Peter Heine (2003): Islam zur Einführung. Dresden

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Peter Heine
Islam zur Einführung
Wissenschaftlicher Beirat
Prof. Dr. Hartmut Böhme
Prof. Dr. Detlef Horster
Prof. Dr. Ekkehard Martens
Prof. Dr. Barbara Naumann
Prof. Dr. Herbert Schnädelbach
Prof. Dr. Ralf Schnell
Junius Verlag GmbH
Stresemannstraße 375
22761 Hamburg
Im Internet: www.junius-verlag.de
© 2003 by Junius Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: Florian Zietz
Satz: Druckhaus Dresden
Druck: Druckhaus Dresden
Printed in Germany 2003
ISBN 3-88506-365-4
1. Auflage März 2003
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten
sind im Internet über ‹http://dnb.ddb.de› abrufbar.
Inhalt
Vorwort .................................................................................
7
Einleitung ..............................................................................
9
Arabien vor dem Islam ..........................................................
Die Quellenlage..................................................................
Die Gesellschaftsstruktur ...................................................
Die Religion ......................................................................
Die Tugenden der vorislamischen
arabischen Gesellschaft .......................................................
15
15
18
21
24
4. Muhammad und der Koran ............................................... 25
Das Leben des Propheten ................................................... 25
Der Koran .......................................................................... 36
5. Die islamischen Glaubenspflichten ....................................
Das Gebet...........................................................................
Das Fasten ..........................................................................
Das Almosen .....................................................................
Exkurs: Die Kopfsteuer (Jizya) und andere Abgaben ...........
Die Pilgerfahrt ....................................................................
Der Dschihad .....................................................................
Ethische Regeln ..................................................................
Islamische Eschatologie.......................................................
63
64
69
74
76
80
87
91
94
6. Das islamische Recht.......................................................... 97
7. Islamische Sonderformen ................................................... 113
Die Schiiten ........................................................................... 114
Die Ismailiten ........................................................................ 124
Die Bahai .............................................................................. 127
Islamische Mystik ................................................................... 131
8. Schluss .............................................................................. 137
Anhang
Anmerkungen ........................................................................ 143
Literaturhinweise .................................................................... 157
Über den Autor ..................................................................... 169
1. Vorwort
Seit dem 11. September 2001 ist der Islam wieder einmal in den
Mittelpunkt des öffentlichen Interesses gerückt. Wenn die tragischen Ereignisse von New York eine positive Konsequenz hatten,
dann war es das sprunghaft wachsende Interesse einer breiten
Leserschaft an objektiven Informationen über den Islam. Dabei
standen vor allem Fragen nach dem »Heiligen Krieg« oder Märtyrer- und Paradiesvorstellungen im Vordergrund des Interesses.
Dies sind aber nur Teilaspekte einer alten und komplexen Religion und Kultur. Ihre Basis an Glaubensvorstellungen und ritueller Praxis sowie die Auswirkungen auf alle Lebensbereiche sollen
in dieser kurzen Darstellung im Vordergrund stehen. Die westlichen Islamwissenschaften haben in den vergangenen zwei Jahrzehnten gerade in Fragen der Grundlagen der islamischen Religion
und Geschichte beträchtliche Fortschritte gemacht. So reizvoll es
gewesen wäre, diese wissenschaftlichen Entwicklungen hier zu referieren, hätte es doch den Rahmen einer Einführung gesprengt.
Ich habe mich aber bemüht, immer dort, wo sich neuere Diskussionen entwickelt haben, auf die entsprechende Literatur hinzuweisen. Die Literaturhinweise dienen vor allem einer späteren vertiefenden Lektüre. Daher habe ich mich bis auf eine Ausnahme
nur auf europäischsprachige Literatur bezogen.
Dieses Buch über den Islam ist von einem Nichtmuslim geschrieben. Muslime mögen diese Tatsache mit einigem Recht kritisieren. Doch noch bin ich der Meinung, dass eine gewisse Distanz zum Objekt einer Darstellung für ein Publikum, dem der
7
Islam fremd ist, dem Leseverständnis nützt. Die Defizite, die ein
westlicher Islamwissenschaftler auch nach einer jahrelangen und
intensiven Auseinandersetzung mit dem Islam haben mag, werden
vielleicht durch eine größere Vertrautheit mit den Fragen, die von
der nichtmuslimischen Öffentlichkeit an Muslime und über den
Islam gestellt werden, ausgeglichen. Es geht hier also vor allem um
Fragen der Vermittlung.
Auch ein schmaleres Buch wird nicht vom Autor allein geschrieben. Es ist also Dank abzustatten: Für technische Hilfe habe ich Anke Bentzin und Birgit Koch zu danken. Ina Heine hat
wieder einmal aus einer nicht immer leicht zu lesenden Vorlage
einen gut lesbaren Text gemacht. Für die Fehler, die dieser Text
enthalten mag, bin ich aber allein verantwortlich.
Arabische und persische Begriffe sind in einer Form wiedergegeben, die an die Praxis des International Journal of Middle East Studies angelehnt ist. Wenn nicht anders erwähnt, folgen die Zitate
aus dem Koran der Übersetzung von Adel Theodor Khoury, Gütersloh 1982.
Berlin, 15.2.2003
8
Peter Heine
2. Einleitung
In einem Buch dieses Umfangs eine Religion und die aus ihr entstandene Kultur zu beschreiben kann zu Recht zumindest als kühn
bezeichnet werden. Schließlich bestimmt sie das Leben von mehr
als einer Milliarde Menschen. Sie existiert seit über 1400 Jahren
und erstreckt sich über einen geographischen Raum zwischen dem
westafrikanischen Senegal im Westen und der indonesisch-malayischen Inselwelt im Osten, zwischen der Insel Sansibar im Süden und den zentralasiatischen Republiken im Norden. Zudem
behauptet sie sich als Minderheitenreligion in weiten Teilen der
westlichen Welt.1 Die religiöse Praxis von Muslimen der Oberschicht in Kairo z.B. unterscheidet sich beträchtlich von der der
ländlichen Bevölkerung in Bangladesch. Das, was von türkischen
Arbeitsmigranten im Berliner Stadtteil Kreuzberg unter Islam
verstanden wird, hat mit den Gedanken eines muslimischen Theologen an der Pariser Sorbonne wohl kaum etwas gemein. Gewiss,
solche Dissonanzen treten auch bei der Beschreibung des Christentums auf. Wenn eine derartige Darstellung von einem christlichen Autor für ein Publikum verfasst wird, das selbst dieser Religionsgemeinschaft angehört oder zumindest aus einem christlich
geprägten geistig-historischen Kontext stammt, kann die Kenntnis einer gemeinsamen Begrifflichkeit vorausgesetzt werden. Die
notwendigerweise essenzialistische Beschreibung des Christentums wird durch die Lebenswelt des Lesers differenziert. Wenn ein
nichtmuslimischer Autor für eine nichtmuslimische Leserschaft
den Islam darstellt, kann bei den Adressaten die notwendige Dif9
ferenzierungskompetenz nicht gegeben sein. Zwar haben heute
die meisten Menschen in Deutschland eine gewisse Vorstellung
vom Islam und den Muslimen, sei es aufgrund persönlicher Kontakte mit muslimischen Nachbarn, Arbeitskollegen oder Kommilitonen, sei es aufgrund von Urlaubs- oder Geschäftsreisen, sei
es aufgrund von Medienberichten u.a. Doch solche Kenntnisse
sind zufällig, unsystematisch und beruhen nicht selten auf falschen oder verfälschten Informationen.
Verfälschungen hinsichtlich der Dogmen, der rituellen und gesellschaftlichen Praktiken des Islams sind kein Phänomen einer
modernen antiislamischen Haltung westlicher Gesellschaften nach
Terroranschlägen. Seit das Abendland die Existenz einer anderen, einer jüngeren monotheistischen Religion neben dem Christentum und dem Judentum zur Kenntnis nehmen musste, hat
es auch immer Missverständnisse, Fehleinschätzungen und ganz
bewusst falsche Darstellungen des Islams von westlicher Seite gegeben. (Gleiches muss natürlich auch für das Bild des Westens aus
muslimischer Sicht gesagt werden.) Diese Haltung hing zunächst
damit zusammen, dass die Einordnung des Islams für christliche
Theologen des Mittelalters nicht einfach war. Angesichts der zahlreich vorhandenen Parallelen in den religiösen Traditionen und
theologischen Meinungen konnte man Muslime nicht als Heiden
betrachten, aber wegen der offenkundigen Unterschiede auch
nicht als Christen. Man sah die Muslime daher als eine Art von
Häretikern an, die es zum wahren christlichen Glauben zu bekehren galt.2 Gleichzeitig stellten muslimische Reiche über viele
Jahrhunderte einen wichtigen politisch-militärischen Faktor im
internationalen Kräftespiel der europäischen Staaten dar. Bei einem flüchtigen Blick erhält man den Eindruck, dass sich die Beziehungen zwischen muslimischem Morgenland und christlichem
Abendland auf einen simplen Antagonismus reduzieren lassen.
Die politische Praxis war aber stets eine sehr viel kompliziertere.
10
Häufig handelten muslimische wie christliche Herrscher nach
dem alten orientalischen Prinzip: Der Feind meines Feindes ist
mein Freund. Die Entwicklung großräumiger strategischer Konzepte gab es auch schon im frühen Mittelalter. Karl der Große und
der Abbasidenkalif Hârûn al-Raschid hatten mit dem Omayyadenkalifat von Cordoba einen gemeinsamen Gegner3 und das
Frankreich Ludwigs XIV. hatte mit dem Osmanischen Reich gemeinsame Interessen im Mittelmeer und gegen die Habsburgische
Monarchie.4 Dennoch blieb der Eindruck bestehen, dass der Islam eine ständige Gefahr für die abendländische Lebensweise darstellte. Es gibt die Auffassung, dass die Existenz des Islams eine
wichtige Funktion für die Herausbildung einer abendländischen
Identität übernahm. Das Interesse des Westens am Islam war in
jedem Fall lebhafter als das der Muslime am Abendland. Da man
sich unter christlichen Missionaren Gedanken darüber machte,
auf welche Weise man die »Häretiker« auf der anderen Seite der
Pyrenäen in den Schoß der Mutter Kirche führen könnte, wurden relativ früh Bemühungen unternommen, die wichtigen religiösen Quellen des Islams, vor allem natürlich den Koran, als das
heilige Buch der Muslime, ins Lateinische zu übersetzen.5 Später
waren es dann die Vertreter der Wissenschaft vom Alten Testament, die sich intensiv mit dem Islam und der Kultur vor allem
der Araber beschäftigten. Sie glaubten, dass sich aus den sozialen,
rechtlichen, religiösen und auch aus den technischen Verhältnissen insbesondere der beduinischen Gesellschaften der Arabischen
Halbinsel Rückschlüsse auf die Situation der jüdischen Stämme
des Alten Testaments ziehen ließen. Sie hofften, durch einen
Vergleich mit modernen Beduinenstämmen zu einem größeren
Verständnis des Altes Testaments zu gelangen.6 Dies war eine der
Wurzeln für die Entstehung der Wissenschaft vom Orient, der
Orientalistik.7 Das Interesse am Koran ging mit einem lebhaften
Interesse für die mathematischen, naturwissenschaftlichen, tech11
nischen, medizinischen und philosophischen Errungenschaften
der Muslime einher.
In der frühen Abbasidenzeit (750-1258) hatte vor allem in Bagdad eine lebhafte Übersetzungstätigkeit von griechischen und
aramäischen Texten ins Arabische begonnen. Zahlreiche Zeugnisse
der griechischen und hellenistischen Literatur, die in ihren Originalsprachen verloren gegangen sind, blieben in ihrer arabischen
Version erhalten. Von dort gelangten sie dann wieder in den Westen. Die Muslime hatten in diesem Vermittlungsvorgang aber mehr
als eine »Briefträgerfunktion« inne. Viele der aus den antiken Texten gewonnenen Erkenntnisse haben sie weiterentwickelt. Dies
gilt für die Medizin wie für die Astronomie, aber auch und vor allem für die Philosophie. Ibn Sîna (Avicenna), der in der muslimischen Tradition eher als Augenarzt bekannt ist, oder Ibn Rushd
(Averroes) waren auch für die abendländische Scholastik die wichtigsten Kommentatoren der Werke des Aristoteles.8 Eine Vielzahl
von aus dem Arabischen stammenden Fremdwörtern in den europäischen Sprachen wie »Algebra«, »Giro«, »Alkohol« legen davon Zeugnis ab, in wie zahlreichen unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen, aber auch ganz alltäglichen Lebensbereichen
muslimischer Einfluss prägend war.9
Schließlich gab es ein ökonomisch-politisch-militärisches Interesse, das zur Beschäftigung mit dem Orient motivierte. Zunächst setzten sich vor allem die See- und Handelsmächte, für die
das Mittelmeer eine entscheidende Rolle spielte, also die italienischen Stadtrepubliken sowie die Königreiche Spanien und Portugal, mit der geistigen und gesellschaftlichen Herausforderung,
die der Islam für sie darstellte, auseinander. Später bemühte sich
dann auch das seefahrende England um den direkten Zugang zu
den Regionen, in denen Gewürze und andere kostbare Handelsgüter vermutet wurden. Man versuchte, die von Muslimen kontrollierten Seewege nach Indien zu umgehen oder die muslimi12
sche Konkurrenz auszuschalten.10 Dazu benötigte man u.a. auch
Kenntnisse der muslimischen See- und Landkarten. Je stärker die
europäischen Mächte wurden, desto größer wurde ihr Interesse
an den islamischen Regionen des südlichen und östlichen Mittelmeers. Mit der Expedition Napoleon Bonapartes nach Ägypten
im Jahr 1798 fand dieses Interesse seinen ersten praktischen Ausfluss. Die militärische Unternehmung war intensiv wissenschaftlich vorbereitet worden. Die französischen Truppen wurden von
der »Mission de l’Égypt« begleitet, einer interdisziplinär zusammengesetzten Wissenschaftlergruppe, die später in einer berühmten und umfänglichen »Description de l’Égypt« die Ergebnisse
ihrer Recherchen zusammenstellte." Die wachsenden Interessen
der europäischen Kolonialmächte in verschiedenen Teilen der
Welt, in denen Muslime lebten, verstärkten die wissenschaftlichorientalistischen Bemühungen. In London, Paris oder dem niederländischen Leiden entstanden praxisorientierte wissenschaftliche Einrichtungen zur Ausbildung von Verwaltungspersonal, das
für die Kolonien vorgesehen war.12 Eine gewisse Ausnahme bildete Deutschland, dessen koloniale Interessen sich erst spät artikulieren konnten. Zeitlich versetzt entstanden dann aber auch in
Berlin und Hamburg vergleichbare Einrichtungen.13 In Deutschland stand eine romantische Orientbegeisterung im Vordergrund.
Bedeutende Vertreter der deutschen Literatur wie Goethe, Rückert, Heine setzten sich intensiv mit dem Orient und seinen Kulturen auseinander. Die Märchensammlung von 1001 Nacht prägte in Deutschland das Orientbild. Dieser Romantizismus war
allerdings nicht auf Deutschland beschränkt. Die ersten erfolgreichen »Türkenopern« entstanden in Frankreich, um dann mit
der Entführung aus dem Serail in der Wiener Klassik einen Höhepunkt und mit der Italienerin in Algier von Rossini einen spektakulären Abschluss zu finden. Der Orient als Handlungsort spielte
vor allem in der englischen Literatur des 19. Jahrhunderts eine ge13
radezu dominierende Rolle. Die Malerei dieser Zeit entwickelte
mit den »Orientalisten« Ingres oder Lewis eine ebenso romantisierende Perspektive.14
In einem zu Beginn der Siebzigerjahre des 20. Jahrhunderts entstandenen Buch hat der aus Palästina stammende amerikanische
Literaturwissenschaftler Edward Said der westlichen Orientalistik den Vorwurf des »Orientalismus« gemacht.15 Darunter verstand
er, dass der Westen, hier vor allem die Orientalisten, den Orient
entweder als unterentwickelt und zurückgeblieben beschrieben
und damit die wirtschaftliche, politische, militärische und kulturelle Kontrolle über ihn rechtfertigten oder ihm vorwarfen, dass
er dem westlichen romantischen Bild nicht entsprach, woraus sie
ebenfalls ein Überlegenheitsgefühl herleiteten. Die Kritik von
Edward Said bestand nicht zu Unrecht, auch wenn man in Einzelheiten unterschiedlicher Meinung sein könnte. Die zukünftige Entwicklung der westlichen Orientalistik kann nur dahingehen, dass man sich weniger über Muslime und deren kulturelle
Äußerungen informiert, als vielmehr mit ihnen über ihre Kultur
und die Reaktionen, die in dieser durch den dominierenden westlichen Einfluss entstehen, nachdenkt.
14
3. Arabien vor dem Islam
Die Quellenlage
Über die religiösen, politischen, sozialen oder kulturellen Verhältnisse auf der Arabischen Halbinsel in der Zeit vor der Entstehung des Islams gibt es nur einige wenige verlässliche Überlieferungen. Zwei unterschiedliche Textgruppen sind in dieser
Hinsicht von Bedeutung. In der Regel erfolgte die Tradierung in
mündlicher Form; einige Dokumente sind aber offensichtlich
schon sehr früh schriftlich fixiert worden. Dies sind wohl vor allem Gedichte. Es wird berichtet, dass besonders gelungene Beispiele vorislamischer Poesie auf Tücher gestickt und dann an dem
Heiligtum der heidnischen Araber, der Kaaba in Mekka, aufgehängt wurden. Diese Gedichte wurden daher als »al-Mu'allaqât«
(die Aufgehängten) bezeichnet. Die Dichter dieser berühmten
Verse, sieben an der Zahl, sind namentlich bekannt. Weniger berühmte Gedichte wurden mündlich überliefert und erst nach der
Einführung des Islams und einer damit einhergehenden stärkeren Verbreitung der arabischen Schrift verschriftlicht. Die Gedichte, die als »Qasîda« (Sg.) bezeichnet werden, haben gewöhnlich
eine festgelegte Struktur. Sie beginnen mit der Klage des Dichters
um eine verlorene Geliebte und enden mit dem Lob eines Mäzens. Zwischen diesen beiden Teilen finden sich Beschreibungen
von Tieren, natürlichen Ereignissen, Waffen u.ä., Eigenlob des
Dichters für seine Heldentaten, Spottgedichte, die sich auf einen
anderen Dichter beziehen oder auf einen feindlichen Stamm usw.
15
Neben solchen Formen finden sich auch Trauerlieder oder in Reime gefasste Sprichworte. Viele dieser Gedichte sind nur bruchstückhaft erhalten.
Dichter waren in der vorislamischen arabischen Gesellschaft
sehr einflussreiche Persönlichkeiten, die mit ihren Werken den
Ruhm von Stämmen oder Einzelpersonen vergrößern oder verringern konnten. Ihre besondere sprachliche Fähigkeit verschaffte
den Dichtern der arabischen Stämme eine quasi religiöse Autorität.16 Die Gedichte geben einen gewissen Einblick in die Normen
und Verhaltensregeln der vorislamischen arabischen Gesellschaft.
Wir erhalten auch manche Informationen über deren materielle
Kultur oder die wirtschaftlichen Grundlagen. Vieles bleibt aber
im Ungewissen. So haben wir nur sehr geringe Kenntnisse über
die religiösen Verhältnisse, über die konkreten politischen Beziehungen der Stämme untereinander oder zu den großen bzw. kleinen Staaten in der Umgebung, über Handelswege oder wirtschaftliche Praktiken. Die zweite Art von Texten sind die so genannten
»Ayyâm al-'arab« (Schlachttage der Araber), in denen in Prosa die
militärischen Auseinandersetzungen der verschiedenen Beduinenstämme untereinander beschrieben werden. Diese Texte wurden
zunächst mündlich überliefert und erst später schriftlich fixiert.17
Man kann sich leicht vorstellen, dass sie stets die subjektive Sichtweise des jeweiligen Stammes wiedergegeben haben. Diese Darstellungen wurden bezüglich ihrer Übereinstimmung mit den
realen Geschehnissen nur durch die Berichte anderer an diesen
Auseinandersetzungen beteiligter Gruppen korrigiert. Die Auswertung solcher Texte bedarf natürlich einer entsprechenden
Quellenkritik. Muslimische Historiker haben sich seit dem Mittelalter intensiv für die vorislamische Zeit interessiert. Dafür gab
es zwei wichtige Beweggründe. Der erste war, dass für Muslime
all die vorislamischen Regelungen und Verhaltenweisen als kompatibel mit dem Islam angesehen wurden, die nicht ausdrücklich
16
durch den Koran oder den Propheten Muhammad verboten worden waren. Die vorislamischen Traditionen konnten insofern als
Quelle für die rechtlichen Verhältnisse des späteren Islams betrachtet werden.18 Zugleich konnten diese Überlieferungen auch
als eine Hilfe bei der Interpretation von Teilen des Korans verstanden werden, die den Gläubigen nicht ohne weiteres nachvollziehbar waren. Daher war der wissenschaftliche Umgang mit diesen vorislamischen Quellen seit dem 2. Jahrhundert islamischer
Zeitrechnung (8./9. Jahrhundert n. Chr.) von außerordentlicher
Bedeutung für das muslimische Selbstverständnis und ist es bis
auf den heutigen Tag geblieben.19 Das zweite Motiv war das folgende: Muslime sind auch heute noch der Meinung, dass der Erfolg des Islams ein Beweis für seine Wahrheit sei. Dieser Erfolg
erscheint umso beeindruckender, je schlechter die Umgebung sich
darstellt, in der er entstanden ist. Daher haben muslimische Gelehrte z.B. schon früh damit begonnen, Zeugnisse über merkwürdige soziale oder sexuelle Praktiken in der vorislamischen
arabischen Welt zu sammeln und in einen Gegensatz zu den Regeln des islamischen Rechts zu setzen. Über den Wahrheitsgehalt solcher Berichte kann man nur spekulieren.
Neben den autochthonen arabischen Quellen gibt es auch einige wenige über die vorislamische beduinische Gesellschaft, die
auf Berichte der benachbarten Völkerschaften zurückgehen. Hier
sind vor allem die Nachrichten von Reisenden und Händlern zu
nennen, die mit Arabern in Kontakt gekommen waren und deren
Schilderungen dann Eingang in zeitgenössische byzantinische,
persische oder äthiopische Darstellungen gefunden haben.20 Auch
diese Informationen können nur nach einer sorgfältigen Quellenkritik verwendet werden. Wenn man von derartigen positivistischen Einschätzungen absehen will, bleibt ein anderer wichtiger
Aspekt für das Verständnis des Islams und seiner Gesellschaften
bestehen. Für Muslime war die Darstellung der vorislamischen Ge17
Seilschaften, so wie sie sich in den genannten Quellen darboten,
die historische Wahrheit und ist es bis auf den heutigen Tag mehr
oder weniger geblieben, wie ein Blick in aktuelle Geschichtsbücher für arabische Schüler zeigen kann. Sie stellt eine Grundlage für die historische und nationale Identität der verschiedenen
arabischen Staaten dar, auch wenn die aktuellen staatlichen Formen mit diesen Traditionen kaum noch etwas zu tun haben.21
Die Gesellschaftsstruktur
Mekka, die Stadt, in der zu Beginn des 7. Jahrhunderts christlicher
Zeitrechnung der Islam entstand, lag zu dieser Zeit am Rand der
damals bekannten Welt, auf der Arabischen Halbinsel, etwa siebzig Kilometer vom Roten Meer entfernt. Von den großen Reichen
der Perser, Byzantiner und Äthiopier trennten sie die weiten
Wüsten Arabiens. Nach der Tradition war Mekka im 5. Jahrhundert n. Chr. gegründet worden und hatte sich im Lauf der Zeit zu
einem wichtigen Handelszentrum entwickelt, weil der Ort an
der Kreuzung wichtiger Karawanenstraßen lag. Von hier führten
Routen nordwärts nach Syrien, nordöstlich nach Mesopotamien,
südlich ging es in das Weihrauchland Jemen und nach Westen
zum Roten Meer, von wo Ägypten, Äthiopien und die antiken
internationalen Handelswege nach Indien und China erreicht
werden konnten. Mekka muss eine so große wirtschaftliche Bedeutung entwickelt haben, dass um 570 n. Chr. der äthiopische
Statthalter im Jemen versuchte, die Stadt unter seine Kontrolle
zu bringen. In seinem Heer führte er auch einen oder mehrere
Kriegselefanten mit. Seine Expedition blieb erfolglos, ging aber
in die islamische Überlieferung als das »Jahr des Elefanten« ein,
das Muslimen als das Geburtsjahr des Propheten Muhammad
gilt.22
18
Die Bevölkerung der Arabischen Halbinsel bestand aus Nomaden und sesshaften Oasenbewohnern, die jedoch beide eine
segmentäre patrilineare Sozialstruktur aufwiesen. Diese Struktur
findet sich auch heute noch bei den arabischen Beduinenstämmen
und den Berbergruppen Nordafrikas. Unter »Segmentierung«
versteht man in hohem Maße egalitäre Gesellschaftsstrukturen.
Nach den gemeinsamen Traditionen dieser Gemeinschaften stammen alle Mitglieder einer derartigen Gruppe von einem gemeinsamen Vorfahren ab. Alle seine Nachkommen bilden den »Stamm«
(qabila). Von diesem in der Regel mythischen Urahn abstammende Familienverbände bilden Untergruppen oder Clans, diese wiederum Großfamilien, die ihrerseits aus Eltern, unverheirateten
Kindern und verheirateten Söhnen mit ihren Frauen und Kindern bestehen. Auf den jeweiligen Ebenen der Clans und Großfamilien besteht zumindest theoretisch absolute Gleichheit der
Angehörigen einer Gruppe. Individuen sind nur im Rahmen dieser Strukturen überlebensfähig. Die Angehörigen eines Stammes
sind zu gegenseitiger Hilfeleistung verpflichtet. Das wirkt sich
vor allem in Form der Blutrache aus. Die verschiedenen Stämme
befinden sich nach der Theorie in einem permanenten Kriegszustand miteinander, es sei denn, sie haben sich zu Stammeskonföderationen zusammengeschlossen. Ein weiteres Charakteristikum für die Sozialstruktur der städtischen wie nomadischen
arabischen Gesellschaften ist auch die Parallelcousinen-Heirat.23
Nach dieser Heiratsregel besteht eine Präferenz für eine Ehe zwischen einem Mann und dessen Cousine väterlicherseits. Diese vorislamische Heiratsregel wurde in die islamischen Gesellschaften
mit übernommen. Über die Stellung der Frau in der vorislamischen arabischen Gesellschaft gibt es unterschiedliche Berichte.
Einerseits ist von matriarchalen Strukturen, ja sogar von Polyandrie die Rede. Aus einigen Hinweisen im Zusammenhang mit der
Biografie des Propheten Muhammad wird zumindest auf Uxori19
lokalität (der Mann zieht nach der Heirat an den Ort seiner Frau)
geschlossen.24 Andererseits ist aber wahrscheinlich, dass Frauen
in der vorislamischen arabischen Gesellschaft in der Regel einen
geringeren Status hatten. Dafür spricht, dass es offenbar die Tötung von weiblichen Neugeborenen gab, gegen die sich der Islam
in aller Schärfe wandte. Frauen waren in vorislamischer Zeit wohl
auch nicht erbberechtigt.
Neben den Stammesangehörigen fanden sich auch fremde Personen, die sich unter den Schutz einer Gruppe gestellt hatten und
daher über einen geringeren Sozialstatus verfügten. Zu den Gruppen, die aufgrund einer bestimmten Tätigkeit marginalisiert wurden, gehörten die Schmiede und schließlich Sklaven, die als Kriegsgefangene unter die Kontrolle von Freien gekommen waren oder
weil sie einem Schuldner gegenüber ihren Verpflichtungen nicht
nachkommen konnten. Offenbar gab es auch weibliche Sklaven.25
Die politischen Strukturen der vorislamischen arabischen Gesellschaft können als vordemokratisch bezeichnet werden. Politische Entscheidungen wurden in Stammesversammlungen getroffen, denen alle erwachsenen männlichen Mitglieder des Stammes
angehören. In diesen Versammlungen spielte ein Stammesoberhaupt (Shaikh) eine koordinierende Rolle. Seine Aufgabe war es,
durch Verhandlungsgeschick, rhetorische Begabung und Überzeugungskraft die Zustimmung aller Mitglieder der Versammlung
zu erreichen. In der Folge hatte er dann auch dafür zu sorgen, dass
die zu einer Aktionseinheit zusammengekommenen Personen so
lange zusammenbleiben, bis das geplante Ziel erreicht ist. In der
politischen Praxis war die Egalität natürlich weniger ausgeprägt.
Es fanden sich Familien, die immer wieder den Shaikh stellten, die
aus den unterschiedlichsten Gründen über mehr Vermögen verfügten als andere und daher in der Lage waren, ärmere Stammesgenossen in eine materielle und politische Abhängigkeit zu bringen. Ja, es entstanden sogar Klientelverhältnisse. Man muss also
20
trotz der grundsätzlichen Egalität von einer geschichteten vorislamischen arabischen Gesellschaft ausgehen.26
Die Religion
Die ursprüngliche Religion der Arabischen Halbinsel war ein
Animismus vielfältiger Erscheinungsformen. Menschen, die in
einem engen Kontakt mit der Natur leben, wie das bei den vorislamischen Beduinen der Fall war, beleben die Natur mit geistigen
Wesen. Das arabische Heidentum ist gekennzeichnet von einer
Vielzahl solcher Wesen, von denen angenommen wurde, dass sie
in den unterschiedlichsten Naturerscheinungen ihren Sitz haben.
Man ging davon aus, dass Geister in Bäumen, großen Steinen,
Brunnen, Seen und Gestirnen existierten.27 Einige dieser Vorstellungen haben sich auch im islamischen Kontext erhalten können.
Hier ist vor allem auf die Jinnen hinzuweisen, die auch im Koran
genannt werden. Bei ihnen handelt es sich um Wesen aus Feuer,
die dem Menschen unsichtbar bleiben, ihm schaden, aber auch
nutzen können. Noch im heutigen Volksislam spielen Jinnen eine wichtige Rolle.28 Ethnohistoriker schließen nicht aus, dass es
auch Formen von Totemkulten gegeben hat, die mit animistischen
Vorstellungen korrespondierten.29 Aus den animistischen Vorstellungen entwickelten sich dann Göttergestalten, die ein vielköpfiges Pantheon bildeten. Zumindest in Mekka ergab sich daraus eine
Götterhierarchie, an deren Spitze ein oberster Gott, Allah, stand,
der in dieser Stadt eine besondere Verehrung genoss.30 Diesem
Gott war eine Reihe von weiblichen Gottheiten zugeordnet, die als
seine Töchter betrachtet wurden. Darüber, inwieweit diese Göttinnen mit Gestirnen wie dem Mond zusammenhingen, können
nur Vermutungen angestellt werden.31 Allah war in Mekka ein besonderes Heiligtum gewidmet, die Kaaba.32 Zu Ehren dieses höchs21
ten Gottes fanden regelmäßig festliche Rituale statt, die mit Handelsmessen verbunden waren. Während dieser Zeit standen die
Händler unter dem besonderen Schutz dieser höchsten Gottheit,
was auch für ihre Anreise nach Mekka und die Rückkehr in ihre
Herkunftsorte galt, sodass es zu einer engen Verbindung zwischen
religiösen und wirtschaftlichen Aktivitäten kam.
Neben den Anhängern dieser ammistischen Vorstellungen fanden sich auf der Arabischen Halbinsel einzelne Stämme, die in
den Quellen als »Juden« bezeichnet werden. Ob es sich dabei um
Nomadengruppen handelte, die nach der ersten Zerstörung des
Tempels hierher gelangten, oder ob sie zu irgendeinem Zeitpunkt
zum Judentum bekehrt wurden, liegt im Bereich des Spekulativen. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass diese jüdischen
Gemeinschaften sich mehr oder weniger deutlich von der jüdischen Orthodoxie jener Zeit entfernt hatten. So sind Vermutungen geäußert worden, dass sich Beziehungen zu den Essenern bzw.
der Qumran-Sekte konstruieren lassen.33 Offenbar waren auch
die Heilserwartungen unter diesen jüdischen Bewohnern der Arabischen Halbinsel besonders ausgeprägt. Insgesamt lässt sich feststellen, dass monotheistische Vorstellungen aus einem jüdischen
Kontext auf der Arabischen Halbinsel in vorislamischer Zeit schon
bekannt waren.34 Schließlich finden sich noch Überlegungen, die
davon ausgehen, dass es auch christliche Beduinenstämme gegeben hat. Diese Hinweise sind aber weniger deutlich als die, die
auf jüdische Stämme verweisen.35 Immerhin finden sich einige
Dichter, von denen festgestellt wird, dass sie Christen waren. Die
häufig enge Beziehung zwischen einem Dichter und einem Beduinenstamm mag darauf hindeuten, dass auch die entsprechenden Stämme sich zu einer Form des Christentums bekannten.36
Die Tatsache, dass der Koran und die frühislamischen Berichte
weniger ausführlich über christliche Bewohner der Arabischen
Halbinsel referieren, muss also nicht bedeuten, dass deren Zahl
22
niedriger als die der jüdischen Bewohner gewesen ist. Sicher ist
dagegen, dass sie ein weniger einheitliches religiöses Bild boten als
die Juden oder auch die arabischen Animisten. Zu zahlreich waren die Konfessionen, ebenso zahlreich die damit verbundenen
politischen Allianzen.37 Neben diesen großen religiösen Gruppen
wird auch von Personen berichtet, die für sich selbst religiöse Vorstellungen entwickelt hatten, in denen monotheistische Vorstellungen eine Rolle spielten. In der frühislamischen Tradition wird
ein solcher Mensch als »Hanif« bezeichnet.38
Da der Handel ein zentrales Moment für die Existenz der vorislamischen mekkanischen Gesellschaft war, wurde alles, was ihn
förderte, von den Mekkanern intensiv betrieben. Dazu gehörte
einerseits eine konsequente Betonung der einheimischen Kulte,
die die Unverletzlichkeit der Händler und ihrer Aktivitäten sicherten. Andererseits herrschte gleichzeitig eine große Liberalität hinsichtlich anderer religiöser Vorstellungen. Neben Waren
kamen auch fremde Ideen und Religionen nach Mekka. Nach
allem, was bekannt ist, gab es außer Juden und einzelnen Christen unterschiedlicher Konfession39 in Mekka auch iranische Zoroastrier. Darüber hinaus finden sich Hinweise darauf, dass auch
hinduistische Glaubensvorstellungen auf den entsprechenden Handelswegen bis nach Mekka gekommen waren. Angesichts der geographischen Nähe können auch Vermutungen nicht überraschen,
die davon ausgehen, dass außerdem altägyptische Kulte das vorislamische religiöse Gedankengut der zentralen Orte auf der
Arabischen Halbinsel beeinflusst haben.40 Bis zu einem gewissen
Maß kann man von einer synkretistischen Situation sprechen, wie
sie für eine Handelsstadt mit internationalen Verbindungen nicht
erstaunlich gewesen sein dürfte. Solange aus den unterschiedlichen
religiösen Vorstellungen keine Gefahr für die händlerischen Aktivitäten entstand, konnte in Mekka »jeder nach seiner Façon selig
werden«.
23
Die Tugenden der vorislamischen arabischen Gesellschaft
Aus den vorislamischen arabischen Texten wird deutlich, dass
»Mannhaftigkeit« (Murûwa) die alles überragende Tugend des arabischen Mannes war.41 Von entsprechenden weiblichen Tugenden
ist dagegen weniger die Rede. Die Mannhaftigkeit setzte sich aus
einer Reihe von Einzeltugenden zusammen. Es fällt allerdings
schwer, die verschiedenen Tugenden hierarchisch zu ordnen. Natürlich spielt Tapferkeit im Kampf eine besondere Rolle, nicht
weniger wichtig war offenbar aber die vor allem mit Gastfreundschaft in Verbindung stehende Großzügigkeit. In zahlreichen Gedichten ist davon die Rede, dass sich der Held in den finanziellen
Ruin gestürzt habe, um seine Freunde und unbekannte Gäste zu
bewirten.42 Gastfreundschaft war ein zentrales Moment des arabischen Tugendkatalogs. Der Gast war sakrosankt, selbst wenn
es sich um einen Feind handelte. Dabei konnte das Gastrecht von
jedem Mitglied einer Verwandtschaftsgruppe gewährt werden,
selbst von unmündigen Kindern, und galt dann sogar gegenüber
der eigenen Gruppe. Daneben werden auch Verhaltensweisen positiv bewertet, die aus europäischer Sicht nicht ohne weiteres als
tugendhaft eingeschätzt würden. Hier ist vor allem an das Phänomen des Schnorrertums zu denken. Die Fähigkeit, sich durch
Unverschämtheit, Geschick, Redegewandtheit und Schamlosigkeit einen Vorteil zu verschaffen, spielt ebenfalls eine Rolle in
den verschiedenen Einzeltugenden. Man kann den in vielen Berichten der vorislamischen wie der frühislamischen Zeit erwähnten Schnorrer (Tufailî) mit dem Trickster anderer traditioneller
Gesellschaften vergleichen.43 Ziel der entsprechenden Verhaltensweisen war es, in der beduinischen Gesellschaft als Gruppe und
als Einzelperson einen guten Ruf zu erwerben und zu bewahren.
24
4. Muhammad und der Koran
Das Leben des Propheten
Die Biografie des Propheten Muhammad lässt sich aus einer größeren Zahl von Quellen rekonstruieren. Aus muslimischer Sicht
ist er der letzte Gesandte Gottes an die Menschheit. Diese Bestimmung wird hergeleitet aus dem Koran, der Offenbarungsschrift der Muslime, in der immer wieder auch auf die persönlichen
Lebensumstände Muhammads Bezug genommen wird. Daneben
verfügen die Muslime über eine umfängliche Sammlung von
Aussprüchen des Propheten und Berichten über seine Handlungen, an deren Authentizität in der westlichen Islamwissenschaft
des 20. Jahrhunderts allerdings erhebliche Zweifel geäußert wurden.44 Neueste westliche Forschungen kommen inzwischen zu
der Auffassung, dass zumindest ein größerer Teil dieser Berichte
aus einer Zeit stammt, die sehr nahe an die Lebenszeit Muhammads heranreicht.45 Für Muslime spielten derartige Überlegungen ohnehin keine besondere Rolle. Die zweite Quellengruppe
neben dem Koran wird mit dem arabischen Terminus technicus
»Hadîth« bezeichnet und bedeutet soviel wie Handlung, Ereignis und Bericht davon. Natürlich war auch den Muslimen, die
diese Berichte zu umfangreichen Sammlungen zusammenstellten,
bewusst, dass es Menschen gibt, die aus den unterschiedlichsten
Motiven diese Texte veränderten, verfälschten oder völlig neu erfanden. Daher entwickelten sie eine spezielle Form der Traditionskritik. Eine Prophetentradition (Hadîth) besteht aus zwei Tei25
len, dem »Isnâd«, der Überliefererkette, in der der »Matn«, der
eigentliche Bericht oder Ausspruch, mündlich weitergegeben wurde: »Ibn Jurayj sagt: Amr ibn Dinar hat mir überliefert, dass er
gehört hat, wie Abu Salama ibn Abd al-Rahman sagte (Isnâd):
›Der Prophet (Gott erbarme sich seiner und schenke ihm Heil)
hat verboten, dass ein Mann zur gleichen Zeit sexuelle Kontakte
mit einer Frau und ihrer Tante väterlicherseits oder mütterlicherseits hat.‹ (Matn)«46 Die muslimischen Gelehrten des 9. und 10.
Jahrhunderts, die die Traditionen sammelten, untersuchten diese
Überliefererketten mit großer Sorgfalt. Sie prüften, ob sich die einzelnen Überlieferer gekannt haben können und welchen Leumund
sie hatten. Stellte sich heraus, dass in einem »Isnâd« eine Lücke
auftrat oder der Lebenswandel eines Tradenten zu Kritik Anlass
gab, wurden diese Traditionen als »schwach« bezeichnet und nicht
in das langsam entstehende Korpus von »echten« Prophetentraditionen aufgenommen.
Eine weitere Quelle zur Biografie des Propheten Muhammad
sind die Berichte über sein Leben, die schon früh entstanden sind.
Ein derartiger Bericht wird als »Sîra« bezeichnet. Er enthält eine
Beschreibung des Lebens des Propheten von seiner Zeugung bis
zu seinem Tod.47 Die Zahl der nichtmuslimischen Quellen über
das Leben Muhammads ist nur sehr gering. Immerhin finden sich
aber einige wenige Hinweise bei byzantinischen bzw. syrischchristlichen Autoren. Prophetentraditionen und Biografien werden von Muslimen bis auf den heutigen Tag intensiv zur Kenntnis
genommen. Dies geschieht in Schulen und Hochschulen, aber
auch in Rezitationsveranstaltungen, die z.B. am feierlich begangenen Geburtstag des Propheten (Maulid al-Nabî)48 vorgetragen
werden. All das führt dazu, dass die Vorstellung der Muslime von
ihrem Propheten außerordentlich lebhaft geblieben ist. Er kommt
ihnen durchaus wie ein vertrauter Freund oder naher Verwandter vor. Dabei spielt sicherlich auch die Tatsache eine Rolle, dass
26
sie davon überzeugt sind, dass er den Menschen im Traum erscheinen kann. Diese Traumbilder werden als wahr angesehen.49
Auch die modernen Medien haben sich der Lebensbeschreibung
des Propheten angenommen. Allerdings war die Ehrfurcht vor
dem Propheten so groß, dass man es nicht wagte, ihn selbst auftreten zu lassen. Dennoch kam es wegen eines entsprechenden Films
zu kontroversen Diskussionen unter Muslimen.50
Die Untersuchungen westlicher Orientalisten zu den Prophetenüberlieferungen können ebenfalls auf eine lange Tradition
zurückblicken. Schon mittelalterliche und frühneuzeitliche Autoren haben sich mit dem arabischen Propheten auseinander gesetzt, wobei diese frühen Texte vor allem polemische Funktionen
hatten; einige allerdings versuchten auch, die heilgeschichtliche
Notwendigkeit der Existenz Muhammads zu erkennen. Die moderne Orientalistik hat sich ebenso immer wieder an der Biografie des Propheten versucht. Dabei haben die unterschiedlichsten
Aspekte seines Lebens im Vordergrund des Interesses gestanden.51
Der Prophet soll um 570 in Mekka geboren worden sein. Die
Traditionen sagen, dass es im »Jahr des Elefanten« gewesen sei.
Damit bezeichneten die frühen Muslime das Jahr, in dem ein
äthiopischer Statthalter des Jemen den vergeblichen Versuch unternahm, Mekka unter seine Kontrolle zu bringen. Zu seinem
Heer sollen auch ein oder mehrere Elefanten gehört haben. Der
Koran erinnert an dieses Ereignis mit der Elefanten-Sure, die mit
den Worten beginnt: »Hast Du nicht gesehen, was Dein Herr mit
den Besitzern des Elefanten gemacht hat.«52 Der Vater des Propheten Muhammad, ein Mann aus dem in Mekka ansässigen Clan
der Haschim aus dem Stamm der Koraisch mit Namen Abdallah,
soll schon vor seiner Geburt gestorben sein. Auch seine Mutter
Amina starb früh. Das Waisenkind wuchs bei seiner Verwandtschaft auf. Wie allgemein üblich wurde er von seinen Verwandten
27
schon als Kind zu Hilfsdiensten herangezogen und hatte das
Kleinvieh zu hüten. Diese Armut und Verlassenheit hat er sein
Leben lang nicht vergessen. Immer wieder hat er als Erwachsener
zur Mildtätigkeit gegenüber Armen und Waisen aufgerufen. Eine
spezielle Ausbildung im Lesen und Schreiben hat er weder als
Kind noch später erhalten; und in der weiteren frühislamischen
Religionsgeschichte wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass
sich Gott einem Analphabeten geoffenbart habe.
Als junger Mann begann Muhammad dann eine Handelstätigkeit, die ihn mit mekkanischen Karawanen bis nach Syrien führen sollte. Dies ist insofern von Bedeutung, als er auf diesen Reisen
in direkten Kontakt mit dem orientalischen Christentum, seinen
verschiedenen Organisationsformen und rituellen Praktiken kam.
Nach der islamischen Tradition soll er bei einer seiner Reisen in
der syrischen Stadt Bosra mit dem christlichen Mönch Barsisa
zusammengetroffen sein, der an ihm das Zeichen der Gottesgesandtschaft erkannte und ihm weissagte, dass er der Prophet der
Araber sein werde.53 Seine Handelsgeschäfte führte er im Auftrag und auf Rechnung einer wohlhabenden, verwitweten Geschäftsfrau, Khadîja, durch. Er war zu diesem Zeitpunkt etwa 25
Jahre alt. Diese ältere Frau fand Gefallen an dem jungen, ernsthaften und wohl auch erfolgreichen Mann und schlug ihm die Ehe
vor. Die Verbindung wurde sehr glücklich. Muhammad war seiner Frau sehr zugetan und heiratete zu Khadîjas Lebzeiten keine
andere Frau. Aus der Ehe gingen einige Kinder hervor, von denen
aber nur eine Tochter, Fâtima, das Erwachsenenalter erreichte.
Durch diese Heirat gewann Muhammad eine solide materielle
Grundlage, aber auch Ansehen bei seinen Landsleuten. Khadîja
unterstützte ihren Mann nicht nur im Zusammenhang mit seinen kaufmännischen Aktivitäten. Sie hatte auch Verständnis für
seine religiösen Interessen, seine Neigung zum Grübeln und die
daraus resultierenden Verhaltensweisen. So pflegte er sich in re28
gelmäßigen Abständen zu religiösen Übungen in Einödgebiete
oder Höhlen in der Nähe von Mekka zurückzuziehen. Dort fastete und meditierte er. Offenbar wurde er zu derartigen Praktiken
von seiner Familie begleitet.
Im Zusammenhang mit derartigen religiösen Übungen hatte
Muhammad ein Erlebnis, das von der islamischen Tradition als
der Beginn der Offenbarung des Korans an den Propheten bezeichnet wird. Nach der Überlieferung hat sich dieses Ereignis
um das Jahr 610 abgespielt, als Muhammad etwa vierzig Jahre alt
war. Dem Propheten erschien eine Gestalt, die den gesamten
Horizont einnahm. Sie trug ein mit einer Schrift besticktes Tuch
und forderte ihn auf: »›Rezitiere.‹ Ich antwortete: ›Ich kann nicht
lesen‹. Da würgte er mich, dass ich dachte, es sei mein Tod. Dann
ließ er mich los und sagte wieder: ›Rezitiere‹. Ich sagte: ›Ich kann
nicht lesen‹. Da würgte er mich wieder, dass ich dachte, es sei mein
Tod. Dann sagte er zum dritten Mal: ›Rezitiere‹. Da sagte ich: ›Was
soll ich denn rezitieren?‹ Das sagte ich aber nur, weil ich fürchtete, dass er mich wieder würgen würde. Da sprach er: ›Rezitiere,
im Namen Deines Herrn, der den Menschen aus einem Spermatropfen geschaffen hat. Der ihn gelehrt hat, mit dem Schreibrohr
zu schreiben, gelehrt hat Dinge, die er noch nicht wusste [...].‹«54
Nach muslimischer Überzeugung handelt es sich bei der Gestalt,
die Muhammad erschienen war, um den Engel Gabriel, der als
Medium der Offenbarung gilt. Die Begegnung erschütterte Muhammad zutiefst und sie wiederholte sich später. Er fürchtete,
dass es sich bei den Erscheinungen um Trugbilder handle oder
dass er den Verstand verliere. Darüber hinaus traten aber immer
wieder längere Pausen zwischen den Erscheinungen ein, die Muhammads Selbstverständnis ebenfalls erschütterten. In dieser
Zeit der Verunsicherung stand ihm Khadîja zur Seite und bestärkte ihn darin, dass er wirklich ein Prophet sei. Daher erklärt
die islamische Tradition sie als die erste Person, die sich zum Islam
29
bekannt habe. Erst nach und nach festigte sich auch in Muhammad die Überzeugung, dass er von Gott zum Propheten der Araber auserwählt worden sei. Als er die Gewissheit angenommen
hatte, trat er öffentlich auf und berichtete den Mekkanern und
den Angehörigen der umliegenden Stämme, die in die Stadt kamen, von dem, was Gott ihm offenbart hatte. Dabei betonte er das
Heraufziehen des Jüngsten Tages, eine Vorstellung, die den Bewohnern Mekkas und der Umgebung völlig fremd war, und verband diese Warnungen vor der Endzeit mit der Aufforderung an
seine Zeitgenossen, ihren Lebenswandel zu bessern und an einen
einzigen Gott, Allah, zu glauben. Die Reaktionen der mekkanischen Bevölkerung auf die Predigten Muhammads waren mehrheitlich negativ. Seine Betonung des Monotheismus konnte aus
ihrer Sicht nachteilige Konsequenzen für die wirtschaftliche Position der Stadt mit sich bringen. Nicht zuletzt wegen der Verehrung verschiedener Gottheiten in Mekka war die Stadt sakrosankt
und damit auch ein Ort, an dem gefahrlos Handel getrieben werden konnte. Jede Veränderung des religiösen Status der Stadt
konnte dementsprechend Konsequenzen für ihre wirtschaftliche
Existenz haben. Sie forderten zunächst ihn selbst, dann auch Mitglieder seiner Familie auf, die Predigten einzustellen, bezeichneten ihn als Dichter, Wahrsager, Zauberer, ebenso als Besessenen
oder Scharlatan.55 Im Übrigen nahm Muhammad in seinen Predigten auch zur sozialen Situation in Mekka Stellung. Seine Forderung, solidarisch zu handeln und die Bedürftigen und Schwachen der mekkanischen Gesellschaft zu unterstützen, wurde von
der mekkanischen Elite ebenfalls mit Ablehnung aufgenommen.56
Nur einzelne wohlhabende Personen wie der spätere Khalif Abu
Bakr57 schlossen sich dem Propheten an. Die Mehrzahl der frühen
Anhänger gehörten hingegen nicht der wirtschaftlichen Elite der
Stadt an, sondern waren Angehörige der unteren Schichten.
Angesichts der synkretistischen Situation der Stadt Mekka
30
konnte es nicht ausbleiben, dass die Gegner des Propheten seine
Sendung in Zweifel zogen. Einigen seiner Widersacher waren
grundlegende Dogmen anderer monotheistischer Religionen bekannt. Sie verglichen die Handlungen Muhammads mit denen
früherer Propheten und forderten ihn auf, wie diese Wunder zu
wirken. Sie sollten zur Bestätigung seiner Sendung dienen. Die
Ablehnung solcher Forderungen begründete Muhammad damit,
dass die Beglaubigungswunder früherer Propheten die verstockten Menschen jener Zeiten nicht dazu bewegt hätten, von ihrem
bösen Tun Abstand zu nehmen.58 Außerdem sei Gott allein in der
Lage, Wunder zu wirken. Die Bestätigung für die Echtheit seiner
Sendung sah Muhammad in der Offenbarung, die er empfing. Ihre
Übereinstimmung mit den Offenbarungen, die Moses oder Jesus
erhalten haben, sei Beweis genug.59 Immer wieder weist er auf den
Wundercharakter und den göttlichen Ursprung seiner Offenbarung hin und fordert seine Gegner auf, etwas Vergleichbares hervorzubringen.60
Die Ablehnung seiner Botschaft durch die Einwohner seiner
Vaterstadt traf den Propheten schwer. Denn natürlich war er ein
Kind seiner Zeit und der Gesellschaft, in der er lebte. In dieser
spielten Verwandtschaftsbeziehungen und Clanstrukturen, wie beschrieben, eine wichtige Rolle. Dem Propheten war sicherlich bewusst, wie schwierig sich seine Zukunft und der Erfolg seiner Botschaft außerhalb der mekkanischen Stammesstrukturen gestalten
würden. Dennoch blieb er seiner Überzeugung von der Wahrheit
seiner Botschaft treu. Er versuchte seinen Gegnern auszuweichen,
die dies allerdings wohl als Zeichen der Schwäche deuteten und
ihre Angriffe auf Muhammad und die Schar seiner Anhänger ausweiteten. Dabei griffen sie ihn selbst nicht direkt an. Vielmehr richteten sie ihre Attacken gegen diejenigen unter seinen Anhängern,
die sich am wenigsten wehren konnten. Die junge Gemeinde der
Muslime reagierte auf diese Situation zunächst damit, dass eine
31
Gruppe die Stadt verließ und Asyl in Äthiopien suchte.61 Sie hofften, in dem christlichen Staat als monotheistische Glaubensbrüder
akzeptiert zu werden. Da die Situation der muslimischen Gemeinde in Mekka immer schwerer zu ertragen war, suchte Muhammad nach einer Lösung für diese Situation. Sie konnte nur darin
bestehen, sich in einen anderen Stammesverband zu integrieren.
Dies gelang durch einen glücklichen Zufall. In der einige Tagesreisen westlich von Mekka liegenden Stadt Yathrib hatte sich
zwischen den beiden dort ansässigen Stämmen der Aus und der
Khazraj eine Blutfehde entwickelt, die nicht beigelegt werden
konnte und die beiden Stämme auszulöschen drohte. Ein Ende
der Auseinandersetzung konnte nur durch eine von außen kommende Autorität herbeigeführt werden. Zwischen dem Propheten und den Bewohnern von Yathrib wurden Geheimverhandlungen aufgenommen, die die Übersiedlung der muslimischen
Gemeinde nach Yathrib zum Ziel hatten. Als diese Tatsache in
Mekka durchsickerte, wurde die Situation für Muhammad und
seine Anhänger bedrohlich. In einer zweiten Verhandlungsrunde
erklärten die Vertreter Yathribs dem Propheten die Gefolgschaft62,
und in letzter Minute konnte Muhammad seinen Verfolgern entkommen, die schon Mordpläne gegen ihn vorbereitet hatten. Der
Vorgang der Übersiedlung Muhammads und der ersten Muslime
von Mekka nach Yathrib, die im Jahre 622 n. Chr. stattfand, wird
als »Hijra« bezeichnet. Darunter ist der Abbruch aller verwandtschaftlichen, politischen, sozialen und militärischen Beziehungen
zwischen Teilen einer Verwandtschaftsgruppe oder einer Stammesgesellschaft zu verstehen. Mit der »Hijra« beginnt die islamische Zeitrechnung.63 Die Stadt Yathrib aber erhielt den Namen
»Madîna al-Nabî« (Stadt des Propheten) oder kurz Medina. Durch
die Ankunft der Muslime aus Mekka veränderten sich die politischen Strukturen; der Konflikt zwischen Aus und Khazraj erledigte sich. An die Stelle der genealogischen Verbindungen zwi32
sehen den Einwohnern trat nun eine religiös-politische. Man unterschied zwischen den Muhâjirûn64 und den Ansâr65, den in Medina
von alters her ansässigen Helfern der Muslime. Damit entstand,
wenigstens in der Staatstheorie, eine neue Struktur, in der das
Recht des Blutes (jus sanguinis) durch das der gemeinsamen religiösen Überzeugung (jus religionis) abgelöst wurde. Selbstverständlich ging diese Entwicklung nicht durch einen quasi revolutionären Akt vor sich. Verwandtschaftliche Beziehungen spielten
und spielen in traditionellen muslimischen Gesellschaften bis in
die Gegenwart weiterhin eine wichtige Rolle für das Zusammenleben und Funktionieren der sozialen Ordnung. Mit der Veränderung der Zuordnungskriterien des Individuums boten sich dann
jedoch gesellschaftliche Alternativen, die z.B. in der Zeit der Mamluken-Herrschaft seit dem 13. Jahrhundert n. Chr. durchaus auch
realisiert wurden.
Ganz selbstverständlich und ohne Probleme konnte sich die
muslimische Gemeinde in Medina jedoch nicht etablieren. Einerseits gab es Spannungen zwischen den beiden muslimischen Gruppen der Muhâjirûn und der Ansâr über die Frage, welche Gruppe
für die weitere Entwicklung der Gemeinschaft von größerer Bedeutung war. Auch wenn es in dieser Frage nie zu einer eindeutigen Entscheidung kam, hat man doch den Eindruck, dass die Muhâjirûn als die früheren Anhänger des Propheten gegenüber den
Ansâr als vorrangig angesehen wurden. Der Prophet selbst versuchte, derartige Rangstreitigkeiten zurückzudrängen. Genauso
energisch ging er auch gegen Überlegenheitsgefühle von Anhängern vor, die von deren Zugehörigkeit zu berühmten und bedeutenden Familien, Clans oder Stämmen herrührten. Für ihn war der
beste Muslim derjenige, der die Gebote Gottes am besten erfüllte. Diese Spannungen wurden im Übrigen von anderen Konflikten überlagert. Nicht alle Bewohner Medinas hatten den Zuzug
der Muslime begrüßt. Sie waren aber nicht in der Lage, mit Hoff33
nung auf Erfolg gegen sie vorzugehen. So wurden sie pro forma
Muslime, hielten sich aber kaum an die Gebote, machten sich über
den Propheten und seine frommen Anhänger lustig und stellten
auf diese Weise einen politischen Unsicherheitsfaktor in der sich
entwickelnden Gemeinschaft dar. In zahlreichen Offenbarungen
rechnet der Koran mit diesen Heuchlern (Munâfiqûn) ab.
Ein weiteres Problem stellten zwei jüdische Stämme dar, die
seit undenklichen Zeiten in Medina ansässig waren. Bei seiner Ankunft in Medina war Muhammad noch davon überzeugt, dass er
ein Prophet wie Moses oder Jesus sei und dass seine Botschaft
mit der seiner Vorgänger übereinstimme. Auf seine entsprechenden Angebote zur Kooperation reagierten die Juden von Medina
allerdings ablehnend. Die Gründe dafür lagen im religiösen Selbstverständnis der Juden von Medina. Sie sahen keine Übereinstimmung oder Verwandtschaft zwischen ihren Glaubensvorstellungen und den Lehren Muhammads. Wichtig war darüber hinaus
auch die Tatsache, dass die jüdischen Stämme von Medina mit
wichtigen mekkanischen Familien enge Wirtschaftsbeziehungen
pflegten und durch eine Förderung der Position Muhammads in
Medina ökonomische Nachteile fürchteten. Die Juden sahen
Muhammad also keineswegs als Propheten an. Damit veränderte
sich die Haltung des Propheten gegenüber den anderen Offenbarungsreligionen. Er sah sich von nun an nicht mehr als Propheten, der von Gott allein zu den Arabern geschickt sei, sondern
erhob jetzt einen universalen Anspruch. Dass das arabische Moment dennoch weiter eine Rolle spielte, in gewisser Weise sogar
gestärkt wurde, erhellt die Tatsache, dass die Richtung, zu der
gewandt die Muslime ihre Pflichtgebete verrichteten, nun nicht
mehr Jerusalem war, sondern Mekka. Die Betonung Mekkas wirkte sich noch in einer anderen Hinsicht aus. Die Veränderung der
Gebetsrichtung dokumentierte einen politischen Anspruch der
Muslime auf die Ursprungsstadt ihrer Religion. Fortan wurde
34
betont, dass der Stammvater Ibrahîm (Abraham) bei der Kaaba in
Mekka einen monotheistischen Kult etabliert habe, der allerdings
mit der Zeit in Vergessenheit geraten sei. Muhammad und die frühe muslimische Gemeinde sahen sich nun in der Tradition Abrahams und betrieben die Revitalisierung der aus ihrer Sicht wahren
Traditionen und Rituale. Da sich die Mekkaner den friedlichen
Mitteln der Predigt und des Gesprächs verweigert hatten, begann
der Prophet nun mit einem Dschihad, einem Glaubenskrieg, gegen
seine Vaterstadt, den er nach etwa zehn Jahren erfolgreich beenden konnte. Zwar besuchte er seine Vaterstadt noch einige Male,
behielt seinen Wohnsitz in Medina aber weiter. Seine wachsenden
militärischen Erfolge blieben nicht auf die Auseinandersetzungen
mit seinen mekkanischen Gegnern beschränkt. Durch diplomatisches Geschick, Drohungen und Waffengewalt brachte er die
Mehrzahl der auf der Arabischen Halbinsel lebenden Beduinengruppen und die Bewohner der städtischen Ansiedlungen dazu,
sich ihm anzuschließen. Eine derartige Unterordnung unter die
Oberhoheit von Medina war aus der Sicht Muhammads jedoch
nicht nur politischer oder administrativer Natur. Die Anerkennung des Propheten als politischen Führer bedeutete auch die
Akzeptanz des Islams als religiöses System. Die Angehörigen der
Stämme, die sich dem Propheten unterworfen hatten, wurden
gleichzeitig Muslime, auch wenn ihnen das in vielen Fällen nicht
eindeutig bewusst war. Muhammad war diese Situation nicht unbekannt; daher entsandte er in die verschiedensten Teile des sich
bildenden islamischen Staates Glaubensbrüder, die nicht nur für
die fortgesetzte politische Herrschaft Medinas zu sorgen hatten,
sondern die neuen Muslime auch intensiver mit dem Islam vertraut machen sollten. Vor allem im Norden der Arabischen Halbinsel fanden sich einige Oasen mit christlichen Bewohnern. Gegen
diese wie auch gegen die Christen von Najrân schickte er verschiedentlich Expeditionen aus, die zur Unterwerfung dieser Bevöl35
kerungsgruppen führten. In der Zeit seiner Herrschaft in Medina hatte sich Muhammad zu einem erfolgreichen Politiker und
Staatsführer entwickelt, der konsequent seine Ziele verfolgte. Aus
vielen Berichten sind seine durchaus pragmatischen Handlungen
und Vorgehensweisen überliefert. Als der Prophet im Jahr 632
n. Chr. starb, hinterließ er ein ausgedehntes Staatswesen, das auf
einer neuen religiösen Konzeption beruhte, ohne sein zweifelloses Charisma aber wohl nicht entstanden wäre.
Der Koran
Das heilige Buch der Muslime, der Koran, wurde dem Propheten,
nach muslimischer Überzeugung, von Gott durch die Vermittlung
des Engels Gabriel über einen Zeitraum von ca. zwanzig Jahren
offenbart. »Koran« bedeutet »Rezitation«. Er ist für die Muslime
das unerschaffene Wort Gottes in arabischer Sprache. Weil der
Text Gottes Wort ist, gilt er als unnachahmlich. Man spricht geradezu vom Dogma der Unnachahmlichkeit des Korans. Auch
für Araber, die dem Islam fernstehen, oder christliche Araber gilt
der Text als der Höhepunkt der arabischen Literatur. Schon aus
der Zeit der Entstehung des Textes wird berichtet, dass auch die
Gegner des Propheten von der Gewalt, Kraft und Schönheit der
Offenbarung überwältigt waren.66 Große Teile sind in »Reimprosa« (Saj) formuliert. Als Beispiel für diese Reimprosa sei hier die
erste Sure des Korans in einer vereinfachten Umschrift wiedergegeben: »Bi-smi llâhi r-rahmâni r-rahîm/Al-hamdu li-llâhi rabbi
l-'âlamîn./Maliki yaumi d-dîn/Iyâka na'budu wa iyâka nusta'în/
Ihdinâ sirât al-mustaqîn/Sirât alladhîna an'amtu 'alaihim ghairi
maghdûbi 'alaihim wa la dâlîn.«
Der Reim ist jeweils »î«. Die Silbenlänge und -zahl der hier
durch einen Schrägstrich getrennten Einheiten sind aber unter36
schiedlich. Auf diese Weise entsteht ein Spannungsbogen, der die
Aufmerksamkeit der Zuhörer wach hält. Diese Form der arabischen Sprache war bereits in vorislamischer Zeit bekannt. Nachdem der Koran zumindest teilweise in Reimprosa offenbart worden war, haben es arabische Literaten über Jahrhunderte nicht
mehr gewagt, Texte in dieser besonderen Form zu verfassen.67
Erst im 10. Jahrhundert fanden Schriftsteller den Mut, dieses stilistische Mittel für ihre Texte wieder zu verwenden. Dabei entstand eine bewusst gekünstelte Sprache, die ganz auf Artistik aus
ist und sich von der sprachlichen Urgewalt des Korans deutlich
unterscheidet. Diese »Maqâmen-Literatur« (»Maqâmen« bedeutet »Rastplatz«) zeichnet sich darüber hinaus durch ihren Inhalt
aus. Im Gegensatz zu anderen Formen arabischer Literatur handelt
es sich hier um Fiktion, häufig um Geschichten, die von Vorgängen
handeln, die mit den gesellschaftlichen Normen in einem deutlichen Spannungsverhältnis stehen. Auch dadurch wird der beabsichtigte Unterschied zum Koran verdeutlicht. Muslime unterscheiden im Koran zwischen den Teilen, die in Mekka, und denen,
die in Medina offenbart worden sind. Die in Reimprosa formulierten Teile des Korans stammen in der Mehrzahl aus der mekkanischen Periode. Der Stil dieser Offenbarungen ist emotional,
wirkt spontan und expressiv. Die in Medina offenbarten Teile
sind dagegen ruhiger; in ihnen finden sich kaum noch Äußerungen in Reimprosa. Westliche Islamwissenschaftler haben die Einteilung in mekkanische und medinensische Suren noch weiter
verfeinert, indem sie die mekkanische Periode in drei Phasen gegliedert haben.68
Für Muslime ist der Text des Korans nur in der arabischen Form
authentisch. Übersetzungen in andere Sprachen gelten nicht als
echter Text. Daher ist jeder Muslim, gleich welcher sprachlichen
Herkunft, verpflichtet, Arabisch zu lernen und zu rezitieren. Es
handelt sich um einen Text, der in 114 Suren unterschiedlicher
37
Länge eingeteilt ist. Diese setzen sich aus einzelnen Versen (âya)
von ebenfalls unterschiedlicher Länge zusammen. Über die Anzahl der Verse des Korans herrscht keine Einmütigkeit. Dies mag
daran liegen, dass der Text verschiedene Stadien der redaktionellen
Bearbeitung durchlaufen hat und z.B. auch keine Übereinstimmung in der Frage besteht, ob die sich stets wiederholende Einleitungsformel »bi-smi llâhi r-rahmâni r-rahîm« (Im Namen Gottes,
des Barmherzigen, des Erbarmers) mitgezählt wird oder nicht.
Die einzelnen Offenbarungen wurden von den Zeitgenossen des
Propheten memoriert und mündlich weitergegeben. Teilweise
wurden sie auch schriftlich fixiert, wobei Steine, Palmblätter u.a.
als Medium dienten. Der gesamte Text wurde nach dem Tod des
Propheten einer redaktionellen Aufarbeitung unterzogen und
schriftlich festgehalten.69 Bei der Anordnung gingen die Redaktoren – wenn auch nicht ganz konsequent – nach dem formalen
Kriterium der Länge vor. Nach der Einleitungssure (al-Fâtiha) folgen die einzelnen Suren in abnehmender Länge. Alle Suren tragen einen Namen, unter dem sie den Muslimen in der Regel bekannt sind. Zwar sind sie auch der Reihenfolge nach nummeriert,
werden jedoch traditionell nicht nach ihrer Bezifferung zitiert.
Die Benennung der Suren bezieht sich in der Regel auf ein Wort,
das in der Sure vorkommt, sodass durch den Namen eine Bezugnahme auf den Inhalt des Abschnitts erfolgen kann. Allerdings
sind die einzelnen Suren aus verschiedenen Fragmenten zusammengesetzt, die inhaltlich nicht unbedingt etwas miteinander zu
tun haben müssen. Häufig sind die Übergänge von einem Thema
zum anderen nicht ohne weiteres zu erkennen. Zusammengehörende Teile werden durch andere Themen unterbrochen. Neben
dem Namen der Sure wird darauf hingewiesen, ob sie in Mekka
oder Medina offenbart worden ist. In einigen Fällen wird noch
die Anzahl der Verse, aus denen sich die Sure zusammensetzt,
mitgeteilt. Am Seitenrand der Koranausgaben finden sich Mar38
kierungen, die den gesamten Text rein formal in dreißig Teile einteilen. Diese können wiederum halbiert und geviertelt werden.
Solche Hinweise dienen als Hilfsmittel zum leichteren Memorieren des Textes. All diese Hinweise sind noch nicht Teil des kanonischen Textes. Von einer Sure abgesehen, werden die einzelnen
Abschnitte durch die Formel »Im Namen Gottes, des Barmherzigen, des Erbarmers« (bi-smi llâhi r-rahmâni r-rahîm) eingeleitet.
Insgesamt 29 Suren werden durch »geheimnisvolle Buchstaben«
eröffnet.70 Ihre Bedeutung oder Funktion ist weiterhin dunkel,
obwohl muslimische wie westliche Korankenner in dieser Frage
die unterschiedlichsten Überlegungen angestellt haben.
Wollte man den Versuch unternehmen, den Koran inhaltlich
zu ordnen, könnte man mehrere Themen unterscheiden. An erster Stelle stehen Aussagen über Gott. Er ist für die Muslime der
Einzige, der niemanden neben sich hat. Daher wird vom Monotheismus des Islams als einem Radikalmonotheismus gesprochen.71 Gegenüber den mekkanischen Heiden sagt der Koran:
»Sprich: O ihr Ungläubigen, ich verehre nicht, was ihr verehrt, auch
ihr verehrt nicht, was ich verehre. Weder werde ich verehren, was
ihr verehrt, noch werdet ihr verehren, was ich verehre. Ihr habt
eure Religion, und ich habe meine Religion.«72 Gegen die christliche Trinitätsvorstellung gewandt, heißt es: »Sprich: Er ist Gott,
ein Einziger, Gott, der Undurchdringliche. Er hat nicht gezeugt
und ist nicht gezeugt worden, und niemand ist ihm ebenbürtig.«73
Er ist der allmächtige Schöpfer aller Dinge. »Er ist der Schöpfer
der Himmel und der Erde. Wenn er eine Sache beschlossen hat,
sagt er nur: Sei! Und sie ist es.«74 Weil Gott alles geschaffen hat, ist
es gut. Er ist »der beste Schöpfer«75. Die Schöpfung befindet sich
daher in vollkommener Harmonie. Sie selbst deutet auf Gott als
den allmächtigen Schöpfer hin, in ihr kann er erkannt werden. Innerhalb der göttlichen Schöpfung ist der Mensch das Zeichen
der göttlichen Macht schlechthin. Auf diese »Krone der Schöp39
fung« hin ist alles zugeschnitten. »Gott ist es, der euch die Erde zu
einem festen Grund und den Himmel zu einem Bau gemacht hat,
euch gestaltet und eure Gestalten schön geformt hat und euch
von den köstlichen Dingen beschert hat.«76 Er lenkt dauernd das
Geschick der Welt und der Menschen. Nichts geschieht ohne seinen absoluten und uneingeschränkten Willen. Alles Werden und
Vergehen, Leben und Tod, Heil und Unheil sind in seinem Willen
beschlossen. Er bestimmt das Leben des Menschen in jeder Hinsicht. Der Koran sagt dazu: »Sprich: Uns wird nur das treffen,
was Gott uns bestimmt hat.«77 Weil er alles geschaffen hat, hat er
Anspruch auf den Gehorsam seiner Geschöpfe. Er ist der strenge
und gerechte Richter über alle ihre Handlungen. Beim Jüngsten
Gericht werden alle Menschen Rechenschaft über ihre Handlungen ablegen müssen. »Die Stunde kommt bestimmt. An ihr ist
kein Zweifel möglich.«78 »Und ob ihr das, was in eurem Inneren ist,
offen legt oder geheim haltet, Gott rechnet mit euch darüber ab.«79
Zugleich ist er aber auch der Barmherzige (al-Rahmân), wie der
Koran schon in der Einleitungsformel der einzelnen Suren feststellt. Daher kann sich der Mensch vertrauensvoll ganz Gott überlassen. Der Koran beschreibt Gott aber nicht nur als fern und transzendent. Er ist dem Menschen zugleich näher als alles andere,
»näher als die Halsschlagader«80. Daher bleibt Gott nichts verborgen. »Er weiß über das innere Geheimnis Bescheid.«81 Dennoch
bleibt die koranische Gottesvorstellung die eines dem Menschen
fernen Gottes, was für die religionsgeschichthche Entwicklung
des Islams weitreichende Folgen haben sollte.
Einen weiteren Themenkreis des Korans bilden eschatologische Aussagen. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass der
Prophet zu Beginn seiner Sendung von einem nahe bevorstehenden Ende der Welt ausging.82 »Die nahende Stunde steht bevor.
Niemand kann sie beheben außer Gott.«83 Später wird diese Haltung etwas abgeschwächt, wenn es heißt: »Vielleicht wird sie bald
40
sein.«84 Zentrales Motiv des Jüngsten Gerichts ist die Vorstellung,
dass alle Menschen vor den Richterstuhl Gottes gerufen werden.
Dann werden sie auf der Grundlage von Büchern, in denen ihre
guten und schlechten Taten notiert worden sind85, oder der himmlischen Waage, auf der die Taten gewogen werden86, gerichtet. Die,
bei denen die guten Taten überwiegen, gelangen ins Paradies, die
anderen in die Hölle. Die Motive der Waage oder auch der Kontobücher haben dazu geführt, dass man in westlichen Analysen
des Islams von einer »Buchhalterreligion« gesprochen hat.
Aussagen über geistige Wesen stellen einen weiteren Themenkomplex des Korans dar. Hier sind insbesondere die Engel zu
nennen. Sie sind Diener Gottes und wirken als Medien der Offenbarung.87 Sie loben Gott und tragen seinen Thron. Vor allem
beim Jüngsten Gericht können sie mit der Erlaubnis Gottes für
Menschen Fürbitte einlegen.88 Die Engel übernehmen auch den
Schutz der Gläubigen in schwierigen Situationen, etwa bei Auseinandersetzungen mit den Feinden des Islams. So besteht die
Vorstellung von zwei Engeln, die dem Menschen rechts und links
zur Seite stehen.89 Diese Engel haben aber auch die Aufgabe, die
Handlungen des Menschen zu kontrollieren und sie jeweils in
den Kontobüchern für das Jüngste Gericht zu notieren.90 In der
Hierarchie der Schöpfung steht der Mensch über den Engeln;
denn Gott befahl den Engeln, vor Adam niederzufallen.91 Speziell die Propheten stehen nach späteren Vorstellungen über den
Engeln, weil sie gegen Versuchungen ankämpfen und unter Widerstand den Willen Gottes erfüllen, während die Engel keine Leidenschaften und keine moralischen Hindernisse kennen. Einige
Engel werden im Koran mit Namen genannt. Zu ihnen gehört an
erster Stelle der Engel Gabriel (Jibrîl), der Muhammad die Offenbarung des Korans gebracht hat.92 Ohne nähere Angaben wird
Michael genannt.93 Der Koran spricht auch von einem Todesengel94, den die spätere Tradition als Izra'îl benennt. Nach dem isla41
mischen Volksglauben haben zwei andere Todesengel, Munkar
und Nakir, die Aufgabe, die Toten im Grab zu verhören. Stellen
sie fest, dass es sich um einen Ungläubigen handelt, quälen sie ihn
im Grab bis zum Jüngsten Tag.95 Die islamische Tradition kennt
aber auch zwei positive Todesengel, Mubashshar und Bashir, die
sich den Toten gegenüber freundlich verhalten.96 So erwähnt der
Koran neunzehn Engel, die als Wächter der Hölle fungieren. An
ihrer Spitze steht der Engel Malik.97 Ferner spricht der Koran von
den beiden Engeln Harut und Marut, die den Menschen die Zauberkunst beigebracht haben. Sie schärften ihnen aber ein: »Wir
sind nur eine Versuchung. So werdet nicht ungläubig.«98 Die muslimischen Kommentatoren erklärten die Funktion dieser Engel
damit, dass sie den Menschen den Unterschied zwischen Zauberei und der göttlichen Allmacht verdeutlichen sollten.
Häufig ist im Koran auch vom Teufel (»Iblîs« von griechisch
»Diabolos« oder »Shaitân«) die Rede. Dabei handelt es sich um einen Geist, der sich mit anderen Dämonen dem Befehl Gottes widersetzte, daher aus dem Paradies vertrieben wurde, aber von ihm
die Erlaubnis erhielt, die Menschen in Versuchung zu führen.
Für den Koran ist der Teufel der Feind der Menschen schlechthin: »Der Satan ist euer Feind. So nehmt auch ihr ihn zum Feind.
Ruft seine Anhänger dazu, zu den Gefährten des Feuers zu gehören.«99 Mit Gottes Hilfe kann sich der Mensch gegen die Nachstellungen des Teufels wehren: »Und sprich: Mein Herr, ich suche Zuflucht bei Dir vor den Aufstachelungen der Satane. Und
ich suche, mein Herr, bei Dir Zuflucht davor, dass sie mich aufsuchen.«100 Die Frage, wie sich die Allmacht Gottes zu den Verführungen des Teufels verhalte, hat die spätere islamische Theologie immer wieder beschäftigt. Hiob leidet unter dem Schaden,
den ihm der Teufel zufügt, wobei die Schuld des Dulders fraglich
bleibt.101 Wie überhaupt die Frage nach der Selbstbestimmung
und damit nach der Schuld des Menschen offen bleibt.102 So sagt
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der Koran: »Der Satan hat von ihnen Besitz ergriffen und sie die
Ermahnung Gottes vergessen lassen.«103 Die Menschen müssen
sich vor dem Teufel mit der Hilfe Gottes hüten. »Wer sich den
Ermahnungen des Erbarmers gegenüber wie blind verhält, für
den bestellen wir einen Satan, der ihm dann zum Gesellen wird.«104
Zugleich weist der Koran aber auch darauf hin, dass der Teufel
keine unmittelbare Macht über den Menschen hat. Dementsprechend sagt der Teufel zu den Verdammten in der Hölle: »Gott
hat euch ein wahres Versprechen gegeben. Und ich habe euch (etwas versprochen), es aber nicht gehalten. Und ich hatte keine
Macht über euch; ich habe euch nur gerufen, und ihr habt auf
mich gehört.«105 Und an anderer Stelle spricht Gott zum Teufel:
»Was meine Diener betrifft, so hast du über sie keine Macht, außer
denen unter den Abgeirrten, die dir folgen.«106 Aus diesen koranischen Vorstellungen haben sich im Verlauf der islamischen Religionsgeschichte vielfältige Ausformungen des Teufelsbildes entwickelt, bei denen in manchen Fällen der Übergang zwischen
orthodoxen Vorstellungen und volksreligiösen Vorstellungen fließend ist.
Neben Engeln und Teufeln oder Dämonen kennt der Koran
noch eine dritte Kategorie von geistigen Wesen, die Jinnen (»Jinn«,
Pl. »Junûn«). Beschrieben werden diese als Wesen aus rauchlosem
Feuer107 oder Dampf, die von den Menschen in ihrer ursprünglichen Gestalt nicht gesehen werden können. Nach der Tradition
und vor allem nach den volksislamischen Vorstellungen haben
sie aber die Fähigkeit, die verschiedensten Gestalten anzunehmen.
Mit dem Begriff verbunden sind ursprünglich vorislamische Naturgottheiten wie Nymphen oder Satyrn, die die unbewohnten
Gebiete der Arabischen Halbinsel bevölkern sollten. Zu Lebzeiten des Propheten hatte sich offenbar ein Vorstellungswandel hin
zu vagen, unpersönlichen Gottheiten angebahnt; Belege für diesen Wandel bietet der Koran an verschiedenen Stellen, an denen
43
berichtet wird, dass die dem Propheten gegenüber ablehnend eingestellten Mekkaner unklare verwandtschaftliche Beziehungen
zwischen Jinnen und Allah annahmen, ihnen opferten und ihre
Hilfe erbaten.108 Die Botschaft des Islams richtet sich auch an sie.
Ihnen werden die gleichen Strafen angedroht und die gleichen
Belohnungen versprochen wie den Menschen. Vom offiziellen
Islam wurde und wird die Existenz der Jinnen als gesichert angesehen, und die islamischen Juristen stellten und stellen auch heute noch zahlreiche Überlegungen zur rechtlichen Stellung der
Jinnen im Allgemeinen und zu den Menschen im Besonderen an.
Im Mittelpunkt derartiger Erörterungen stehen die möglichen
Beziehungen zwischen Jinnen und Menschen, die Frage von Liebesbeziehungen zwischen ihnen, Heiraten und die Stellung der
Kinder aus derartigen Verbindungen. Mit einer weiteren theologischen Entwicklung des Islams entstanden Diskussionen darüber, ob tatsächlich Jinnen existieren. Das Konzept der Jinnen bot
vor allem die Möglichkeit, das Interpretationspotenzial des Korans auszuschöpfen. Dies lässt sich sogar bei modernen Koraninterpreten zeigen. So gab es zu Beginn des 20. Jahrhunderts einen
modernen Korankommentar, der regelmäßig in der ägyptischen
Zeitschrift al-Manâr erschien. Der Autor dieses Kommentars,
der ägyptische Rechtsgelehrte Muhammad Abduh, erklärte auf
der Basis der islamischen Rechtstraditionen, dass muslimische
Gelehrte Jinnen als unsichtbare Wesen ansahen, die in der Lage
seien, dem Menschen Schaden zuzufügen. Im Mittelalter stellte
man sich vor, dass Jinnen auf Schaden, auch wenn er ihnen unabsichtlich zugefügt worden war, negativ reagierten. Abduh meinte nun, dass nach den Erkenntnissen der modernen Medizin
unsichtbare Wesen, die dem Menschen z.B. durch Krankheiten
schadeten, Bazillen seien. Der Koran hat also nach dieser Interpretation schon lange vor der Zeit, zu der sie entdeckt wurden,
von Bazillen gesprochen. Dies wurde als ein Beweis für die Über44
zeugung der Muslime angesehen, dass der Koran als Wort Gottes
alles, was es in der Schöpfung gibt, anspricht und es nur auf die
beschränkte Einsicht der Menschen zurückzuführen ist, dass sie
ihn in seiner ganzen Tiefe nicht erkennen.109
Ein vierter Themenkreis des Korans umfasst Aussagen über
Propheten, die Gott vor Muhammad zu anderen Völkern gesandt
hat, die häufig von diesen aber nicht gehört wurden. Dabei unterscheidet der Koran zwischen zwei Arten von Propheten, von
denen die erste als Mahner zu den Völkern geschickt worden ist.
Dies musste immer wieder geschehen, weil die Menschen in ihrer
Schwäche und Vergesslichkeit wiederholt an die Offenbarung und
ihren Gehorsam gegenüber Gott erinnert werden und auf den
rechten Weg zurückgeführt werden müssen. Diese Männer werden als »Nabî« (Pl. »Anbiyâ'«) bezeichnet. Die »Anbiyâ'« sollten
die Menschen auch auf die Zeichen der göttlichen Güte und Allmacht hinweisen. Die anderen Propheten haben den Menschen
darüber hinaus eine göttliche Offenbarung gebracht, die in einem
Buch aufgezeichnet worden ist. Diese Gruppe nennt der Koran
»Rasûl« (Pl. »rusul«). Nach dem späteren islamischen Verständnis entwickelte sich eine unterschiedliche Wertung zwischen den
beiden Arten von Propheten. Diejenigen, die den Menschen eine
Offenbarung brachten, wurden als höherrangig eingestuft.110
Grundsätzlich verkünden alle Propheten nach der Lehre des Korans aber die gleiche Botschaft: »Es gibt keinen Gott außer Mir.
Dienet Mir.«111 Diese zu allen Zeiten identische Botschaft der Propheten weist zugleich auf die ursprüngliche Einheit der gesamten Menschheit im Glauben und im Gehorsam gegen Gott hin.
Erst im Laufe der Entwicklung habe sich die Menschheit in unterschiedliche Stämme und Nationen, aber auch in unterschiedliche Glaubensvorstellungen aufgespaltet. Aufgabe der Propheten
ist es auch, für die Wiederherstellung des einheitlichen Glaubens
zu sorgen.112 Dennoch gibt es natürlich Unterschiede zwischen den
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einzelnen Propheten, die von den Gegebenheiten und Umständen abhängig sind, denen sie sich gegenübersahen. Sie mussten
ihre Botschaft der Situation der Menschen, zu denen sie sprachen, in Stil und Form anpassen, um sie zu erreichen und ihnen
Orientierung geben zu können. »Und wir haben keinen Gesandten entsandt, außer (mit der Botschaft) in der Sprache des Volkes,
damit er sie deutlich macht.«113 In der Mehrzahl der Fälle stießen
die Propheten nach den Berichten des Korans bei ihren Adressaten jedoch auf taube Ohren, auf Verachtung, Spott und Hohn, ja
sie hatten sogar Verfolgungen zu erleiden. Einige wurden mit ihren Warnungen vor einem göttlichen Strafgericht überhaupt nicht
ernst genommen. Zur Strafe vernichtete Gott die entsprechenden Völker. Diese Strafe wird vom Koran zugleich als eine Bestätigung Gottes für die Authentizität der Botschaft der Propheten
angesehen.114 Der Koran akzeptiert die Lehren aller Propheten,
die im Auftrag Gottes zu ihrer Zeit ihren Landsleuten gepredigt
haben. Zu diesen zählen alle biblischen Propheten. Hier ist insbesondere Abraham (Ibrahîm) zu nennen, der als Erster die Lehre
von dem einen Gott verkündete.115 Ein anderer Prophet ist Noah
(Nûh), der als der erste Strafprophet betrachtet wird. Die Parallelen, die der Koran zur Situation Muhammads in Mekka zieht,
sind ganz deutlich. So sagen die Widersacher zu Noah: »O Noah,
du hast mit uns gestritten und den Streit mit uns lange geführt.
So bring uns doch her, was du uns androhst, sodass du zu denen
gehörst, die die Wahrheit sagen.«116
Während weder von Abraham noch von Noah schriftliche Botschaften tradiert werden, verhält sich dies mit Moses (Mûsâ)
anders. Der Koran sieht Moses in dreifacher Hinsicht als einen
großen Vorgänger. Er war wie Muhammad warnender Prophet,
Verkünder des göttlichen Gesetzes und Führer seines Volkes. Seine Lebensgeschichte wird im Koran ausführlich wiedergegeben.
Es finden sich dabei zahlreiche Parallelen zum Buch Exodus des
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Alten Testaments. Wie Muhammad ist er zu Beginn seiner Sendung unsicher.117 Als Unterstützung stellt Gott ihm seinen Bruder
Aaron (Hârûn) zur Seite.118 Im Gegensatz zu Muhammad wirkt
Moses einige Beglaubigungswunder. Doch diese werden von seinem Volk nicht als solche anerkannt. Vielmehr hält man ihn für
einen Zauberer. Auch die Tatsache, dass Moses mit den Zauberern
seines Landes in einen Wettstreit tritt und diese besiegt, überzeugt sein verstocktes Volk nicht.119 Die besondere Betonung
dieser Episode im Koran hatte sicherlich die Funktion, die Forderung der Mekkaner nach Beglaubigungswundern als überflüssig abzuwehren, da diese ja in Moses Fall offenbar nicht zur Bekehrung geführt hätten. Die Berichte des Korans von Moses, der
sein Volk durch die Wüste führt, zeigen die unverbrüchliche Treue
Gottes zu seinem Propheten. Als Botschafter (Rasûl) bringt Moses schließlich das Gesetz Gottes in der Gestalt der Thora zu den
Menschen. Damit kommt ihm eine besondere Stellung in der
Geschichte der Propheten zu.120
Als wichtigster Prophet vor Muhammad aber wird im Koran
Jesus (»Îsâ«) genannt. Andere Bezeichnungen für Jesus sind »Wort
Gottes« (kalimat Allah)121 oder auch »Geist Gottes« (Ruh Allah).122
In den medinensischen Suren wird Jesus häufig als Messias (Gesalbter, Masîh) bezeichnet.123 Die muslimischen Korankommentare begründen diese Benennung damit, dass Jesus mit dem Segen
Gottes gesalbt wurde, dass er durch den Engel Gabriel von der Berührung durch den Satan verschont blieb und so Sündenfreiheit
erlangte, dass er jungfräulich empfangen wurde, zum Propheten
gesalbt wurde und schließlich selbst Kranke gesalbt und geheilt
habe. Die Übereinstimmungen der Beschreibung des Lebens Jesu im Koran und im Neuen Testament sind zahlreich. Dies gilt
schon für seine Empfängnis. Maria empfing ihren Sohn durch
einen göttlichen Schöpfungsakt oder durch das Einhauchen des
Geistes.124 Es finden sich in diesem Zusammenhang aber auch ei47
nige bemerkenswerte Differenzen. So nimmt das Jesuskind seine
Mutter gegen den Vorwurf der Verwandten, sie habe ein uneheliches Kind geboren, in Schutz, indem es schon auf seine besondere
Bestimmung hinweist: »Ich bin der Diener Gottes. Er ließ mir
das Buch zukommen und machte mich zu einem Propheten.«125
An anderer Stelle nimmt der Koran Maria in Schutz gegen »eine
gewaltige Verleumdung«126 und bezeichnet sie wiederholt als diejenige, »die sich keusch hielt«127. Damit betont der Koran die
jungfräuliche Geburt Jesu. Die Herkunft Jesu aus dem Judentum
konstatiert auch der Koran, wenn er feststellt, dass Gott ihn »zu
einem Beispiel für die Kinder Israels gemacht hat«128. Die Predigt
Jesu wird durch verschiedene Wunder ergänzt, mit denen die Echtheit seiner Sendung beglaubigt werden soll.129 Vor allem aber ist
Jesus der Verkünder des Evangeliums (Injîl); damit steht er in einer Reihe zwischen Moses und Muhammad. Die entscheidende
Differenz zu den christlichen Vorstellungen aber ist, dass der Koran Jesus ausschließlich als Menschen sieht. »O ihr Leute des Buches; übertreibt nicht in eurer Religion und sagt über Gott nur
die Wahrheit. Jesus, der Sohn Marias, ist doch nur der Gesandte
Gottes und sein Wort, das er zu Maria hinüberbrachte, und ein
Geist von Ihm.«130 Die Vorstellung von Gott als Vater auch im
übertragenen Sinn ist Muslimen völlig unverständlich. Nach ihrer Auffassung kann kein Geschöpf gegenüber seinem Schöpfer
ein Vater-Kind-Verhältnis haben. Der Koran vertritt außerdem die
Auffassung, dass Jesus nicht am Kreuz gestorben ist. »Sie haben
ihn aber nicht getötet, und sie haben ihn nicht gekreuzigt, sondern
es erschien ihnen eine ihm ähnliche Gestalt [...]. Und sie haben
ihn mit Gewissheit nicht getötet, sondern Gott hat ihn zu sich erhoben. Gott ist mächtig und weise.«131 Ob Jesus gestorben ist, darüber gehen die Meinungen der Korankommentatoren auseinander; aber dass Jesus sterblich gewesen ist, macht der Koran
deutlich.132 Im Gegensatz zur Rolle von Moses hat Jesus in den
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muslimischen Vorstellungen eschatologische Funktionen, die ebenfalls auf den Koran zurückgehen. So wird er zum Ende der Zeiten gegen die Christen und ihren Glauben an die Trinität bezeugen,
dass es nur einen Gott gibt133; er wird aber auch für die Menschen
als Fürsprecher eintreten.134 Aus diesen Vorstellungen haben sich
in der islamischen Tradition weitere endzeitliche Vorstellungen
entwickelt bis hin zu der Überzeugung, dass Jesus am Ende der
Zeiten an einem der Minarette der großen Moschee von Damaskus erscheinen wird.135
Neben den aus dem Alten und Neuen Testament bekannten
Figuren der Heilsgeschichte nennt der Koran auch eine Reihe von
Propheten, die in den heiligen Büchern von Judentum und Christentum nicht vorkommen. Genannt seien hier der Prophet Hüd,
der zum historischen Volk der 'Âd geschickt worden ist136, der
Prophet Sâlih, der den ebenfalls historisch belegten Thamüd predigte137, und schließlich Schu'aib, der zum Volk von Madyan gesandt wurde.138
Nach dem Koran ist Muhammad der Letzte in einer langen
Reihe von Propheten. Der Koran bezeichnet ihn als das »Siegel
der Propheten«.139 Ihm kommt damit eine besondere Bedeutung
zu. Seine Offenbarung ist die letzte, die Gott der Menschheit zukommen lässt. Er vollendet und vervollkommnet die göttliche
Botschaft.140
Einen weiteren wichtigen thematischen Bereich des Korans
bilden Anweisungen bezüglich des gesellschaftlichen, politischen
und rechtlichen Lebens der Muslime. Allerdings machen diese
Teile nur einen geringen Anteil am Gesamttext aus. Es ist ein Irrtum zu glauben, dass man allein mit dem Koran alle konkreten
Sachverhalte des täglichen Lebens regeln könnte. Zu den gesellschaftlichen Normen, die der Koran aufstellt, gehören verschiedene allgemeine Anweisungen, die eine konkrete koranische Ethik
ergeben. So ruft der Koran zu einem friedfertigen und solidari49
sehen Verhalten der Muslime untereinander, aber auch gegenüber den Anhängern der anderen Offenbarungsreligionen auf.141
Wahrhaftigkeit gegenüber jedermann wird den Gläubigen dringend empfohlen.142 Muslime sollen Barmherzigkeit gegenüber Armen, Kranken, Witwen und Waisen üben, dabei allerdings ein entsprechendes vernünftiges Maß nicht überschreiten. Das Verhältnis
gegenüber den Eltern wird ebenso angesprochen wie das gegenüber der Umwelt. Man kann eine Art Dekalog im Koran finden,
der folgendermaßen lautet:
»Setze Gott keinen anderen Gott zur Seite, sonst wirst du dasitzen, gescholten und im Stich gelassen./Und dein Herr hat bestimmt, dass ihr nur
ihm dienen sollt und dass man die Eltern gut behandeln soll. Wenn einer
von ihnen oder beide bei dir ein hohes Alter erreichen, so sag nicht zu ihnen: ›Pfui!‹ und fahre sie nicht an und sprich zu ihnen ehrerbietige Worte.
Und senke für sie aus Barmherzigkeit den Flügel der Untergebenheit und
sag: ›Mein Herr, erbarme dich ihrer, wie sie mich aufgezogen haben, als ich
klein war.‹/Euer Herr weiß besser, was in eurem Innern ist. Wenn ihr rechtschaffend seid, so ist er für die, die immer wieder umkehren, voller Vergebung./Und lass dem Verwandten sein Recht zukommen, ebenso dem Bedürftigen und dem Reisenden, aber handle nicht ganz verschwenderisch./
Diejenigen, die verschwenderisch sind, sind die Brüder der Satane; und der
Satan ist gegenüber seinem Herrn sehr undankbar./Und falls du dich von
ihnen abwendest im Streben nach einer von dir erhofften Barmherzigkeit
von deinem Herrn, so sprich zu ihnen milde Worte./ Und lass deine Hand
nicht an deinem Hals gefesselt sein, aber strecke sie auch nicht vollständig
aus. Sonst würdest du getadelt und verarmt dasitzen./Dein Herr teilt den
Lebensunterhalt großzügig, wem er will und auch bemessen zu. Er hat
Kenntnis von seinen Dienern, und Er sieht sie wohl./Und tötet nicht eure
Kinder aus Furcht vor Verarmung. Ihnen und euch bescheren Wir doch den
Lebensunterhalt. Sie töten ist eine große Sünde./Und nähert euch nicht
der Unzucht. Sie ist etwas Schändliches und sie ist ein übler Weg./Und tötet nicht den Menschen, den Gott für unantastbar erklärt hat, es sei denn bei
vorliegender Berechtigung. Wird jemand ungerechterweise getötet, so geben Wir seinen nächsten Verwandten Vollmacht (ihn zu rächen). Nur soll
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er nicht maßlos im Töten sein; siehe, er wird Beistand finden./Und nähert
euch nicht dem Vermögen des Waisenkindes, es sei denn auf die beste Art,
bis es seine Vollkraft erreicht hat. Und erfüllt eingegangene Verpflichtungen. Über die Verpflichtungen wird Rechenschaft gefordert./Und gebt volles Maß, wenn ihr messt. Und wägt mit der richtigen Waage. Das ist besser
und führt zu einem schöneren Abschluss./Und verfolge nicht das, wovon
du kein Wissen hast. Über Gehör, Augenlicht und Herz, über all das wird
Rechenschaft gefordert./Und schreite nicht unbekümmert auf der Erde
einher. Du wirst die Erde ja nicht durchbohren und die Berge an Höhe
nicht erreichen können.«143
Ausführlicher geht der Koran auf das Verhältnis der Geschlechter ein. Es ist vor allem die vierte Sure, »Die Frauen«, in der diese
Thematik angesprochen wird. Aus theologischer Sicht darf hier
festgehalten werden, dass Männer und Frauen vor Gott gleich
sind. Seine Gebote und Verbote gelten für beide in gleicher Weise. Auch Belohnungen und Bestrafungen für ihre Taten sind bei
beiden Geschlechtern identisch.144 Im Alltag weist der Koran den
Männern eine überlegene Stellung gegenüber den Frauen zu: »Die
Männer haben Vollmacht und Verantwortung gegenüber den Frauen, weil Gott die einen vor den anderen bevorzugt hat und weil
sie von ihrem Vermögen (für die Frauen) ausgeben. [...] Ermahnt
diejenigen unter ihnen, von denen ihr Widerspenstigkeit befürchtet, und entfernt euch von ihnen in den Schlafgemächern und
schlagt sie. Wenn sie euch gehorchen, dann wendet nichts weiteres gegen sie an.«145 Andererseits ist es die Pflicht der Männer, für
den Lebensunterhalt von Frauen und Kindern zu sorgen. Damit
wird dann begründet, dass Männer den doppelten Anteil am Erbe im Vergleich zu den Frauen erhalten.146 Die schwächere gesellschaftliche Position der Frau kommt auch im Zusammenhang mit
dem Zeugnis von Zeugen vor Gericht zum Ausdruck. Der Koran
verfügt, dass die Wertigkeit des Zeugnisses eines Mannes dem von
zwei Frauen entspricht.147
51
Die Glaubenspflichten des Muslims, also das Gebet, das Fasten
im Monat Ramadan, das Almosen und die Pilgerfahrt, kommen
im Koran ebenfalls zur Sprache. Allerdings ist von ihnen nur in
einer eher allgemeinen Form die Rede. Die genauen Regeln der
einzelnen Rituale sind erst später formuliert worden. Der Koran
schreibt auch einige Regeln in Bezug auf das Strafrecht vor. Diese
bilden aber keinen vollständigen Strafrechtskatalog. Islamische
Rechtsgelehrte haben sich jedoch immer bemüht, auf der Grundlage des Korans ein Strafrechtssystem zu entwickeln. Vielleicht
kann man vier verschiedene Deliktgruppen unterscheiden, zu denen der Koran sich direkt äußert: Abfall vom Islam, Tötung eines
Menschen, Unzucht und Diebstahl. An erster Stelle ist hier der
Abfall vom Islam, die Apostasie, zu nennen. Der Koran sieht den
Abfall vom Islam als die schwerste überhaupt mögliche Versündigung an. Er macht auch die guten Taten des Menschen wertlos
und nichtig.148 Die Buße der Abtrünnigen wird nicht angenommen werden; der Fluch Gottes, der Engel und aller Menschen lastet auf ihnen. Ihre Strafe wird das ewige Höllenfeuer sein.149 Der
Koran sieht also als Strafe für den Abfall vom Islam den Zorn Gottes und die schwere Bestrafung beim Jüngsten Gericht vor. Von einer Bestrafung durch weltliche Autoritäten ist zunächst nicht die
Rede. In einer späteren Entwicklung sind dann Verse, die sich auf
sog. Heuchler (Munâfiqûn) beziehen, auch hinsichtlich der Apostaten herangezogen worden. Da die Heuchler als Gefahr für die
Gemeinschaft der Muslime angesehen werden, sollen die Gläubigen sie ergreifen und töten, wann immer sie sie finden.150
Die Haltung des Korans gegenüber denjenigen, die vom Islam
abfallen, ist deutlich von der Frage nach dem Verhältnis zwischen
Gott und dem Menschen beherrscht. Apostasie ist vor allem eine
Sünde gegen Gott, und allein er ist es, der diese Sünde bestraft.
Als nach dem Tod des Propheten eine ganze Anzahl von arabischen Stämmen vom Islam abfiel und sich wieder ihren Ursprung52
liehen Glaubensvorstellungen zuwandte, entstand für den jungen islamischen Staat auch eine existenzielle politische Gefahr,
gegen die er sich zur Wehr setzte. Die muslimischen Autoritäten
gingen gegen diese Abfallbewegung (Ridda) mit militärischen Mitteln vor, die durch eine Verschärfung der Sanktionen gegenüber
Apostaten ergänzt wurden. Man bezog sich dabei auf verschiedene Aussprüche des Propheten (Hadîth). Dabei wurden die beiden folgenden Traditionen zur Begründung herangezogen: »Wer
seine Religion wechselt, den tötet.« »Das Blut eines Muslims ist
nur in drei Fällen freigegeben: Bei Apostasie nach dem Glauben,
bei Unzucht nach legitimer Eheschließung und bei einem nicht
als Blutrache verübten Mord.«151 Die Apostasie wird demnach als
Straftatbestand angesehen, als Verrat an der Gemeinschaft der
Muslime. In einer modernen westlichen Terminologie könnte man
von »Landesverrat« sprechen. Die islamischen Rechtsgelehrten
verlangen allerdings eine sorgfältige Prüfung des Tatbestands, ehe
sie die Hinrichtung eines Menschen wegen Apostasie erlauben.
So ist zunächst einmal zu prüfen, ob der Beschuldigte tatsächlich
Muslim ist. Menschen, die zwangsweise zu Muslimen geworden
sind, gelten nach dem islamischen Recht nicht als wirkliche Muslime. Wenn sie also bei Wegfall der Zwangssituation zu ihrer alten Religion zurückkehren, begehen sie keine Apostasie. Das islamische Recht kennt allerdings eine große Zahl von Tatbeständen,
die darauf hindeuten, dass jemand vom Islam abgefallen ist. Zu
ihnen gehören die Lästerung Gottes und die Beschimpfung seines Propheten, die Leugnung unstrittiger religiöser Pflichten bis
hin zu den Speisegeboten, die Anbetung von Götzenstatuen, die
verächtliche Behandlung des Korans oder die Ausübung von Zauberei. Zur Feststellung dieser Tatsachen sind zwei Zeugen notwendig, die dieselbe Handlung des Beschuldigten bezeugen.
Voraussetzung für ein Todesurteil wegen Apostasie ist nach islamischem Recht aber vor allem, dass der Beschuldigte erwachsen und
53
bei klarem Verstand ist. Kinder oder Personen fortgeschrittenen
Alters wie auch Geisteskranke oder Betrunkene können nicht
zum Tode verurteilt werden. Unterschiedlich sehen die verschiedenen islamischen Rechtsschulen152 die Frage, wie der Apostasie
überführte Frauen zu behandeln sind. Einige machen keine Unterschiede zwischen Männern und Frauen, da der Prophet Muhammad in dieser Frage auch keine Unterschiede zwischen ihnen
gemacht habe. Andere sind der Meinung, dass Frauen durch Schläge oder Gefangenschaft zur Rückkehr zum Islam bewegt werden
sollten. Sie begründen ihre Position damit, dass der Prophet die
Tötung von Frauen im Dschihad verboten habe und die Strafandrohung in einem dem Dschihad vergleichbaren politischen Zusammenhang stehe; ferner schade der Abfall einer Frau vom Islam der islamischen Gemeinschaft nicht in dem Maß wie der eines
Mannes. Bei nachgewiesener Apostasie muss dem Verurteilten
Zeit zur Umkehr gelassen werden. Wenn er nach drei Tagen Bedenkzeit immer noch bei seiner Haltung bleibt, muss die Hinrichtung vollzogen werden; wenn er aber bereut, wird er wieder
in die Gemeinschaft der Muslime aufgenommen. Die Apostasie
zieht eine Folge weiterer Rechtsentscheidungen nach sich. Sie
macht beispielsweise die Ehe mit einem muslimischen Ehepartner ungültig.153 Sollte der abgefallene Partner seine Tat bereuen
und umkehren, muss ein neuer Ehevertrag geschlossen werden.
Wenn sich der abgefallene Muslim in seiner neuen Religionsgemeinschaft wieder verheiratet, gilt diese Ehe aus muslimischer
Sicht allerdings als ungültig. Andere Rechtshandlungen, die ein
Apostat vollzieht, z.B. Kauf oder Verkauf in der Wirtschaft, haben
nach der Meinung einiger der bedeutendsten muslimischen Rechtsgelehrten jedoch Rechtskraft. Da Muslime von einem glaubenslosen Menschen nichts erben können, fällt das Erbe eines Apostaten nach Ansicht der Mehrzahl der islamischen Juristen dem
Staat zu.154
54
Als schwerwiegende Verfehlung sieht der Koran die Tötung
eines Menschen an. Das islamische Recht unterscheidet zwischen
verschiedenen Tötungsdelikten. Mord gilt dabei als das schwerste Verbrechen. Der Täter kann den Angehörigen des Opfers zur
Vergeltung übergeben werden, nachdem der Tatbestand und die
Schuld des Täters durch einen Richter festgestellt sind. Das Strafmaß entspricht der Tat: Der Mörder wird getötet. Hier kommt
das islamische »jus talionis« (Vergeltung von Gleichem durch Gleiches) deutlich zur Anwendung. Der Koran legt aber Wert auf die
Feststellung, dass die Bestrafung ausschließlich den Täter trifft
und nicht etwa seine Familie oder seinen Stamm. Die Angehörigen des Opfers sind nicht verpflichtet, den Täter hinzurichten;
sie können stattdessen ein Blutgeld verlangen.155 Das islamische
Recht behält sich aber vor, einen gemeingefährlichen Täter, der
seine Tat mit der Zahlung eines Blutgeldes gesühnt hat, zum
Schutz der Allgemeinheit in eine Art Sicherheitsverwahrung zu
nehmen. Im Fall eines Totschlags sind die Strafen weniger schwerwiegend. Der Täter darf nicht mit dem Tod bestraft werden. Stattdessen hat er ein Blutgeld zu zahlen, als Buße kann er auch einen
Sklaven befreien oder an zwei aufeinander folgenden Monaten
fasten.156 Bei Körperverletzungen kommt ebenfalls das »jus talionis« zur Anwendung, wobei das islamische Recht exakte Ersatzleistungen wie die Zahlung von Geld o.a. entwickelt hat Insgesamt
verbietet der Koran jede Form von unrechtmäßiger Gewaltanwendung. »Die Vergeltung für die, die gegen Gott und seinen Gesandten Krieg fuhren und auf der Erde umherreisen, um Unheil
zu stiften, soll dies sein, dass sie getötet und gekreuzigt werden
oder dass ihnen Hände und Füße wechselseitig abgehackt werden
oder dass sie aus dem Land verbannt werden [...].«157 Das islamische Recht entwickelte aus diesen Worten unterschiedliche Bewertungskriterien. So werden Raubmörder hingerichtet. Wenn jemand
raubt, ohne zu morden, werden ihm Hand und Fuß amputiert.
55
Täter, die ihre Mitmenschen terrorisiert haben, ohne zu morden
oder zu rauben, werden des Landes verwiesen oder ins Gefängnis gesteckt. Falls ein Täter Reue bekundet, bevor der Tatbestand
von einem Richter festgestellt worden ist, kann er unbestraft bleiben, sofern er den von ihm angerichteten Schaden wieder gutmacht.
In aktuellen Diskussionen unter islamischen Rechtsgelehrten
wird im Zusammenhang mit Fragen der Familienplanung häufig
auch die Thematik des Schwangerschaftsabbruchs angesprochen.
Dabei zeigt sich eine deutliche Übereinstimmung zwischen den
Positionen muslimischer Gelehrter und der Haltung der katholischen Kirche. Muslimische Juristen ziehen verschiedene Äußerungen des Korans heran, um das Verbot eines Schwangerschaftsabbruchs zu begründen. Danach ist das Leben von der Empfängnis
an Schöpfung Gottes.158 Daher ist es keinem Menschen, auch nicht
den Eltern, gestattet, in diesen Schöpfungsprozess einzugreifen.159
Neuere Entscheidungen islamischer Juristen gestatten einen Abbruch nur dann, wenn eine Gefahr für das Leben der Mutter besteht, der auf keine andere Weise begegnet werden kann.160
Auch Unzucht (Zinnâ) wird vom Koran als ein strafwürdiges
Vergehen angesehen. Unter »Unzucht« versteht das islamische
Recht jede sexuelle Aktivität zwischen Personen, die nicht rechtsgültig miteinander verheiratet sind. Derartige Aktivitäten werden mit hundert Peitschenhieben für jeden der Beteiligten bestraft.
Nicht minder schwerwiegend, weil folgenreich ist auch die Anweisung des Korans, dass eine Person, die eines derartigen Vergehens überführt worden ist, in Zukunft keinen gläubigen muslimischen Partner mehr heiraten darf.161 Der Koran stellt allerdings
erhebliche Hürden für den Nachweis der Unzucht auf. So sind
vier Zeugen erforderlich, die die Schuldigen in flagranti beobachtet haben müssen. Stellt sich heraus, dass eine Person in einem
derartigen Strafverfahren ein falsches Zeugnis abgegeben hat, wird
56
sie mit achtzig Hieben bestraft. Für die Zukunft darf von einer
solchen Person kein Zeugnis mehr angenommen werden.162 Vom
Propheten Muhammad wird überliefert, dass er lediglich das Bekenntnis der Beteiligten als echten Beweis akzeptiert habe. Als
schwerwiegender wird der Tatbestand des Ehebruchs bewertet.
Wird eine Frau tatsächlich durch vier Zeugen einer solchen Tat
überführt und sind auch noch weitere Beweise vorhanden, wird
sie hingerichtet. Falls aber nur die vier Zeugen ihre Schuld bestätigen, soll sie im Haus festgehalten werden, »bis der Tod sie abberuft oder Gott ihr einen Ausweg verschafft«163. In einem derartigen Fall hat der Ehemann einer des Ehebruchs beschuldigten
Frau eine prozessual besondere Stellung. Es reicht aus, dass er –
anstelle von vier Zeugen – viermal bezeugt, dass er seine Frau bei
einer Unzuchthandlung beobachtet hat. Danach muss er sich bei
einem fünften Zeugnis dem Fluch Gottes ausliefern, für den Fall,
dass er nicht die Wahrheit sagt. Die beschuldigte Ehefrau hat die
Möglichkeit, den Aussagen ihres Gatten viermal zu widersprechen
und sich bei einer fünften Aussage ebenfalls dem Fluch Gottes
auszuliefern.164 Bei einer derartigen Beweissituation wird es nicht
zur Bestrafung der Frau kommen. Regelungen für den Fall, dass
eine Frau ihren Mann bei einer unzüchtigen Handlung beobachtet, sind in den Werken der juristischen Autoritäten nicht zu
finden.
Auf die Bestrafung für Raubmord ist schon hingewiesen worden. Einfacher Diebstahl wird nach dem Koran mit der Amputation der Hand bestraft.165 Das islamische Recht hat allerdings eine Reihe von Bedingungen entwickelt, die erfüllt sein müssen, ehe
es zu dieser Bestrafung kommen darf. Der Dieb muss erwachsen
und bei klarem Verstand sein; das gestohlene Objekt muss gut
verwahrt gewesen sein, im Gegensatz zu Fundsachen oder Obst
von Bäumen, die nicht eingezäunt sind; der Diebstahl geringwertiger Güter wird nicht mit der Abtrennung der Hand bestraft, son57
dem mit Peitschenhieben oder Gefängnis; auch bei Diebstahl, der
aus Not begangen wurde, werden geringere Strafen ausgesprochen.
Gerade bei dem letztgenannten Tatbestand ist eine Vielzahl von
islamischen Gelehrten der Ansicht, dass in islamischen Gesellschaften bisher noch nicht die wirtschaftliche Situation eingetreten ist, dass die Bevölkerung über ausreichendes und gleichmäßig
verteiltes Eigentum verfügt, sodass überhaupt Diebstahl nicht auf
die vom Koran beschriebene Weise geahndet werden dürfte.
In den zivilrechtlichen Bereich gehören die Regelungen, die
der Koran im Bezug auf das Erbrecht festlegt. Diese Regelungen
erweisen sich als sehr detailliert.166 Dabei kann man feststellen,
dass weibliche Erben schlechter gestellt sind als männliche. Moderne muslimische Exegeten erläutern diese Ungleichbehandlung
mit dem Hinweis, dass Frauen in vorislamischer Zeit überhaupt
keinen Erbanspruch hatten und die Regelung des Korans eine
erhebliche Verbesserung der rechtlichen Stellung von Frauen bedeutet hätte. Des Weiteren ist das Verhältnis zwischen Mann und
Frau in der Ehe durch den Vorrang des Mannes gekennzeichnet.
»Männer haben Vollmacht und Verantwortung gegenüber den
Frauen, weil Gott die einen vor den anderen bevorzugt hat und
weil sie von ihrem Vermögen (für die Frauen) ausgeben.«167 Dieser
Vers wird von den muslimischen Rechtsgelehrten mit der Regelung der Brautgabe (Mahr) in Zusammenhang gebracht.168 Eine
gültige Ehe kann nur dann geschlossen werden, wenn in einem
Heiratsvertrag die Art und die Höhe des Brautpreises festgelegt
werden. Beim Vertragsabschluss ist die Braut nur bedingt rechtsfähig. Für sie muss ein männlicher Vertreter agieren; sie muss ihrerseits ihr Einverständnis zu dem Vertrag deutlich machen. Allerdings wird schon ihr Schweigen als Zustimmung zu dem Vertrag
angesehen. Der Koran nimmt auch zur Polygynie Stellung. Er gestattet es dem Mann, mit bis zu vier Frauen gleichzeitig verheiratet zu sein. Dies ist aber nur unter der Voraussetzung möglich,
58
dass der Mann alle Ehefrauen gleich behandelt. Dazu stellt der Koran dann jedoch fest: »Und ihr werdet es nicht schaffen, die Frauen
gleich zu behandeln; ihr mögt euch auch noch so bemühen.«169
Von einer Reihe von islamischen Gelehrten wird dieser Satz als
ein Verbot der Mehrehe angesehen.
Einen weiteren thematischen Bereich des Korans stellen Gebete und gebetsähnliche Passagen dar. Hier ist zunächst die Eröffnungssure des Korans170 zu nennen, die in ihrer praktischen
und rituellen Bedeutung mit dem christlichen Vaterunser verglichen werden kann. Daneben finden sich aber noch weitere Suren
wie die Sure 113 oder 114 und einzelne Verse wie der Thron-Vers
(Âyat al-Kursî), die von den Muslimen als Gebete verstanden werden.
Schließlich sind noch verschiedene historische Berichte zu nennen, die alle einen didaktischen Charakter haben. Aus ihnen erfährt man von historischen Völkern, die den zu ihnen geschickten Propheten nicht geglaubt haben und die daher von Gott
bestraft und vernichtet worden sind. In diesen Kontext kann man
auch Texte wie die Josefsgeschichte171 einbeziehen, in denen Vorgänge, die aus dem Alten Testament oder aus apokryphen Evangelien bekannt sind, wieder aufgenommen werden.
Alles in allem muss man aber feststellen, dass der Koran nach
muslimischer Ansicht in keiner Weise zusammengefasst werden
kann. Er ist für die Muslime der Ausgangspunkt und der Urgrund
ihres religiösen Lebens und daher von kaum zu überschätzender
Bedeutung. Dabei ist der Text sprachlich wie inhaltlich nicht einfach. Es finden sich zahlreiche komplizierte syntaktische Formen,
Worte, die auch dem arabischen Muttersprachler fremd sind, Anspielungen auf Unbekanntes oder auch widersprüchliche Formulierungen, die dem Leser oder Hörer nicht ohne weiteres
einleuchten. Letzteres lässt sich am Beispiel der Aufhebung einzelner Verse durch andere verdeutlichen. Zunächst erklärt der Ko59
ran jedoch, dass das Wort Gottes unabänderlich ist. »Und rezitiere,
was dir vom Buch deines Herrn offenbart worden ist. Niemand
wird Seine Worte abändern können.«172 Und an einer anderen
Stelle heißt es: »Betrachten sie denn nicht sorgfältig den Koran?
Wenn er von einem anderen Gott wäre, würden sie in ihm viel
Widerspruch finden.«173 Andererseits räumt der Koran die Möglichkeit ein, dass der Prophet die an ihn ergangene Offenbarung
vergisst oder dass Gott seine eigenen Vorschriften aufhebt oder
verändert.174 Letzteres muss aus muslimischer Sicht vor dem Hintergrund der Allmacht Gottes gesehen werden, die durch andere
Normen nicht begrenzt werden kann. Natürlich sieht der Koran,
dass diese unterschiedlichen Aussagen für die Hörer verwirrend
sein müssen und vor allem die Ungläubigen aus ihnen schließen
könnten, dass es sich nicht um das Wort Gottes handle: »Und
wenn wir ein Zeichen anstelle eines (anderen) Zeichens eintauschen – und Gott weiß besser, was Er herabsendet –, sagen sie:
›Das erdichtest du nur.‹«175 Hier stellt der Koran fest, dass Gott
über seine Offenbarung besser Bescheid weiß als die Menschen.176
Er besitzt die freie Verfügungsgewalt über die Offenbarung.177
Ihm steht es auch frei, einen Vers durch einen ähnlichen oder besseren zu ersetzen.178 Es ist aber Gott allein, der diese Vollmacht
besitzt; dem Propheten ist es nicht gegeben, die Botschaft Gottes
abzuändern.179
Die islamische Koranauslegung hat sich mit der Frage der Abrogation von Versen des Korans, d.h. mit der Aufhebung von
Versen durch andere, immer wieder auseinander gesetzt. Viele
Kommentatoren waren und sind der Meinung, dass sich die entsprechenden Verse nur scheinbar widersprechen, und versuchen
die Differenzen durch entsprechende Interpretationen aus der
Welt zu schaffen. Die Mehrheit nimmt die zitierten Verse des Korans über die Widersprüche jedoch ernst und hat Listen der Verse erstellt, die sich nicht in Übereinstimmung miteinander befin60
den. Als Beispiel sei hier lediglich auf das Verbot von Alkohol
hingewiesen. Zunächst erklärt der Koran den Wein als eine der
guten Gaben Gottes, mit denen die Vollkommenheit der Schöpfung bewiesen wird.180 Dann folgt eine Einschränkung hinsichtlich
des Weinkonsums: »O ihr Gläubigen, kommt nicht zum Gebet,
wenn ihr betrunken seid.«181 Und schließlich wird ein Meidungsgebot ausgesprochen.182 Für das islamische Recht und die Glaubenspraxis der Muslime wird aus den Umständen der Offenbarung
und der Koranauslegung deutlich, welche Verse aus welchem
Grund verbindlich sind.
Der Koran hat über seine direkten religiösen und juristischen
Funktionen hinaus eine große kulturgeschichtliche Bedeutung.
Man kann ihn als Anfang und Anlass islamischer Wissenschaften
ansehen. Er war und ist Ausgangspunkt arabischer Philologie.183
Er war Voraussetzung für die intensivere und ausführlichere Entwicklung der arabischen Schrift184 und Grundlage der arabischen
Kalligraphie, die u.a. dem Schmuck von Moscheen, öffentlichen
Gebäuden und Wohnungen dient.185 Der Koran stellt die Voraussetzung für die islamischen Geheimwissenschaften dar.186 Moderne Koraninterpreten sehen ihn gar als die Grundlage moderner
Natur- und Geisteswissenschaften.187 In der islamischen Volksreligion finden seine Texte vielfältige Verwendung als apotropäische
Mittel gegen die verschiedensten Gefahren, die dem Menschen
drohen, etwa gegen den bösen Blick.188 Sie werden als Mittel in
der Volksmedizin oder als Medium bei der Voraussage zukünftiger Ereignisse genutzt.189 Angesichts der Bedeutung des Heiligen
Buchs ist es nicht verwunderlich, dass der Text auch rituelle Bedeutung besitzt und von den Muslimen verehrt wird. Man liest
in ihm nicht, ohne sich in einen besonderen Weihezustand versetzt zu haben. Frauen bedecken bei der Lektüre ihr Haupt. Koranexemplare sollten immer an einem herausgehobenen Ort aufbewahrt werden. Wenn ein Exemplar aus Altersgründen nicht mehr
61
gebraucht werden kann, darf es auf keinen Fall verbrannt werden. Die unbrauchbaren Texte werden in der Regel in Moscheen
aufbewahrt. Jede Form von Missachtung des Korans wird zugleich
als Beleidigung Gottes, des Islams und der Muslime angesehen.
62
5. Die islamischen Glaubenspflichten
Angesichts des einfachen Dogmas des Islams ist es nicht erstaunlich, dass im Vordergrund muslimischen Lebens die religiöse Praxis steht. Die Muslime sprechen von den Glaubenspflichten als
den »fünf Säulen«, auf denen der Islam ruht. Männer und Frauen
sind in gleicher Weise aufgefordert, diesen Pflichten nachzukommen. Daneben kennen sie allerdings noch eine Anzahl weiterer
Pflichten, Gebote und Verbote, die ihnen Gott vorgeschrieben hat
Die erste der Glaubenspflichten ist das Glaubensbekenntnis,
die »Shahâda«. In ihr bekennt der Muslim oder die Muslimin, dass
es keinen Gott außer Gott gibt und dass Muhammad der Gesandte Gottes ist.190 Dieses Glaubensbekenntnis spricht der Gläubige mehrmals am Tag aus. Dem Neugeborenen wird die Formel
von der Hebamme ins Ohr geflüstert, damit es die ersten Worte
sind, die es auf Erden vernimmt. Der Sterbende spricht sie, damit
sie das Letzte sind, was er auf Erden äußert. Die »Shahâda« findet sich als Inschrift auf Gebäuden, wird auf Schmuckblätter gedruckt und in Fahnen eingestickt. Das Aussprechen dieser Formel
hat eine wichtige rechtliche Konsequenz. Wenn sie in irgendeiner Form artikuliert wird, wird der Sprecher auch in einem rechtlichen Sinn zum Muslim. Dieser Vorgang ist unumkehrbar. Daher verlangen die muslimischen Rechtsgelehrten, dass eine Person,
die durch die Aussprache dieser Formel zum Islam konvertiert, bestimmte Voraussetzungen erfüllt. Dazu gehören die allgemeine
Rechtsfähigkeit, also Erwachsensein, mentale Gesundheit, Freiwilligkeit und das Bewusstsein von der Bedeutung des Vorgangs. Fehlt
63
eine dieser Bedingungen, ist der Religionswandel nicht rechtsverbindlich. Andererseits gibt es aber keine genauen Vorschriften
über die Form, in der das Bekenntnis stattzufinden hat. Es kann
sich um einen völlig privaten Vorgang handeln, der von der Umgebung nicht zur Kenntnis genommen wird. Er kann vor Zeugen
stattfinden und in öffentlichen Verlautbarungen wie Zeitungsmeldungen oder Anzeigen bekannt gemacht werden. Er kann durch
notarielle Urkunden beglaubigt werden. Die »Shahâda« ist mit
keinem speziellen Ritual wie der Taufe oder einem anderen Übergangsritus verbunden. Neben dem Religionswechsel eines Erwachsenen gibt es noch eine weitere Form, in der man Mitglied
der Gemeinschaft der Muslime wird. Dies geschieht dadurch,
dass man das Kind eines muslimischen Vaters ist. Auch in diesem Fall ist die Zugehörigkeit zum Islam aus der Sicht des islamischen Rechts unveränderlich. Das hat vor allem dann Konsequenzen, wenn es zu einem faktischen Religionswechsel kommt.
Konvertiert ein Muslim tatsächlich zu einer anderen Religion, ist
dieser Vorgang aus islamischer Sicht rechtlich unwirksam. Die
Kinder einer solchen Person werden ebenfalls Muslime, wenngleich sie de facto der neuen Religion angehören und diese praktizieren. Aus der Sicht des islamischen Rechts sind sie auch dann
Muslime, wenn die frühere Religionszugehörigkeit des Vorvaters
längst in Vergessenheit geraten ist. Die Strafe, mit der das islamische Recht die Apostasie bedroht, gilt auch für diese Personengruppe.
Das Gebet
Als zweite Glaubenspflicht gilt das Pflichtgebet (Salât). Seit dem
islamischen Mittelalter wird es als ein konstitutiver Teil des Muslimseins verstanden. Das Gebet zu unterlassen wird von man64
chen Religionsgelehrten als eine Form der Apostasie verstanden.191 In einigen islamischen Ländern wird man nicht danach gefragt, ob man Muslim sei oder nicht, sondern ob man bete. Fünf
Mal am Tag hat der Muslim zu vorgeschriebenen Zeiten im Zustand ritueller Reinheit festgelegte Formeln zu rezitieren und dabei bestimmte Körperhaltungen einzunehmen. Der Koran sagt
dazu: »Das Gebet ist für die Gläubigen eine für bestimmte Zeiten
festgelegte Vorschrift.«192 Die Verpflichtung gilt für alle Erwachsenen. Befreit von der Pflicht sind Kranke, Altersschwache, Geisteskranke etc. Reisende können es mit einem verkürzten Gebet
ein Bewenden haben lassen oder das versäumte Gebet zu einem
späteren Zeitpunkt nachholen. Der Gebetszyklus beginnt mittags,
gefolgt von den Gebeten am Nachmittag, Abend, in der Nacht und
vor dem Morgengrauen.193 In islamischen Ländern fordert der
Gebetsrufer (Mu'adhdhin)194 zu den verschiedenen Gebeten auf.
Für diese Aufgabe sind keine speziell zu erwerbenden Kenntnisse
erforderlich. Der Rufer muss die entsprechenden Formeln kennen, verlässlich sein und eine ausreichend laute Stimme haben.195
Der Beginn der entsprechenden Gebetsphasen wechselt, abhängig von den Jahreszeiten, und wird jeweils genau berechnet. Die
Beter sind nicht verpflichtet, jeweils zu Beginn einer Gebetsphase das Gebet zu verrichten. Sie können damit zu jedem beliebigen
Zeitpunkt innerhalb einer Phase beginnen, müssen das Gebet
aber in ihr auch beendet haben.
Mit der rituellen Waschung bereitet sich der Muslim auf das
Gebet vor. Rituelle Unreinheit entsteht u.a. durch den Kontakt
mit rituell unreinen Dingen. Zu ihnen gehören verschiedene Körperflüssigkeiten und Ausscheidungen wie Blut, Urin, Kot, Sperma,
Eiter usw. und überhaupt alle Dinge, die Ekel erregen. Je nachdem welchen Grad die rituelle Unreinheit hat, sind unterschiedliche Waschungen erforderlich. Das islamische Recht unterscheidet zwischen einer großen und einer kleinen Unreinheit. Bei der
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großen Unreinheit infolge sexueller Handlungen muss eine Waschung des gesamten Körpers (Ghusl) durchgeführt werden. Dabei
wird der komplette Körper in einem Tauchbecken untergetaucht.
Solche Tauchbecken waren in den traditionellen orientalischen
Häusern nicht vorhanden. Für den »Ghusl« begaben sich Muslime oder Musliminnen daher in das öffentliche Bad (Hammâm).196
Die Teilwaschung (Wudû') betrifft dagegen nur einzelne Körperteile. Diese rituelle Reinigung ist genau vorgeschrieben. Zu ihr
gehört das Zähneputzen ebenso wie das Waschen des Gesichts, der
Ohren oder der Füße. Diese Waschung hat unmittelbar vor dem
Gebet stattzufinden, damit die Möglichkeit der erneuten Verunreinigung zwischen Waschung und Gebet möglichst gering ist.
Daher finden sich in unmittelbarer Umgebung von Moscheen
die entsprechenden Waschgelegenheiten. Die Waschung hat mittels Wasser zu erfolgen. Ist dieses aber knapp, kann auch eine Ersatzreinigung durchgeführt werden. Der Gläubige »sucht einen
sauberen Boden und streicht sich über das Gesicht und die Hände«197. Die Betenden haben auch darauf zu achten, dass ihre Kleidung und der Ort, an dem das Gebet vollzogen wird, rein sind.
Während für die Kleidung keine exakten Vorschriften bestehen,
wird die Sauberkeit des Gebetsortes dadurch gewährleistet, dass
man einen Teppich, ein Kleidungsstück oder sogar ein Stück Pappe bzw. Papier ausbreitet und darauf betet.
Das eigentliche Gebet besteht aus einer vorgeschriebenen Anzahl von Einheiten (Rak'a, Verbeugung). Das Mittags-, das Nachmittags- und das Nachtgebet bestehen jeweils aus vier derartigen
Einheiten, das Abendgebet dagegen aus drei und das Morgengebet nur aus zwei »Rak'a«. Der Beter versetzt sich zum Gebet in
einen Weihezustand, indem er sich mit dem Gesicht in Richtung
Mekka positioniert.198 Die Gebetsrichtung (Qibla) wird in Moscheen durch die Gebetsnische (Mihrâb) angezeigt. In Hotelzimmern in islamischen Ländern findet man ebenfalls entsprechende
66
Kennzeichnungen. Die exakte Bestimmung der Gebetsrichtung
hat schon früh die Astronomie in der islamischen Wissenschaftsgeschichte befördert. Heute werden die modernsten Kompasse
verwendet. Vor dem Beginn des Gebets wie vor jeder anderen religiösen Handlung oder deren Vorbereitung hat der/die Handelnde in sich die Absicht (Niya) hervorzurufen, die entsprechende
Handlung zu vollziehen. Ohne diese Formulierung der inneren
Bereitschaft ist die Handlung wertlos. Der Beter rezitiert dann im
Stehen einige vorgeschriebene Gebete, zu denen die Eröffnungssure des Korans gehört. Dann verbeugt er sich, wobei er die Hände auf die Knie aufstützt, und äußert wiederum einige vorgeschriebene Gebetsformeln. Als Zeichen seiner vollständigen Hingabe
an Gott kniet er dann nieder und berührt mit der Stirn den Boden, indem er u.a. »Gott ist der Größte« (Allâhu akbar) sagt. Anschließend setzt er sich unter Rezitation weiterer Formeln zurück auf seine Fersen und berührt dann erneut unter Rezitation
anderer Formeln mit der Stirn den Boden. Damit ist die erste Gebetseinheit abgeschlossen. Die verschiedenen Körperhaltungen
spiegeln nach der Meinung islamischer Gelehrter die Bereitschaft
der Gläubigen wider, Gott zu loben, ihn anzubeten, seine Herrschaft anzuerkennen und sich seinem Willen ganz zu ergeben.
Die verschiedenen täglich durchzuführenden Gebete sind Individualgebete, die jeder für sich allein vollziehen kann. Allerdings
beurteilt das islamische Recht es als »schön«, wenn man die Gebete in einer Gemeinschaft vollzieht. Am Freitagmittag aber sollen sich alle Gläubigen einer Stadt zu einem Gemeinschaftsgebet
in der dafür vorgesehenen Freitagsmoschee zusammenfinden.
Gleiches gilt auch für Gebete zur Feier des Fastenbrechens am Ende des Monats Ramadan, beim Opferfest, bei Begräbnisgebeten, in
Kriegszeiten oder beim Gebet um Regen. Das Freitagsgebet wird
im Koran als verbindlich festgelegt, wenn es heißt: »O ihr, die ihr
glaubt, wenn am Freitag zum Gebet gerufen wird, dann eilt zum
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Gedenken Gottes und lasst das Kaufgeschäft ruhen. Das ist besser für euch, so ihr Bescheid wisst. Wenn das Gebet beendet ist,
dann breitet euch im Land aus und strebt nach etwas von der Huld
Gottes. Und gedenket Gottes viel, auf dass es euch wohl ergehe.«199 Der Freitag ist keineswegs mit den Ruhetagen von Juden
oder Christen zu vergleichen. Die Feststellung aus der Genesis,
dass Gott am siebten Tage ruhte, wird von den Muslimen als Zweifel an der Allmacht Gottes abgelehnt. Am Freitag soll sich die
Gemeinde einer Stadt jedoch zusammenfinden, um sich ihres
Zusammengehörigkeitsgefühls als Muslime immer wieder neu
bewusst zu werden. Verpflichtet zum Freitagsgebet sind nur die
Männer; Frauen und Kindern ist es freigestellt, an diesem Gemeinschaftsgebet teilzunehmen. Das Freitagsgebet wird von einem Vorbeter (Imâm) geleitet. Er hat ausschließlich die Funktion, durch
sein körperliches Vorbild die Gemeinschaft der Beter zu einem
möglichst einheitlichen Vollzug der heiligen Handlung zu veranlassen. Um die Aufgabe des Vorbeters wahrnehmen zu können,
bedarf es einiger weniger Voraussetzungen. Der Vorbeter muss
männlich sein, wenn es sich bei der Gruppe der Beter um eine
männliche oder eine gemischte Gruppe handelt. Wenn eine Gruppe von Frauen zusammen betet, wird die Vorbeterfunktion von
einer Frau übernommen. Der »Imâm« muss die Regeln des Pflichtgebets kennen und in der Lage sein, sie fehlerfrei anzuwenden.
Er darf also keine körperlichen Gebrechen haben. Auch ein
Sprachfehler wird zu solchen Gebrechen gezählt. Im Übrigen bestehen aber keine weiteren Voraussetzungen. Prüfungen, Weihen,
Gelöbnisse oder ähnliche Riten sind nicht erforderlich. Vor dem
eigentlichen Freitagsgebet werden häufig längere Passagen aus
dem Koran rezitiert, die den in der Regel aus den Tagesgeschäften herausgerissenen Betern die Möglichkeit der Sammlung und
der Konzentration auf das Gebet geben. Dieser Koranrezitation
folgt eine Predigt (Khutba), in der der Prediger die Gläubigen auf68
fordert, das Gute zu tun und das Schlechte zu unterlassen. In der
Freitagspredigt wird auch des Staatsoberhauptes gedacht. Der
Prediger kann darüber hinaus auf konkrete politische Entwicklungen Bezug nehmen. So bietet die Freitagspredigt regierungsnahen Predigern die Möglichkeit, für die herrschenden Kreise und
deren Entscheidungen Werbung zu machen, wie oppositionelle
Prediger in der Moschee die Handlungen der Herrschenden kritisieren können.200 Auch für den Prediger ist keine spezielle Ausbildung mit anschließender Weihe o.a. vorgeschrieben.
In vormodernen Gesellschaften, in denen der Zeitfaktor für das
Erwerbsleben eine andere Rolle spielte als in modernen ökonomischen Verhältnissen, war es jedem möglich, die Pflichtgebete in
den dazu vorgesehenen Zeiträumen zu vollziehen. Dies ist jedoch
z.B. in hoch mechanisierten Produktionsprozessen wie bei der
Fließbandarbeit nicht möglich. Das islamische Recht hat daher
den Ausweg entwickelt, dass zwei Gebetseinheiten dergestalt zusammengefasst werden können, dass man ein Gebet am Ende des
einen Zeitraums durchführt und unmittelbar daran anschließend
mit dem Beginn des nächsten Gebetszeitraums das folgende Gebet verrichtet. Außerdem besteht die Möglichkeit, versäumte Gebete zu einem späteren Zeitpunkt nachzuholen.
Neben dem in Form und Inhalt vorgeschriebenen Pflichtgebet
kennen die Muslime auch freiere Gebetsformen (Du'â), in denen
sie sich spontan, in frei formulierten Bitten oder Dankesbezeugungen an Gott wenden können.
Das Fasten
Das Fasten ist neben dem täglichen Pflichtgebet die religiöse Pflicht
der Muslime, in der sich auch nach außen am deutlichsten die
Zugehörigkeit zur Gemeinschaft der Gläubigen ausdrückt.201 Der
69
Koran bestimmt den Monat Ramadan202, den neunten Monat
des muslimischen Kalenderjahres, als die Zeit, in der die Muslime von dem Moment an, da man morgens einen weißen von einem schwarzen Faden unterscheiden kann, bis zu dem Zeitpunkt,
da man abends einen schwarzen Faden wiederum von einem weißen nicht mehr unterscheiden kann, fasten müssen.203 Heute werden die Zeiten der Fastenperioden genau berechnet und in den
islamischen Ländern täglich in den Medien bekannt gemacht. Da
das islamische Jahr als Mondjahr elf Tage kürzer als das Sonnenjahr ist, verschiebt sich der Ramadan von Jahr zu Jahr nach vorne
und kann daher in den Sommer oder in den Winter fallen. Die Dauer der täglichen Fastenperiode und die mit dem Fasten verbundenen körperlichen Belastungen sind dementsprechend unterschiedlich. Die Dauer des Fastens hängt auch von der geographischen
Position ab, in der sich ein Fastender befindet. Theoretisch müsste er die für die Fastendauer relevanten Zeitpunkte jeweils exakt
bestimmen. In der Praxis werden aber vorgegebene Zeiteinteilungen zugrunde gelegt. Für muslimische Minderheiten, die in sehr
weit nördlichen oder südlichen Teilen der Erde leben, gelten die
Fastenzeiten der nördlichsten bzw. südlichsten Regionen, in denen muslimische Mehrheiten ansässig sind. So gelten z.B. für Muslime in Finnland die Zeiten der bosnischen Muslime. In der Praxis bedeutet das Fasten, dass sich die Fastenden während dieser
Zeit jeder flüssigen oder festen Speise, aber auch des Rauchens
enthalten müssen. Auch sexuelle Aktivitäten sind in dieser Zeitspanne nicht gestattet. Nach Sonnenuntergang sind diese Beschränkungen dann bis zum nächsten Morgen aufgehoben. Zum
Fasten verpflichtet sind alle Muslime. In einigen Fällen ist allerdings Dispens gegeben. Kranke, Schwangere, Stillende, sehr alte
Menschen, Reisende und die Kämpfer im Glaubenskampf (Dschihad) müssen nicht fasten. Da Frauen während der Monatsregel
als unrein gelten, ist ihr Fasten während dieser Zeit ungültig. Kin70
der sollten nach dem Eintritt in die Pubertät mit dem Fasten beginnen. Die Eltern werden aber aufgefordert, ihre Kinder schon
vorher an einigen Tagen des Ramadan zum Fasten anzuhalten.
Wenn ein Kind zum ersten Mal einen ganzen Tag gefastet hat, erhält es in vielen islamischen Gesellschaften eine besondere Belohnung. Kinder sind stolz darauf, die Beschwernis des Fastens
ertragen zu können. Sie sehen es als Zeichen der Aufnahme in
die Gruppe der Erwachsenen an.
Von einigen Ausnahmen abgesehen, müssen versäumte Fastentage zu einem späteren Zeitpunkt nachgeholt werden. Auch wenn
man versehentlich oder aus Unachtsamkeit das Fasten gebrochen
hat, kann man es später nachholen. Das islamische Recht regelt
dies dahingehend, dass man zu jeder Zeit fasten darf, allerdings
nicht an den Festtagen nach dem Ramadan oder beim Opferfest.
Wer das Fasten schuldhaft bricht, kann auch als Ersatzleistung
für jeden versäumten Tag hundert Arme speisen.204
Der Ramadan ist insgesamt ein Monat, in dem sich die Muslime bemühen, besonders sorgfältig auch ihren anderen religiösen
und sozialen Verpflichtungen nachzukommen und sich möglichst
aller schlechten Handlungen zu enthalten. Viele Gläubige verbringen lange Phasen dieses Monats in der Moschee betend und
meditierend. Die Fastenden bemühen sich in dieser Zeit um die
Beilegung von im Laufe des Jahres entstandenen Konflikten innerhalb der Familie, der Nachbarschaft und des Bekanntenkreises. Der Ramadan gilt als eine besonders gnadenvolle Zeit. Vom
Propheten wird berichtet, dass er gesagt habe: »Gott, gebenedeit
sei er und erhaben ist er, hat euch das Fasten im Ramadan auferlegt, und ich habe euch die Weise, es einzuhalten, verordnet. Wer
in ihm fastet und ihn einhält aus Glauben und Hoffnung auf den
Lohn, der kommt aus seinen Sünden so heraus wie am Tag, da
ihn seine Mutter geboren hat.«205 Als besonders heilig gilt die
Nacht des 27. Ramadan, die »Laylat al-Qadr« (Nacht der Bestim71
mung), in der die erste Koranoffenbarung erfolgt sein soll. An sie
erinnert der Koran in der Sure 97, die in der Übersetzung von
Friedrich Rückert lautet: »Wir sandten ihn nieder in der Nacht
der Macht./Weißt du, was ist die Nacht der Macht?/Die Nacht
der Macht ist mehr als was in tausend Monden wird vollbracht./
Die Engel steigen nieder und der Geist in ihr, auf ihres Herrn
Geheiß, dass alles sei bedacht./ Heil sei ganz und Friede, bis der
Tag erwacht.«206 Bitten, die man in dieser Nacht an Gott richtet,
gehen nach Überzeugung der Muslime in Erfüllung.207
Wie kaum in einer anderen Zeit des Jahres fühlen sich die Muslime im Ramadan als eine große Gemeinschaft. Das öffentliche
Leben ist in dieser Zeit ganz auf den Islam ausgerichtet. Tagsüber finden geschäftliche oder administrative Interaktionen kaum
statt. Behörden haben verkürzte Öffnungszeiten und Geschäfte
sind tagsüber geschlossen.208 Die verschiedenen Medien stehen
ganz im Zeichen des Ramadan. Tageszeitungen veröffentlichen
umfangreiche Artikel mit religiösem oder auf den Ramadan bezogenem Inhalt. Beispielsweise wird von Muslimen in der Diaspora berichtet, oder Ärzte beraten in speziellen Kolumnen über
die medizinischen Aspekte, die im Zusammenhang mit dem Fasten beachtet werden sollten. Im Rundfunk und Fernsehen werden Koranrezitationen und andere religiöse Veranstaltungen
übertragen. Der Ramadan ist zugleich ein Monat vielfältiger sozialer Interaktionen. Es gibt ausgeklügelte Besuchsrituale, die zu
verletzen schwere soziale Sanktionen zur Folge haben kann. Das
gemeinsame abendliche Fastenbrechen (Fitr) im privaten Rahmen ist ein Vorgang, bei dem die sozialen Beziehungen vertieft
und gefestigt werden. Auf der politischen Ebene werden Einladungen zum Fastenbrechen von den Vertretern der Parteien und
der verschiedenen Administrationsebenen ausgesprochen. Religiöse Gemeinschaften wie die verschiedenen Sufi-Gruppen laden
die Armen und Bedürftigen eines Stadtviertels zum gemeinsa72
men öffentlichen Fastenbrechen ein.209 Man kann den Ramadan insgesamt als einen Festmonat bezeichnen. Auf der anderen
Seite bringt das Fasten, zumal in den heißen Sommermonaten, erhebliche körperliche Belastungen mit sich. In vielen Fällen wird
in den Ramadannächten mehr gegessen als in den übrigen Monaten während des Tages. Es haben sich zahlreiche, kalorienreiche
Fastenspeisen entwickelt. Die Nächte werden mit öffentlichen
Zerstreuungen wie Kirmesveranstaltungen, Märchenerzählungen
u.a. verbracht und der Tag verschlafen.210 Gegen diese Praktiken
kämpfen die islamischen Religionsgelehrten in Predigten, Zeitungsartikeln und Rundfunksendungen immer wieder an, ohne
jedoch großen Erfolg damit zu haben.
Da es heute kaum noch möglich ist, das gesamte öffentliche
und wirtschaftliche Leben auf die Beschwernisse des Fastens einzustellen, steigt die Zahl der Unfälle in islamischen Ländern und
bei den muslimischen Migranten in Westeuropa oder Amerika
signifikant an und die Arbeitsproduktivität geht erheblich zurück.
Die übliche und allseits akzeptierte Entschuldigung in diesen
und ähnlichen Fällen ist der Hinweis auf das Fasten. Verschiedene
Politiker islamischer Staaten haben versucht, durch Aufklärungsaktionen, durch die Bestellung entsprechender Gutachten von
islamischen Rechtsgelehrten und durch ihr eigenes Beispiel die
Fastenregeln zu verändern. Diese Versuche sind jedoch ohne Erfolg geblieben. Islamische Rechtsgelehrte, die mit der Arbeit von
Hochofenarbeitern konfrontiert wurden, haben trotz der anerkannten Belastungen auf der Einhaltung der Regeln bestanden.
Sie erklärten jedoch, dass dies nur so lange zu verlangen sei, wie
die Gesundheit der Arbeiter keinen schweren Schaden nehme.211
Neben dem Fasten im Ramadan kennt der Islam noch einige
weitere Fastentage, die teils allgemeinen, teils regionalen Charakter haben. So wird in der gesamten islamischen Welt, vor allem
aber unter den Schiiten, am Ashûrâ'-Tag, dem 10. Muharram des
73
islamischen Jahres, des Todes des Prophetenenkels Husain mit
einem Fasten gedacht.212 Auch auf die Geburtstagsfeiern von bedeutenden muslimischen Heiligen bereiten sich fromme Muslime durch Fasten vor. Das Fasten ist eine der wichtigsten Übungen
der mystischen Praxis im Islam. Von vielen islamischen Mystikern wird berichtet, dass sie intensiv gefastet haben, um so der
Vereinigung mit Gott, der Unio mystica, näher zu kommen.
Das Almosen
Wie alle anderen staatlichen Systeme kennt auch der islamische
Staat von frühester Zeit an zahlreiche Formen von Abgaben und
Steuern. An erster Stelle ist hier die den Muslimen auferlegte Pflicht
des Almosens (Zakât) zu nennen. Schon von Beginn an beinhaltete
die muslimische Frömmigkeit nicht nur den religiösen Aspekt,
der die Beziehung des Einzelnen zu Gott betraf, sondern zugleich
wurde im Koran und in den Prophetentraditionen auch auf die
Verantwortlichkeit des Gläubigen im Bezug auf seinen Nächsten
hingewiesen. Aus dieser »Solidarität« der Gläubigen untereinander entwickelten sich die obligatorische Armensteuer und das freiwillige Almosen (Sadaqa). Beide Begriffe, »Zakât« und »Sadaqa«,
werden im Koran häufig genannt und sind in diesem Text noch
austauschbar. Eine Differenzierung in »Zakât« und »Sadaqa« erfolgte erst in späterer Zeit. Die begriffliche und inhaltliche Unterscheidung ist jedoch für das Verständnis der muslimischen Frömmigkeit und Glaubenspraxis von einiger Bedeutung. Die frühe
Entwicklung der Verteilung von Almosen ist uns aus verschiedenen Quellen bekannt. Vor der Hijra ist im Koran vom Teilen des
Reichtums mit den Armen die Rede.213 Da jedoch die Mehrzahl
der Anhänger des Propheten in Mekka arm war, konnte sich nur
eine kleine Zahl von frühen Muslimen von diesen Aufforderun74
gen angesprochen fühlen. Nachdem sich die Muslime in Medina
etabliert hatten, bekam die Aufforderung zum Almosen einen realistischeren Sinn. Es entstand nun ein muslimisches Fürsorgesystem, bei dem die Gläubigen, denen es wirtschaftlich gut ging, den
ärmeren Glaubensbrüdern von ihrem Wohlstand etwas abgaben.
Welchen Umfang dieses Almosen haben sollte, sagt der Koran
nicht. »Sie fragen dich, was sie spenden sollen. Sprich: Das Entbehrliche.«214 Erst im Verlauf der Interpretation dieser Koranstelle
entstand eine Vorstellung von einem Mindestsatz, der als Pflichtalmosen zu gelten hatte. Die Höhe dieser Pflichtzahlung gehört
zu den Bereichen des islamischen Rechts, in dem besonders differenziert argumentiert und entschieden wurde. Die verschiedenen
islamischen Rechtsschulen weisen in diesem Bereich erhebliche
Unterschiede auf. Auch die Form und der Termin der Zahlungen
waren Thema dieser Erörterungen. So musste auf Getreide oder
Obst zur Erntezeit »Zakât« abgegeben werden, auf Vieh, wenn
es ein Jahr frei geweidet hatte, auf Edelmetalle nach einem vollen
Jahr des Besitzes; bei Handelswaren waren die Bestände zakätpflichtig, die sich nach Ende eines Jahres auf dem Lager befanden.
Die Höhe der »Zakât« ist ebenfalls unterschiedlich. Sie variiert
zwischen fünf und zehn Prozent. So liegt der normale Satz für
Obst und Getreide bei zehn Prozent. Falls bei der Produktion jedoch künstliche Bewässerung erforderlich ist, sinkt er auf fünf
Prozent. Die Empfänger der Erträge aus der »Zakât« werden vom
Koran in verschiedene Gruppen eingeteilt. »Die Almosen sind
bestimmt für die Armen, die Bedürftigen, die, die damit befasst
sind215, die, deren Herzen vertraut gemacht werden sollen216, die
Gefangenen, die Verschuldeten, für den Einsatz auf dem Wege
Gottes217 und für die Reisenden.«218 Die Praxis der Abgabe der »Zakät« hat sich im Lauf der historischen Entwicklung und je nach
der Region unterschiedlich gestaltet. In der Gegenwart wird die
Abgabe in einigen islamischen Ländern, z.B. Saudi-Arabien oder
75
Sudan, im Rahmen der gesamten Steuererhebungen abgeführt. In
anderen Ländern, z.B. in der Türkei oder in der muslimischen Diaspora, erfolgt die Abgabe freiwillig. Besonders im Fastenmonat
Ramadan und zu den hohen islamischen Feiertagen verteilen die
Gläubigen Almosen, wobei sich geradezu »Geschäftsbeziehungen«
zwischen Gebenden und Empfängern entwickelt haben. In diesen Fällen gibt ein Muslim stets einem bestimmten Armen eine
gewisse Geldsumme. Der entsprechende Bedürftige fordert im
Fall der Verzögerung des Almosens die übliche Summe u.U. von
dem Geber ein. Die feste religiöse Verankerung des Almosengebens hat auch dazu geführt, dass die Stellung des Bettlers in der
islamischen Gesellschaft bis in die Gegenwart hinein deutlich höher ist als in westlichen Industriegesellschaften. Ein Bettler übt
einen ehrlichen, ja einen verdienstvollen Beruf aus, da er ja dem
Muslim die Möglichkeit gibt, seiner Glaubenspflicht des Almosengebens nachzukommen. Es gehört zu den Regeln der Höflichkeit,
sich beim Bettler zu bedanken, wenn man ihm ein Almosen gibt.219
Für viele Muslime bedeutet »Zakât« darüber hinaus eine ehrwürdige Tradition, die die Einrichtung eines sozialstaatlichen Versicherungssystems um Jahrhunderte vorweggenommen habe.220
Manche sehen in ihr geradezu die Verwirklichung der Idee sozialer
Gerechtigkeit. »Zakât« und »Sadaqa« werden als »Institutionen
gegenseitiger sozialer Verantwortung« beschrieben.
Exkurs: Die Kopfsteuer (Jizya) und andere Abgaben
Christen, Juden und Zoroastrier zahlen im islamischen Staat keine »Zakât« oder »Sadaqa«. Ihnen ist die »Jizya« (Kopfsteuer) auferlegt. Dafür waren sie von der Wehrpflicht befreit. Man hat diese
Abgabe daher auch als Wehrsteuer bezeichnet. Wurden Nichtmuslime zum Kampf für den islamischen Staat herangezogen, waren
76
sie konsequenterweise für das jeweilige Jahr nicht steuerpflichtig. Die rechtliche Basis für diese Abgabe ist der Koran: »Kämpft
gegen diejenigen, die nicht an Gott und an den Jüngsten Tag glauben und nicht verbieten, was Gott und sein Gesandter verboten
haben, und nicht der Religion der Wahrheit angehören – von denen, denen das Buch zugekommen ist, bis sie von dem, was ihre
Hand besitzt, Tribut entrichten als Erniedrigte.«221 In frühislamischer Zeit wurde weder die Höhe noch die Form dieser Zahlung
festgelegt. Es wurde auch nicht geklärt, ob es sich um eine Kumulativsteuer für die jeweilige Religionsgemeinschaft oder um
eine Individualsteuer handelte. Erst unter der Herrschaft der Abbasiden (ab 750 n. Chr.) wurden von der staatlichen Verwaltung
präzise Regelungen für diese Steuer geschaffen. Sie durfte nur von
erwachsenen, gesunden, freien Männern erhoben werden. Frauen,
Alte, Invaliden oder Sklaven waren von ihr ausgenommen. Für
Fremde wie Reisende oder Kaufleute, die nicht permanent Wohnung im islamischen Staat nahmen, galt ebenfalls keine Abgabepflicht. Auch christliche Priester und Mönche brauchten diese
Steuer zunächst nicht zu entrichten. Es handelte sich also – von
Ausnahmen abgesehen – um eine Individualsteuer. Trat jemand,
der zur Zahlung der »Jizya« verpflichtet war, zum Islam über, fiel
diese Steuer weg. Die Höhe der Steuer war einkommensabhängig.
Man kann vermuten, dass es sich um ca. zehn Prozent des Jahreseinkommens handelte. Die »Jizya« war einmal im Jahr zu entrichten. Zum Beleg der Zahlung wurde eine Quittung ausgestellt. Im
Übrigen verweisen die erhaltenen Vorschriften darauf, dass bei
der Eintreibung der Steuer keine besonderen Zwangsmittel angewandt werden sollten.
Von der »Jizya« muss eine Steuer auf Landbesitz (Kharâj) unterschieden werden. Seit dem Beginn der islamischen Expansion
hatte die Administration des muslimischen Staates dafür gesorgt,
dass Verfügungen über Steuererhebungen in den eroberten Dör77
fern, Städten und Landstrichen getroffen wurden. Damit wurde
zunächst einmal die muslimische Oberhoheit und Souveränität
dokumentiert. Durch die Zahlung des »Kharâj« wurde das Besitzrecht des nichtmuslimischen Besitzers gesichert. Es handelte sich
allerdings um eine Kollektivsteuer, die von einem ganzen Dorf
entrichtet werden musste. Die Form der Zahlung war Aufgabe der
lokalen Autoritäten. Wenn sich die Einwohnerzahl eines Dorfes
veränderte, wirkte sich das nicht auf die Höhe der Steuer aus.
Vor allem in Zeiten hoher Landflucht versuchten die Behörden
auf diese Weise, die erheblichen Bevölkerungsverschiebungen zu
steuern. Da die Steuer auf das Land erhoben wurde, blieb sie auch
in voller Höhe bestehen, wenn sich ein Einzelner oder die gesamte
Einwohnerschaft eines Dorfes von ihrer alten Religion ab- und
dem Islam zuwandte. Die Höhe der Zahlungen war nach islamischem Recht von verschiedenen Faktoren abhängig. Gegenden,
in denen sich die Einwohner gegen die islamische Eroberung gewehrt hatten, wurden höher besteuert als solche, die im Rahmen
von Vertragsverhandlungen unter islamische Oberhoheit gekommen waren.222 Land, das künstlich bewässert werden musste, hatte eine niedrigere Steuerlast zu tragen als solches, bei dem dieser
Aufwand nicht notwendig war. Die Höhe der Steuer hing darüber hinaus von der Fruchtbarkeit des Bodens ab, die durch mehrjährige Beobachtung ermittelt wurde. Bei Missernten konnte die
Steuer reduziert oder ganz erlassen werden. Mit der wachsenden
Bedeutung der Geldökonomie durfte der »kharâj« nicht mehr in
Naturalien abgeliefert werden. Aus dieser Bestimmung ergab sich
für die Bauern eine Vielzahl von Problemen, die letztendlich eine
Verarmung der ländlichen Bevölkerung zur Folge hatte.223
Neben den genannten Abgaben entwickelte der islamische Staat
im Laufe der Zeit verschiedene weitere Steuerformen, die allerdings von vielen frommen Muslimen und auch von muslimischen
Rechtsgelehrten strikt abgelehnt wurden. Zu diesen Steuern ge78
hören Handelsabgaben wie »Ushr« und »Maks«, die bis zu dreißig
Prozent des Warenwerts betragen konnten. Unter islamrechtlichen
Gesichtspunkten konnten sie noch akzeptiert werden, sofern sie
als eine Art von Außenhandelszoll erhoben wurden. Sie wurden
aber auch innerhalb der islamischen Herrschaft erhoben, und zwar
an Zollstationen, die entlang der Handelsstraßen eingerichtet worden waren. Ebenso hatten Gewerbetreibende eine Steuer auf ihre
Produkte zu entrichten. Weitere Einkommensquellen ergaben sich
für den Staat aus Geldstrafen, Quittungsgebühren, Fischereiabgaben, Geschenken zu Beginn eines Jahres, Mühlengebühren, Gebühren für öffentliche Bäder, für Ölpressen usw. Besonders feindlich waren die Frommen und Rechtsgelehrten einer Duldungsabgabe
(Damân) gegenüber eingestellt. Einrichtungen wie Weinlokale und
Bordelle, in denen gegen wichtige Vorschriften des islamischen
Rechts und der islamischen Ethik verstoßen wurde, konnten nur
existieren, weil die staatlichen Stellen von den Betreibern beträchtliche Summen erhielten und ihnen dafür öffentlichen Schutz vor
Aktionen von erzürnten Muslimen boten. Wenn mittelalterliche
muslimische Historiker die besondere Frömmigkeit eines Herrschers betonen wollten, wiesen sie gern darauf hin, dass in seiner
Regierungszeit Steuern, die keine religiöse Grundlage hatten, abgeschafft worden waren.224
Während die verschiedenen bislang genannten Abgaben in der
gesamten islamischen Welt üblich waren oder noch sind, kennt
der schiitische Islam noch eine spezielle Form, den »Khums«. Während die sunnitische Mehrheit den Koranvers »Und wisst: Wenn
ihr etwas erbeutet, so gehört ein Fünftel davon Gott und dem Gesandten und den Verwandten, den Waisen, den Bedürftigen, den
Reisenden«225 lediglich auf Kriegsbeute bezog, wird er bis heute
von schiitischen Gelehrten auf jeglichen ökonomischen Gewinn
eines Muslims bezogen; er ist damit eine Einkommenssteuer. Er
wurde, wie es der angeführte Koranvers vorschreibt, in fünf Teile
79
aufgeteilt. Je ein Teil ist für die Waisen, Bedürftigen bzw. Reisenden und Mitglieder der Prophetenfamilie reserviert, der Rest wird
als »Sahm-i Imâm« (Anteil des Imam) bezeichnet und kommt seit
dem 19. Jahrhundert den höchsten schiitischen Rechtsgelehrten
zugute. Neben den Einkünften aus »frommen Stiftungen« (Waqf)
und den Gebühren aus ihren notariellen Funktionen besitzen die
schiitischen Gelehrten damit eine dritte, vom Staat unabhängige
Einkommensquelle, die sie lange Zeit vor staatlichem Druck sicherte. Darüber hinaus kassieren sie z.B. im Irak den »Radd Mazâlim«, eine Summe Geldes, das diejenigen zahlen, die im Staatsdienst stehen, was strikte Schiiten eigentlich nicht tun sollten, da
dieser Arbeitgeber als illegitim angesehen wird. Schließlich sei
noch die Abgabe »Saum wa Salat« genannt, mit der Personen für
Gebet und Fasten bezahlt werden, die sie für andere verrichten.
Die Pilgerfahrt
Während die bisher beschriebenen Glaubenspflichten der Muslime sich im Verlauf des Tages oder des Jahres wiederholen, ist
die Pilgerfahrt (Hajj) eine Pflicht, die sie nur einmal in ihrem Leben erfüllen müssen, wobei es jedoch als verdienstvoll angesehen
wird, wenn man ihr mehrmals nachkommt. Jeder Muslim, der
dazu körperlich und finanziell in der Lage ist, muss in den ersten
beiden Wochen des Pilgermonats Dhu l-Hijja die heiligen Stätten
des Islams in Mekka und dessen Umgebung aufsuchen und dort
verschiedene, genau vorgeschriebene Riten vollziehen. Die heiligen Stätten dürfen ausschließlich von Muslimen betreten werden.
Die einzelnen Teile des komplizierten Rituals sind durch das Vorbild des Propheten Muhammad vorgegeben, der diese vor allem
bei seiner Abschiedswallfahrt praktiziert hat.226 Doch gab es sicherlich Vorbilder im vorislamischen arabischen Wallfahrtswesen.227
80
Eine derartige Reise bedeutet für viele Muslime eine erhebliche Belastung. In Zeiten von weniger entwickelten Kommunikations- und Transportwegen waren derartige Unternehmen mit
Abenteuern und erheblichen Risiken für Leib und Leben der Pilger verbunden. Das islamische Recht fordert daher, dass eine Reihe von Voraussetzungen erfüllt sein muss, ehe sich jemand zu
dieser Reise aufmacht. So dürfen keine Personen zurückgelassen
werden, denen gegenüber er unterhaltspflichtig ist, also unmündige Kinder oder hilflose Eltern. Eventuelle Schulden müssen bezahlt und auch ein Testament verfasst sein. Erst dann kann mit
den eigentlichen Reisevorbereitungen begonnen werden. Ist man
körperlich nicht mehr in der Lage, die Strapazen der Reise zu ertragen, oder fehlt es an dem nötigen Geld, um die Kosten der Pilgerfahrt zu decken, besteht diese Glaubenspflicht nicht mehr. Falls
der körperliche Zustand eines Gläubigen die Pilgerfahrt nicht zulässt, kann ein anderer Gläubiger beauftragt werden, die Reise
stellvertretend zu unternehmen. Der Stellvertreter muss die Wallfahrt aber zuvor schon für sich selbst durchgeführt haben.228
Rituelle Voraussetzung des Pilgers für die Durchführung der
Pilgerfahrt ist die Einnahme eines Weihezustandes (Ihrâm). Vor
dem Beginn der Pilgerfahrt wird eine rituelle Waschung vorgenommen und der Pilger schneidet sich Haare und Nägel. Wenn
die Anreise zu den heiligen Stätten mehrere Wochen oder Monate dauerte, mussten diese Vorgänge natürlich wiederholt werden.
In einiger Entfernung von Mekka oder heute vor dem Besteigen
des Flugzeugs legen die Pilger eine spezielle Kleidung an. Sie besteht für Männer aus zwei ungesäumten weißen Tüchern und
Sandalen. Dazu tragen sie häufig noch eine Umhängetasche und
führen einen Stock mit sich. Für die Kleidung der Pilgerinnen bestehen keine speziellen Vorschriften.229 Mit der Einnahme des Status des »ihrâm« ist eine Anzahl von Verhaltensnormen verbunden.
Die Pilger dürfen sich nicht streiten, keine gesäumten Kleider
81
tragen, nicht jagen, kein Parfüm verwenden, müssen sich des Sexualverkehrs enthalten und dürfen sich weder Haare noch Nägel
schneiden. Nach muslimischer Auffassung symbolisiert der Weihezustand die Trennung des Muslims von der profanen Welt und
seinen Wunsch, mit Gott allein zu sein. Die einheitliche Kleidung
verwischt alle sozialen und wirtschaftlichen Unterschiede und
dokumentiert die Einheit und Einheitlichkeit der islamischen
Welt. Da das Ritual sehr umfangreich und kompliziert ist, stehen
in Mekka spezielle Pilgerführer bereit, die den unerfahrenen Wallfahrern behilflich sind.
Nach der Ankunft in Mekka beginnt zunächst der individuelle
Teil der Pilgerfahrt. Der Pilger besucht die Kaaba, die er bei dieser Gelegenheit siebenmal umwandert. Während dieser Ambulation küsst er einmal den schwarzen Stein, der in der Ostwand der
Kaaba eingemauert ist. Dabei handelt es sich um einen Meteoriten,
der schon in vorislamischer Zeit verehrt wurde. Nach der muslimischen Überlieferung war er zunächst weiß und ist durch die
Sünden der Menschen, die ihn berührt haben, schwarz geworden.
Danach bewegt sich der Pilger eiligen Schrittes oder laufend siebenmal zwischen den beiden Hügeln Safa und Marwa hin und her.
Dieser Teil des Rituals erinnert an die Suche der Hagar nach Wasser für ihren Sohn Ismael. Damit wird die geistige Verbindung zum
so verstandenen Urmonotheismus Abrahams (arabisch: Ibrahîm)
hergestellt und an Ismael, den Stammvater der Araber, erinnert.230
Nun endet der individuelle Teil der Pilgerfahrt und der kollektive Teil beginnt. Während der individuelle Teil zu einem beliebigen Zeitpunkt in den dafür vorgesehenen Wochen stattfinden
kann, muss die kollektive Phase zwischen dem achten und dem
zwölften Tag des Pilgermonats durchgeführt werden. Nach einem
Gottesdienst in der großen Moschee von Mekka begeben sich die
Pilger in kleinen Gruppen in ein Wüstental, teilweise zu Fuß, heute aber zum Teil auch mit modernen Verkehrsmitteln. Am 9. Dhu
82
l-Hijja gelangen sie zu dem Berg Arafat, etwa 25 Kilometer von
Mekka entfernt. Vor diesem Berg findet der zentrale Ritus der
Pilgerfahrt statt. Mit dem Ruf »labaika« (Da bin ich) stellt sich der
Gläubige ganz unter die Allgewalt Gottes. In Gebet und Meditation verbringt der Pilger die Zeit vom Mittag bis zum Sonnenuntergang in der Zwiesprache mit seinem Herrn. Allgemein wird
der hohe Grad emotionaler Bewegung und die völlige Hingabe der
Gläubigen geschildert, der sich wohl kaum ein Teilnehmer entziehen kann. Nach Sonnenuntergang begeben sich die Pilger
dann möglichst schnell wieder auf den Rückweg. Die Nacht verbringen sie an einem Ort mit dem Namen Muzdalifa. Am Morgen
des 10. Dhu l-Hijja geht es dann weiter nach Mina, wo sie sich
drei Tage lang aufhalten und in Zelten untergebracht sind. An dem
ersten dieser Tage begehen die Pilger das Ritual des Steinewerfens.
Von jedem Pilger werden sieben Steine – es können auch Sandalen sein – auf eine säulenartige Steinkonstruktion geworfen, die
nach der Vorstellung der Muslime den Teufel symbolisiert. Danach findet das Opfer statt, das diesem Tag seinen Namen (arabisch: îd al-adhâ, türkisch: kurbân bayram) gegeben hat. Dieser
Tag ist nicht nur ein besonderer Tag für die Pilger, sondern für
die gesamte islamische Welt. In Mina schlachten die Tausende
von Pilgern je ein Schaf oder eine Ziege in Erinnerung an das Opfer Abrahams. Ein Teil des Opfertiers wird von den Pilgern selbst
verspeist, ein anderer den Armen gegeben und der Rest sich selbst
überlassen. Das gleiche Opfer wird auch in allen muslimischen
Familien in der ganzen Welt vollzogen, die dazu in der Lage sind.
Nach dem Opfer lässt man sich üblicherweise rituell rasieren oder
die Haare schneiden und kehrt dann nach Mekka zurück, wo man
wiederum die Kaaba umkreist. Mit dieser Handlung ist die eigentliche Wallfahrtszeremonie beendet. Viele Pilger kehren dann
aber noch einmal nach Mina zurück, um erneut Steine auf die
Steinsäulen und andere Steinsetzungen zu schleudern, sich gegen83
seitig Besuche abzustatten und ein reges soziales Leben zu entfalten. Vom 12. Dhû l-Hijja an können die Pilger Mina wieder verlassen und nach Mekka zurückkehren. Bevor sie die Stadt dann
endgültig verlassen, umkreisen sie noch einmal, das Beispiel des
Propheten nachahmend, die Kaaba. Viele Muslime nutzen die Gelegenheit, in Mekka auch andere ihnen heilige Orte zu besuchen,
die z.B. an den Propheten erinnern oder die in der islamischen
Religionsgeschichte von besonderer Bedeutung sind. Die Mehrzahl der Pilger reist auch nach Medina, um das Grab des Propheten zu besuchen. Diese Besuche sind allerdings nicht obligatorisch
für die eigentliche Pilgerfahrt.231
Die religiöse Bedeutung der Pilgerfahrt liegt in der Betonung
des Monotheismus als der zentralen Doktrin des Islams. Um dieses
Einen Gottes willen unternehmen die Muslime die oft beschwerliche Reise; ihn als den Einzigen bitten sie um die Vergebung ihrer Sünden und erflehen seine Gnade für sich und ihre Familien.
Da die Pilgerfahrt nach dem Vorbild der vergleichbaren Handlungen des Propheten Muhammad vollzogen wird, erinnern sich
die Gläubigen natürlich bei allen ihren Handlungen in dieser Zeit
ganz besonders intensiv an die Gestalt ihres Religionsstifters. Mit
der Pilgerfahrt ist eine ganze Reihe von Konsequenzen verbunden,
die über den religiösen Bereich weit hinausgehen. Bei diesem Ritus werden zunächst die egalitären Tendenzen des Islams besonders betont und sichtbar gemacht. Im Zustand der Weihe ist jeder
ungeachtet seiner sozialen oder wirtschaftlichen Stellung grundsätzlich gleich. Diese Gleichheit im Islam – unabhängig von der
Hautfarbe oder Nationalität – findet hier ihre stärkste Manifestation.232 Zugleich sind die sozialen, wirtschaftlichen, politischen
und kulturellen Implikationen der Pilgerfahrt kaum abzuschätzen. Im Unterschied zu den unklaren Pilgerzügen mittelalterlicher christlicher Schwärmer in Europa, die einen stark kollektivistischen Charakter hatten, ist die Entscheidung für den Hajj
84
individuell und freiwillig. Es handelt sich in jedem Fall um einen
persönlichen Akt, der einer persönlichen Entscheidung folgt, die
die Folge einer weiten Skala von persönlichen Erfahrungen ist.
Die Pflicht zur Pilgerfahrt hat zu einer physischen Mobilität in islamischen Gesellschaften geführt, die für vorindustrielle,
aber auch industrielle Gesellschaften völlig ungewöhnlich war.
Sie hatte vielfältige soziale, wirtschaftliche und intellektuelle,
aber auch politische Folgen. Zu diesen Konsequenzen gehörte die
Aufrechterhaltung von Kommunikationswegen zwischen den verschiedenen, weit voneinander entfernten islamischen Ländern
und die frühe Entstehung der Gattung der Reiseliteratur in verschiedenen islamischen Sprachen.233 Teilweise verdienten die Pilger die Reisekosten durch Handelstätigkeit, wobei nicht immer
deutlich wurde, ob die wirtschaftlichen oder religiösen Motivationen im Vordergrund des Interesses standen.234 Die Wegenetze
der Pilger- und der Handelskarawanen waren in der Regel identisch. Die hohe Mobilität brachte und bringt durch den Kontakt
mit Muslimen aus anderen Ländern und Völkern die Erfahrung
der muslimischen Einheit in der Vielfalt mit sich. Für Muslime aus
Randgebieten der islamischen Welt, die in ihrer Heimat oft eine
Minderheit bilden, bedeutet die Erfahrung des Eingebundenseins
und der Zugehörigkeit zu einer großen, weltumspannenden Gerneinschaft eine Stärkung ihres religiösen und persönlichen
Selbstvertrauens. Daneben lernen sie – und nicht nur sie – den Islam in einer nicht durch lokale oder regionale Einflüsse veränderten Form kennen. Mit dieser Erfahrung eines »reinen« Islams
kehren sie in ihre Heimatländer zurück und versuchen dann, ihren
einheimischen Glaubensgenossen die nun als orthodox verstandene Form des Islams nahe zu bringen. Die verschiedenen islamischen Reformbewegungen des 19. Jahrhunderts in so verschiedenen Teilen der islamischen Welt wie Westafrika und dem
hinterindischen Inselgebiet sind ohne die Intensivierung der Pil85
gerfahrten nicht denkbar.235 Die Konzentration einer Vielzahl von
Menschen zu einem festgelegten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort hat auch eine Anzahl von politischen Implikationen. Hüter der heiligen Stätten zu sein war und ist im Islam mit einem
beträchtlichen Prestige verbunden. Seit der Auflösung der staatlichen Einheit der islamischen Welt haben Herrscher immer wieder versucht, ihren Anspruch auf eine allumfassende Autorität
über die muslimische Weltgemeinschaft auch mit der Kontrolle der
Pilgerstätten zu dokumentieren.236 Die Tatsache, dass eine große
Anzahl von Muslimen – in den vergangenen Jahren jeweils ein
bis zwei Millionen Menschen – zu einem bestimmten Zeitpunkt
an den Pilgerstätten versammelt ist, hat zu Bemühungen geführt,
sie bei dieser Gelegenheit mit religiösen oder politischen Vorstellungen bekannt zu machen und sie für diese neuen Denkansätze
als Multiplikatoren zu gewinnen. Dadurch entstehen auch immer wieder Spannungen innerhalb der Pilgerschar und zwischen
Einzelnen von ihnen und den Behörden, die für den reibungslosen und störungsfreien Verlauf der Zeremonien Sorge zu tragen
haben. Kommt es zu Zwischenfällen, wird dies auch denjenigen,
die die politische Kontrolle über die heiligen Stätten innehaben,
zur Last gelegt und bedeutet einen beträchtlichen internationalen Prestigeverlust.
Die Organisation der Pilgerfahrt stellt angesichts der großen
Zahl an beteiligten Personen eine enorme organisatorische und
logistische Herausforderung dar, die auch zu einer Flexibilisierung der rituellen Vorschriften geführt hat. Seit Mitte der Siebzigerjahre des 20. Jahrhunderts gibt es das so genannte Hajj-Büro,
eine Institution, die die verschiedenen mit der Pilgerfahrt verbundenen praktischen Probleme analysiert und Lösungsvorschläge
erarbeitet. Dabei kommt es zu teilweise erstaunlich unkonventionellen Ergebnissen. So wird die Dauer des Hin- und Herlaufens
zwischen den Hügeln Safa und Marwa durch die Installation von
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Laufbändern verkürzt, die auf mehreren Ebenen übereinander
verlaufen. Da die Bereitstellung von Opfertieren problematisch ist
und deren weitere Verwertung alle Dimensionen sprengt, ist man
inzwischen dazu übergegangen, an die Pilger Zertifikate zu verkaufen, die den Wert eines Opfertiers haben. Eine Schlachtung
findet nicht mehr statt und die eingenommenen Mittel werden
karitativen Zwecken zugeführt. Diejenigen Muslime, die die Pilgerfahrt vollzogen haben, erwerben neben den spirituellen Erfahrungen auch ein hohes Maß an Sozialprestige in ihren Gesellschaften. Sie werden heute von vielen Verwandten und Bekannten
zu den Abflughäfen der Pilgerflugzeuge begleitet und ebenso feierlich wieder in Empfang genommen. Anschließend werden große Willkommensfeste veranstaltet. In einigen Ländern werden die
Häuser der Pilger mit Malereien geschmückt, die auf die Tatsache
der Pilgerfahrt hinweisen.237 Nach ihrer Fahrt werden die Pilger
oder Pilgerinnen mit dem Ehrentitel »Hâjji« oder »Hâjja« angeredet. Ihre Äußerungen vor allem in religiösen Angelegenheiten
werden besonders ernst genommen und sie haben ein herausragendes Ansehen, unabhängig von ihrem Alter, Geschlecht oder
ihrer wirtschaftlichen Situation.
Der Dschihad
Der Terminus »Dschihad« ist einer der am häufigsten mit den gegenwärtigen populären Beschreibungen des Islams in Verbindung
gebrachten Begriffe. Häufig wird er mit der Formulierung »Heiliger Krieg« wiedergegeben. Für den Islam stellt der Dschihad
zunächst die einzige erlaubte Form militärischer Auseinandersetzungen dar. Er darf nur gegen Nichtmuslime geführt werden.
Kriege unter Muslimen oder zwischen muslimischen Staaten gestattet das islamische Recht nicht.238 Islamische Gelehrte führen
87
bis in die Gegenwart lebhafte Diskussionen darum, ob der Dschihad eine religiöse Pflicht wie das Gebet oder das Fasten ist oder
ob er nicht zu den »Säulen des Islams« gehört. An zahlreichen
Stellen des Korans ist vom Dschihad die Rede. So heißt es etwa:
»Wenn die heiligen Monate abgelaufen sind, dann tötet die Polytheisten, wo immer ihr sie findet, belagert sie und lauert ihnen
auf jedem Wege auf. Wenn sie umkehren, das Gebet verrichten
und die Abgaben entrichten, dann lasst sie ihres Weges ziehen.«239
Und weiter: »Gott hat von den Gläubigen ihre eigenen Personen
und ihr Vermögen dafür gekauft, dass ihnen das Paradies gehört,
insofern sie auf dem Wege Gottes kämpfen und so töten oder
getötet werden. Das ist ein Ihm obliegendes Versprechen.«240 Wie
diese Feststellungen des Korans im Einzelnen interpretiert werden, ist ein Thema, mit dem sich die Gelehrten immer wieder auseinander setzen. Die islamischen Rechtsgelehrten beschrieben in
ihrer Mehrheit als Ziel des Dschihad zunächst die Verteidigung
der Muslime gegen Angriffe von außen und die Verbreitung des
Islams mit Waffengewalt. In den im Koran angesprochenen Auseinandersetzungen mit den Polytheisten, den Einwohnern der
Stadt Mekka, war das Ziel durchaus auch eine zwangsweise Bekehrung zum Islam. Wer sich dem verweigerte, wurde getötet oder
versklavt. Doch schon hier begannen sich die Geister zu scheiden. Muslimische Gelehrte sind heute überwiegend der Meinung,
dass mit der Verbreitung des Islams die Ausbreitung eines politischen und juristischen Systems gemeint ist, nicht etwa die Verbreitung einer religiösen Überzeugung. Nach dem ebenfalls im
Koran zu findenden Satz »Es gibt keinen Zwang in der Religion«241 verzichtete man auf Zwangsbekehrungen. Vor allem stellt
der Koran fest, dass die Angehörigen der so genannten Buchreligionen nicht unter Zwang zum Islam bekehrt werden dürfen. Sie
werden zur Abgabe der »Jizya« verpflichtet, genießen aber im Übrigen Religions- und Ritualfreiheit.
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Zunächst war der Dschihad als religiöse Pflicht aller Muslime
verstanden worden.242 An einer Stelle wird er mit dem Gottesdienst
der christlichen Mönche verglichen. »Dschihad ist das Mönchtum im Islam.«243 Der Dschihad wird als eines der »Tore zum Paradies« betrachtet. Diejenigen Muslime, die im Dschihad ihr Leben
lassen, sind Märtyrer des Glaubens. Es können aber auch Nichtmuslime, die unter islamischer Herrschaft leben, zum Dschihad
aufgerufen werden. Seit der Etablierung der ersten islamischen
Dynastien im 6. Jahrhundert wurde der Dschihad dann die besondere Verpflichtung der islamischen Herrscher, der Kalifen. Daraus entwickelte sich dann ein Konzept, nach dem der Dschihad
als kollektive Pflicht der gesamten islamischen Gemeinschaft angesehen wurde. Pflicht des einzelnen Muslims war er nur noch
insofern, als jener seinen Beitrag dazu leisten musste, dass der
Kampf überhaupt durchgeführt werden konnte. Selbst in den
Kampf zu ziehen gehörte nicht mehr zu den Glaubenspflichten.
Auch betonen die islamischen Rechtsgelehrten immer wieder, dass
die Ausbreitung des Islams nicht notwendigerweise durch militärische Mittel erfolgen sollte. Auch die friedliche Verbreitung
seiner Lehren und Praktiken durch Predigt, Vorbild und geduldige Überzeugungsarbeit wird nun als eine Form von Dschihad
verstanden. Bei einigen Theoretikern des Dschihad findet man in
diesem Zusammenhang die Formulierung »Krieg der Worte«. Die
Pflicht zum Dschihad kann erfüllt werden durch das Herz, die
Zunge und die Hände, aber eben auch durch das Schwert. Der
Gläubige erfüllt die Glaubenspflicht des Dschihad durch das Herz,
indem er sich bemüht, den Teufel zu bekämpfen und sich gegen
dessen Verführungen zum Bösen zur Wehr zu setzen. Der Dschihad der Zunge und der Hände besteht darin, dass der Gläubige
das Gute befördert und das Böse zu verhindern sucht. Der Dschihad des Schwertes schließlich ist der militärische Kampf unter
Aufopferung des eigenen Besitzes und sogar des Lebens. Alles in
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allem sehen die Gelehrten den Dschihad als eine Form religiöser
Propaganda, in der sowohl spirituelle als auch materielle Mittel angewendet werden können.
Mit der Auflösung eines islamischen Einheitsstaates und der
Ausbreitung des Islams in weite Teile Afrikas und Asiens ergaben
sich Konsequenzen auch für die Lehre vom Dschihad. Es kam zu
einer Regionalisierung der Verpflichtung dieser Glaubenspflicht,
die den damaligen Kommunikationsbedingungen entsprach, aber
auch den im Inneren der verschiedenen islamischen Staaten gegebenen Verhältnissen, die häufig durch widerstreitende wirtschaftliche und gesellschaftliche Kräfte gekennzeichnet waren. Das islamische Recht formulierte in etwa die folgende Lösung: Falls
eine genügend große Gruppe von Muslimen sich zusammenfindet,
um den Bedingungen eines speziellen lokalen oder regionalen
Konflikts zu begegnen, besteht für die übrigen Muslime der Welt
keine Verpflichtung mehr, sich an dieser Auseinandersetzung zu
beteiligen. Die individuelle Pflicht zum Dschihad obliegt vielmehr
denen, die sich einem Feind am nächsten gegenübersehen. Je stärker allerdings die Zahl der unabhängigen islamischen Emirate,
Sultanate oder Fürstentümer anwuchs, umso schwieriger war die
Frage zu beantworten, wer das Recht hatte, festzustellen, dass die
Notwendigkeit zum Dschihad bestehe. Die Mehrheit der muslimischen Rechtsgelehrten sah dieses Recht bzw. diese Pflicht bei
dem jeweiligen Herrscher. Daraus schlossen sie, dass der Dschihad für den Herrscher, im Gegensatz zu den Untertanen, eine individuelle Pflicht wie das Gebet oder das Fasten im Ramadan sei.
Die Ausrufung des Dschihad durch den Herrscher, der Eroberungen zum Ziel hatte, war freilich mit einer Reihe von genau festgelegten Voraussetzungen verbunden, die ein ausgesprochen
hohes Maß an Realitätssinn zeigen. Zu ihnen gehört, dass die militärischen und strategischen Bedingungen vorhanden sein mussten, die ein deutliches Indiz für einen erfolgreichen Ausgang des
90
Unternehmens darstellten. War der Feind bereit, eine entsprechende Summe zu zahlen, konnte vom Dschihad auch abgesehen
werden. Auch aus dieser Regel wird deutlich, dass es im Dschihad des Mittelalters nicht in erster Linie um die »Ausbreitung des
Islams« als Glaube, sondern um die Ausbreitung der Herrschaft
der Muslime, also um politische, wirtschaftliche oder strategische
Ziele ging, die mit religiösen Fragen im Grunde nur wenig zu tun
hatten, ja häufig nicht mehr als eine ideologische Basis für machtpolitische Überlegungen bildeten. Die Verpflichtung zum Dschihad ist andererseits auch immer mit einer gewissen eschatologischen Tendenz verbunden gewesen. Der Muslim ist erst dann nicht
mehr an diese Pflicht gebunden, wenn alle Menschen sich zum
Islam bekehrt oder die vorgeschriebenen Unterwerfungsgesten
und -praktiken vollzogen haben. Erst dann kann auch das Ende
der Welt eintreten. Heute ist im Zusammenhang mit dem Dschihad auch von apokalyptischen Vorstellungen die Rede. So kann
man derzeit z.B. in Ägypten oder Pakistan an Tankstellen oder
bei fliegenden Buchhändlern Pamphlete oder Flugschriften kaufen, denen zufolge das Ende der Welt unmittelbar bevorsteht. Messianische Wehen werden allenthalben gespürt. Dies zeigt, dass
Dschihad-Vorstellungen als islamische Glaubenspflicht auch in
der Gegenwart eine beträchtliche Rolle spielen.
Ethische Regeln
Neben den rituellen Verpflichtungen beinhaltet der Koran weitere Regeln, die in einem islamischen Duodekalog zusammengefasst sind. Dieser findet sich im Wortlaut auf S. 50 f.
Betrachtet man diese zwölf Gebote, so steht am Anfang das Gebot des Monotheismus, das dem Schöpfer gegenüber Gehorsam
fordert. Dieser drückt sich auch in Demut aus: »Gott liebt nicht
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die, die hochmütig sind«244, außerdem in Dankbarkeit: »Gott wird
es den Dankbaren vergelten«245. Gegenüber dem unerforschlichen
Ratschluss Gottes soll der Mensch Geduld und Beharrlichkeit an
den Tag legen: »O ihr, die ihr glaubt, seid geduldig und miteinander standhaft und einsatzbereit. Und furchtet Gott, auf dass es
euch wohl ergehe.«246 Im Umgang mit dem Namen Gottes247 gebietet der Koran Ehrfurcht: »Und macht Gott nicht bei euren
Eiden zu einem Hinderungsgrund, Pietät zu üben und gottesfürchtig zu sein.«248 Dann wird das richtige Verhältnis des Menschen zu seinen Mitmenschen beschrieben, das man unter die
beiden Normen der Gerechtigkeit und der Solidarität subsumieren kann. Gerechtigkeit wirkt sich in allen Lebensbereichen aus.
Dabei fällt auf, wie ausführlich sich der Koran in diesem Zusammenhang mit dem Wirtschaftsleben befasst. Über die im Duodekalog angesprochenen Themen hinaus spielt ein Sachverhalt eine
herausragende Rolle: das Zinsverbot. »O ihr, die ihr glaubt, fürchtet Gott, und lasst künftig, was an Zinsnehmen anfällt, bleiben, so
ihr gläubig seid. Wenn ihr es nicht tut, so erwartet Krieg von Gott
und seinem Gesandten.«249 Auch das korrekte Verhalten gegenüber Verwandten, Armen und Reisenden wie der Respekt gegenüber fremdem Eigentum können als Teil der Verpflichtung zur
Gerechtigkeit betrachtet werden. Die Solidarität der Muslime
verlangt von den Gläubigen, dass sie untereinander Großmut walten lassen, freundlich zueinander sprechen250 und Vergebung und
Nachsicht üben.251 Besonders hervorzuheben ist auch, dass der
Koran die Muslime auffordert, Böses mit Gutem zu vergelten:
»Nicht gleich sind die gute und die schlechte Tat. Wehre mit einer Tat, die besser ist, dann wird der, zwischen dem und dir eine
Feindschaft besteht, so, als wäre er ein warmherziger Freund.«252
Auch die Aufforderung, Frieden zu stiften und für die Versöhnung von Feinden zu sorgen, hängt mit der Bedeutung der Solidarität zusammen. Jemanden zu verspotten wird vom Koran als
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ein Verstoß gegen das Solidaritätsgebot aufgefasst.253 Vor allem
aber spielt das Verhalten gegenüber dem Nächsten eine Rolle.
»Frömmigkeit besteht nicht darin, dass ihr euer Gesicht nach Osten oder nach Westen wendet. Frömmigkeit besteht darin, dass
man an Gott, den Jüngsten Tag, die Engel, das Buch und die Propheten glaubt, dass man, aus Liebe zu ihm, den Verwandten, den
Waisen, den Bedürftigen, dem Reisenden und den Bettlern Geld
zukommen lässt und es für den Loskauf der Sklaven und Gefangenen ausgibt und dass man das Gebet verrichtet und die Abgaben entrichtet.«254 Die besondere Bedeutung des menschlichen
Lebens wird an einem Satz des Korans deutlich, dessen Parallele
zu jüdischen Formulierungen offenbar ist: »Wenn einer jemanden tötet, jedoch nicht wegen eines Mordes oder weil er auf Erden Unheil stiftet, so ist es, als hätte er die Menschen alle getötet.
Und wenn jemand ihn am Leben erhält, so ist es, als habe er die
Menschen alle am Leben erhalten.«255
Ausführlich nimmt der Koran auch Stellung zu Fragen des Sexualverhaltens. Er steht der Sexualität positiv gegenüber: »Und
es gehört zu Seinen Zeichen, dass Er euch aus euch selbst Gattinnen erschaffen hat, damit ihr bei ihnen wohnet. Und Er hat Liebe
und Barmherzigkeit zwischen euch gemacht.«256 Der Geschlechtsverkehr ist jedoch nur Eheleuten gestattet. Im Übrigen gebietet
der Koran sexuelle Enthaltsamkeit. Verstöße gegen diese Vorschrift gelten als Unzucht (Zinnâ) und werden bestraft. Allerdings
sind, wie bereits erwähnt, vier Zeugen erforderlich, um den Vorgang zu bestätigen. Homosexualität ist verboten. Gleiches gilt für
Prostitution. Angesichts der Konzentration sexueller Aktivitäten
auf die Ehe ermuntert der Koran die Muslime, alle heiratsfähigen
Männer und Frauen zu verheiraten.257 Zölibatäre Lebensformen
werden vom Islam abgelehnt. Häufig fordert der Koran die Muslime zu einem wahrheitsgemäßen Verhalten auf. Lügen, Heuchelei,
Unaufrichtigkeit, aber auch üble Nachrede werden abgelehnt.258
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Die Pflicht zur Wahrheit gilt übrigens nicht nur gegenüber Muslimen, sondern auch gegenüber den Angehörigen anderer Glaubensgemeinschaften.
Die verschiedenen Handlungen des Menschen werden vom Islam entsprechend eingeschätzt. Es gibt Handlungen, die zu den
Pflichten des Menschen gehören, wie das Gebet oder das Almosen. Verstöße gegen diese Pflichten werden entweder von Gott
oder auch von den Menschen bestraft. Diese Handlungen werden
als »notwendig« (Wâjib) bezeichnet. Andere werden empfohlen.
Dabei kann es sich um zusätzliche Gebete handeln oder ein besonders freundliches Verhalten gegenüber den Mitmenschen. Ein
solches Verhalten wird als »schön« (Hasan) bezeichnet. Wer sich
nicht entsprechend verhält, lädt keine Schuld auf sich und wird
nicht bestraft. Er wird jedoch umgekehrt für solche Handlungen
von Gott belohnt. Wieder andere Handlungen werden als erlaubt (Mubâh) betrachtet. Sie sind ethisch neutral. Ferner gibt es
Handlungen, die missbilligt werden (Makrûh). Wer solche Handlungen meidet, wird von Gott belohnt. Sie stehen allerdings nicht
unter Strafe. Schließlich gibt es Handlungen, die verboten (harâm)
sind. Sie dürfen nicht begangen werden. Geschieht das dennoch,
so drohen dem Menschen göttliche Strafen und darüber hinaus
solche, die von Menschen ausgesprochen und vollstreckt werden.
Islamische Eschatologie
Nach muslimischer Vorstellung werden alle Taten des Menschen
von Gott zur Kenntnis genommen. Sie werden in großen Kontobüchern notiert. Gott wird als der große »Rechner« bezeichnet,
der die guten und die schlechten Taten des Menschen gegeneinander abwägt. Schlechte Taten können durch gute ausgeglichen
werden. Es kommt für den Menschen darauf an, dass er zum En94
de seines Lebens oder am Jüngsten Tag einen »positiven Saldo«
hat. Vor allem die frühen mekkanischen Suren sind von endzeitlichen Vorstellungen geprägt. Der Glaube an das Jüngste Gericht
wird als ein zentrales Moment des islamischen Dogmas betrachtet. Alle Menschen werden von den Toten auferweckt und müssen vor dem Richterthron Gottes erscheinen, um sein gerechtes
und endgültiges Urteil entgegenzunehmen.259 Es gibt nur zwei
Entscheidungen, nämlich den Eingang in das Paradies (u.a. »Janna«,
Garten) oder die Verdammung zum ewigen Verbleib in der Hölle
(u.a. »Nâr«, Feuer). Das Paradies wird als ein Garten vorgestellt,
in dem Bäume mit den schönsten Früchten wachsen, den Flüsse
mit den schönsten Getränken durchfließen und in dem Paradiesjungfrauen und Paradiesjünglinge den Seligen aufwarten.260 In der
Hölle dagegen werden die Verdammten gnadenlos einer grauenvollen Pein ausgeliefert, wobei das Feuer stets eine besondere
Rolle spielt. Da ist von loderndem Feuer die Rede, »dessen Brennstoff die Verdammten sind«261. Seine Hitze, die niemals nachlässt,
verschont nichts.262 Die Speisen und Getränke in der Hölle sind
»wie geschmolzenes Erz« und »wie heißes Wasser«.263 Die Kleidungsstücke der Verdammten bestehen aus flüssigem Kupfer und
aus Teer. Daneben ist von verschiedenen Marterwerkzeugen wie
Fesseln, Ketten und Eisenstöcken die Rede. Diese Qualen hören
zumindest für die Ungläubigen nie auf.264
95
6. Das islamische Recht
Kaum ein Begriff wird von westlichen Beobachtern des Islams so
häufig missverstanden wie der des islamischen Rechts, der Scharia. Dabei wird ein Teil dieses komplizierten Systems, nämlich
die Kapitalstrafen, mit dem Ganzen gleichgesetzt. »Scharia« bedeutet zunächst nichts anderes als »Weg zur Wasserstelle«. Daraus wird deutlich, dass es sich nicht um einen festgelegten Kodex
von rechtlichen Formulierungen und Normen handelt, sondern
um eine Methode, mit deren Hilfe es dem Muslim gelingen soll,
ein Leben zu führen, das mit den Geboten Gottes in Übereinstimmung steht. Diese Methoden werden als »Usûl al-Fiqh« (Quellen der Einsicht) bezeichnet, der Rechtsgelehrte ist ein »Faqîh«.
Funktion und Zweck des islamischen Rechts ist es, den Interessen und dem Wohlbefinden der Muslime in dieser Welt und im
Jenseits zu dienen. Die Werte, die die Scharia sicherzustellen hat,
werden unterteilt in zwingend erforderliche, notwendige und angenehme. Zu den zwingend erforderlichen Bereichen, die das islamische Recht zu schützen hat, gehören Religion, Leben, Familie, Eigentum, Intellekt und Ehre. All dies ist aber nur möglich,
wenn staatliche Ordnung und Stabilität herrschen. So wird denn
von manchen Gelehrten festgehalten, dass es die Hauptaufgabe
der Scharia ist, für Ordnung und Sicherheit zu sorgen.265 Die Art
und Weise, in der das islamische Recht sich entwickelt, ist also
die eigentliche Scharia.
Das islamische Recht beruht auf verschiedenen Grundlagen.
An erster Stelle steht selbstverständlich der Koran. Er ist die höchs97
te Autorität der islamischen Rechtsprechung. Da die Möglichkeiten, den Text des Korans zu interpretieren, zahlreich sind, geht
es zunächst um die authentische Form des Textes: Nur der arabische Text gilt als Grundlage der juristischen Entscheidungen. Daher müssen bei juristischen Feststellungen die Koranstellen in ihrer
arabischen Form zitiert werden; Koranübersetzungen sind nicht
zulässig. Es ist selbstverständlich, dass nur die Koranstellen für
eine rechtliche Entscheidung verwendet werden können, die allgemein als Teile des Korans anerkannt werden. Den Varianten,
die von einigen der frühen Muslime tradiert worden sind, wird
also keine Autorität zugeschrieben.
Man unterteilt die Koranverse, die die Grundlage für rechtliche
Bestimmungen bilden, in eindeutige und mehrdeutige Verse. Bei
den eindeutigen Versen handelt es sich um solche, deren Wortlaut nur eine mögliche Interpretation zulässt. Dies lässt sich an
einem Beispiel aus dem Erbrecht verdeutlichen: »Euch steht die
Hälfte dessen, was eure Gattinnen hinterlassen, zu, wenn sie keine Kinder haben.«266 Als Beispiel für nicht eindeutige Stellen sei
Folgendes zitiert. Im Zusammenhang mit der rituellen Waschung
vor dem Gebet heißt es: »[...] und streicht euch über den Kopf.«267
Daraus wird nicht deutlich, ob man sich über das Gesicht oder um
einen anderen Teil des Kopfes streichen soll. Wie die mehrdeutigen Teile des Korans zu interpretieren sind, hängt von einer Vielzahl von Voraussetzungen ab. Vor allem spielen dabei die Gründe für die Offenbarung (Asbâb al-Nuzûl) eine besondere Rolle.268
Falls man besonderen Wert auf die Umstände der Offenbarung
legt, kann es geschehen, dass man die betreffenden Stellen als
Folge bestimmter Umstände auffasst, die unter anderen Umständen keine besondere Rolle mehr spielen. Sie gelten dann nicht
mehr als absolut verbindlich. Wenn diese Stellen also relativ sind,
könnte in einer Reihe von Fällen eine Uminterpretation des Korans vorgenommen werden. Allerdings sind die Gelehrten bei der
98
Interpretation solcher Koranstellen durchaus nicht einheitlicher
Meinung. Mit dem Tod des Propheten im Jahre 632 war die Offenbarung Gottes an die Menschheit nach muslimischer Sicht abgeschlossen. Die kulturelle, geistige, soziale, wirtschaftliche oder
technologische Entwicklung war damit aber nicht abgeschlossen.
Zugleich gab der Koran nicht über alle Bereiche des menschlichen
Lebens Auskunft. Da die Prophetentraditionen (Hadîth) ebenfalls
große Autorität für die Lebensgestaltung der Muslime besaßen, lag
es nahe, dass auch diese Texte als Quellen für das islamische Recht
Verwendung fanden. Sie bilden also ebenfalls eine verpflichtende
Grundlage der rechtlichen Bestimmungen. Es spielt hier keine
Rolle, ob aus westlicher Sicht die Prophetentraditionen als authentisch zu betrachten sind oder nicht; wesentlich ist, dass die
muslimischen Rechtsgelehrten diese Texte als wichtige Quelle für
die Schaffung von rechtlichen Vorschriften auffassen. Koran und
Prophetentraditionen sind die beiden Quellen des islamischen
Rechts, die von allen Schulen und Gruppen der islamischen
Rechtsgeschichte als allgemein verbindlich anerkannt werden.
Der kulturelle Wandel in der islamischen Welt war jedoch mit
der Kanonisierung der Prophetentraditionen nicht abgeschlossen. Es ergab sich also die Notwendigkeit, immer wieder neue
Fragestellungen zu beantworten. So entstanden weitere Quellen
des islamischen Rechts, die grundsätzlich allerdings nicht im Gegensatz zu den Regeln des Korans und der Prophetentraditionen
stehen dürfen. In welchem Maß und mit welcher Autorität diese
Quellen verwendet werden dürfen, wird von unterschiedlichen
Schulen verschieden beurteilt. Die überwiegende Mehrheit der
sunnitischen wie der schiitischen Rechtsgelehrten ist allerdings
der Ansicht, dass einige weitere Methoden als Rechtsquellen verwendet werden dürfen: Hier ist zunächst der Konsens (Ijmâ') zu
nennen, der Koran und Prophetentraditionen nahezu gleichgesetzt wird. Die Autorität dieser Konsensfeststellungen beruht u.a.
99
auf folgendem Satz des Korans: »O ihr, die ihr glaubt, gehorchet
Gott und gehorchet dem Gesandten und den Zuständigen unter
euch.«269 An anderer Stelle heißt es: »Würden sie es aber vor die
Gesandten und die Zuständigen unter ihnen bringen, so würden
es diejenigen von ihnen, die es herauszubekommen verstehen, (zu
beurteilen) wissen.«270 Auch in den Prophetentraditionen finden
sich Überlieferungen, die die Unfehlbarkeit der gemeinschaftlichen Entscheidungen bestätigen: »Im Irrtum wird meine Gemeinde niemals einmütig sein.«271 Es hat aber stets Diskussionen
darüber gegeben, wer denn die Gruppe sei, in der Einmütigkeit in
einer bestimmten Frage zu herrschen habe. So gab und gibt es einerseits Positionen, denen zufolge unter allen Muslimen, die von
einer bestimmten Frage betroffen seien, Konsens herrschen müsse,
unabhängig von deren spezieller Kompetenz in dieser bestimmten Frage oder in rechtlichen Fragen ganz allgemein. Dem steht
eine andere Position gegenüber, nach der es ausschließlich Sache
der Rechtsgelehrten sei, in einer unterschiedlich beurteilten Fragestellung Übereinstimmung herzustellen. Da sich im Laufe der
Zeit eine spezielle Berufsgruppe von Rechtsgelehrten herausgebildet hat, die heute die Auslegung und Entwicklung des islamischen Rechts monopolisieren, ist es nicht verwunderlich, dass
diese für sich allein das Recht zur Teilnahme an den Konsensvorgängen in Anspruch nehmen.272 Ein anderer Aspekt bei der Beurteilung des »Ijmâ'« hängt mit den Kommunikationsmöglichkeiten
der islamischen Welt zusammen. Zwar hatte es seit dem Mittelalter einen lebhaften Austausch in den verschiedensten kulturellen
Bereichen auch zwischen weit voneinander entfernt liegenden
Gebieten der islamischen Welt gegeben. Der islamischen Jurisprudenz war aber klar, dass Konsensentscheidungen von besonderen
Umständen abhängig waren, die auf regionalen Besonderheiten
beruhen konnten. Daher folgte man lange Zeit der Regel, dass
die Übereinstimmung der Gelehrten einer Region für Entschei100
dungen in einer Frage ausreichen konnte. Kontroverse Entscheidungen kamen nur in seltenen Fällen in das Bewusstsein der einfachen Gläubigen; denn diese waren infolge mangelnder Lesefähigkeit kaum in der Lage, die häufig schriftlichen Äußerungen
der Gelehrten zur Kenntnis zu nehmen. Darüber hinaus blieb die
Kenntnis der meisten Entscheidungen regional begrenzt. Erst mit
einer Verbesserung der Kommunikationsmöglichkeiten erwies
es sich als notwendig, Mechanismen zu entwickeln, die einheitliche Konsensentscheidungen für die gesamte islamische Welt ermöglichten. Denn nun konnten widersprüchliche Entscheidungen allgemein bekannt werden, die Gläubigen verwirren und die
Autorität der Religionsgelehrten untergraben. Mit der Entstehung internationaler islamischer Organisationen wie der »Islamischen Weltliga« (Râbitat al-'Âlam al-islâmî) bot sich eine Möglichkeit, auf dem Konsens beruhende Rechtsentscheidungen zu
koordinieren. Seit den Achtzigerjahren gibt es eine zentrale internationale juristische Einrichtung, die Akademie für islamisches
Recht, die als Unterorganisation der »Islamischen Weltliga« für
eine Vereinheitlichung der Konsensentscheidungen sorgt.273 In
der Regel wirkt sich die Konsensregel eher konservativ aus. Dies
sei an dem folgenden Beispiel aus jüngster Vergangenheit verdeutlicht. In der Akademie für islamisches Recht, die sich einmal
im Jahr zu Diskussionen über zentrale Fragen des ethischen, ökonomischen oder kulturellen Lebens trifft, wurde vor einigen Jahren auch die Frage der Euthanasie behandelt. In der Regel werden
die Entscheidungen des Plenums der Akademie in Kommissionen vorbereitet, in denen islamische Rechtsgelehrte und Fachleute
des jeweils zu behandelnden Gebiets zusammenarbeiten. Im vorliegenden Fall kam eine Kommission aus Rechtsgelehrten und
Medizinern zu der Ansicht, dass unter bestimmten Umständen
eine Therapie bzw. lebensverlängernde Maßnahmen abgebrochen werden könnten. Zu diesen Bedingungen gehörte, dass nach
101
menschlichem Ermessen keine Heilungschancen bestünden, dass
der Patient oder, wenn er dazu nicht in der Lage wäre, seine Verwandten der Einstellung der Therapie zustimmten und dass der
Patient unerträgliche Schmerzen zu erleiden hätte. In der Vollversammlung der Akademie widersprach aber eine Gruppe von
Rechtsgelehrten diesem Vorschlag. Damit war der Konsens nicht
gegeben. Eine Entscheidung konnte nicht herbeigeführt werden.274
Als sekundäre Rechtsquellen gelten der Analogieschluss (Qiyâs),
Brauch ('Urf) und Gewohnheitsrecht ('Âda) und das Urteil (eigentlich Meinung, »Ra'y«) des Rechtsgelehrten. Bei der Analogie
handelt es sich um die Erstellung einer Parallele zu einer schon
formulierten Rechtsnorm. Diese kann sich im Koran, in den Prophetentraditionen oder im Konsens finden. Es muss eine offenkundige Ähnlichkeit zu einem bestehenden Fall gegeben sein.
Als Beispiel sei auf das Verbot von Rauschmitteln hingewiesen.
Der Koran verbietet aus der Sicht der heutigen Rechtsgelehrten
den Weingenuss wegen seiner berauschenden Wirkung. Daher
wird in einem Analogieschluss festgestellt, dass auch andere alkoholische Getränke, die nicht aus Weintrauben hergestellt sind,
etwa Bier oder Whiskey, eben wegen ihrer berauschenden Wirkung ebenfalls verboten sind. Darüber hinaus werden auch alle
anderen Produkte, die zu Rauschzuständen führen, wie Cannabis- oder Opiumderivate, aber auch die modernen Designerdrogen
als verboten angesehen.275 Brauch und Gewohnheitsrecht sind
die rechtlichen Regelungen, die traditionell in einer Region praktiziert werden. Dabei kann es sich auch um Regelungen handeln,
die aus dem römischen, byzantinischen, persischen oder mongolischen Recht stammen.276 Sie können aber nur dann Teil des islamischen Rechts sein, wenn sie anderen Regelungen, die auf den
autoritativen Quellen des Rechts beruhen, nicht zuwiderlaufen.
In der rechtlichen Praxis muss man jedoch davon ausgehen, dass
102
dieses Gewohnheitsrecht eine größere Bedeutung hat als die Vorschriften des islamischen Rechts.277 Die vorhandenen Spannungen
zwischen dem Gewohnheitsrecht und dem islamischen Recht
sind im Verlauf der Geschichte immer wieder Anlass zu Reformbemühungen gewesen. Zu den Grundsätzen einer Urteilsbildung
(Ijtihâd) im islamischen Recht gehören darüber hinaus Kriterien
wie der allgemeine Nutzen (Maslaha) oder das Für-gut-Halten
(Istihsân).278
Muslime können sich in Zweifelsfällen, die ihr rituelles oder
ethisches Leben im weitesten Sinne betreffen, an einen Rechtsgelehrten wenden und von ihm ein Rechtsgutachten (Fatwa) erbitten. Dieses Gutachten darf nicht als Urteil verstanden werden.
Unter sunnitischen Muslimen ist ein derartiges Gutachten mehr
oder weniger unverbindlich. Es steht einem Fragenden frei, sich
mit der gleichen Frage an einen anderen Gutachter (Muftî) zu wenden, wenn ihm das Ergebnis des Gutachtens nicht zusagt. Die
Autorität, die sich mit einem Rechtsgutachten verbindet, ist abhängig vom Ruf des jeweiligen Gutachters, von seiner Gelehrsamkeit, seiner Frömmigkeit und einem untadeligen Lebenswandel.
Daher werden sich Muslime, die einen Rat von einem »Muftî«
erbitten, in der Regel an das Ergebnis des Rechtsgutachtens halten. Der Gelehrte spricht aber nicht aus irgendeiner Position von
religiös sanktioniertem Lehramt. Seine Äußerungen sind nicht
absolut verbindlich. In dieser mangelnden Verbindlichkeit liegt
auch einer der entscheidenden Unterschiede zwischen Sunniten
und Schiiten. Die Position schiitischer Rechtsgelehrter ist aufgrund eines längeren religionsgeschichtlichen Prozesses sehr viel
wirkungsvoller als die der sunnitischen Gelehrten. Unter schiitischen Muslimen herrscht heute die Überzeugung, dass die Gläubigen der Führung durch einen Gelehrten bedürfen, um das Heil
zu erlangen. Wenn ein Gläubiger einen Rechtsgelehrten in einer
beliebigen Frage um Rat fragt, ist er verpflichtet, sich an seine Ent103
Scheidung zu halten. Auch in Zukunft bleiben alle Rechtsgutachten, die von diesem Gutachter verfasst werden, für diesen Gläubigen verbindlich, sogar wenn er selbst eine solche Frage gar nicht
gestellt hat. Dieses Autoritätsverhältnis zwischen einem Gelehrten und einem Gläubigen besteht so lange, wie der Gelehrte lebt.
Es kann durch eine offizielle Erklärung begründet werden, aber
auch durch eine einseitige, nur dem Gläubigen bewusste innere
Entscheidung. Falls der Gläubige dazu in der Lage ist, hat er »seinem« Rechtsgelehrten eine regelmäßige Zahlung (Khums, Sahm)
zu leisten und seiner auch im Gebet zu gedenken. Der Gläubige
kann seinen Gutachter also nicht nach Belieben wechseln. Nach
dessen Tod verlieren seine gutachterlichen Äußerungen für den
Gläubigen ihre Verbindlichkeit. Er muss sich dann einem anderen Gelehrten anschließen.
Es muss allerdings darauf hingewiesen werden, dass sich auch
im sunnitischen Islam schon früh Tendenzen entwickelt haben,
Autoritätsstrukturen aufzubauen. Dies lässt sich etwa am Beispiel des Verhältnisses von Rechtsgelehrten und staatlichen Autoritäten aufzeigen. So sagt der bekannte mittelalterliche hanbalitische Rechtsgelehrte Ibn Qayyim al-Jauziyya:
»Genau gesagt, darf den Herrschern nur insoweit gehorcht werden, als
sich ihre Befehle in Übereinstimmung mit den Äußerungen der religiösen Wissenschaften befinden. Denn die Pflicht, den Herrschern zu gehorchen, leitet sich her von der Pflicht, den Rechtsgelehrten zu gehorchen.
Das ist so, weil Gehorsam nur verpflichtend im Guten ist und in dem,
was die religiösen Wissenschaften erfordern. Weil die Pflicht, den Rechtsgelehrten zu gehorchen, sich von der Pflicht ableitet, dem Propheten zu
gehorchen, leitet sich die Pflicht, den Herrschern zu gehorchen, von der,
den Juristen zu gehorchen, ab. Da der Islam im Übrigen von den Herrschern und den Rechtsgelehrten beschützt und hochgehalten wird, ist es
die Pflicht der Laien, diesen beiden zu folgen.«279
104
Aus dieser Allianz von »Thron und Rechtsgelehrsamkeit« ergab
sich in einer Reihe von islamischen Staaten eine quasi staatliche
Form juristischer Institutionen, das Mufti-Amt. Die häufig ja
nicht durch religiöse oder öffentliche Zustimmung legitimierten
Herrscher brauchten die offiziellen Gelehrten und ihre Rechtsgutachten nicht zuletzt zur Legitimierung von politischen und militärischen Entscheidungen. Es bestand und besteht jedoch auch
heute noch eine starke Abhängigkeit der Rechtsgelehrten von den
staatlichen Autoritäten, da diese die Gelehrten einsetzen und für
deren Lebensunterhalt sorgen. Die von ihnen erstellten Gutachten sind daher häufig ausschließlich unter opportunistischen Gesichtspunkten verfasst worden. Dies hat wiederum zu einem Ansehens- und Autoritätsverlust der offiziellen Rechtsgelehrten bei
großen Teilen der Bevölkerung geführt.280 Die Autoritätsfrage der
Rechtsgelehrten wird dann besonders virulent, wenn sich der Islam politischen und administrativen Strukturen gegenübersieht,
die von ihm Formen von deutlicherer Verbindlichkeit und Autorität verlangen. Das ist heute vor allem im Zusammenhang mit
dem Diaspora-Islam der Fall. Ein Beispiel sind die verschiedenen
westeuropäischen Staaten, in denen muslimische Organisationen
eine Gleichbehandlung mit den christlichen Mehrheitsreligionen
verlangen, die ihrerseits den staatlichen Strukturen kompatible
hierarchische Aufbauten kennen. In einigen Fällen zeigen islamische Organisationen, z.B. in Berlin, Tendenzen zu Hierarchisierungen.281 Wie weit sich diese Entwicklung auf die Herkunftsländer der muslimischen Migranten auswirken wird, wird sich in
Zukunft herausstellen.
Sunnitische wie schiitische Gelehrte erteilen ihre Rechtsgutachten in schriftlicher Form, lesen sie aber, wenn der Fragesteller
anwesend ist, in der Regel auch noch einmal laut vor. Inzwischen
haben sich durch die Einführung moderner Kommunikationstechniken Veränderungen bei der Erstellung von Rechtsgutachten er105
geben. Schon von jeher haben islamische Rechtsgelehrte ihre Gutachten gesammelt und zu häufig mehrbändigen Werken zusammengestellt. Spätere Gelehrte haben solche Sammlungen durchaus auch als Anregung für ihre eigenen Gutachten verwendet und
beziehen sich nicht selten auf diese. In den vergangenen Jahren
haben Rechtsgutachten und ihre Autoren eine beträchtliche Popularität gewonnen. Es gibt Fernsehsendungen, in denen Rechtsgutachter zu Fragen Stellung nehmen. In Tageszeitungen beantworten »Briefkasten-Muftis« Fragen, die die Leser ihnen in Briefen
an die Redaktion gestellt haben.282 Mittlerweile haben Gelehrte
ihre Fatwa-Sammlungen auch ins Internet gestellt. User können
diese dann nach einem vorgegebenen Raster durchsuchen. Damit
sind die Sammlungen einfacher zugänglich. Daneben haben sich
auch Internet-Anbieter gefunden, die auf direkte Anfragen von
Internet-Nutzern reagieren. Teilweise kommt es dabei auch zu
Diskussionen zwischen verschiedenen Gutachtern um eine besonders umstrittene Frage.
Die Unübersichtlichkeit des islamischen Rechts ist nicht nur
durch unklare Autoritätsverhältnisse gekennzeichnet, sondern
auch durch die Tatsache, dass es neben den Unterschieden zwischen sunnitischen und schiitischen Rechtstraditionen innerhalb
des sunnitischen Mehrheitsislams verschiedene Rechtsschulen
(»Madhhab«, Pl. »Madhâhib«) gibt, die sich heute zwar gegenseitig
anerkennen, aber doch in der Rechtspraxis zahlreiche Unterschiede kennen. Heute sind es vier derartige Rechtsschulen, die eine
Rolle spielen. Ihre Verbreitung ist am ehesten unter geographischen Gesichtspunkten zu beschreiben. Die älteste Rechtsschule
ist die der Malikiten. Sie wurde von dem Rechtsgelehrten Malik
ibn Anas (gest. 795) gegründet Er war der Erste, der versuchte, auf
der Basis der oralen Rechtstraditionen der frühen muslimischen
Gemeinde die Normen des islamischen Rechts zu systematisieren
und kodifizieren. Die Entscheidungen beruhen in dieser Rechts106
schule neben dem Koran, den Traditionen und dem Konsens der
malikitischen Rechtsgelehrten auch auf dem eigenen Urteil des
Rechtsgelehrten, wenn sich in den übrigen Quellen keine Hinweise für eine Entscheidung finden. Diese Rechtsschule gilt als
streng und konservativ. Sie ist vor allem in Nordafrika und in
Westafrika verbreitet.283
Die malikitische Rechtsschule entstand in Konkurrenz zur hanafitischen Rechtsschule, die sich auf den Juristen Abu Hanifa (gest.
767) beruft Große Bereiche dieses Rechtssystems wurden aber von
seinen Schülern entwickelt und begründet. Neben dem Koran und
den von ihm kritisch durchleuchteten Traditionen spielten für ihn
bei der Entscheidung rechtlicher Fragen auch die eigene Ansicht
des Gelehrten und der Analogieschluss eine wichtige Rolle. In diesem Zusammenhang wurde das Prinzip der Billigkeit in die islamische Rechtsgelehrsamkeit eingeführt. In den Auseinandersetzungen zwischen Hanafiten und Malikiten war dies ein besonderer
Streitpunkt. Den Hanafiten wurde dabei vorgehalten, dass sie jeder Willkür Tür und Tor öffneten. Richtig ist sicher, dass in der
hanafitischen Rechtsschule die Möglichkeit, durch Rechtskniffe
Regelungen praktisch außer Kraft zu setzen, zu einer regelrechten Kunst entwickelt wurde.284 Die sehr praxis- und realitätsbezogene Art des Umgangs mit konkreten juristischen Situationen
führte dazu, dass die hanafitische Rechtsschule vor allem in der
Zeit der Dynastie der Abbasiden Einfluss auf die politischen Entscheidungsträger erhielt und zur offiziellen Rechtsschule dieser
Dynastie wurde. Auch die spätere, historisch wichtigste islamische
Dynastie des Mittelmeerraums, das Osmanische Reich, nahm die
hanafitische Rechtsschule als Basis ihrer rechtlichen und organisatorischen Grundlagen. Daher ist heute die hanafitische Rechtsschule in all den Gebieten verbreitet, in denen das Osmanische
Reich im Verlauf der Geschichte als Souverän aufgetreten ist. Angesichts der Tatsache, dass zumindest in Deutschland die Mehr107
zahl der Muslime aus der Türkei stammt, spielt auch unter den
hier lebenden Muslimen die hanafitische Rechtsschule die wichtigste Rolle.
Als der bedeutenste Theoretiker der islamischen Rechtsgeschichte wird Muhammad ibn Idrîs al-Shafi'î (gest. 820) bezeichnet, der die schafiitische Rechtsschule begründet hat. Er kann wohl
als der Gelehrte beschrieben werden, der das islamische Recht aus
dem Machtkampf zwischen Malikiten und Hanafiten herausgeführt hat. Er suchte einen Mittelweg zwischen den traditionalistischen Rechtsformen der beiden konkurrierenden Rechtsschulen, die um die Ausweitung der menschlichen Kriterien stritten. So
forderte er im Vergleich zur hanafitischen Rechtsschule eine stärker methodische Anwendung des Analogieschlusses und lehnte
die Prinzipien der Billigkeit und des Für-gut-Haltens ab. Wichtig
war ihm insbesondere der Konsens der Gelehrten. Die schafiitische Rechtsschule ist in vielen Regionen der islamischen Welt verbreitet, spielt heute aber vor allem in Indonesien eine zentrale
Rolle.285
Die vierte wichtige sunnitische Rechtsschule ist die der Hanbaliten, die zugleich die jüngste ist. Sie ist zurückzuführen auf den
Rechtsgelehrten und Traditionarier Ahmad ibn Hanbal (gest. 855),
der nicht nur im Zusammenhang mit der Entwicklung des islamischen Rechts von Bedeutung ist. Im Gegensatz zu den anderen Gründern von sunnitischen Rechtsschulen ist von ihm kein
zentrales Werk überliefert. Dies hängt sicherlich mit der Tatsache
zusammen, dass für ihn die mündliche Überlieferung jeder Art von
Rechtsquellen in schriftlicher Form vorzuziehen war. Die Kodifizierung seiner Lehren wurde von seinen Schülern durchgeführt,
die seine Lehren zu einem Gesamtsystem ausarbeiteten. Wenn
man seine Überlegungen zusammenfasst, kann man feststellen,
dass für Ahmad ibn Hanbal der Koran ohne ausführliche exegetische Ausführungen Grundlage und Ausgangspunkt des isla108
mischen Rechts ist. Als Traditionarier, der eine der bedeutendsten Sammlungen von Prophetentraditionen zusammengestellt hat,
legt er für die Ausformulierung des islamischen Rechts großen
Wert auf die Prophetentraditionen. Bemerkenswerterweise versteht er aber auch die mündlichen Überlieferungen der Zeitgenossen des Propheten als verlässliche Rechtsquellen. Das begründete er mit seiner Meinung, dass jene Zeitgenossen am ehesten in
der Lage seien, die Intentionen des Korans und die Aussprüche
des Propheten zu verstehen. Er entwickelte zugleich eine Hierarchie unter den Prophetengenossen, nach denen widerstreitende
Traditionen beurteilt werden sollten. Auch Ahmad ibn Hanbal
sieht den Konsens als eine weitere wichtige Quelle der islamischen
Rechtsschöpfung. Er lehnte allerdings die Ausbildung eines persönlichen Urteils des Rechtsgelehrten ab, um jede Form von Willkür zu unterbinden. Als nicht weniger problematisch betrachtete
er die Verwendung des Analogieschlusses. Er sah in ihm die Gefahr
einer unstatthaften Neuerung (Bid'a). Bei diesem Begriff haben
wir es zugleich mit einem der zentralen Begriffe fundamentalistischer islamischer Vorstellungen zu tun. Vor allem die Rechtsschule der Hanbaliten bemüht sich, jeden kulturellen Wandel
darauf zu überprüfen, inwieweit er mit den islamischen Traditionen in Übereinstimmung zu bringen wäre. Die Hanbaliten sind
auch heute noch der Meinung, dass nur die Dinge in der Welt für
einen Muslim als akzeptabel angesehen werden dürfen, die mit
den islamischen Traditionen übereinstimmen. Alle kulturellen, religiösen, wirtschaftlichen oder politischen Veränderungen, die mit
diesen Traditionen nicht konform gehen, werden von den Hanbaliten als verboten angesehen. Die Regeln können kurz zusamniengefasst werden: Bei der Erfüllung der religiösen Pflichten wie
Gebet oder Fasten sind nur die Handlungen und Praktiken erlaubt, die so im Koran und in den Prophetentraditionen beschrieben worden sind. Abweichungen von den in den Quellen festge109
haltenen Regelungen sind nicht statthaft. In den anderen Bereichen des islamischen Rechts stellt sich die hanbalitische Rechtsschule im Grunde recht liberal dar. Nur das darf als Pflicht für den
Muslim verstanden werden, was der Koran und die Traditionen
als Pflicht betrachten, und nur das kann als verboten gelten, was
ausdrücklich in diesen Quellen als verboten beschrieben wird.
Die Lehren des Ahmad ibn Hanbal fanden eine Vielzahl von Anhängern, die diese Schule noch weiterentwickelten.286 Besonders
eine Form der hanbalitischen Rechtsschule ist gegenwärtig von
besonderer Bedeutung. Sie fand durch die Wahhabiten, deren Bewegung auf der Arabischen Halbinsel entstanden war, weite Verbreitung. Bis heute ist das Herrscherhaus des Königreichs Saudi-Arabien der hanbalitischen Rechtsschule eng verbunden.287
Angesichts der wirtschaftlichen Bedeutung des arabischen Königreichs hat auch die hanbalitische Rechtsschule inzwischen in vielen islamischen Ländern an Bedeutung gewonnen. Heute ist sie
auch für Regionen der islamischen Welt, die traditionell mit der
hanbalitischen Rechtsschule nichts zu tun haben, von nicht unerheblicher Bedeutung.288
Es muss allerdings darauf hingewiesen werden, dass der Mehrheit der sunnitischen Muslime die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Rechtsschule nicht bewusst ist. Dies ist sicherlich auf
die Tatsache zurückzuführen, dass sich die Rechtsschulen gegenseitig anerkannt haben und die Konflikte zwischen den Schulen
schon seit geraumer Zeit der Vergangenheit angehören. Offiziell
wird von muslimischen Autoritäten auch erklärt, dass es zwischen
Sunniten und Schiiten in Rechtsfragen keine nennenswerten Unterschiede gebe. Die beiden Konfessionen sprechen sich gegenseitig nicht die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft der Muslime ab.
Auf die Unterschiede in der Autorität der Rechtsgelehrten ist
schon hingewiesen worden. Bei zwei Themenkomplexen sind aber
Sonderentwicklungen im schiitischen Islam besonders augenfällig.
110
Diese spielen in den immer noch vorhandenen interkonfessionellen Polemiken von sunnitischer Seite weiterhin eine Rolle.
Den Schiiten wird vorgeworfen, dass sie Lüge und Prostitution
für erlaubt halten. Den Hintergrund für diesen Vorwurf bilden
zwei spezifisch schiitische Vorstellungen. Nach den Regeln des
schiitischen Rechts ist es nicht nur erlaubt, sondern geradezu geboten, dass die Gläubigen ihre Konfessionszugehörigkeit verleugnen, wenn sie sich in einer Minderheitensituation befinden. Sie
dürfen sich dann z.B. beim Gebet wie Sunniten verhalten. Dieses
Verbergen der eigentlichen Religionszugehörigkeit wird als »Taqiya« bezeichnet. Auf diese Weise soll verhindert werden, dass
die Minderheit durch Gewaltanwendung vonseiten der Mehrheit
geschwächt wird.289 Der sunnitische Vorwurf der erlaubten Prostitution hängt mit einer besonderen schiitischen Heiratsbestimmung zusammen. Nach islamischem Recht ist eine Ehe auf Dauer angelegt, auch wenn eine Scheidung grundsätzlich möglich ist.
Nach schiitischem Recht ist es daneben auch möglich, eine Ehe
mit einer von vornherein festgelegten Dauer einzugehen. Sie kann
neben einer anderen Ehe bestehen. Diese Zeitehe (»Mut'a« oder
»Sîghe«) kann für wenige Stunden bis hin zu 99 Jahren abgeschlossen werden. Kinder, die aus solchen Ehen hervorgehen, gelten als
legitim und sind erbberechtigt.290 Die Vorstellungen, die dieser
Regelung zugrunde liegen, sind in sich durchaus logisch. Nach islamischem Recht sind alle Formen von außerehelichen oder nichtehelichen sexuellen Aktivitäten verboten und werden auch strafrechtlich geahndet. Andererseits gehen die schiitischen Gelehrten
von der Schwäche des Menschen vor allem in seinem sexuellen
Verhalten aus. Die »Mut'a« bietet die Möglichkeit, in Zeiten, in
denen Männer aus beruflichen Gründen oder infolge einer Pilgerfahrt keinen sexuellen Umgang mit ihren regulären Partnerinnen
pflegen können, auf legitime Weise sexuell aktiv zu sein.
Das islamische Recht muss insgesamt als das Ergebnis vielfäl111
tiger historischer, politischer, sozialer und ethischer Entwicklungen gesehen werden, auf die die muslimischen Rechtsgelehrten
in der Regel adäquat reagiert haben. Allerdings vollzogen sich diese Reaktionen häufig mit erheblichen zeitlichen Verzögerungen.
Daher erscheint das islamische Recht dem Beobachter bisweilen
als schwerfällig, ja als reaktionär. Sein grundsätzliches Problem
ist aber, trotz aller beschriebenen Tendenzen, die mangelnde Lösung des Autoritätsproblems. Muslimische Rechtsgelehrte werden auch in Zukunft aus einem großen Fundus von häufig widersprüchlichen Rechtstraditionen schöpfen und den Gläubigen den
Zwang zur persönlichen Entscheidung in Glaubens- oder Rechtsfragen nicht abnehmen.
112
7. Islamische Sonderformen
Neben der sunnitischen Form des Islams, der etwa drei Viertel
der muslimischen Weltbevölkerung angehören, haben sich im Lauf
der islamischen Religionsgeschichte einige Sonderformen entwickelt, die vom »Mehrheitsislam« als islamisch angesehen werden, und einige wenige Gruppen, die nach eigener Auffassung
Muslime sind, von der Mehrheit aber nicht als solche betrachtet
werden. Schließlich finden sich noch Gemeinschaften, die sich
als eigenständige Religionen verstehen, die aus dem Islam entstanden sind. Diese verschiedenen Heterodoxien zeichnen sich teilweise durch die Bemühung aus, von ihrem Glauben außerhalb
ihrer Gemeinschaft möglichst wenig bekannt zu machen. Diese
Verschleierung von Einzelheiten ist geradezu Teil der religiösen
Vorstellungen. Sie erschwert selbstverständlich die Kenntnis und
die Beurteilung der Gruppen.291 Die Existenz von Konfessionen
und Sonderformen des Islams wird von allen Muslimen als eine
Heimsuchung (Fitna) angesehen. Immer wieder ist es, vor allem
seit dem 19. Jahrhundert, zu Bemühungen von religiösen Denkern
wie politischen Führern in der islamischen Welt gekommen, diese
Spaltungen zu überwinden, weil sie zur aktuellen Schwäche des
Islams und der muslimischen Gemeinschaft beitragen. Ein besonderer Erfolg war diesen Bemühungen bisher jedoch nicht beschieden.
113
Die Schiiten
Die erste Spaltung der islamischen Gemeinschaft ergab sich unmittelbar nach dem Tod des Propheten Muhammad im Jahr 632.
Der Tod war überraschend eingetreten; Nachfolgeregelungen waren von ihm und seinen Vertrauten nicht getroffen worden. Die
Notwendigkeit einer entsprechenden Regelung war bis dahin von
der Gemeinde auch nicht zur Kenntnis genommen worden. Daher ergaben sich Streitigkeiten um die Führung des jungen islamischen Staates, der sich durch die militärische Expansion der
ersten zehn Jahre islamischer Zeitrechnung zu einem politischen
und militärischen Machtfaktor im Nahen Osten entwickelt hatte.
Nach dem Tod des Propheten kam es zu Abfallbewegungen der
Stämme der Arabischen Halbinsel, die mit dieser Reaktion die Zukunft des Islams gefährdeten. So war eine schnelle Entscheidung
in der Führungsfrage notwendig, um eine Auflösung des jungen
Staates zu verhindern. In Medina standen sich zwei Fraktionen gegenüber. Die eine befürwortete, dass Abu Bakr292, einer der frühesten Anhänger des Propheten und zugleich Vater der Lieblingsfrau des Propheten, Aischa293, zum Kalifen, d.h. zum Nachfolger
Muhammads, werde und die politische Leitung der Muslime übernehme. Er war einer der engsten Berater Muhammads in allen militärischen und administrativen Fragen gewesen. In den frühen
islamischen Quellen wird er als persönlich bescheiden und unprätentiös charakterisiert. Eine andere Gruppe votierte für 'Alî ibn
Abî Tâlib294, den Neffen und Schwiegersohn des Propheten, der
ebenfalls zu den ganz frühen Anhängern des Propheten gehört
hatte. Er war mit Muhammads Tochter Fâtima295 verheiratet. Aus
dieser Ehe stammten die beiden Enkel des Propheten, Hasan296
und Husain297, denen Muhammad besonders zugetan war. Auch
er wird in den Quellen als klug, beredt, fromm und bescheiden
beschrieben. Dieser Konflikt ist als einer zwischen zwei Nachfol114
geprinzipien dargestellt worden. Diejenigen, die die Herrschaft
für 'Alî forderten, hätten ein dynastisches Prinzip verfolgt, während die andere Gruppe eher demokratischen Vorstellungen gefolgt sei. Das mag sein, wie es will. Im Endeffekt konnte sich die
Gruppe um Abu Bakr durchsetzen, der so der erste der so genannten »rechtgeleiteten« Kalifen wurde. 'Alî weigerte sich jedoch, diese Tatsache anzuerkennen. Seine Anhänger bildeten daraufhin die
»Partei 'Alîs« (Shi'at alî).
Auch mit dem zweiten Kalifen 'Umar298 waren die Beziehungen
zwischen den Konkurrenten nicht sehr viel besser. 'Alî gehörte
zwar zu den Beratern des Kalifen; doch hielt sich dieser kaum an
die Ratschläge 'Alîs, was die gegenseitige Wertschätzung nicht verstärkte. Ganz besonders schlecht war das Verhältnis 'Alîs zu dem
dritten Kalifen, 'Uthmân299, mit dem er heftige Meinungsverschiedenheiten hatte. Diese bezogen sich auf administrative, religiöse und politische Fragen. Inhaltlich ging es bei den Auseinandersetzungen z.B. um die Verteilung der Beute aus Kriegszügen,
mögliche Neuerungen im rituellen Bereich, vor allem aber um die
grundsätzliche Frage, ob die Herrschaft 'Uthmâns überhaupt legitim sei. 'Alî forderte als wesentliche Voraussetzung für das
Kalifat die Zugehörigkeit zur Familie des Propheten, den Banü
Häshim. Die Zugehörigkeit zum Stamm des Propheten, den
Kuraisch, reichte danach als Legitimation nicht aus. Inzwischen
war es in verschiedenen Teilen des Reiches, das sich vor allem
unter dem Kalifat 'Urnars im Osten bis nach Indien und im Westen nach Nordafrika ausgebreitet hatte, zu Rebellionen innerhalb der Gruppe der Muslime gekommen. Einige Aufrührer
waren aus Ägypten nach Medina gekommen, um ihre Sache dort
zu verteidigen. Es kam dabei zu Auseinandersetzungen, in deren
Verlauf 'Uthmân getötet wurde. Ali sah sich in diesem Konflikt
zumindest dem Vorwurf der Inaktivität ausgesetzt. Die Rebellen
schlugen Ali in der Folge zum neuen »Beherrscher der Gläubi115
gen« vor und sorgten bei der Wahl auch dafür, dass er die Mehrheit erhielt.300
Die unklaren Verhältnisse bei seiner Machtübernahme führten
zu Gegenaktionen bei denen, die sich 'Uthmân verpflichtet gefühlt hatten, vor allem aber bei seiner Familie. Besonders einflussreich unter diesen war Mu'âwiya301, der muslimische Statthalter
von Damaskus. Um seine verschiedenen Gegner zur Anerkennung
seiner Herrschaft zu bewegen, sammelte 'Alî Truppen, mit denen
er nach Syrien ziehen und den Widerstand Mu'âwiyas brechen
wollte. Zunächst musste er sich jedoch mit Gegnern in Medina
selbst auseinander setzen, zu denen Aischa, die Lieblingsfrau des
Propheten, gehörte, die sich zu einer unversöhnlichen Gegnerin
entwickelt hatte. In diesem Fall konnte 'Alî die Oberhand behalten. Nach den Traditionen soll er sich ihr und ihren Anhängern
gegenüber auch außerordentlich zurückhaltend verhalten haben.
In den späteren Diskussionen um religiös motivierte Rebellionen wurde auf diesen Umstand immer wieder hingewiesen.302
Die Auseinandersetzung mit Mu'âwiya war dagegen eine andere
Herausforderung. Vordergründig ging es dabei um die Behandlung der Mörder 'Uthmâns. Eigentlicher Kern des Kräftemessens
war aber die grundsätzliche, auch strategisch wichtige Frage, ob
das politische Zentrum des jungen islamischen Staates in Mesopotamien oder in Syrien etabliert werden sollte. In der Schlacht
von Siffin (Mesopotamien) im Jahr 657 schien sich Ali zunächst
durchsetzen zu können. Dann jedoch steckten nach der Tradition die Truppen Mu'âwiyas Koranblätter auf ihre Lanzen und
signalisierten dadurch, dass sie den Streit durch einen neutralen
Schiedsspruch, der auf dem Koran basieren sollte, zum Abschluss
bringen wollten. Ali gab dazu seine Zustimmung und die beiden
Heere zogen sich zurück. 'Alîs Entscheidung war innerhalb seines Lagers allerdings nicht unumstritten. Ein Teil seiner Anhänger lehnte ein Schiedsgericht ab, weil die Entscheidung ihrer An116
sicht nach nicht durch ein menschliches Urteil gefällt werden
dürfe, sondern nur durch Gott in einer Schlacht, in der er demjenigen, der im Recht sei, den Sieg verleihen werde. 'Alî konnte diesen internen Konflikt nur teilweise entschärfen. Eine beträchtliche Anzahl seiner Anhänger wandte sich in der Folge von ihm ab
und zog sich an einen Ort namens Nahrawan in der Nähe des Tigris zurück. Die Mitglieder dieser Gruppe, die lange Zeit einen
politischen und militärischen Unruheherd bilden sollte, werden
als Kharijiten bezeichnet.303 Inzwischen war die Entscheidung des
Schiedsgerichts zu 'Alîs Überraschung zu seinen Ungunsten ausgegangen. Ali griff nun zunächst die Kharijiten an, konnte sie besiegen und teilweise vernichten. Dies hatte für seine politische
Position jedoch negative Konsequenzen. Zu den Getöteten gehörten zahlreiche frühe Muslime, an deren Frömmigkeit nicht gezweifelt wurde. Ihre Tötung schadete dem Prestige 'Alîs und es
verließen ihn noch mehr Anhänger. Ehe er seine Kräfte gegen seine syrischen Gegner sammeln konnte, wurde er in Kufa aus Rache für einen der gefallenen Kharijiten im Jahre 661 ermordet.
In der religionsgeschichtlichen Bewertung geht die Bedeutung Alis weit über die historischen Fakten hinaus. Nach Meinung seiner Anhänger, der Schiiten, sind 'Alî und seine Nachfolger
ihre Imame. Voraussetzung für das Imamat ist die Zugehörigkeit
zur Familie des Propheten. Nur bei den Imamen kann die spirituelle Leitung der Gemeinde liegen. Die Schiiten sind der Überzeugung, dass die islamische Gemeinde zu allen Zeiten eines von
Gott inspirierten und sündenfreien Leiters bedarf. Da Gott gütig
ist, so die schiitische Argumentation, ist immer eine derartige Person vorhanden. Die Schiiten ergänzen also die zwei Artikel des
islamischen Dogmas – »Es gibt keinen Gott außer Gott und Muhammad ist der Gesandte Gottes« – um den Artikel »und 'Alî ist
der Freund Gottes«. Der Glaube an den Imam ist nach schiitischer
Auffassung eine Grundbedingung für die Zugehörigkeit zur Ge117
meinschaft der Muslime. Die Imame werden also dem Propheten
in der Bedeutung für die Gläubigen gleichgesetzt. Daher ist es nicht
erstaunlich, dass ihre Aussprüche genauso überliefert werden wie
die Prophetentraditionen und für das schiitische Recht als Rechtsquelle dienen. Der Unterschied zum Propheten besteht darin, dass
die Imame keine schriftlich fixierte Offenbarung Gottes zu den
Menschen bringen. Die Kenntnis der Imame um den Islam entspricht aber der des Propheten. Vor allem aber verfügen sie über
die Fähigkeit, den Text des Korans in einer besonderen, nur ihnen
möglichen Weise zu interpretieren. Der Imam weiß, was war und
was sein wird. Er empfängt alles Wissen von seinen Vorgängern,
und Gott spricht durch die Vermittlung von Engeln mit ihm. Im
Gegensatz zum Propheten Muhammad kann der Imam die Engel jedoch nur hören und nicht sehen. Der Imam ist in der Lage,
Wunder zu wirken, und kann bei Gott Fürsprache einlegen für
die Sünder unter seinen Anhängern. Er hat Anspruch auf die politische Herrschaft über die Muslime, wobei er diesen Anspruch
jedoch geheim halten kann, wenn er dadurch sich und seine Anhängerschaft vor Schaden bewahren kann. Wie schon festgestellt,
muss es immer einen Imam geben. Dabei kann es sich auch um
ein Kind handeln.304
Da die Anhängerschaft der Schia sich in ihrer Anfangsphase
vor allem aus ethnisch oder sozial marginalisierten Gruppen zusammensetzte, die keine straffe Organisationsform hatten, kam es
beim Tod eines Imams in einigen Fällen zu Kontroversen um die
Nachfolge. Für manche Gruppen brach die Kette der Imame nach
dem fünften Imam ab, für andere nach dem siebten. Die Mehrheit
der heutigen Schiiten geht davon aus, dass die Kette der Imame
mit dem zwölften Imam abbricht. Sie werden daher als ZwölferSchiiten bezeichnet. Alle schiitischen Gruppen sind aber davon
überzeugt, dass der letzte Imam nicht gestorben ist, sondern sich
in der »Verborgenheit« (Ghaiba) aufhält und dereinst als »Recht118
geleiteter« (Mahdî)305 wiederkehren wird. Er wird dann ein Reich
der Gerechtigkeit und des Friedens errichten, das tausend Jahre
Bestand haben wird. Erst danach wird das Jüngste Gericht eintreten. Die Schiiten erwarten diese Rückkehr mit großer Inbrunst.
Diese Heilserwartung kommt u.a. darin zum Ausdruck, dass die
Verfassung der »Islamischen Republik Iran«, in der die schiitische
Form des Islams Staatsreligion ist, festhält, dass alle in ihr getroffenen Regelungen nur bis zu dem Tag gelten, da der »Mahdî« zurückkehrt, »dessen Erscheinen Gott beschleunigen möge«. Mit
der Zeit haben sich verschiedene Zeichen entwickelt, an denen
man die bevorstehende Wiederkehr des »Mahdî« erkennen kann.
Zu diesen messianischen Wehen gehören Verhältnisse, in denen
Ungerechtigkeit und Frevel überwiegen, in denen ungerechte Herrscher regieren und die Religionsgelehrten die Religion falsch auslegen. Je trostloser die Verhältnisse sind, umso gewisser steht das
Kommen des Erlösers bevor. Diese Haltung bewirkt einen Quietismus, der aber plötzlich in eine revolutionäre Aktion umschlagen kann.306
Die Autorität und die besondere religiöse Bedeutung der schiitischen Imame gründet auf einer Reihe weiterer historischer Ereignisse, von denen die Schlacht von Kerbela im Jahre 680 wohl
das wichtigste darstellt: Gegen die Herrschaft der ersten islamischen Dynastie, die Mu'âwiya nach dem Tod 'Alîs etabliert hatte
und die als die Omayyaden von Damaskus in die Geschichte eingegangen sind, war es in verschiedenen Teilen des islamischen Reiches unter den Kalifen immer wieder und aus unterschiedlichen
Gründen zu Aufständen gekommen. Einer dieser Aufstände war
im mesopotamischen Kufa ausgebrochen. Die Aufrührer hatten
Husain, den jüngeren der beiden Enkel des Propheten Muhammad, aufgefordert, ihre Führung zu übernehmen. Bis Husain, der
in Medina lebte, in Mesopotamien eingetroffen war, war der Aufstand zusammengebrochen. Husain wurde mit seiner Begleitung
119
in der Nähe des Ortes Kerbela von omayyadischen Truppen aufgespürt und in einem kurzen Gefecht getötet.
Die im militärischen Sinne eher zu vernachlässigende Auseinandersetzung wurde für die islamische, zumal für die schiitische
Religionsgeschichte zu einem Ereignis von weltgeschichtlicher Bedeutung. Die schiitischen Traditionen überliefern, dass Husain
auf seiner Reise nach Kufa mehrfach von Reisenden auf die ihm
drohenden Gefahren hingewiesen worden sein soll. Auch Engel
hätten ihm die Wahl gelassen, weiterzureisen oder sich zurückzuziehen, ohne dass ihm Letzteres Schaden im Diesseits oder im
Jenseits gebracht hätte. Nach manchen Überlieferungen ist ihm
diese Wahlmöglichkeit schon vor seiner Geburt gegeben worden.
Husain aber habe sich zur Weiterreise entschlossen und den Opfertod auf sich genommen, weil er so für die Sünden der Menschheit Buße tun konnte. Durch das Ereignis von Kerbela gelangt also
ein soteriologisches Moment zumindest in den schiitischen Islam,
das dieser Religion ansonsten fremd ist. Auch für sunnitische Muslime ist dieser historische Vorgang ein Grund zur Trauer; er wird
von ihnen am 'Ashûrâ-Tag, dem 10. Muharram des muslimischen
Jahres, als Fastentag begangen.307 Für die Schiiten ist er jedoch der
Höhepunkt einer zehntägigen Trauerperiode, die am 1. Muharram
beginnt und in der aller Gefallenen von Kerbela und aller schiitischen Märtyrer gedacht wird. Dabei werden Lesungen durchgeführt, in denen die Leiden der schiitischen Märtyrer unter großer
emotionaler Beteiligung der Zuschauer rezitiert werden. Den Höhepunkt dieser Feierlichkeiten bilden Flagellanten-Prozessionen
und Passionsspiele (Ta'ziya), bei denen das Geschehen in der
»Schlacht von Kerbela« nachgestellt wird. Diese Passionsspiele sind
eine der wenigen dramatischen Literaturformen, die in der islamischen Welt entstanden sind. In diesen Schauspielen wird die Unterdrückung der Schiiten zum Ausdruck gebracht, darüber hinaus
können sie auch auf aktuelle Geschehnisse Bezug nehmen. Zu120
gleich sind diese dramatischen Darstellungen auch ein Hinweis
auf die sozialen Verhältnisse innerhalb der traditionellen schiitischen Gesellschaften. Personen aus den Gelehrtenfamilien verkörpern die Helden und Heiligen der Schia, während die Gegner
und Mörder Husains von Angehörigen der schiitischen Unterschicht dargestellt werden. In Geißler-Umzügen und in den Passionsspielen wird stets auch ein ungesatteltes Pferd mitgeführt,
das an den »Mahdî« erinnert, dessen baldige Ankunft die Schiiten
sehnlichst erwarten.308
Das Verschwinden des Imams stellt für die Schiiten ein großes
Problem dar, weil sie ja auf seine geistliche Führung angewiesen
sind. Zwar erklären viele Schiiten, dass ihnen der »Mahdî« im
Traum erschienen sei. Man kann nach anderen Vorstellungen mit
ihm auch Kontakt aufnehmen, indem man seine Fragen bestimmten Flüssen anvertraut. Eine regelmäßige Belehrung durch den
Imam, die von vielen Schiiten für erforderlich gehalten wird, ist
auf diese Weise jedoch nicht zu erreichen. Zunächst gab es noch
einige Personen, die von sich behaupteten, dass sie mit dem verborgenen Imam in Verbindung stünden. Als diese Gruppe jedoch
ausstarb, wurde die Frage der geistlichen Führung der Gläubigen
zu einem dringenden Problem. In einem komplizierten Prozess
gelang es der Gruppe der Rechtsgelehrten, sich als Nachfolger
der Imame in einem funktionalen Sinn durchzusetzen. Sie wurden diejenigen, die im Auftrag und im Sinne der Imame Autoritätsfunktionen gegenüber den einfachen Gläubigen wahrnahmen.
Schiitische Muslime unterstellen sich der Autorität eines Rechtsgelehrten. Dies kann ganz offiziell durch eine schriftliche oder
mündliche Willenskundgebung geschehen oder durch eine innere
Entscheidung. Das Autoritätsverhältnis gilt für die Lebenszeit
des Rechtsgelehrten. Im Unterschied zum sunnitischen Islam sind
die Rechtsgutachten und sonstigen Anweisungen der Rechtsgelehrten für die Gläubigen verbindlich. Letztere führen an »ihren«
121
Rechtsgelehrten jährlich auch eine festgelegte Summe Geldes ab.
Weil es sich bei der Zahl der Anhänger u.U. um Hunderttausende,
ja Millionen handeln kann, kommen beträchtliche Summen zusammen, die die Gelehrten für den Aufbau und Unterhalt von
Lehrstätten, Stipendien für Studenten, aber auch für karitative
Zwecke verwenden, die ihnen wiederum Einfluss bei ihren Anhängern sichern.309 Da Rechtsgelehrte in der Regel zu einem frühen
Zeitpunkt ihres Lebens in ein Abhängigkeitsverhältnis zu einem
Gelehrten eingetreten sind und diese ihrerseits in der gleichen
Weise in einem derartigen Verhältnis zu einem weiteren Gelehrten stehen, entwickelt sich eine hierarchische Struktur, die bis zu
einem gewissen Grade mit einem Klerus zu vergleichen ist. An
der Spitze dieser Gelehrtenhierarchie steht als höchster Rechtsgelehrter der »Marja'al-Taqlîd« (Quelle der Nachahmung), der über
eine weitreichende Autorität über alle schiitischen Gläubigen
verfügt.310 Seiner gedenken die Schiiten auch regelmäßig im Gebet. Die Auswahl eines »Marja'al-Taqlîd« vollzieht sich allerdings
nicht nach einem dem Konklave vergleichbaren Auswahlverfahren. Versuche in jüngerer Zeit, ein solches einzuführen, blieben erfolglos. Vielmehr stehen mehrere bedeutende Rechtsgelehrte in
einem Konkurrenzverhältnis um diesen Rang. Derjenige, der die
meisten Anhänger aufweisen kann, wird als »Marja'al-Taqlîd« betrachtet. Da die Zahl der Anhänger aber nicht immer exakt überprüft werden kann, ist es möglich, dass mehrere Personen von
ihren jeweiligen Anhängern als »Marja'« betrachtet werden. Im
Grunde kann dann der Gelehrte als alleiniger »Marja'« angesehen
werden, der seine Konkurrenten überlebt. Eine derartige Situation ergab sich in den Achtziger)ahren des 20. Jahrhunderts, als
mehrere Gelehrte, unter ihnen der iranische Revolutionsführer
Khomeini, als oberste Rechtsgelehrte galten. Schließlich überlebte der im Irak residierende Ayatollah al-Khoi, der 1991 starb.
Seit dieser Zeit gibt es keinen »Marja'al-Taqlîd«, und man spricht
122
von einer Krise der »Marja'iyya«. Diese Situation bedeutet aber
nicht, dass die Gläubigen ohne eine Anleitung durch Rechtsgelehrte wären und ein seelsorgerisches Vakuum entstanden wäre.
Auf einer zweiten Ebene unterhalb der verwaisten Position des
»Marja' al-Taqlîd« gibt es eine Anzahl von Gelehrten, die von einzelnen Gläubigen, aber auch von ganzen ethnischen Gruppen als
Autoritäten anerkannt werden.
Die schiitischen Rechtsgelehrten konnten Bedeutung vor allem nach dem Jahr 1501 gewinnen, als sich die Safawiden-Dynastie im Iran etablierte311, die schiitische Form des Islams als Staatsreligion eingeführt wurde und die Gelehrten für die praktische
Durchsetzung dieser religionspolitischen Entscheidung gebraucht
wurden. Diese Verbesserung ihrer Position wirkte sich auch auf
die Gelehrten aus, die außerhalb des Irans lebten. Wenngleich sich
die Safawiden und die späteren Dynastien im Iran zur schiitischen Form des Islams bekannten, waren die Gelehrten doch der
Meinung, dass deren Herrschaft nicht legitim sei. Diese steht nur
den Imamen zu. Politisches Handeln wurde von den Gelehrten
als ein problematischer Akt betrachtet, wiewohl ihnen bewusst
war, dass irgendeine Form von Herrschaft notwendig ist, um eine
allgemeine Anarchie zu vermeiden, in der wiederum eine korrekte
Befolgung der Gebote des Islams nicht gewährleistet wäre. Sie nahmen eine quietistische Haltung ein und sahen ihre Aufgabe dann, den schiitischen Charakter des Irans zu bewahren. Die Gelehrten fühlten sich immer dann zum Eingreifen verpflichtet, wenn
die Gefahr bestand, dass das Land diesen Charakter verlieren würde. Dies ist vor allem seit dem 19. Jahrhundert immer wieder einmal der Fall gewesen.312 Eine größere Zahl von Gelehrten nimmt
auch heute noch diese Position ein. Ihnen gegenüber stehen die
Anhänger des Ayatollah Khomeini, der mit seinem Buch Velayet-e
Faqîh (Die Herrschaft des Rechtsgelehrten) den Anspruch der Gelehrten auf die Führung auch der tagespolitischen Geschäfte be123
gründet hat. Welche der beiden Positionen sich in der nächsten
Zeit durchsetzen kann, bleibt abzuwarten.
Die Ismailiten
Die neben den Zwölferschiiten bekannteste schiitische Gruppe
sind die Ismailiten. Sie sind davon überzeugt, dass mit dem siebten Imam die Kette der Imame zu ihrem Ende gekommen sei.
Auch sie erwarten seine Wiederkunft als »Mahdî«. Nach allerlei
internen Spaltungen und Konflikten gelang es Missionaren der
Ismailiten seit dem 9. Jahrhundert, in den verschiedensten Teilen
der islamischen Welt Anhänger für ihre häufig revolutionären Vorstellungen zu gewinnen. Regionale Schwerpunkte ihrer Missionsbemühungen waren der Südirak, Nordsyrien, Bahrein, Nordjemen,
Indien und Nordafrika. Heute bestehen ismailitische Gemeinden
in Syrien, Jemen, Zentralasien, Indien und unter indischen Einwanderern in Ostafrika. Die Mehrzahl von ihnen sieht im Agha
Khan ihr Oberhaupt.
Ihre stärkste politische Bedeutung hatten die Ismailiten in der
Zeit der Dynastie der Fatimiden zwischen 909 und 1171 in Nordafrika und Ägypten. Ihren Anhängern gelang es zur Zeit der Kreuzzüge, auch in Nordsyrien und im Iran politischen Einfluss auszuüben. Sie waren in den turbulenten Zeiten des 11. Jahrhunderts
ein wichtiger Machtfaktor. Durch ihre ungewöhnlichen Aktivitäten erregten sie auch das Interesse der zeitgenössischen europäischen Beobachter, die die Gruppe mit zum Teil legendenhaften
Vorstellungen in Zusammenhang brachten. Zu nennen ist hier vor
allem der Ismailiten-Führer Hansan-e Sabah, der als der »Alte vom
Berge« in die europäische Historiographie und Literatur eingegangen ist.313 Ihm war es 1090 gelungen, die Bergfestung Alamut in
der persischen Region Daylam in seine Gewalt zu bringen. Wäh124
rend sich die ismailitischen Aktivitäten in Iran bis dahin vornehmlich im Verborgenen abgespielt hatten, leitete Hasan-e Sabah einen Aufruhr gegen die militärisch weit überlegene SeldschukenHerrschaft.314 Dabei ging er strategisch geschickt vor und brachte
sich in den Besitz mehrerer Bergfestungen, die seine Gegner trotz
zahlenmäßiger Überlegenheit nicht einnehmen konnten. Berühmt
wurde er aber dadurch, dass er unter seinen Gegnern Furcht und
Schrecken verbreitete, indem er Anhänger aussandte, die unter
Einsatz ihres eigenen Lebens in die feindlichen Reihen eindrangen und Mordanschläge gegen wichtige militärische und politische
Persönlichkeiten ausführten oder durch entsprechende Hinweise
zumindest auf derartige Möglichkeiten aufmerksam machten. Die
Todesverachtung der »Fida'îyîn« (Opferbereiten) wurde in gegnerischen Berichten mit dem Konsum von Haschisch erklärt. Die
Gruppe erhielt den Namen »Haschisch-Esser«, Assassinen, woraus sich dann u.a. das französische Wort »assasin« für politisch motivierte Mörder herleitete. Nachdem die Festung Alamut im 13.
Jahrhundert von den Mongolen zerstört worden war, residierten
die Führer der Ismailiten in Aserbaidschan. Seit dem 18. Jahrhundert mischten sich diese Führer auch in die iranische Politik ein.
Einem von ihnen verlieh der Qadjaren-Herrscher Fath 'Alî Shâh
den Titel Agha Khan, den dieser seinen Nachfolgern vererbte.
Im Jahr 1843 übersiedelte ein Agha Khan nach Indien.
Die Lehre der Ismailiten ist gekennzeichnet durch die grundsätzliche Unterscheidung zwischen »Zâhir« (Äußeres) und »Bâtin«
(Inneres)315 innerhalb der Religion. »Zâhir« ist die offensichtliche
und allgemein akzeptierte Bedeutung der Offenbarungsschriften
der Buchreligionen. Sie kann sich nach ismailitischer Auffassung
mit dem Erscheinen jedes neuen Propheten ändern. Vor allem ist
sie dem Verständnis jedes Menschen zugänglich. »Bâtin« dagegen
sind die tatsächlichen, unwandelbaren Wahrheiten, die in den Offenbarungen verborgen sind. Diese Wahrheiten können durch
125
Interpretation sichtbar gemacht werden. Dazu werden verschiedene »kabbalistische« Techniken angewendet, in denen Buchstaben- und Zahlensymbolik eine wichtige Rolle spielen.316 Nach der
zyklischen historischen Vorstellung der Ismailiten gibt es sieben
Zeitalter. Jedes Zeitalter beginnt mit einem Propheten, der eine
Offenbarung verkündet. Jedem der nach dieser Vorstellung bisher erschienenen Propheten: Adam, Nuh (Noah), Ibrahîm (Abraham), Musa (Mose), Îsâ (Jesus) und Muhammad, folgte eine Person
mit der Kompetenz, die innere (bâtin) Bedeutung der jeweiligen
Offenbarung zu verkünden, und dieser folgten wiederum jeweils
sieben Imame. Der jeweils siebte Imam wird der Prophet des folgenden Zeitalters, der mit seiner Botschaft die Lehren und Gesetze der vorhergegangenen Offenbarung aufhebt. So folgte auf
Muhammad Ali als derjenige, der die innere Bedeutung des Korans offenbarte. Der siebte Imam dieses Zeitalters ist Muhammad ibn Islam'il, der als »Mahdî« erscheinen wird, um die Gesetze
des Islams aufzuheben. Seine Botschaft wird jedoch keinen Unterschied zwischen »Zâhir« und »Bâtin« kennen. Bis zum Erscheinen des »Mahdî« muss die Bedeutung des »Bâtin« verborgen gehalten bleiben. Nur wenigen darf sie bekannt gemacht werden.
Später wurde dieses Ideensystem durch neoplatonisch beeinflusste Überlegungen zu einer Kosmologie ergänzt. Diese Vorstellungen führten zu gewissen antinomistischen Tendenzen unter
den Ismailiten, die sich vor allem zur Zeit der Fatimidenherrschaft in Ägypten als problematisch herausstellten. Fatimidische
Theoretiker bemühten sich daher um Modifikationen, bei denen
die innere und die äußere Bedeutung des Korans als gleichwertig anerkannt wurden. Wie bei einer Glaubensgemeinschaft, die
vornehmlich im Verborgenen existiert und einen weitgehend dezentralen Charakter hat, nicht weiter verwunderlich, entwickelten sich zahlreiche Sonderformen der Doktrin. Verstärkt wurde
diese Tendenz zu Sonderformen noch dadurch, dass in den zum
126
Teil voneinander isoliert lebenden Gemeinschaften Personen auftraten, die für sich reklamierten, der erwartete »Mahdî« zu sein.
Solche Ansprüche mussten, wenn sie sich durchsetzen konnten,
von entsprechenden Modifikationen der Doktrin begleitet werden.317
In der Gegenwart ist eine beträchtliche Distanz der großen islamischen Gemeinschaften der Sunniten und der Zwölferschiiten
gegenüber den Ismailiten zu beobachten. Die Ismailiten haben sich
häufig gesellschaftlich isoliert, wurden aber vielfach auch von ihrem sozialen Umfeld isoliert. Die Konzentration auf die eigene
Glaubensgemeinschaft hat die Solidarität und Kooperation innerhalb dieser Gemeinschaft gefördert. Auf wirtschaftlichem Gebiet hat dieses Gemeinschaftsgefühl zu eindrucksvollen Erfolgen
geführt. Teile der aus den ökonomischen Aktivitäten erzielten Gewinne werden in Form von frommen Stiftungen für Sozial- und
Bildungsprogramme verwendet. Solche Bildungseinrichtungen
haben u.a. die Aufgabe, die Mitglieder der ismailitischen Gemeinde mit ideologischen und politischen Vorstellungen der westlichen
Welt und deren technischen Entwicklungen vertraut zu machen.
Die Bahai
Wie die Gemeinschaft der Ismailiten ist auch die Glaubensgemeinschaft der Bahai aus dem schiitischen Islam hervorgegangen. Die Bahai vergleichen ihr Verhältnis zum Islam mit dem des
Christentums zum Judentum. Da diese Gemeinschaft erst vor relativ kurzer Zeit entstanden ist und zudem einen ausgesprochen
missionarischen Charakter besitzt, ist von den politischen, religiösen, kulturellen und sozialen Hintergründen ihrer Entstehung,
von ihrer Entwicklung und ihren Organisationsstrukturen sehr
viel mehr bekannt als bei älteren heterodoxen Gemeinschaften.
127
Religionsstifter ist der 1817 in Teheran geborene Mirzâ Husain 'Alî
Nûrî, der sich den Namen Bahâ' Allâh (Glanz der Religion) gegeben hatte. Von diesem Namen leitet sich die Bezeichnung für die
neue Religion ab. Sehr früh begann Bahâ' Allah, ein starkes Interesse für religiöse Fragestellungen zu entwickeln. Seine Wirkung
auf die Bevölkerung wurde durch ein beträchtliches Charisma
verstärkt. Ungewöhnlich ist auch, dass er seine Vorstellungen und
Überlegungen nahezu von Anfang an schriftlich niederlegte. Um
das Jahr 1844 schloss er sich einer in Iran entstandenen Gruppe
an, in der sich mystische Praktiken mit Heilserwartungen verbanden. Sie wird nach ihrem Gründer Sayyid Ali Muhammad, Bäb
(Tor) genannt, als Babismus bezeichnet. Bahâ' Allah teilte das
Schicksal anderer Anhänger des Bäb und musste Gefängnis und
Exil erleiden. Im Bagdader Exil erklärte er seinen Anhängern,
dass er der sei, »den Gott erscheinen lassen wird«. Bei internen
Auseinandersetzungen um diese Position des »Mahdî« konnte er
sich gegenüber seinem Halbbruder Subh-i Azal durchsetzen. Bahâ' Allâh konnte eine erhebliche Anhängerschaft, vor allem unter den Schiiten in Mesopotamien, dem heutigen Irak, sammeln
und wurde von den schiitischen Geistlichen als eine Gefahr für
die Schia betrachtet. Sie konnten durch diplomatischen Druck
erreichen, dass Bahâ' Allâh aus Bagdad ausgewiesen und zunächst
nach Istanbul und schließlich ins palästinensische Akka weiterziehen musste, wo er 1892 verstarb. Sein Sohn Abd al-Bahâ' wurde von den Anhängern Bahâ' Allâhs als der autorisierte Interpret
der Lehren des Stifters anerkannt.
Die Bahai verfügen über eine elaborierte Doktrin, die ihre Anziehungskraft auch auf Amerikaner und Europäer ausübte. Nach
Überzeugung der Bahai ist Gott eine gänzlich transzendente und
nicht erkennbare Entität. Das bedeutet, dass sich die Bahai gegen
jede Möglichkeit der mystischen Erkenntnis Gottes wenden.318
Die Vorstellungen der Bahai von der Entstehung der Welt halten
128
ein fragiles Gleichgewicht zwischen Erschaffung und Emanation; denn die nicht erkennbare Essenz Gottes hat sich selbst manifestiert und etwas geschaffen, was selbst nicht Gott ist. Die mit
dem Begriff der Schöpfung verbundene Vorstellung vom Beginn
der Existenz der Welt wird von den Bahai jedoch nicht vertreten.
Sie glauben, dass die Welt ewig sei. Als eine besondere Form der
göttlichen Manifestation werden die Propheten angesehen. Der
Prophet ist danach sowohl ein Mensch als auch der klarste Spiegel, in dem Gott reflektiert wird; die Manifestationen Gottes durch
Propheten entstehen ständig neu. Prophet ist neben Adam, den
Propheten des Judentums, Christentums und des Islams auch Zarathustra, während Buddha und Konfuzius als Weise betrachtet
werden. In der Reihe der Propheten folgte auf Muhammad Bäb
und auf diesen dann Bahä Allah. Die Bahai gehen davon aus, dass
die Reihe der Propheten auch in Zukunft fortgesetzt wird; allerdings werden bis zum Erscheinen des nächsten Propheten nach
Bahä Allah tausend Jahre vergehen. Die Propheten sind im Übrigen den kulturellen, sozialen und historischen Zuständen, in denen sie auftreten, am meisten angemessen. Die verschiedenen Propheten sind in Gruppen eingeteilt. So beginnt eine Gruppe mit
Adam und endet mit Bäb. Die Zeit der Gruppe, die mit Bahâ'
Allah begonnen hat, werde 50 000 Jahre dauern. Da die Bahai die
Lehren aller Propheten anerkennen, ist ihnen der Vorwurf des Synkretismus gemacht worden. Diesem begegnen sie mit dem Argument, dass sie die Lehre des Propheten, der der jeweiligen Zeit
am ehesten adäquat ist, in den Vordergrund stellen.
Die Bahai unterscheiden fünf Typen von Geist: den pflanzlichen
und den tierischen Geist, den menschlichen Geist, den Geist des
Glaubens und den Heiligen Geist. Zu den wichtigsten Prinzipien
der Moral- und Soziallehre der Bahai gehören die Einheit der
Menschheit, die Notwendigkeit der unabhängigen Suche nach der
Wahrheit, die essenzielle Einheit aller Religionen, die Förderung
129
der Einheit durch die Religion, die notwendige Übereinstimmung
von Religion und Wissenschaft, die Gleichberechtigung der beiden Geschlechter (was auch die gleichen Pflichten beinhaltet), die
Ablehnung jeder Form von Vorurteilen (seien sie religiöser, nationaler, politischer, wirtschaftlicher oder anderer Art), die Suche nach
dem Weltfrieden, die Sicherung einer universellen und allgemeinen
Erziehung, die Lösung sozialer Probleme auf religiöser Basis durch
die Abschaffung von übergroßem Reichtum und tiefster Armut,
die Benutzung einer internationalen Sprache als Verständigungssystem und die Einrichtung eines internationalen Gerichtshofs.
Öffentliche Rituale oder Sakramente kennen die Bahai nicht.
Zu den religiösen Pflichten eines Bahai gehört es, alle neunzehn
Tage an einer Gemeindefeier teilzunehmen, eine Fastenperiode
von neunzehn Tagen einzuhalten, Alkohol und andere Drogen
zu meiden und dreimal täglich zu beten. Die Bahai verfügen über
eine vollständige religiöse Administration, die sie für gottgegeben
halten. Lokale Gemeinden haben eine aus neun Personen bestehende Führung, die durch eine jährlich stattfindende Wahl bestimmt wird. Die Wahl wird als eine Erfüllung des göttlichen Willens angesehen; daher sind die Gewählten ihren Wählern auch
nicht direkt verantwortlich, sie sind Instrumente des göttlichen
Willens. Falls genügend lokale Gemeinden vorhanden sind, wird
von diesen durch ein Wahlgremium für ein Jahr eine nationale Führung gewählt, die ebenfalls aus neun Personen besteht. Von Mitgliedern der verschiedenen nationalen Führungen wird durch
Wahl ein universales Führungsgremium bestimmt. Die verschiedenen Gremien verfügen über eine gewisse juridische Gewalt Konflikte auf den einzelnen Ebenen sollen durch die jeweiligen Leitungsorgane beigelegt werden.319
Da bisher die Mehrzahl von Bahai-Anhängern von Vorfahren
abstammt, die einer muslimischen Gruppe angehörten, werden
sie von muslimischen Rechtsgelehrten als Apostaten angesehen
130
und sind vor allem im Iran Verfolgungen ausgesetzt.320 Derzeit
verändert sich aber die Zusammensetzung der Gemeinschaft hin
zu europäischen und amerikanischen Mehrheiten. Während BahaiWeltkongresse in den vergangenen Jahrzehnten eher die Form von
großen Familienfesten hatten, stößt ihre Organisation infolge der
steigenden Mitgliederzahlen nun an organisatorische Grenzen.
Man kann am Beispiel der Bahai, vielleicht zum ersten Mal in der
Geschichte der Menschheit, die Entstehung einer Universalreligion in allen Einzelheiten beobachten.
Islamische Mystik
Über Jahrhunderte stellte die Mystik die bedeutendste Form religiösen Lebens neben der Orthodoxie dar. Selbst muslimische
Rechtsgelehrte, die heute als »Leuchttürme« einer traditionalistischen und ausschließlich schriftbezogenen Form des Islams gelten,
wie der mittelalterliche damaszener Theologe Ibn Taymiyya321,
gehörten Gruppierungen an, die von mystischen Vorstellungen geprägt waren. Bis in die Dreißiger)ahre des 20. Jahrhunderts waren
mystische Praktiken in der islamischen Welt so allgemein verbreitet, dass man z.B. in Ägypten nicht Muslim sein konnte, ohne
gleichzeitig auch Mitglied einer Mystiker-Organisation zu sein.
Verschiedene islamische Reformbewegungen der ersten Hälfte
des 20. Jahrhunderts bekämpften die islamische Mystik als eine
im Islam nicht statthafte Neuerung.322 Der Einfluss mystischer
Vorstellungen schien unter diesen Angriffen tatsächlich zu schwinden. Inzwischen kann man jedoch feststellen, dass die Zahl der
Muslime, die sich von den Lehren islamischer Mystiker beeinflussen lassen, weltweit wieder ansteigt, wenn sie überhaupt je in
bemerkenswerter Weise zurückgegangen sein sollte. Da die Mystik aber eine weniger spektakuläre Form der Religionsausübung
131
darstellt, ist es nicht weiter erstaunlich, wenn sie in der Öffentlichkeit nicht nur der westlichen Welt weniger wahrgenommen
wird als z.B. radikal-islamische Vorstellungen.
Die islamische Mystik (Tasawwuf) entwickelte sich im frühen
9. Jahrhundert in verschiedenen kulturellen Zentren der islamischen Welt, schwerpunktmäßig in Mesopotamien, außerdem in
Ägypten. Ihr Entstehen darf sicherlich in Zusammenhang gebracht
werden mit dem Kontakt der Muslime mit christlichen und jüdischen Ritualen, verbunden wohl aber auch mit indischen asketischen und mystischen Praktiken. Darüber hinaus spielte die neuplatonische Philosophie des Hellenismus eine prägende Rolle.
Im Übrigen kann man die islamische Mystik als eine Gegenbewegung zur strengen, ernsten, sinnenfernen und distanzbetonenden
Gottesvorstellung des orthodoxen Islams ansehen. Die islamische Mystik sieht Gott als den Geliebten, dem sich der Liebende
mehr und mehr nähern will und muss, um schließlich ganz mit
ihm zu verschmelzen. Am schönsten wird dieses Verhältnis zu
Gott in einer Geschichte beschrieben, in der von Rabi'a, einer der
frühesten Mystikerinnen, berichtet wird, dass sie mit einem Eimer Wasser und einer brennenden Fackel durch die Straßen und
Gassen der Hafenstadt Basra gelaufen sei. Auf die Frage, was ihr
Tun bedeute, habe sie geantwortet, dass sie mit der Fackel das
Paradies verbrennen und mit dem Wasser das Feuer der Hölle löschen wolle, damit sie Gottes Willen nicht aus Furcht vor Strafe
oder Hoffnung auf Belohnung erfülle, sondern nur aus Liebe zu
ihm.323 Mystiker werden in den Quellen als Gottsucher beschrieben, die sich auf einem Pfad (Tariqa) befinden, der sie Gott immer näher bringt. Dieser Weg hat verschiedene Stufen, die Mystiker sprechen von Rastplätzen (Maqäma), und ist zunächst vor
allem mit asketischen Übungen verbunden. Der Mystiker alMuhâsibî (781-857)324 aus Bagdad beschreibt diese so:
132
»Steht er noch im Stadium der Furcht, dann verzichtet er nur aus Furcht
vor Gottes Strafe, dann kann er vielleicht dahin gelangen, sogar von dem
Erlaubten abzusehen aus Furcht, Gott für seine Gaben nicht in der richtigen Weise danken zu können. Im Stadium der ängstlichen Frömmigkeit
übergeht man alles, dessen Zulässigkeit Zweifeln unterworfen ist. Wer
den Grad des Gottvertrauens erlangt hat, hört auf, Unruhe und Sorge für
seinen Lebensunterhalt zu hegen. Wer noch weiter – bis zur Gottesliebe –
gekommen ist, gibt alles in der Welt auf, weil es so geringen Wert hat. Manche meinen sogar, man müsse auch bereit sein, auf das Paradies zu verzichten, weil es ein Nichts sei im Vergleich zum Gedenken an Gott. Aber
auf der höchsten Stufe, der Stufe der aufrecht Liebenden, kommt man so
weit, auch auf die Brüder zu verzichten, die uns daran hindern, nur noch
an Gott zu denken. Das bedeutet nicht, jeden Verkehr abzubrechen, sondern auf die Gemeinschaft zu verzichten, soweit sie ein Hindernis für das
Leben ganz mit Gott ist.«325
Die Gottesfurcht ist der Ausgangspunkt des mystischen Weges.
Aus Furcht vor Gott tut der Gläubige Buße, indem er Askese
übt. Dabei geht es ihm nicht nur um seine Sünden, sondern auch
um seine guten Taten und Tugenden. Auch sie können vom Weg
zu Gott ablenken. Ergänzt wird die Gottesfurcht durch das Gottvertrauen (Tawakkul).326 Gemeint ist, dass man sich völlig auf
Gott verlässt. Die göttliche Vorsehung ist es, die das Schicksal des
Menschen bestimmt. Der Mensch kann keine bessere Haltung
einnehmen als das totale Vertrauen in die Hilfe und Barmherzigkeit Gottes. Die Mystiker sprechen von Übergeben (Taslim) und
Anvertrauen (Tafwîd). Wer sich so auf Gott verlässt, der erlangt
den inneren Frieden und die unerschütterliche Gelassenheit des
Herzens. In der konkreten Lebensführung stellt sich diese Haltung in den folgenden Ausdrucksformen dar: Gleichgültigkeit
gegenüber Gefahr, Verzicht auf Erwerbstätigkeit, Verzicht auf
Ersparnisse, Reisen ohne Wegproviant, Verzicht auf ärztliche Behandlung, Standhaftigkeit in Prüfungen, Ertragen von Schicksalsschlägen und der Widerwärtigkeiten des Lebens. Die Gotteser133
kenntnis, die eine grundsätzliche Voraussetzung für den mystischen Pfad darstellt, steht zunächst allen Gläubigen offen; denn
durch die Offenbarung hat sich Gott dem Menschen zugänglich
gemacht. Dieser Gotteserkenntnis fehlen aber Intuition und Affektivität; der Mystiker strebt emotionale Gotteserkenntnis an.
Er sucht Gott direkt zu erreichen und zur Erkenntnis seines verborgenen Wesens zu gelangen. Die Wege zu dieser Gotteserkenntnis sind die Liebe und die vollkommene Konzentration auf Gott
allein. Der Mystiker als Liebender beseitigt alles, was zwischen
ihm und Gott liegt, die Welt, die Gesellschaft der Menschen, vor
allem aber sich selbst und alle seine Eigenschaften, sein eigenes
Wollen und Erkennen. Durch dieses bis zum Äußersten vorangetriebene »Entwerden« (Fanâ') kann der Mystiker bis zum verhüllten Geheimnis des göttlichen Wesens vordringen und Gott intuitiv und direkt erkennen. All dies ist nicht ohne Risiko, da der
Mystiker geistige und seelische Zustände erfährt, die ihm den Eindruck vermitteln, er sei schon zu Gott gelangt Dabei kann es sich
um eine Selbsttäuschung handeln, die zu einem schmerzhaften
Erwachen führt; dennoch hat es immer wieder Menschen gegeben,
die von der Vereinigung mit dem göttlichen Geliebten zu berichten wussten.327
Den Mystikern war und ist bewusst, dass ihr Weg von zahlreichen Gefahren und Risiken gesäumt wird. Daher sahen sie es,
vor allem nachdem mystisches Gedankengut in weiten Bevölkerungskreisen der islamischen Gesellschaften großen Anklang gefunden hatte, für geboten an, sich auf diesem Pfad einem Führer
anzuvertrauen. Aus einem derartigen durch Autorität geprägten
Verhältnis zwischen einem mystischen Lehrer und einem oder
mehreren Schülern entwickelten sich etwa seit dem 10. Jahrhundert verschiedene religiöse Organisationen, die im Laufe der Zeit
einen erheblichen religiösen328, politischen329, sozialen330, ja sogar
wirtschaftlichen331 Einfluss gewannen. Über viele Jahrhunderte
134
stellten diese »Bruderschaften« (»Tarîqa«, Pl. »Turuq«)332 wichtige
gesellschaftliche Strukturen dar, die in ihrer Legitimation gegenüber der Anhängerschaft und ihrer Effektivität in den verschiedensten Lebensbereichen eine erhebliche Konkurrenz zu den
staatlichen Einrichtungen darstellten. Häufig entwickelten sie
sich zu den einzigen überhaupt bedeutsamen sozialen Institutionen innerhalb islamischer Staaten. So waren es vor allem diese
»Bruderschaften«, die einen effektiven Widerstand gegenüber der
modernen europäischen kolonialen Expansion entwickeln konnten.333 Die Popularisierung mystischen Gedankenguts führte aber
auch auf Seitenwege, die mit dem geistigen Ausgangspunkt nur
noch wenig gemein hatten. Die Vorstellung von der Vereinigung
mit Gott brachte antinomistische Tendenzen mit sich. Folgenschwerer war allerdings, dass den Gründern der »Bruderschaften«
wegen ihres asketischen Verhaltens Heiligkeit zugesprochen wurde. Diese Sanktifikation wurde mit Berichten von verschiedenen Wundertaten (Karâmât) in Verbindung gebracht334, die immer weiter in den Vordergrund des Interesses der Anhänger und
Mitglieder der Organisationen rückten. Nach deren Vorstellung
verfügten die Ordensgründer über Gnadengaben (Baraka)335, die
sie zu diesen Wundern befähigten. Die Übergänge zur Volksreligion werden hier fließend. So kann man Baraka durch ein frommes Leben erwerben, man kann sie aber auch von einem männlichen oder weiblichen Vorfahren ererben und schließlich kann
man sie sogar durch den körperlichen Kontakt mit einem Besitzer von Baraka erhalten oder dadurch, dass man sich im gleichen
Raum wie er aufhält. All dies hat zu einem weit verbreiteten Heiligenkult, zu Gräberverehrung und sicherlich auch zu manchen
Formen von Missbrauch geführt, die von islamischen Reformern
aus unterschiedlichen religiösen Grundpositionen immer wieder
kritisiert wurden.336 So wurde die in den »Bruderschaften« verbreitete Vorstellung, dass die Ordensgründer und Heiligen der
135
jeweiligen Gemeinschaft in der Lage seien, für ein Mitglied bei
Gott zu intervenieren, als ein Abfall von den Monotheismusvorstellungen des Islams angesehen. Die Tatsache, dass es eine Vielzahl von Orden gibt, die sich teilweise auch in regionale und lokale
Zweige aufspalten, führte natürlich zu einer ständigen Konkurrenz
um Mitglieder und politischen bzw. wirtschaftlichen Einfluss.
Für die muslimischen Reformer des ausgehenden 19. und frühen
20. Jahrhunderts lag darin eine der Ursachen für die politische
Schwäche der islamischen Welt gegenüber der westlichen Welt,
die sich bei einer geistigen und religiösen Einheitlichkeit der Muslime nicht entwickelt hätte.337 Daher kam es vor allem seit den
Fünfzigerjahren zu einem scheinbaren Verschwinden der »Bruderschaften« und ihrer Form von Islam. Die seit dem Ende der
Sechzigerjahre feststellbare Reislamisierung in den verschiedensten Bereichen islamischer Gesellschaften hat aber wieder zu einem Anwachsen der Bedeutung der »Turuq« und der mit ihnen
verbundenen Institutionen geführt. Diese haben nach Ansicht
zahlreicher Beobachter inzwischen eine größere Bedeutung als
die in den Medien ungleich stärkere Beachtung findenden radikal-islamischen Gruppen.
136
8. Schluss
Bei vielen Gelegenheiten werden der Westen und die islamische
Welt als ein Gegensatz dargestellt. Dabei sind die Gemeinsamkeiten der beiden großen Kulturen ebenso grundlegend wie zahlreich. Orient und Okzident bauen auf der Vorstellung von einem
gemeinsamen Monotheismus und auf dem gemeinsamen Erbe
der griechischen Antike auf. Über mehr als vierzehn Jahrhunderte hat es einen regen kulturellen Austausch gegeben, von dem
im Deutschen Worte wie »Algebra« und »Alkohol«, »Giro« und
»Chemie«, »Kaffee« und »Aubergine« zeugen. Bis zum Beginn der
Neuzeit war der Orient in diesem Austausch der gebende, der
überlegene Partner; dann änderte sich das Verhältnis. Die islamischen Länder übernahmen eine Vielzahl von technischen Entwicklungen aus Europa, vor allem seit dem 19. Jahrhundert, aber
auch westliche philosophische und ideologische Vorstellungen
wie den Nationalismus und den Sozialismus in ihren verschiedenen Spielarten. Die Globalisierung hat also nicht erst mit der Erfindung des World Wide Web begonnen. Auf die Verkehrung der
kulturellen und technologischen Machtverhältnisse, die sich dann
auch politisch und militärisch auswirkten, reagierten die Muslime auf zwei unterschiedliche Arten. Nachdem sie Ende des 19.
Jahrhunderts den Schock ihrer Unterlegenheit überwunden hatten, versuchten sie einerseits den materiellen Vorsprung des Westens aufzuholen. Studienmissionen aus Ägypten, aus Iran oder
Indien besuchten die europäischen Hauptstädte. Studenten und
junge Offiziere kamen an die berühmten europäischen Universitä137
ten und militärischen Ausbildungsstätten. Britische, französische
oder deutsche Experten für Militärfragen, Medizin, Bergbau,
Straßenwesen und Verwaltung wurden ins Osmanische Reich oder
nach Ägypten eingeladen. Auf der anderen Seite suchten die Muslime aber auch nach den Gründen, die zur Schwächung der islamischen Welt geführt hatten. Muslimische Denker wie der Ägypter
Muhammad Abduh oder sein Gefährte Jamal al-Din al-Afghani
sahen zwei Ursachen: Erstens hatten sich, ihrer Ansicht nach, die
Muslime zu weit von ihren religiösen Grundlagen entfernt und
sich zweitens politisch und militärisch zu sehr zersplittert. Durch
eine Wiedergewinnung der religiösen Grundlagen wie der politischen Einheit könnte die islamische Welt zu alter Größe zurückkehren, so hofften sie.
Anfang des 19. Jahrhunderts begannen europäische Staaten
wie Frankreich und Britannien, aber auch Deutschland, auf direkte Weise durch die koloniale Expansion oder indirekt durch wirtschaftlichen Einfluss, die islamische Welt unter ihre Kontrolle zu
bringen. Damit kamen auch westliche Vorstellungen von Nation,
persönlicher Freiheit, Emanzipation der Frau oder Menschenrechten in die islamische Welt. Die politische Durchdringung ging
mit einer Verstärkung des westlichen Einflusses auch auf die kulturellen und sozialen Entwicklungen in den verschiedenen islamischen Ländern einher. Ende der Fünfzigerjahre des 20. Jahrhunderts waren zumindest die Eliten der islamischen Länder
weitgehend von der Richtigkeit der europäischen Lebensweise
überzeugt. Aus ihrer Sicht gab es dabei nur geringfügige Unterschiede zwischen den damaligen westlich-privatkapitalistischen
und den kommunistisch-staatskapitalistischen Systemen. Schwere militärische Niederlagen wie die im 6-Tage-Krieg von 1967
und tiefgehende sozioökonomische Veränderungen wie im Iran
der Schah-Zeit waren für viele Muslime, auch in den Eliten, Anlass, das westliche kulturelle und politische Modell kritisch zu
138
betrachten. Sie sahen im Westen nun vor allem Materialismus,
Egoismus, Unglauben und sexuelle Libertinage. Das von ihnen
propagierte islamische Modell sollte dagegen auf geistigen Werten, Solidarität, Glauben und Anstand beruhen. Der Islam wird
von ihnen als allumfassendes, für jede politische oder gesellschaftliche Situation taugliches System verstanden. »Der Islam ist die
Lösung«, lautet ein bekannter Slogan der Vertreter dieser Auffassung. Dieses Modell halten zumindest einige Muslime dem westlichen gegenüber für moralisch überlegen; sie sind überzeugt,
dass der Westen an seinen eigenen Fehlern zugrunde gehen wird.
Bisher hat sich noch keine politische Situation ergeben, in der
dieses islamische Modell ohne Störungen erprobt werden konnte.
Es steht allerdings zu befürchten, dass angesichts der großen wirtschaftlichen und sozialen Probleme der Mehrzahl der islamischen
Staaten auch ein solches Modell wenig erfolgreich sein wird. Es
wird die Aufgabe muslimischer Denker und westlicher Beobachter sein, für gemeinsame Lösungen der Aufgaben, vor denen die
islamischen wie die westlichen Länder stehen, zu sorgen; denn es
ist die Konsequenz der Globalisierung, dass die beiden Kulturen
in einem immer stärkeren Maß voneinander abhängig sein werden. Zunächst aber ist es wichtig, einander kennen zu lernen und
zu akzeptieren, dass auch die Position des anderen, zumindest aus
seiner Sicht, nicht unvernünftig ist. Wenn dies Buch ein wenig
dazu beigetragen hat, ist schon viel gewonnen.
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Anhang
Anmerkungen
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Zu den entsprechenden Daten s. Heine 1996: 129-148.
Hagemann 1976; Daniel 1979: 240-242; Glei 1985.
Björkmann 1965:672-682.
S. dazu Berenger 1987: 37-45.
Zur Geschichte der Koran-Übersetzungen s. vor allem Bobzin 1995.
S. dazu Fück 1955: 245
Zur Geschichte der Islamstudien s. bisher immer noch Fück 1955.
S. dazu Anawati 1974: 449-469; 1981: 155-171.
Kühnel 1994.
Als Beispiel s. Aubin 2000.
Zu den muslimischen Reaktionen s. Hourani 1962.
Daniel 1965.
Zur Geschichte des Reichskolonialamtes und seiner wissenschaftlichen
Einrichtungen in Hamburg wie auch zum »Seminar für Orientalische
Sprachen« in Berlin fehlen bisher die entsprechenden umfänglichen
wissenschaftsgeschichtlichen Untersuchungen.
Lemaire 2000.
Zum Buch und seiner Wirkung s. Kurz 2000.
Zur Rolle der Dichter in der altarabischen Gesellschaft s. Müller 1981.
S. dazu Lichtenstaedter 1935.
S. dazu Schacht 1950; Motzki 2002.
Noch in den Fünfzigerjahren des 20. Jahrhunderts führte der Versuch
des bedeutendsten ägyptischen Intellektuellen, Tâhâ Husain, die vorislamische Dichtung mit einer westlichen, historisch-kritischen Methode zu interpretieren, zu einem lebhaften Skandal, der Tâhâ Husain
seine Stellung als Dekan der literaturwissenschaftlichen Fakultät der
Universität Kairo kostete; s. dazu Ende 1982: 21-29.
Altheim/Stiehl 1968-1969.
Gerade junge arabische Staaten wie das Königreich Saudi-Arabien bemühen sich, durch die Bezugnahme auf vorislamische Traditionen und
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Dokumente wie Münzen oder Inschriften ihre nationale Existenz zu
legitimieren; s. Heine 1994: 97-108.
Zur neueren Diskussion um die Biografie Muhammads s. Motzki
2000.
Zur Parallelcousinen-Heirat s. Holy 1989.
S. Wellhausen 1927: 431-481; Henninger 1989: 305-338; Robinson 1990.
Vgl. Goldziher 1969: 316-318; ders. 1973: 201-206; Pipes 1981: 6-8,
107-116.
Z.B. Evans-Pritchard 1949; Dostal 1983: 53-59.
Chelhod 1955; Paret 1957: 14-23; Henninger 1983: 279-316.
Beltz 1980: 205-227.
Henninger 1989: 351-392.
Paret 1957: 14-23.
Heller/Mosbahi 1993:21-28; die Vorstellung von den »Töchtern Allahs«
führte schlussendlich zu dem immer noch andauernden Konflikt um
die Satanischen Verse und Salman Rushdi.
Ibrahîm 1982: 343-358.
Rabin 1957.
Lecker 1995.
Waardenburg 1981: 313.
Solch ein christlicher Dichter war z.B. al-Akhtal; zu ihm s. Barth 1901:
1-23; zu den christlichen arabischen Dichtern s. Gräf 1944.
Waardenburg 1981: 314.
S. dazu Rippin 1991: 156-164; Nagel 1991: 135 ff., 175 ff., 219 ff.
Preissler 1994: 495-506.
Lichtenstaedter 1935.
Fares 1932: 33.
Z.B. Kennedy 1989: 100 f.
Mattock 1984: 1-18.
Goldziher 1889-1890; Schacht 1950.
Schoeler 1996; Motzki 2000: 170-239.
Motzki 2002: 176.
Über das Verhältnis zwischen Koran und »Sîra« unter methodologischen Gesichtspunkten s. Rippin 1991.
Tapper 1987: 69-92.
Fahd 1987; Schimmel 1998: 230-269.
Ende 1981: 32-52.
51 Die wichtigsten älteren Arbeiten stammen von Grimme 1892; Buhl
1955; Watt 1953, 1956, Rodinson 1975.
52 Sure 105.
53 Goldziher 1970: 1-25.
54 Sure 96, 1-4.
55 Z.B. Sure 40, 42 f.; 36, 69 f.; 37, 14 f.; 23, 70 f.; 26, 210-212.
56 Sure 2, 86; 5, 2 U.Ö.
57 Über ihn s. Watt 1953 (vgl. Index).
58 Sure 10, 96 f.
59 Sure 20,133.
60 Sure 2, 23; 10, 38; 11, 13 f.; 17, 88; 52, 34.
61 Einige westliche Forscher haben die Vermutung geäußert, dass der
Grund für die Auswanderung auch in internen Konflikten der muslimischen Gemeinde zu suchen wäre; s. O'Shaughnessy 1991: 39 f.
62 Zu den Verhandlungen s. Görke 2000: 240-275.
63 Die islamische Zeitrechnung beruht auf dem Mondjahr, das um elf Tage kürzer als das Sonnenjahr ist. Sie beginnt mit dem Jahr 622. Das
Jahr 2003 entspricht den Jahren 1423/1424 der Hidschra. Die islamischen Monate wechseln durch das gesamte Sonnenjahr. Zuvor hatte
man in Mekka die Zeit nach dem Sonnenjahr geordnet. Durch Fehlrechnungen war es aber zu immer längeren Schaltperioden gekommen,
die zu einer beträchtlichen Unübersichtlichkeit geführt haben. Der
Wechsel der Mondmonate durch das Sonnenjahr machte es übrigens
notwendig, dass zusätzlich eine Zeitrechnung nach dem Sonnenjahr erforderlich wurde für die Bereiche, wie z.B. die Steuerverwaltung, die
sich nach dem Vegetationszyklus richten mussten.
64 In dem Wort »Muhäjirün« steckt das Wort »Hijra«. »Muhâjirûn« sind
also diejenigen, die mit Muhammad die »Hijra« vollzogen haben.
65 »Ansâr« bedeutet »Helfer«.
66 Kermani 1999: 29.
67 Stewart 1990: 101-139.
68 Nöldecke/Schwally/Bergsträsser 1961; diese Untersuchung gilt als die
ausführlichste und am tiefsten gehende Analyse des Textes aus westlicher Sicht.
69 Zur Textgeschichte s. auch Nagel 1991: 15-34; Khoury 1990: 67-76,
90-96. Zwischen der sunnitischen und schiitischen Konfession gab es
lebhafte Kontroversen um die Geschichte der Redaktion des Textes bis
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hin zu der schiitischen Behauptung, dass der wahre Koran sehr viel
umfangreicher sei als die überlieferte Form und sich auch inhaltlich
erheblich unterscheide, s. Brunner 2001.
S. dazu Khoury 1990: 85-89.
Mooren 1991.
Sure 109, 1-6.
Sure 112,1-4.
Sure 2,117; 36, 82; 6, 73.
Sure 37,125.
Sure 40,64.
Sure 9, 51.
Sure 40, 59.
Sure 2, 284.
Sure 50, 16.
Sure 35, 38; 8, 70.
Casanova 1911: 53 ff.
Sure 53, 57 f.
Sure 17, 51.
Sure 23,62; 54, 52; 87, 7-9,18-21.
Sure 42, 17; 21, 47, 55, 7; 101,6-9.
Sure 16, 2.
Sure 42, 5; 53, 26; 21, 28; 40, 7.
Sure 50,17 f.
Sure 41, 30-32; 16, 28; 6, 61.
Sure 20,116; 15, 28-35 u.ö.
Sure 2, 97 f.
Sure 2, 98.
Sure 32,11.
Koranische Hinweise auf diese Engel finden sich in Sure 47, 27 und
8,50.
Als Hinweise auf diese Engel werden von manchen Korankommentatoren Sure 41, 30 und 16, 32 aufgefasst.
Sure 74, 30 f.; 43, 77.
Sure 2, 102.
Sure 35,6.
Sure 23,97 f.
Sure 38, 41.
102 Die islamische Religionsgeschichte kennt derartige Diskussionen seit
dem 2. Jahrhundert der islamischen Zeitrechnung, s. dazu van Ess
1975
und sein grandioses Werk 1991-1997; für die spätere Zeit speziell im
Bereich der Schia s. Schmidtke 2000:115-180.
103 Sure 58,18.
104 Sure 43, 36.
105 Sure 14, 22.
106 Sure 15, 42.
107 Sure 55,14.
108 Sure 37,158; 6,128; 72, 6.
109 Goldziher 1920: 356; Janssen 1974: 34, 43.
110 Bijlefeld 1969: 1-29.
111 Sure 21, 25.
112 Sure 2, 213.
113 Sure 14, 4.
114 Z.B. Sure 14, 9-14.
115 Moubarac 1958.
116 Sure 11, 32.
117 Sure 26,14; 28, 33.
118 Sure 20, 29-36.
119 Sure 7, 27-31.
120 Zu Moses im Koran s. Prenner 1986; Caussee 1964.
121 Sure 3, 39-45.
122 Sure 41,171; 21, 91; 66,12.
123 Sure 3, 45; 4,171 f.; 17, 72, 75.
124 Sure 19, 20-22.
125 Sure 19, 30.
126 Sure 4, 156.
127 Sure 21,91; 66,12.
128 Sure 43, 59.
129 Sure 5,110; 3, 48 f.
130 Sure 4,171.
131 Sure 4,15; 5, 110.
132 Sure 19, 33.
133 Sure 4,159.
134 Sure 3, 45.
135 Die Literatur zu Jesus im Koran ist sehr umfangreich. Hier sei nur hin-
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gewiesen auf: Robinson 1990: 161-175; Räisänen 1971; Khoury 1968:
49-63.
Sure 26, 123-140; 23, 31-41; 11, 40-50; 7, 65-72.
Sure 54, 23-31, 26, 141-159; 11, 61-68; 7, 74-79.
Sure 26,176-190; 11, 84-95; 7, 85-93.
Sure 33, 40.
Sure 3,19; 5, 3; 48, 29 u.ö.
Sure 2,148; 5, 48.
Sure 22, 70 f.; 33, 70 f. u.ö.
Sure 17, 22-38.
Sure 40, 40.
Sure 4, 34.
Sure 4,11; zum Erbrecht im islamischen Recht allgemein s. Powers 1986.
Sure 2, 282; die Literatur über die Stellung der Frau in islamischen Gesellschaften ist inzwischen nicht mehr zu übersehen; hier sei daher
nur auf Walther 1980 hingewiesen.
Sure 2, 217; 6,147; 33,19.
Sure 3, 86-91; 16, 106 f.; 2, 217; 4, 137; 5, 7.
Sure 4, 88 f.
Griffel 2000: 58 f.
Zu den islamischen Rechtsschulen s. Antes 1982: 82 ff.
Anfang der Neunzigerjahre erregte ein entsprechendes Verfahren um
den ägyptischen Wissenschaftler Hamid Abu Zaid erhebliches Aufsehen, s. dazu Wild 1992: 256-261; Kermani 1999: 147 f., 162 f.
Zur Frage der Apostasie im Islam gibt es ebenfalls eine Vielzahl von
Untersuchungen. Hier sei lediglich auf Griffel 2000 hingewiesen.
Sure 2,178.
Sure 4, 92.
Sure 5, 33.
Sure 23,12-14; 56, 57-59.
Sure 17, 53.
Rispler-Chaim 1992; Lohlker 1996 (Index).
Sure 24, 2 f.
Sure 24, 4.
Sure 4, 15.
Sure 24, 4-9.
Sure 5, 38.
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Sure 4,11.
Sure 4, 34.
Zur Brautgabe s. Maher 1974.
Sure 4,129.
Sure 1.
Sure 12.
Sure 18, 27; ähnlich 6, 34, 115; 17, 77; 33, 62, 35, 43; 50, 29.
Sure 4, 82.
Sure 87, 7; 17, 86.
Sure 16,101.
S. auch Sure 87, 7.
Sure 17, 86.
Sure 2,106.
Sure 10, 15.
Sure 16, 69.
Sure 4, 46.
Sure 5, 92.
Kermani 1999: 238 ff.
Versteegh 1997: 54 ff.
Blair 1998.
Ullmann 1972.
Janssen 1974: 35-55.
Kriss/Kriss-Heinrich 1962: 11 ff., 17 ff. u.ö.
Heine 1993: 37-48.
Mooren 1991: 51.
S. dazu Peters/de Vries 1976/77: 1-25.
Sure 4,103 u.ö.
Vgl. Sure 20, 130,17, 87, 30,17 f.
Zur Geschichte und Funktion des Gebetsrufers im Islam s. Padwick
1961; Sabiq 1987: 99-110.
195 Nach der Ansicht der Mehrzahl der muslimischen Rechtsgelehrten
muss auch in Ländern, die nicht zum arabischen Sprachraum zählen,
in arabischer Sprache zum Gebet gerufen werden. Gegen die Benutzung
von Lautsprechern und ähnlichen Verstärkeranlagen für den Gebetsruf erhebt das islamische Recht keine Einwände. In den Sechzigerjahren des 20. Jahrhunderts war es durchaus üblich, dass Schallplatten
abgespielt wurden, von denen der Gebetsruf wiedergegeben wurde. In-
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zwischen sind derartige künstliche Formen des Gebetsrufs allerdings
verpönt.
Zum Bad im arabischen Mittelalter s. Grotzfeld 1970.
Sure 4, 43; auch 5, 6.
Sure 2,114-145,149 f.
Sure 62, 9 f.
S. Brothwick 1965.
Zur Entwicklungsgeschichte des Fastens während des Monats Ramadan s. Lech 1979; Goitein 1966; Wagtendonk 1965.
Der Name »Ramadan« wird mit der arabischen Wurzel »rmd« in Zusammenhang gebracht, die »starke Hitze« u.a. bedeutet.
Sure 2,183-185,187, 196; 5, 89, 95; 9,112; 19, 26; 33, 35; 58,4.
Sabiq 1987: 381-418.
Khoury 1988: 196.
Sure 97,1-5.
Buitelaar 1993: 17.
Jomier/Carbon 1956.
S. Christmann 1998: 78-134.
Nabhan 1991.
Haarmann 1978:100 f.
Halm 1988: 58 f., 179 ff.; für den sunnitischen Bereich s. Heine 1990.
Sure 2, 270-274 u.ö.
Sure 2, 219.
Gemeint sind hier die Verwalter der Almosen.
Gemeint sind damit die Menschen, die sich anschicken, sich zum Islam
zu bekennen; m.a.W. die »Zakât« wird auch zur Deckung von Kosten
der islamischen Mission verwendet.
Hier sind die Krieger im Dschihad gemeint.
Sure 9,60.
Zu dem gesamten Komplex s. Sabiq 1987: 287-379.
Bashaer 1993: 84-113; Bilgrami 1994: 226-233.
Sure 9, 29.
Noth 1974: 150-162.
Johansen 1988.
Heine 1982: 50 f.
Sure 8, 41.
Sure 2,196-200; 5, 94-97; 22, 32 f., 36 f. u.ö.
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249
Wellhausen 1927.
Sabiq 1987: 523-567.
Stillman 2000: 17-23.
Guellouz 1977: 118; s. auch und vor allem das Vorwort dieses Buches
von Muhammad Arkoun.
Ausführliche Beschreibungen der Pilgerfahrt finden sich bei Guellouz
1977; immer noch nützlich sind die großen Darstellungen von Snouck
Hourgronje 1880 und 1888.
Natürlich kannte und kennt auch der Islam in der Alltagspraxis seit
langem Tendenzen ethnischer, nationaler oder sozialer Segregation
und Diskriminierung; hier sei lediglich auf die negative Haltung muslimischer mittelalterlicher Autoren gegenüber Schwarzafrikanern hingewiesen; s. dazu Heine 1996 a und die dort angegebene Literatur.
Zur Entwicklung der Reiseliteratur und der geographischen Literatur
im Allgemeinen am arabischen Beispiel s. Blachère/Darmaun 1957.
Works 1976; Rosander 1991: 144-200.
S. dazu Martin 1976:13-35,68-98,177-201.
Faroqhi 1990:12 ff.
Parker/Avon 1995.
Dennoch hat es im Verlauf der islamischen Geschichte eine Vielzahl
von kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen muslimischen Staaten gegeben. Die islamischen Rechtsgelehrten haben aber immer Mühe gehabt, derartige gewaltförmige Konflikte als rechtmäßig zu beschreiben.
Sure 9, 5.
Sure 9, 111.
Sure 2, 256.
Z.B. Sure 9, 5.
Sure 61,11.
Z.B. Sure 16, 23.
Z.B. Sure 3, 144.
Sure 3, 200.
Gott wird mit den so genannten »schönsten Namen« (al-asmä al-husna) genannt, von denen den Menschen 99 bekannt sind; s. dazu und
zur islamischen Namensgebung Schimmel 1993.
Sure 2, 224.
Sure 2, 278 f.; s.a. 30, 39; 2,175 f.
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Sure 2, 237, 83.
Sure 24, 22; 64, 14.
Sure 41, 43.
Sure 4, 114, 49, 9; 41, 11; 49, 1.
Sure 2, 177.
Sure 5, 32.
Sure 30, 21.
Sure 70, 31; 24, 33; 70, 29; 23, 5; 24, 30, 60; 6,151; 4, 16; 7, 80f.; 24, 33;
24, 32.
Sure 22, 30; 25, 72; 33, 70 £; 3, 188; 49, 12; 24, 29; 4, 112.
Zu den Beschreibungen des Jüngsten Tages s. Bashaer 1993: 75-99; Madelung 1986: 142-161.
Zu den Beschreibungen des Paradieses s. Schimmel 2001: 16-27. Die
Paradiesvorstellungen haben auch als Vorbild für die Entwicklung einer islamischen Gartenarchitektur gedient; s. Petruccioli 1997.
Sure 3, 10; 85, 5.
Sure 17, 97; 74, 28.
Sure 44, 43 ff.
Sure 22, 19 f.; 40, 71 f.; 11, 106 f.; 33, 64 f.
Abou El Fadl 2001: 27.
Sure 4, 12.
Sure 5, 6.
Zu den Gründen der Offenbarung s. Rippin 1988: 1-20.
Sure 4, 59.
Sure 4, 83.
Krawietzl991:54.
Heine 1986: 28-45.
Heine 1985: 499-502.
Heine 1994: 281-284.
Brückner 2001.
Crone 1987; Hallaq 1995: Ch. IX 1-36.
Als Beispiel sei darauf hingewiesen, dass die in der Türkei vorwiegende
hanafitische Rechtsschule es unverheirateten jungen Frauen gestattet, allein zu wohnen. Das türkische Gewohnheitsrecht macht das jedoch unmöglich.
In diesem Zusammenhang sei unter den verschiedenen Darstellungen
zum islamischen Recht besonders hingewiesen auf Krawietz 1991: 21-45.
279 Zitiert nach El Fadl 2001: 130 f.
280 Heine 1983: 110-119.
281 So hat der Vorsitzende der »Islamischen Föderation Berlin« das Recht,
in Streitfragen religiöser oder ethischer Natur eine Entscheidung zu
treffen, die von den Mitgliedern als verbindlich angesehen werden
muss; zur rechtlichen Situation islamischer Gemeinden in verschiedenen europäischen Staaten s. Shadidi/van Koningsveld 2002.
282 Ende 1995: 37-43.
283 Zum malikitischen Recht s. Muranyi 1997; Motzki 1998: 18-83.
284 Zum hanafitischen Recht s.Johansen 1988 (Index), 1990.
285 Zur schafiitischen Rechtsschule s. Makdisi 1984: 5-47; Rancillac 1977:
147-169.
286 Zu den Hanbaliten s. Laoust 1965 a: 114-119, 209 f.
287 Laoust 1965 a: 266-272.
288 Grund dafür ist die Tatsache, dass die verschiedenen internationalen
islamischen Organisationen wie die »Râbitat al- 'âlam al-islâmî« in SaudiArabien ihren Sitz haben und von diesem auch weitgehend finanziert
werden. Bei der Durchführung von Hilfsprogrammen und Entwicklungsprojekten in islamischen Staaten wird von der Organisation auch
darauf geachtet, dass keine offensichtlichen Verstöße gegen die Normen des hanbalitischen Islams gefördert werden; s. Schulze 1990.
289 Zur »Taqiya« s. Kohlberg 1975 und die dort angegebene Literatur.
290 Ende 1980:1-43; Haeri 1989.
291 Wegen der Vielzahl der Gruppen und der Variationsbreite ihrer Lehren
können im Folgenden nur einige wenige Beispiele vorgestellt werden.
292 Über ihn s. Watt 1953,1956.
293 Über sie s. Abott 1942.
294 Über ihn s. Veccia Vaglieri 1952.
295 Über sie s. Lammens 1912; Massignon 1938.
296 Über ihn s. Ende 1977: 153-166 und die dort angegebene Literatur.
297 Über ihn s. Ayoub 1975; Ende 1978.
298 Über ihn s. Watt 1956; Kister 1964.
299 Über ihn s. Graf 1963.
300 Diese Vorgänge bildeten einen nicht enden wollenden Streitpunkt zwischen muslimischen Geschichtssschreibern.
301 Zu ihm s. Lammens 1908, 1930.
302 El Fadl 2001: 34 f. u.ö.
153
303 Zu den Kharijiten s. Salem 1956; Wilkinson 1982.
304 Halm 1988: 54.
305 Die Vorstellung des »Mahdî« ist auch im sunnitischen Islam vorhanden und hat auch dort zu teilweise folgenschweren politischen und
religiösen Entwicklungen geführt, s. dazu: Cook 2000; Heine 2000.
306 Glassen 1979: 167-179.
307 Zu den verschiedenen Aspekten von 'Ashûrâ im sunnitischen Kontext
s. Heine 1990.
308 Ende 1978; Heine 1979.
309 Heine 1990 a: 213.
310 Halm 1988: 134-137; Ibrahîm 1997: 259-265.
311 Aubin 1970; Glassen 1971: 61-69; Arjomand 1984.
312 Genannt seien in diesem Zusammenhang der Tabak-Konflikt (s. Keddie 1977) und die Auseinandersetzungen um die iranische Verfassung
(s. dazu Keddie 1980:66-79).
313 Vgl. Lewis 1989:135-168.
314 Seldschuken waren eine turkstämmige Herrscherdynastie, die sich zwischen 1040 und 1194 vor allem in Anatolien, Iran und Mesopotamien
der Herrschaft bemächtigt hatten, über sie s. Cahen 1955: 135-176.
315 Zur Geschichte dieses nicht nur bei den Ismailiten verwendeten Begriffsgegensatzpaars s. Halm 1978 (Index).
316 Zu diesen Techniken, die unter dem Begriff »Um al-Raml« (Kunst des
Sandes) zusammengefasst werden, s. Ulimann 1972 (Index).
317 Als Beispiel sei hier nur auf die aus der Gemeinschaft der Ismailiten
entstandene Gemeinschaft der Drusen hingewiesen; s. dazu van Ess
1977.
318 Hier liegt einer der gravierenden Unterschiede zu den Vorstellungen
des Babismus vor.
319 Zur Organisation und zu den Ritualen der Bahai s. MacEoin 1994.
320 Fischer/Abedi 1990: 245-250.
321 Über Ibn Taymiyya s. Laoust 1939, 1965.
322 Z.B. die Reformer Jamal al-Din al-Afghani und Muhammad Abduh
und ihre Schüler, s. dazu Kedouri 1966:14 f.
323 Über Rabî'a s. Smith 1928.
324 Über ihn s. van Ess 1961.
325 Andrae 1980: 78.
326 Reinert 1968.
154
327 Die Unerhörtheit dieses Vorgangs hat in allen mystischen Formen
der verschiedenen Religionen zu außerordentlich komplizierten und
häufig auch schwer verständlichen sprachlichen Formen der Darstellung geführt.
328 Dabei spielt vor allem das große Maß an Emotionalität eine Rolle, die
mit mystischen Vorstellungen verbunden ist. Diese Emotionalität ist
in der sunnitischen Orthodoxie wenig ausgebildet, sodass die Mystik
hier eine offenbar notwendige Ergänzung bietet. Bei dem stärkeren
emotionalen Element im schiitischen Islam ist es daher nicht verwunderlich, dass »Bruderschaften« hier eine geringere Bedeutung haben,
wenn sie auch nicht völlig fehlen, s. Grämlich 1965-81.
329 Durch ihre Autorität über weite Teile der Bevölkerung waren die Führer der »Bruderschaften« in der Lage, die politischen Autoritäten in
ihren Aufgaben zu unterstützen oder zu behindern. Dies führte immer
wieder zu Konflikten, aber auch dazu, dass die Politik sich auf vielfältige Weise bemühte, die »Bruderschaften« unter ihre direkte oder indirekte Kontrolle zu bringen; s. dazu Gilsenan 1973.
330 Angesichts der weit verbreiteten rechtlichen und sozialen Unsicherheit boten die »Bruderschaften« ein Netz von gegenseitiger Hilfe auch
bei Problemen des Alltags, das auf gegenseitigem Vertrauen und gemeinsamen religiösen Erfahrungen beruhte. Die Mitgliedschaft in der
»Bruderschaft« und die Möglichkeit des Aufstiegs in ihrer Hierarchie
bot zudem die für viele Menschen einzige Chance, Sozialprestige zu
gewinnen; s. dazu Cohen 1969.
331 Die teilweise viele tausend Mitglieder zählenden »Bruderschaften« stellen einen gewichtigen Faktor der Volkswirtschaften islamischer Länder dar. Einige Organisationen haben sich geradezu zu
wirtschaftlichen Machtfaktoren entwickelt; hier ist als Beispiel vor
allem die »Bruderschaft« der Mûrîdiyya im Senegal zu nennen, die
die wichtigsten Exportprodukte, Erdnüsse, kontrolliert und ihre
wirtschaftlichen Aktivitäten inzwischen auch nach West- und Mitteleuropa ausgeweitet hat, s. dazu Cruise O'Brien 1988; Villalön
1995.
332 De Jong 1996:646-662 und die dort angegebene Literatur.
333 Z.B. Martin 1976: 36-67.
334 Zu diesen Wundertaten gehört u.a. die Auferweckung von Toten, die
Krankenheilung, das Wissen um zukünftige Ereignisse, die Fähigkeit,
155
verlorene Gegenstände wiederzufinden, Levitation (Aufhebung der
Schwerkraft) und Bilokation (gleichzeitiges Erscheinen an zwei Orten), s. dazu Grämlich 1987.
335 Zur Baraka s. z.B. Coulon 1988:113-133.
336 Laoust 1965: 321-332.
337 Laoust 1965 a: 385-434.
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Peter Heine, geb. 1944, ist Professor für Islamwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin.
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