßiger und territorialer Größe und Fähigkeiten war ein ständiger Begleiter der russischen Außenpolitik. Konservative Reaktion und radikale Revolution als Faktoren der Außenpolitik Für das Gewicht Russlands entscheidend war seine Armee, die seit dem 17. JahrhunGal die zahlenmäßig größte Streitmacht des Kontinents war. So waren es in erster Linie tärische Entscheidungen, die die Stellung Russlands in der Welt bestimmten: Der nur russischer Hilfe enungene Sieg über die napoleonische Streitmacht und die Konflikte europäischen Mächte untereinander ermöglichten den *Zaren im 19. Jahrhundert als freier" (Alexander 1.) oder "Gendarm" (Nikolaus 1.) Europas aufzutreten. Die gen im *Krimkrieg 1855 und gegen Japan 1905, als Demütigung empfunden, nigten sowohl innere Reformbestrebungen als auch revolutionäre Umtriebe. Zahlreiche Widersprüche kennzeichneten den politischen Kurs in St. Petersburg. "petrinische Erbe" zwang die Zaren zu einer aktiven Rolle in der europäischen Mächltlli litik. Wechselnde Allianzen mit Frankreich und Preußen dienten einmal kurzfristigen ritoriaJen Arrondierungswünschen, ein anderes Mal dynastischen Soli Die "russische Gefahr" wurde vor allem von den Liberalen und Sozialdemokraten tisiert. In den Schriften von Marx und vor allem Engels wird die russische AußenpolIlI! in schärfster Form angeprangert, weil sie in der *Autokratie (samoderiavie) das der europäischen Reaktion sahen, wie es in der Niederschlagung der polnischen de und der ungarischen Freiheitsbewegung zum Ausdruck kam. Die Außenpolitik des Russischen Reiches war vennutlich nicht von großangelegten Planungen bestimmt, sondern zeichnete sich durch große Flexibilität aus (Jelavich, --+ 31). Im Hinblick auf die Ausdehnung nach Westen profitierte SI. Petersburg immer von den Meinungsverschiedenheiten der anderen Großmächte. Es gab kaum Gelegenheiten, bei denen die europäischen Mächte untereinander einig gegen den "potentiellen Hegemon" Russland waren. Die europäische Einigung nach dem Zweiten Weltkrieg beruhte zu ei­ nem guten Teil auf der Furcht vor der als expansiv wahrgenommenen UdSSR. Russische Politik in Asien Neben der europäischen rückte zunehmend auch die asiatische Blickrichtung in den Vor­ dergrund. Seit langem war auch China ein Objekt des Interesses, und Russland bemühte sich, an der Dominanz der anderen Kolonialmächte über das schwache Reich der Mitte teilzuhaben. Mit Hilfe der *ungleichen Verträge, die mit Hilfe von Drohungen gegen China abgeschlossen wurden, gewarm das Zarenreich gewaltige Gebiete im Femen Osten und Stützpunkte am Gelben Meer. Die russischen Forts in Alaska und KaIifornien brach­ ten das Zarenreich in (lange Zeit sehr freundschaftliche) Beziehung zu den aufstrebenden USA. Standen im Kaukasus das Osmanische Reich und die einheimischen "Bergvölker" einer raschen Expansion im Wege, bildete das britische Empire in Zentralasien den Ge­ genspieler im sogenarUlten Great Game um die Vorherrschaft in der Region. " Außenpolitik und alte Reflexe nach 1 91 7 Erste Weltkrieg demonstrierte die innere Schwäche des autokratischen Staates und eine Phase radikaler Umwälzungen ein, die im Ausscheiden des Landes aus der koalition nach dem Oktoberumsturz 1917 gipfelten. In Fonn und Inhalt wollte sich Sowjetmacht von dem herkömmlichen diplomatischen Umgang absetzen. Auslands­ penulden des alten Regimes wurden nicht anerkannt, Botschafter wurden nunmehr als htigte Vertreter" bezeichnet, der Außenminister hieß nun "Volkskommissar" 1946). Außenpolitik war in den Augen der Revolutionäre überflüssig, weil es ohnehin eine Weltregierung unter sozialistischem Vorzeichen geben werde. Lenins Sowjetruss­ sah das intemationale Recht im marxistischen Geiste als schändliches Ergebnis kapi­ Verhältnisse an und verkündete stattdesseo die Theorie des "sozialistischen" ~ölkerrechts. Seit 1917 existierte die Ambivalenz zwischen dem nie offiziell fallengelassenen ideo­ Anspruch auf Weltrevolution und dem staatlichen Interesse, politische und Kontakte zur "kapitalistischen" Außenwelt zu unterhalten. Schon die Be­ "Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken" (UdSSR) wies die Besonderheit keine nationale Begrenzung zu besitzen (? Staat, Herrschaft, Institutionen). Jedes Land potentiell beitreten (oder dazu gezwungen werden). Der Dualismus Sowjetstaat! 'ntem förderte im Ausland das Misstrauen gegenüber Moskau. Neben der klassischen unterhielt die UdSSR mit hohen Kosten ein - nur in Bruchstücken erforschtes ­ von Frontorganisationen auf der ganzen Welt, die durch vielfaltige kulturelle und Aktivitäten die öffentliche Meinung im Ausland zu steuern versuchten. 140 Grundlagen Außenpolit ik 141 Revolutionäre Vorstellungen, nach dem Oktoberumsturz auf die als "imperialistisch" abqualifizierte Außenpolitik ganz verzichten zu können , wurden rasch revidiert. In der Tat machten die Revolutionäre einige Anleihen bei der vorrevolutionären Außenpolitik. Dabei war die Mitgliedschaft im Völkerbund nur ei ne kurze Episode. Die von Stalin be­ triebene Politik wies eine deutlich revisionistische Stoßrichtung gegen die Ordnung VOD Versailles auf: Um die nach der Revolution verlorenen baltischen, finnischen und polni­ sc hen Territorien wiederzugewinnen, schloss der sowjetische Diktator 1939 sogar einet! Pakt mit Hitler, dessen Überfall im Juni 1941 die fatalen Illusionen der Füluung de­ monstrierte . Der nationalsozialistische Vernichtungskrieg leitete eine Phase der Rück­ besinnung auf patriotische Ideale ein, denn der in Anlehnung an napoleonische proklamierte "Große Vaterländische Krieg" brachte die UdSSR in eine zeitlich Allianz mit den westlichen Mächten. Sowjetische Leitlinien im Kalten Krieg Das Verhalten der UdSSR im Kalten Krieg blieb von der Mischung aus großem heitsbedürfnis, revo lutionären Orientierungen und Großmachtstreben bestimmt. dem Zweiten Weltkrieg diente die sowjetische Auslegung des internationalen Rechts zu, die bewaffneten Interventionen u. a. in der DDR, Ungarn, der Tschechoslowakei Afghanistan zu rechtfertigen. Den verbündeten "Bruderländern" wurde nur eine schränkte Souveränität (*Breznev-Doktrin) zugebilligt. Große Summen wurden ausgege­ ben, um in aller Welt vermeintliche "Freiheitskämpfer" fur Terroranschläge auszubildc!li Im Verhältnis zur anderen Supermacht USA betonte Moskau gleichzeitig das Interesse einer friedlichen Koexistenz, wie es in den Krisen um Berlin oder Kuba deutlich als die Welt am Abgrund der nuklearen Vernichtung stand. Damit bildete die AmblvClICII zwischen Sendungsbewusstsein und Sicherheitsinteressen auch im Zeitalter der Welt ein konstitutives Element der sowjetischen Außenpolitik. Forschungskontroversen Die Geschichte der Außenpolitik bietet vor allem fur die sowjetische Zeit, bedingt die nach wie vor schlechte Quellenlage, Raum fur offene Fragen und Kontroversen. tig umstritten ist die Frage, inwieweit es eine Kontinuität russischer und sowjetischer ßenpolitik gibt. Eine geographisch orientierte Richtung spricht von einern Drang "warmen Meer", der jahrhundertelang nachzuweisen sei (?Historische Geograplli Demnach sei die Erlangung eisfreier Häfen ein konstantes Ziel der russischen tischen Außenpolitik gewesen. Andere Meinungen schwanken zwischen der der Prophezeiung vom *Dritten Rom, die man als geistigen Nährboden der von dominierten kommunistischen Weltbewegung betrachtet hat, und dem Verständnis russische Einkreisungsphobien und Pufferzonen. Auswahlbibliographie Quellen 1. Calendar of Soviet Documents on Foreign Policy, 191 7-1941. Hrsg. v. Jane Degras. Nachdruck: Westpon 1983. 2. Dokumenty vne~nej politiki SSSR [Dokumente der Außenpolitik der UdSSR). 23 Bde. Moskva 1959- 1998 (wird fortgesetzt). 3. MID SSSR: Vnesnjaja politika Rossii . XIX i nacala XX veka. Dokumenty Rossijskogo Ministerstvo inostrannych deI [Außenpolitik Russlands. 19. Jh. bis zum Beginn des 20. Jh. Dokumente aus dem Russischen Außenministerium]. Serie 1. 8 Bde. (1801-1815). Serie H. 8 Bde. (1815-1830). Moskva 1960-1994. 4. Readings in Russian Foreign Policy. Hrsg. v. Robert A. Godwin. New York 1959. 5. Rossija i Afrika. Dokumenty i materialy. XVIII v. - 1960 g. [Russland und Afrika. Doku­ mente und Material ien. 18. Jahrhunden bis 1960J. Hrsg. v. A. B. Davidson. 2 Bde. Moskva 1999. 6. Sovetskij faktor v vostocnoj evrope. Dokumenty [Der sowjetische Faktor in Osteuropa. Dokumente]. Bd. 1. 1944-1948. Moskva 1999. 7. Soviet Documents on Foreign Policy. Hrsg. v. Jane Degras. 3 Bde. New York 1978. 8. The Communist International 1919- 1943. Documents. Hrsg. v. Jane Degras. London o. 1. 9. Vostocnaja Evropa v dokumentach rossijskich archivov. 1944-1953 [Osteuropa in Doku­ menten russischer Archive]. Bd. 1: 1944-1948. Bd. 2: 1949-1953 . Moskva, Novosibirsk 1997-1998. Hilfsmittel W. Diplomaticeskij slovar' [Diplomatisches Wörterbuch]. 3 Bde. Moskva 1971-1973. I. Johnston, Rohert H.: Soviet Foreign Policy 1918- 1945. A Guide to Research and Re­ search Materials. Wilmington 1991. Pochlebkin, V V : Vnesnjaja politika Rusi, Rossii i SSSR za 1000 let v imenach, datach, faktach. Spravocnik [1000 Jahre Außenpolitik der Rus' , Russlands und der UdSSR in Na­ men, Daten, Fakten. Handbuch]. 2 Bde. Moskva 1995-1999. Soviet Foreign Relations and World Communism. A Selected, Annotated Bibliography of 7000 Books in 30 Languages. Hrsg. v. Thomas T Hammond. Princeton 1965. Sowjetische Forschungen (191 7 bis 1991) zur Geschichte der deutsch-russischen Bezie­ hungen von den Anfangen bis 1949. Bibliographie. Hrsg. v. Karin Borck. Berlin 1993. ungen Brothers in Anns: The Ri se and Fall ofthe Sino-Soviet Alliance 1945-1965. Hrsg. v. Odd Arne Wes/ad. Stanford 1998. Classic Issues in Soviet Foreign Policy: From Lenin to Brezhnev. Hrsg. v. Frederic J Fleron, Erik P. Hoffmann. New York 1991. • Cuev, Feli/es: Sto sorok besed s Molotovym [Hundertvierzig Gespräche mit Molotov]. Moskva 1991. Fischer, Louis: The Soviets i_n World Atfairs. A History of Relations Between the Soviet Union and the Rest ofthe World. 2 Bde. London 1930. Gaddis, .lohn L.: Russia, the Soviet Union, and the United States. An Interpretative History. New York 1990. Ders.: The Cold War. A New History. New York 2007. Gaiduk, llya V: Confronting Vietnam: Soviet Policy toward the Indochina Conflict, 1954­ 1963. Stanford 2003. 142 143 22. Gromy/w, Andre} u. a.: Geschichte der sowjetischen Außenpolitik. Berlin o. 1. (1977]. 23. Haslam, Jonathan: Soviet Foreign Policy, 193~3: the Impact of the Depression. New York 1983. 24. Ders.: The Soviet Union and the Struggle for Collective Security in Europe, 1933-1939. London 1984. 25. Heinzig, Dieter: Die Sowjetunion und das kommunistische China 1945- 1950: Der be­ schwerliche Weg zum Bündnis. Bd. 34. Baden-Baden 1998. 26. Hillgruber, Andreas: Sowjetische Außenpolitik im Zweiten Weltkrieg. Königstein/Ts. 1979. 27 . Istorija diplomatii (Geschichte der Diplomatie). 3 Bde. Moskva 1959-1965. 28. Istorija mezdunarodnych otnosenij i vnesnej politiki SSSR (Geschichte der internationalen Beziehungen und Außenpolitik der UdSSR). 3 Bde. Moskva 1986. 29. Istorija vnesnej politiki Rossii. Konec XV v. - 1917g [Geschichte der russischen Außenpoli­ tik. Ende des 15. Jh. bis (917). Hrsg. v. Andre} N. Sacharov. 5 Bde. Moskva 1995-1997. 30. Istorija vnesnej politiki SSSR [Geschichte der Außenpolitik der UdSSR). Hrsg. v. Anm Gromy/w, Boris Ponomarev. Moskva 1986. 31. Jelavich, Barhara: St. Petersburg and Moscow: Tsarist and Soviet Foreign Policy, 181+­ 1974. Bloomington 1974. 32. Kennan, George F.: Sowjetische Außenpolitik unter Lenin und Stalin. Stuttgart 1961. 33. Kennedy-Pipe, Caroline: Russia and the World, 1917-1991. London 1998. 34. Lederer, [vo 1.: Conference on a Century of Russian Foreign Policy. Essays in Perspective. New Haven 1962. 35. Mackenzie, David: From Messianism to Collapse. Soviet Foreign Policy 1917-1 991. Worth 1994. 36. Ders.: Imperial Dreams, Harsh Realities. Tsarist Foreign Policy, 18 15-1917. 1994. 37. Meissner, Boris: Grundfragen sowjetischer Außenpolitik. Stuttgart 1970. 38. Nogee, Joseph L.; DonaIdson, Rober! H: Soviet Foreign Policy Since World War 11. York 1984. 39. Dies.: The Foreign Policy ofRussia: Changing Systems, Enduring Interests. London, York 1998. 40. 0 'Sullivan, Donal: Stalin 's Cordon Sanitaire. Die sowjetische Osteuropapolitik und Reaktionen des Westens 1939-1949. Paderborn 2003. 41. Präventivkrieg? Der deutsche Angriff auf die Sowjetunion. Hrsg. v. Bianka Ennker. Frankfurt am Main 2000. 42. Roberts, Geoffrey: Stalin's Wars. From World War to Cold War, 1939-1953. New 2007. 43. Ruhinstein, Alvin Z: Soviet Foreign Policy Since World War U: Imperial and GlobaL 1985. 44. Sovetskaja vnesnjaja politika 191 7-1945 g. Poiski novych podchodov [Sowjetische ßenpolitik 1917-1945. Suche nach neuen Zugängen]'. Hrsg. von L. N. Neiinskij. 1992. 45. Soviet foreign policy 1917-1991. A Retrospective. Hrsg. v. Gabriel Gorodetsky. 1994. 46. The Conduct of Soviet Foreign Policy. Hrsg. v. F. C. Baarghoorn, E. P. Hoffman. New York 1971. 47. The Conduct of Soviet Foreign Policy. Hrsg. v. Erik P. HojJmann, Frederic 1. Fleron. panded Second Edition. New York 1980. 48. Thomas, Ludmila; KnolI, Viktor: Zwischen Tradition und Revolution: Determinanten und Strukturen sowjetischer AußenpOlitik 1917- 1941. Stuttgart 2000. 49. Ulam, Adam B.: Expansion and Coexistence: The History of Soviet Foreign POlicy, 1917­ 1973.2. Auf]. New York 1974. 50. Westad, Odd Arne: The Global Cold War. Third World Interventions and the Making of Our Times. Cambridge 2007. 51. Zimmerman, William : The Russian People and Foreign Policy: Russian Elite and Mass Perspecti ves, 1993-2000. Princeton 2002. 52. Zubok, Vladis!av; P!eshakov, ConSlantine: Inside the Kremlin's Cold War. From Stalin to Khrushchev. Cambridge 1996. Dona! 0 'Sullivan