ŽARKO PAIĆ Kroatien Der kroatische Schriftsteller, Philosoph

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ŽARKO PAIĆ
Kroatien
Der kroatische Schriftsteller, Philosoph, Soziologe, Kritiker, Essayist und Theoretiker der
Gegenwartskunst und Architektur Žarko Paić wurde 1958 in Kutina/Kroatien geboren.
Nach seinem Studium der Politikwissenschaften an der Universität Zagreb erlangte er im
Fach Philosophie den Magistertitel und 2005 im Fach Soziologie den Doktortitel. Er ist
Mitglied des Vereins zur Förderung der Philosophie, des Kroatischen Schriftstellerverbands (HDP) und des Kroatischen PEN-Zentrums und arbeitet als Dozent für Kultursoziologie, Ästhetik, Semiotik und visuelle Kommunikation an der Textiltechnologischen Fakultät der Universität in Zagreb.
Žarko Paić veröffentlicht philosophische und soziologische Texte, Texte zur Theorie der
Gegenwartskunst, der Kulturpolitik und der Kulturentwicklung sowie literarische Essays
und Kritiken im In- und Ausland. Seine Texte wurden ins Englische, Deutsche, Französische, Slowenische, Ungarische und Rumänische übersetzt.
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Inhaltsangabe
Žarko Paić
"Događaj i praznina. Ogledi o kraju povijesti"
Das Buch "Događaj i praznina. Ogledi o kraju povijesti" (="Ereignis und Leere.
Betrachtungen über das Ende der Geschichte") erschien 2007 in Zagreb/Kroatien beim
Verlag "Izdanja Antibarbarus" auf Initiative des vor kurzem verstorbenen kroatischen
Verlegers Albert Goldstein. In diesem philosophischen, wissenschaftlichen Werk setzt sich
der kroatische Schriftsteller Žarko Paić kritisch mit verschiedenen philosophischen,
kunstgeschichtlichen und auch einem literarischen Ansatz zum "Ende der Geschichte"
auseinander.
Das Werk besteht aus einem Vorwort und sieben Essays, in denen der Autor die Quellen
der philosophischen These über das Ende der Geschichte aus verschiedenen Blickwinkeln
und anhand verschiedener Ansätze beleuchtet und zu interpretieren versucht. Dabei reflektiert der Autor das frühe Werk Hegels und dessen Schrift "System der Sittlichkeit",
setzt Marx' Konzeption des historischen Materialismus und Heideggers
seinsgeschichtliches Denken zueinander in Bezug, untersucht den im Text "Narod i
povijesno mišljenje" (="Das Volk und das geschichtliche Denken") dargelegten
philosophischen Ansatz des kroatischen Philosophen Vanja Sutlić, analysiert drei
verschiedene Theorieansätze der "ikonischen Wende" (Gottfried Böhm, Hans Belting und
Klaus Sachs-Hombach), durchleuchtet Jean Beaudrillards poststrukturalistischen Ansatz
des "zweiten Endes der Geschichte" sowie Slavoj Žižeks Thesen aus "The Ticklish Subject" und erörtert am Ende des Buches schließlich Hermann Brochs Ansatz des kulturellen
Pessimismus und den Begriff des Werteverfalls.
Eine der Hauptfragen, mit der sich der Autor in diesem Buch auseinandersetzt, ist die
Frage, ob es möglich ist, jenseits des Paradigmas einer metaphysisch-linearen Geschichte
zu denken, die stets die Idee der Ewigkeit, Unendlichkeit und des Fortschritts voraussetzt. Die Leere in der Welt entspricht der Leere im Herzen des Menschen. Gibt es die
Möglichkeit einer neuen Wende hin zu einem anderen Ereignis als das erfüllte Abenteuer
der westlichen Weltgeschichte im globalen Zeitalter? Das Buch gibt keine eindeutige Antwort auf diese Frage, bietet jedoch einen andersartigen Einblick in das Wesen der Geschichte und sucht eine mögliche Antwort in der Interpretation des literarischen Ansatzes
von Hermann Broch.
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S. 59-65
[...]
Das Ende der geschichtlichen Zeit?
Der Diskurs über die Struktur und die Artikulation der geschichtlichen Zeit bezüglich Karl
Marx' Konzeption des historischen Materialismus und Martin Heideggers seinsgeschichtlichen Denkens scheint der "ausgehöhlten Zeit" vor dem triumphalen, planetaren Vorstoß
der Globalisierung anzugehören. Von kritischen Interpretationen zur Beziehung zwischen
Marx und Heidegger war vor allem eine Seite des theoretischen Paradigmas geprägt ԟ die
marxistische und postmarxistische Ende der 60er bis Ende der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts. 1 Dazu gilt es sogleich anzumerken, dass der Marxismus hier nicht als Ideolo1
In der kroatischen Philosophie dieser Zeit heben sich im Kontext des ehemaligen Jugoslawiens zwei grundlegende Zugänge zu Marx und Heidegger heraus, die zugleich zwei
scheinbar verwandte, in Wahrheit jedoch völlig unterschiedliche gedankliche Errungenschaften darstellen. Der erste ist programmatisch für die Orientierung des schöpferischen
Marxismus der Praxisphilosophie, wohingegen der andere einen kritischen Schritt außerhalb des Schemas der Subjekt-Objekt-Beziehung darstellt, der wie folgt vereinfacht dargelegt werden kann. Die Praxisphilosophie wird paradigmatisch sicherlich von Gajo
Petrović' Denken der Revolution oder revolutionäres Denken vertreten, wohingegen Vanja
Sutlić' Ansatz über das Verhältnis zwischen Marx als Philosophen (von 1841 bis 1844) und
Marx als Wissenschaftler (von 1845 bis 1883) im epochalen geschichtlichen Denken hinausgeht. (Vergleiche dazu: Gajo Petrović, Odabrana djela I-IV (="Ausgewählte Werke IIV"), Naprijed, Zagreb – Nolit, Belgrad, 1986, Vanja Sutlić, Bit i suvremenost: S Marxom
na putu k povijesnom mišljenju (="Wesen und Gegenwärtigkeit: Mit Marx auf dem Weg
zum geschichtlichen Denken"), V. Masleša, Sarajevo, 1972, 2. Ausgabe, Praksa rada kao
znanstvena povijest: Povijesno mišljenje kao kritika kriptoifilozofijskog ustrojstva Marxova
mišljenja (="Die Praxis der Arbeit als wissenschaftliche Geschichte: Geschichtliches Denken als Kritik der kryptophilosophischen Struktur Marx' Denkens"), Globus, Zagreb 2.
Ausgabe 1987, Kako čitati Heideggera: Uvod u problematsku razinu »Sein und Zeit-a« i
okolnih spisa (="Wie Heidegger lesen: Einführung in die problematische Ebene des Werkes "Sein und Zeit" und der dazugehörigen Schriften"), A. Cesarec, Zagreb, 1988) Die
bekannteste Einteilung Marx' in einen frühen Philosphen/Ideologen und späten Wissenschaftler/Revolutionär unternahm der poststrukturalistische Philosoph Louis Althusser,
ein Vertreter des orthodoxen Marxismus Ende der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts in
Frankreich. Bis heute gehört dieses zweifelhafte Unterfangen, das sich bei Althusser unter
Zuhilfenahme von Gaston Bachelards Konzept des "epistemologischen Bruchs" strukturell
und historisch durch alle Arbeiten über Marx, den Marxismus, den historischen Materialismus und das Ideologiekonzept zieht, zum Kanon. Wer zum frühen Marx und seiner Entfremdungskritik zurückkehrt, ist ein sog. schöpferischer Philosoph und neigt zum Konzept
der nicht-entfremdeten Subjektivität des Menschen in einer "echten, authentischen" Geschichte als einer kommenden Geschichte. Wer sich andererseits dem späten Marx zuwendet, ist ein revolutionärer deterministischer Wissenschaftler, der in der Geschichte der
Entwicklung des Kapitals die unabdingbare Dialektik der Entfremdungsgeschichte vom
vorgeschichtlichen Zustand bis zum nachgeschichtlichen Eintritt des wissenschaftlichtechnischen Zeitalters der Einheit von Subjekt, Objekt und des Absoluten im Hegelschen
Sinn sieht. An dieser Stelle reicht es aus, zu sagen, dass Sutlić' Interpretation von Marx
und Heidegger und sein geschichtliches Denken ein entschlossener und radikaler Schritt
jenseits dieses vulgären dualistischen Schemas ist. Im Kontext des gesamten westlichen
Marxismus Ende der 60er bis Ende der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts war Sutlić' Ansatz
einzigartig, ohne jegliche mögliche Berührung mit den marxistischen Heideggerianern.
Daher ist es erst heute möglich, die Bedeutung eines solchen Denkens für das, was hier
erörtert wird, zu erfassen – die Verwindung der Geschichte als vulgäre Zeitlichkeit mit der
Herrschaft der temporalen Ektase der Gegenwart als stetige Aktualität.
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gie, also in seiner Bedeutung politisch-praktischer Zugehörigkeit zur kommunistischen
Bewegung in den westlichen liberalen Demokratien verstanden werden soll. Ganz im Gegenteil: der Marxismus soll hier als geschichtsphilosophische und theoretische Erläuterung der Gegenwärtigkeit aus der Perspektive des historischen Materialismus begriffen
werden. Die ontologische Grundvoraussetzung für eine derartige Geschichtsinterpretation
ist die Möglichkeit zur Veränderung oder zur revolutionären Umgestaltung der geschichtlichen Beziehungen zwischen der Entfremdung, der Verdinglichung und der wissenschaftlich-technischen Instrumentalisierung des Menschen. Hierbei handelt es sich um
eine fruchtbare Berührung der gedanklichen Nähe zu Marx in Verbindung mit den vorherrschenden theoretischen Richtungen des modernen und postmodernen Denkens.
Daher ist das, was für die marxistische Interpretation von Heideggers Denken Ende der
60er bis Ende der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts gilt, in der Welt, deren Richtung sich
geändert hat, auch nach dem faktischen Ende des realsozialistischen Systems 1989 gegenwärtig. Besonders deutlich ist dies in den Werken der Philosophen des Poststrukturalismus, des Dekonstruktivismus, des Neomarxismus und der theoretischen Lacanschen
Psychoanalyse zu sehen (Derrida, Badiou, Agamben, Žižek). 2 In der postmarxistischen
Version ist Heidegger also kein aktueller, sondern in erster Linie ein zeitgenössischer
Denker. Fortwährend ist er Gegenstand verschiedener neuer Kritiken, Interpretationen
und der Aneignung seiner gedanklichen Ergebnisse im Umfeld verschiedener post- und
neomarxistischer Theoreme.
Die andere Seite der Beziehung zwischen Marx und Heidegger, also der Heideggersche
Zugang zu Marx außerhalb des marxistischen Denkkreises, ist äußerst selten anzutreffen.
Dafür gibt es einen einfachen Grund. Es gibt sehr wenige interpretative Stellen, fast nur
beiläufige, an denen sich Heidegger mit Marx' historischem Materialismus explizit auseinandersetzt. Dort, wo es solche Stellen in Heideggers Werk gibt, offenbart sich ungeachtet deren Menge und Umfang etwas wesentlich anderes. Zunächst musste Heidegger mit
der metaphysischen Struktur des Seins und der Zeit von Platon bis Hegel aufräumen, um
das epochale Geschehen der neuzeitlichen Metaphysik der Subjektivität als Anthropologie, zu der er unvermeidlich auch Marx' Denken zuordnet, überhaupt denken zu können. 3
Gerade deshalb erweist sich die Beziehung Heideggers zu Marx' Denken auch weiterhin
als eine der wichtigsten unbeleuchteten Fragen nach dem epochalen Charakter der neuzeitlichen Metaphysik. Heideggers Frage nach der Technik als Gestell verlässt das Schema der anthropologisch-instrumentalen Beziehung zwischen dem Menschen und dem
weltgeschichtlichen Geschehen des Seins als Schicksal des technischen Zeitalters. Marx'
Idee des Kommunismus als vollendetes "Ende der Geschichte", in dem sich die Philosophie als Metaphysik, Idee und Wirklichkeit, Substanz und Subjekt, das Äußere und das
Innere, Gott und die Welt, Schöpfertum und Verdinglichung realisiert, in etwas, was jeder
Teilung vorausgeht, wird in der aktuellen "Welt" nur noch als utopisch-eschatologisches
Experiment der Freiheit jenseits der Welt des Kapitals ohne Grenzen betrachtet. Doch das
Problem besteht darin, dass sowohl Heideggers Gestell als auch Marx' technische Praxis
des Kapitals in der wissenschaftlichen Gestalt der Produktion um der Produktion willen
(=Teleologie des Arbeitsprozesses außerhalb des Dualismus der Entfremdung und der
Verdinglichung des Menschen) nur aus dem heraus verstanden werden können, was dem
teleologischen Begriff der Geschichte, der seinen Anfang und sein Ende in Hegels Wissenschaft des absoluten Geistes nimmt, vorausgeht. Was Hegels Wissenschaft des absoluten
Geistes vorausgeht, ist die uranfängliche Zeitlichkeit der Wissenschaft des absoluten Arbeitsbegriffs (Marx) vor der Spaltung in "Reich der Notwendigkeit" und "Reich der Freiheit" sowie das Ereignis von Sein und Zeit in der geschichtlichen Offenheit des vor- und
2
Vergleiche dazu: Jacques Derrida, The Spectre of Marx , Routledge, London-New York,
1994, Alain Badiou, Manifest za filozofiju ("Manifest für die Philosophie"), Jesenski i Turk,
Zagreb, 2001, Giorgio Agamben, Das Offene , Suhrkamp, Frankfurt/M., 2003, Slavoj
Žižek, The Ticklish Subject, Verso, London-New York, 2000.
3
Vergleiche dazu: Michael Eldred, Kapital und Technik: Marx und Heidegger, Verlag, Dr.
Josef H. Röll, Dettelbach, 2000.
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nachtechnischen Gestells. 4 Die anthropologische Umkehrung Hegels bei Marx und der
Versuch einer Wende zum Wesen der Technik bei Heidegger durch das Denken eines
uranfänglichen Ereignisses bestimmen fast schicksalshaft alle wichtigen philosophischen
Wege vom Poststrukturalismus und der Postmoderne bis hin zum neusten Diskurs über
das Wesen der Globalisierung.
Es kann die These vertreten werden, dass Heidegger zu einer Zeit, als der Marxismus der
"herrschende Gedanke der Epoche" (Sartre) war, Marx gerade deshalb so selten in seinen Schriften und Vorlesungen erwähnte, weil sich sein Denken der Überwindung der
Metaphysik direkt auf Hegels Philosophie des absoluten Geistes bezog. Die Befreiung aus
Hegels magischer Umarmung bedeutete für Heidegger nicht den Weg über Marx sondern
über Nietzsche. 5 Für Heidegger ist Marx nur eine Version der anthropologischen Kritik
des Absoluten bei Hegel. Doch dies ist nicht nur das Hauptproblem Heideggers und seines seinsgeschichtlichen Denkens sondern umgekehrt auch das der gesamten postmarxistischen und neomarxistischen Kritik bezüglich Heideggers "Ontologie". In neuerer Zeit
wird diese Kritik von der sehr umstrittenen Begründung einer neuen "politischen Ontologie" für das Zeitalter der Nachgeschichte geprägt. 6
Bei all diesen Versuchen einer "neuen Ontologie" wird Heidegger vor allem die Verabsolutierung des Seins außerhalb der menschengeschichtlichen Bestimmung des Daseins als
Ausgangspunkt kritisch vorgeworfen. Die Veränderung des temporalen Charakters des
Seins führt, insbesondere bei Badiou, Agamben und Žižek, etwas scheinbar Banales in
den Diskurs über die "neue Ontologie" ein. Dabei handelt es sich um einen Einblick in den
veränderlichen und stetig prozessualen Charakter des Seins selbst. Schon Badiou führte
jedoch in seiner pluralen Ontologie den Begriff événement (="Ereignis") ein, der nichts
anderes ist als eine komplexe Übersetzung des Ausdrucks Ereignis bei Heidegger. Darin
verwirklichen sich Geschichtlichkeit und Zeitlichkeit des Seins. Daher gilt es, die Forderung nach einer neuen "politischen Ontologie" erst im Kontext der großen Rückkehr des
Politischen ins Zentrum des Diskurses über die Grenzen des sogenannten postpolitischen
Zustands im Zeitalter der Globalisierung verständlich zu machen. 7
Warum ist dies in der Zeit des zweiten "Endes der Geschichte", das soziologisch und politologisch über Francis Fukuyama und seine ideologische Interpretation der These vom
Ende der Geschichte bei Hegel zur Zeit der Realisierung des Absoluten in der Herrschaft
der liberal-demokratischen Welt der kapitalistischen Globalisierung zu erkennen ist, so
ausgesprochen wichtig? 8 Wiederholen wir auf diese Weise nicht ԟ nur in einem anderen
aktuellen Rahmen ԟ bereits dagewesene und absolvierte Diskussionen über Marx und die
Entfremdung, über Heidegger und das Vergessen des Seins, mit der Betonung auf den
Reinterpretationen von deren Beziehung zu Geschichte, Zeit und Welt?
Die Antwort auf diese Frage ist eine mögliche Antwort auf die Frage nach den unvollendeten Revolutionen der Moderne und den unvollendeten gedanklichen Reflexionen des sogenannten Erbes Marx' in der "Neuzeit". In ihr gibt es keine substanziellen Unterschiede
zwischen dem westlichen und dem östlichen geistigen Abenteuer der Geschichte mehr.
Alles, was bleibt, sind die Unterschiede in den kulturellen Dimensionen der Entwicklung.
Das Problem des sich selbst Überlassens dessen, was noch Welt genannt wird, außerhalb
aller möglichen Interpretationen und verspäteten Veränderungen, liegt gerade im Kon4
Vergleiche dazu: Michael Eldred, s.o.
Vergleiche dazu: Martin Heidegger, Nietzsche I-II, Neske, Pfullingen, 1961.
6
Vergleiche dazu: Carsten Strathausen, "Kritika neoljevičarske ontologije" (engl. Titel: "A
Critique of Neo-Left Ontology"), Tvrđa, 1-2/2007.
7
Vergleiche dazu: Alain Badiou, Being and Event, Verso, London-New York, 2002.
8
Eine Kritik an Fukuyamas Thesen als ideologische Version von Hegels und Marx' Idee des
"Endes der Geschichte", doch ohne das Bestreiten der Idee, dass die Geschichte im strukturellen Sinne beendet ist, und dass das, was "jetzt" und "hier" geschieht, nichts anderes
ist als eine Situation, die etwas Interpretativem wie dem Zustand After Theory gleicht,
befindet sich in Peter Sloterdijks Essaybuch Srdžba i vrijeme: Političko-psihološki ogled
(dt. Titel: "Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch"), Izdanja Antibarbarus, Zagreb, 2007. Übersetzung aus dem Deutschen: Nadežda Čačinovič.
5
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zept der Vollendung der geschichtlichen Zeit als Zeit der Welt selbst. In dieser Konstellation ist auch die Frage nach den kulturellen Unterschieden in den Dimensionen der gesellschaftlichen Entwicklung nichts anderes als die Erörterung der Frage nach den Möglichkeiten des "Neuen" im Zeitalter der Verwirklichung der Idee des Fortschritts als endlose Weiterentwicklung ein- und desselben (Tendenz-Latenz des Entwicklungsprozesses
in der vollendeten Zeit). Entwickelt sich das Kapital in der Zeit als "neuer" Mehrwert oder
war jenes "Neue" schon immer das Resultat der geschichtlichen Natur des Kapitals als
gesellschaftlicher Beziehung zwischen der Natur als Objekt, dem Menschen als Subjekt
und der Sache als Subjekt-Objekt-Prozess der kapitalistischen Entwicklung der Welt?
Die Frage nach dem technischen Charakter der Welt ist heute zugleich eine Frage nach
den Grenzen der Möglichkeit der Entwicklung überhaupt. Die Rückkehr zu den verschiedenen Ethiken der nachhaltigen Entwicklung, zu den bioethischen Grenzen der Zulässigkeit des Klonens menschlicher embryonaler Stammzellen, dies alles sind nur sichtbare
Symptome des Unbehagens hinsichtlich der Vollendung der Idee der geschichtlichen Zeit
als endlosen/-r Fortschritts/Entwicklung. Alle soziologischen Analysen des Unterschieds
zwischen diesen beiden Begriffen bewegen sich meist im Teufelskreis des Schemas Modernität-Postmodernität. So ist die Modernität die Idee des wissenschaftlich-technischen
Fortschritts ohne eine ethische (menschliche) Dimension der Entwicklung; die Postmodernität oder Neomodernität oder aber reflexive Modernität ist die Möglichkeit der Umkehr oder der Wende (turn) durch das rücksichtsvolle menschliche Potenzial der Weltgeschichte in der Herrschaft von Wissenschaft, Technik und Kapital. 9
Die Weltgeschichte wird dann vollendet, wenn es nichts mehr gibt als kulturelle Unterschiede und wenn sich statt des einmaligen Prozesses der wissenschaftlich-technischen
Produktion und der Bearbeitung des Wesens nichts jenseits des Horizonts des Endes der
geschichtlichen Zeit befindet. Ist das Ende der Geschichte in diesem Zeitalter des Endes
der geschichtlichen Zeit ein völliger Nihilismus der Freiheit des Absoluten, um mit Nietzsches und Hegels synkretischer Sprache zu sprechen? Verbirgt sich dahinter die Nichtigkeit der Epoche und das anthropologische Ereignis der menschlichen Verwandlung in eine
Sache/ein Geschöpf, mit dem sich heute die Bioökonomie, Biopolitik und Bioethik befasst?
Kann ohne den epochalen Horizont des Endes der geschichtlichen Zeit als Realisierung
der Konzeption des historischen Materialismus schließlich überhaupt noch von Marx' Erbe
die Rede sein? Beim Überwinden der geschichtlichen Dialektik zweier Reiche – des Reiches der Notwendigkeit (der Arbeit - der Wissenschaft - der Technik) und des Reiches der
Freiheit (des Spiels - der Kunst - der Ästhetik) – ist die radikale Trennung von Arbeit und
Freiheit nicht mehr möglich, denn die Idee zur Aufhebung der Einteilung in Arbeit und
Freiheit ist bereits in der Wurzel der anthropologischen Verwirklichung der Philosophie als
Metaphysik bei Marx enthalten, im freien Spiel und dem Experimentieren des Menschen
mit den Möglichkeiten der wissenschaftlich-technischen Produktion der Welt als Konzept
und der Welt als Projekt. 10 Freiheit ist die ontologische Voraussetzung für Arbeit. Nur ein
freier Mensch kann zum Sklaven der Arbeits-/Wissenschafts-/Technik-Geschichte werden.
Die Bedingung für die Möglichkeit der Freiheit ist zugleich auch Bedingung für die Möglichkeit des Überschreitens epochaler Grenzen der metaphysischen Welt der Arbeit in den
Grenzen des neoliberalen globalen Kapitalismus.
[...]
aus dem Kroatischen von Margit Jugo
9
Vergleiche dazu den Ansatz des Globalisierungskritikers aus der Perspektive der Theorie
einer reflexiven, anderen Moderne: Ulrich Beck, Weltrisikogesellschaft: Auf der Suche
nach der verlorenen Sicherheit, Suhrkamp, Frankfurt/M., 2007.
10
Vergleiche dazu: Kostas Axelos, Marx – penseur de la technique, Ëditions de Minuit,
Pariz, 1964.
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