Giovanni Gentile Allgemeine Lehre vom menschlichen Geist als

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Ausgewählte Werke von Giovanni Gentile in deutscher Übersetzung Band 1 Giovanni Gentile Allgemeine Lehre vom menschlichen Geist als einem reinen Denkakt aus dem Italienischen übersetzt und herausgegeben von Michael Walter Hebeisen mit einer Auswahlbibliographie der Schriften von Giovanni Gentile Biel/Bienne: Schweizerischer Wissenschafts‐ und Universitätsverlag, 2015 2 GIOVANNI GENTILE: DER MENSCHLICHE GEIST ALS REINER DENKAKT Titel der Originalausgabe: Teoria generale dello spirito come atto puro, Opere complete di Giovanni Gentile, Bd. 3. G. C. Sansoni, Firenze, 5. A. 1938 (1. A. 1916). Die Deutsche Bibliothek – CIP‐Einheitsaufnahme Gentile, Giovanni: Ausgewählte Werke in deutscher Übersetzung / Giovanni Gentile. – Biel/Bienne: Schweizerischer Wissenschafts‐ und Universitätsverlag NE: Hebeisen, Michael Walter [Hrsg.]: Gentile, Giovanni: [Sammlung] Bd. 1: Allgemeine Lehre vom menschlichen Geist als einem reinen Denkakt / aus dem Italienischen übersetzt und hrsg. von Michael Walter Hebeisen. – 2015 ISBN 978‐3‐7347‐6828‐6 © 2015, Schweizerischer Wissenschafts‐ und Universitätsverlag in Biel. – Printed in Germany. – Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschliesslich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Wiedergabe nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Verlags. Gesetzt aus der Palatino 12/10p von Linotype Druck auf säure‐, holz‐ und chlorfreies FSC®‐zertifiziertes Papier Herstellung und Vertrieb: Books on Demand GmbH, D‐Norderstedt INHALT, VORWORT Inhaltsverzeichnis Michael Walter Hebeisen: Vorwort des Übersetzers und Herausgebers 3 5 ‐ 10  Giovanni Gentile: Allgemeine Lehre vom menschlichen Geist als einem reinen Denkakt (Teoria generale dello spirito come atto puro, Firenze: G. C. Sansoni, 5. A. 1938) 11 ‐ 307 Vorworte 11 I. Die Subjektivität der Wirklichkeit 17 II. Die Wirklichkeit des Geistigen 29 III. Einheit des Geistes und Vielfalt der Gegenstandswelt 39 IV. Der menschliche Geist in seiner Entfaltung 59 V. 81 Das Problematik der Natur VI. Universelle Abstraktion und Positivität 91 VII. Das menschliche Individuum als Subjekt 111 VIII. Die autochthone Positivität 119 IX. Raum und Zeit 139 X. 161 Unsterblichkeit, Unvergänglichkeit XI. Kausalität, Zwangsläufigkeit und Kontingenz 179 XII. Vorsehung und Freiheit 201 XIII. Die Antinomie der Geschichte und die unausweichliche Geschichtlichkeit 223 XIV. Die Künste, der religiöse Glaube und die Geschichte 243 XV. Die Wissenschaften, die Lebenswelt und die Philosophie 253 XVI. Die Wirklichkeit als selbstgenügsamer Begriff, das Böse und Schlechte, und die Natur 265 XVII. Nachwort und Nachträge 281 XVIII. Idealismus oder Mystik? 295  Auswahlbibliographie der Schriften von Giovanni Gentile 309 ‐ 318  Personenverzeichnis 319 ‐ 321  4 GIOVANNI GENTILE: DER MENSCHLICHE GEIST ALS REINER DENKAKT INHALT, VORWORT 5 Vorwort des Übersetzers und Herausgebers (von Michael Walter Hebeisen) Im Gefolge der Übersetzungen in die deutsche Sprache von Werken der beiden italienischen Philosophen PIETRO PIOVANI und GIUSEPPE CAPO‐
GRASSI unternehmen wir durch die Edition von „Ausgewählten Schriften von Giovanni Gentile“ eine Fortsetzung des die italienische Geisteskultur vermittelnden Vorhabens. GIOVANNI GENTILE wurde am 30. Mai 1875 auf Sizilien in kleinbürgerliche Verhältnisse hineingeboren und am 14. April in Florenz von einem Partisanentrupp ermordet. Zunächst studierte er Philosophie an der Scuola Normale Superiore in Pisa und wirkte anschlies‐
send als Gymnasiallehrer in Neapel. 1906 wurde er an der Universität von Palermo zum Professor für die Geschichte der Philosophie ernannt, wo er eine Schule begründete. Im Jahr 1914 wechselte er an die Universität Pisa, 1917 an die Universität „La Sapienza“ in Rom. Zusammen mit BENEDETTO CROCE gilt Gentile als Vertreter des italienischen Neo‐Idealismus, dies in Auseinandersetzung mit dem damals vorherrschenden Positivismus und Naturalismus. Parallel zum französischen Philosophen MAURICE BLONDEL entwickelte er ein eigenständiges philosophisches System, das gemeinhin als Aktualismus bezeichnet wird, und das ganz auf den schöpferischen Denkakt des menschlichen Geistes abstellt. Jahrzehntelang leitete er die bedeutende philosophische Zeitschrift „La Critica“, worin sich sein Gedan‐
kengut facettenreich niedergeschlagen hat. Seine Philosophie wurde zum Gegenstand einer lebhaften Auseinandersetzung und wird bis heute sehr kontrovers eingeschätzt. Als erster Band des Editionsvorhabens legen wir die Übersetzung des unbestrittenen Hauptwerks des sogenannten aktualistischen Idealis‐
mus, oder auch die „Bibel“ des Aktualismus vor, betitelt mit „Allgemeine Lehre vom menschlichen Geist als einem reinen Denkakt“. In französi‐
scher Sprache im Jahr 1925 unter dem Titel „L’esprit acte pur“ erschienen,1 in englischer Sprache sogar schon 1922, betitelt mit „The Theory of Mind as Pure Act“,2 lässt allein schon die Titelgebung konkrete terminologische Entscheidungen von Übersetzungsfrage erahnen. Im Sinn einer Einführung können zwei verkürzende Darstellungen von GIOVANNI GENTILE selber dienlich sein, die er anlässlich seines Auf‐
1 Giovanni Gentile: L’esprit act pur, übersetzt von Aline Lion, Paris: Félix Alcan, 1925. 2 Giovanni Gentile: The Theory of Mind as Pure Act, übersetzt von H. Wildon Carr, London: Macmillan, 1922. 6 GIOVANNI GENTILE: DER MENSCHLICHE GEIST ALS REINER DENKAKT enthalts im Jahr 1931 in Lund mit Vorträgen in der „Schwedischen König‐
lichen Humanistischen Gesellschaft“ und in der „Schwedischen Philo‐
sophischen Gesellschaft“ in deutscher Sprache autorisiert hat. An die Adresse des allgemeinen interessierten Publikums gerichtet, erklärt er: „Zur strengsten Form dieses Spiritualismus ist heute der italienische Idea‐
lismus gelangt, den man als Aktualismus bezeichnet, weil er den Geist nicht als Substanz und das Denken nicht als Attribut einer Substanz auf‐
fasst. Hier wird vielmehr der Geist gerade mit dem Denken identifiziert. Hier wird das Denken nicht verstanden als Gedanke, den der Mensch denken kann oder denken muss, sondern als ein Denken, das actualiter denkt und das ganz und gar im eigentlichen Akt des Denkens besteht. Ein Denkakt, der unser geistiges Sein verwirklicht, realisiert, und dieses ist das einzige Sein, von dem in concreto die Rede sein kann. Ein Akt ohne Vergangenheit und ohne Zukunft, weil er in seiner ewigen Immanent in sich alle Zeit und jeden Teil von Zeit enthält und überwindet, den man als von einem anderen Teil von Zeit als diesem vorausgehend oder ihm nach‐
folgend unterscheiden könnte. Ein lebendiger Akt, dessen Wesen in seiner Verwirklichung, in seiner Realisierung besteht, und der daher niemals alles und niemals nichts ist, der vielmehr alles wird, indem er jedes Nichts vernichtet. Ein Punkt als Zentrum des Alls, eine unendliche Energie, in der alle Energie verwirklicht und konkretisiert wird: das natürliche Uni‐
versum, das sich im Körper eines jeden und als dieser bestimmte Körper im Bewusstsein des Individuums spiegelt. Das Individuum ist daher Bewusstsein des Alls, und aus diesem Grunde besitzt es die unendliche Fähigkeit, Worte auszusprechen, die als Ausdruck ewiger Wahrheiten unsterblich sind, Gefühle zu haben, die in lebendigen Phantasmen der Kunst mit einer Kraft erstrahlen, die über Jahrhunderte und über Jahrtau‐
sende triumphiert, es besitzt die Fähigkeit, frei zu handeln, ohne dabei auf unüberwindliche Hindernisse zu stossen“.3 An die Adresse der Vertreter des philosophischen Fachs gerichtet, gibt er folgendes zu verstehen: „Die aktualistische Philosophie trägt ihren Namen von der von ihr vertretenen Methode: man könnte diese als die Methode der absoluten Immanenz definieren. Diese ist aber von jener Immanenz grundverschieden, von der in antiken, in anderen modernen 3 Giovanni Gentile: Die humanistische Weltanschauung, in: Der aktuale Idealismus – Zwei Vorträge, in: Philosophie und Geschichte, eine Sammlung von Vorträgen und Schriften aus dem Gebiet der Philosophie und Geschichte, H. 35, Tübingen: J. C. B. Mohr, 1931, S. 21f. INHALT, VORWORT 7 und sogar zeitgenössischen Philosophien die Rede ist. Allen diesen Lehren fehlt der Begriff der nicht mehr weiter zurückführbaren Subjektivität, für den das Prinzip oder der Massstab der Realität selbst als immanent gesetzt wird. Ein Vertreter der Immanenzphilosophie ist ARISTOTELES gegenüber dem abstrakten Idealismus eines PLATON, dessen Idee zur Form der Natur selbst wird: eine untrennbar mit der Materie verbundene Form in der Syn‐
these des konkreten Individuums, von dem man die Idee als sein Prinzip und sein Mass nur durch Abstraktion trennen kann. Für die aktualistische Philosophie ist jedoch das natürliche Individuum selbst etwas Transzen‐
dentes: denn es kann konkret nicht begriffen werden ausserhalb jener Beziehung, in der es als Objekt der Erfahrung unlöslich mit dem Subjekt der Erfahrung im Denkakt verbunden ist, durch den die Erfahrung ver‐
wirklicht wird. Der gesamte Realismus bis zu IMMANUEL KANTs Kritizis‐
mus bleibt auf dem Boden dieser Transzendenz stehen. Hier verbleibt auch jede Philosophie, die, auch wenn sie alles auf Erfahrung zurückführt, diese als etwas Objektives versteht und nicht als den Akt des denkenden Ich, sofern es denkt, und somit die Realität dieses selben Ich realisiert: eine Realität, ausserhalb welcher nichts Unabhängiges und aus sich Existieren‐
des gedacht werden kann. / Dies ist der feste Punkt, auf den sich der Aktualismus stützt. Die einzige feste Wirklichkeit, die ich zu bejahen vermag und mit der daher jede von mir denkbare Wirklichkeit verbunden werden muss, ist jene Wirklichkeit, die selber denkt. Diese wird nur so verwirklicht, sie ist daher nur im Akt des Denkens eine Wirklichkeit. Daher die Immanent alles Denkbaren im Akt des Denkens oder, tout court, im Akt. Nach all dem existiert Aktuales ausschliesslich im Denkakt. Alles, was man als von diesem Akt verschieden denken kann, wird nur konkret verwirklicht, sofern es dem Akt selber immanent ist“.4 Sogleich wird deutlich, dass es sich beim aktualistischen Idealismus von GIOVANNI GENTILE um eine ganz besondere Spielart des an den Kanti‐
schen Kritizismus anschliessenden Idealismus handelt, der im Grunde genommen ein ausgewachsenes philosophisches System voraussetzt, das auf einer revidierten Hegelianischen Logik beruht. Von daher ergeben sich denn auch berechtigte Fragen an die philosophische Theoriebildung des Aktualismus, etwa dem Vorbehalt einer gewissen Nähe zum Mystizismus, wovor sich Gentile ausdrücklich verwahrt. Auf der Grundlage der Onto‐
logie ist diese Dimension jedoch zurecht infrage gestellt worden von sei‐
ten eines ebenso treuen Anhängers, wie kritischen Reformators des Aktua‐
4 Giovanni Gentile: Die Grundlagen des aktualen Idealismus, a. a. O., S. 24f. 8 GIOVANNI GENTILE: DER MENSCHLICHE GEIST ALS REINER DENKAKT lismus vom Schlag Gentiles, von MICHELE FEDERICO SCIACCA: „Im Vorwort zur ersten Auflage der ‚Reform der hegelschen Dialektik’ bezeichnet Gentile seine Philosophie als ‚aktualen Idealismus’, weil sie ‚die Idee, die das Absolute ist, als Akt betrachtet’, oder als absoluten Spiritualismus, ‚weil nur in einem Idealismus, der die Idee als Akt auffasst, alles Geist ist’. Es ist offensichtlich, dass, wenn die Idee das Absolute und dieses Akt des Geistes ist, das heisst, wenn die Idee als Absolutes gerade der Akt des Geistes oder Geist als Akt ist, alles Geist ist. Diese Lehre ‚geht von der Gleichsetzung des hegelschen Werdens mit dem Akt des Denkens als einziger konkreter logischer Kategorie aus’ / Also setzt der aktuale Idealismus die Idee dem Absoluten gleich und die Idee als Absolutes dem Akte; dem Akte des Denkens selbstverständlich, das heisst dem Akte als logischer Kategorie, welcher das Absolute ist. Welches Denken der ganze Geist ist. Und also, wenn die Idee als Absolutes Akt des Denkens ist, und wenn das Denken der Geist ist und es nichts Konkretes und Reales aus‐
serhalb des Aktes, der nichts voraussetzt, gibt, folgt daraus noch einmal, dass alles Geist ist. Der aktuale Idealismus setzt somit die Idee und das Absolute in eins; identifiziert ebenso das Absolute mit dem Akt, wie den Akt mit dem Denkakt; diesen mit der (hegelschen) Dialektik, und also mit der einzigen konkreten logischen Kategorie; identifiziert das Denken mit dem Geist; den Geist mit dem Realen, welches der eigentliche Akt des Geistes ist“.5 In der „Lehre vom menschlichen Geist als einem reinen Denkakt“ schreibe Gentile folgendes: „Unsere Lehre besteht in einer allge‐
meinen Theorie vom menschlichen Geist als einem reinen Denkakt, der seinen objektiv wirklichen Denkgegenstand in die Vielfalt der Gegen‐
standswelt hineinstellt, und der dabei die Vielfältigkeit und Objektivität des Wirklichen in der Einheit des Subjekts aufgehen lässt und dialektisch aufhebt. Das ist eine philosophische Theorie, die den Geist, das Geistige aus den Grenzen von Raum und Zeit herausführt, um sie von aller äusser‐
lichen Bedingtheit zu befreien; und dennoch lässt sie jede objektiv wirk‐
liche Vervielfachung des Geistes von innen heraus undenkbar erscheinen, sodass man von keinem Geistigen mehr sagen kann, dass es von voraus‐
5 Michele Federico Sciacca: Akt und Sein (Symposion, Philosophische Schriftenreihe, Bd. 16), Freiburg im Breisgau/ München: Karl Alber, 1964, S. 102ff.: „Anhang: Kriti‐
sche Überlegungen zum Akt des Aktualismus“ (italienische Originalausgabe: Atto ed essere, Milano: Marzorati, 1960); unter Bezugnahme auf Giovanni Gentile: La riforma della dialettica hegeliana (in: Studi filosofici, Prima serie, Bd. 1), 2. durch‐
gesehene und vermehrte A. Messina: Principato, 1923 (1. A. Messina: Principato, 1913). INHALT, VORWORT 9 liegenden Momenten vorbestimmt sei; die Geschichte, die Geschichtlich‐
keit wird auf diese Weise nicht zur Voraussetzung der geistigen Aktivi‐
täten erhoben, sondern lässt den Denkakt aktualistisch objektiv wirklich und konkret ausfallen, somit die absolute Freiheit des Geistes, des Den‐
kens begründet wird. Diese unsere Lehre vom Geist führt zwei konzep‐
tuelle Vorstellungen ein, von denen sich der eine theoretische Begriff als deren ursprünglichen Ausgangspunkt und der andere Begriff als deren letzter Abschluss betrachten lassen“.6 Sciacca fährt fort: „Diese Begriffe sind, wie bekannt, ‚der Begriff als Selbstbegriff’ und der ‚absolute Forma‐
lismus’ (das heisst, die Materie wird durch die Form gesetzt und aufge‐
hoben). / In den angeführten Sätzen liegt die gesamte Thematik des Aktualismus mit seinen progressiven Identifikationen, mit allen seinen Folgerungen beschlossen, die, wenn man das Prinzip akzeptiert, zwin‐
gend, folgerichtig, unerschütterlich, einwandfrei erscheinen. Nun ist also nur zu prüfen, ob das Prinzip auch so gründlich durchgearbeitet war, dass es einer anspruchsvolleren und strengeren Kritik standhält, und ob die Identifikationen richtig begründet und kritisch gerechtfertigt sind“.7 Der begründete Einwand läuft letztlich auf eine berechtigte Kritik am Gegen‐
satzpaar von Sein und Werden hinaus: „Wie wir sahen, wandelt sich für GEORG WILHELM FRIEDRICH HEGEL das Sein: Das undeterminierte Sein ist nicht, und wenn es nicht ist, wird es. Für Gentile dagegen ‚ist das blosse Sich‐Wandeln des Seins das Werden’, und das ist die Charakteristik des aktualen Idealismus, für den die Idee Akt ist. [...] Für den Idealismus dagegen, für den nämlich, für den wir hier eintreten, ist das Sein in der Form, in der es dem Denken gegenwärtig sein kann, die Idee; die Idee indes ist Objekt des Denkens und erfüllt jeden Akt des Denkens mit Sub‐
stanz, ohne sich deswegen je in irgendeinem von ihnen zu erschöpfen; und als Objekt ist sie nicht Begriff, sondern der Quellgrund aller Begriffe, die unsere Erkenntnis des Realen oder das erkannte Reale sind, und zwar in dem Grade, in dem es erkannt ist. Aber da kein Erkenntnisakt (Begriff) der Idee oder dem Denken, welches das Sein erschaut, angemessen gleich‐
kommt, kommt folglich auch das Reale, selbst wenn es vollständig und endgültig erkannt wäre, dem Sein in Gestalt der Idee nicht angemessen gleich. Wenn es ihr nicht gleichkommt, transzendiert die Idee es, und zwar nicht der Quantität nach, sondern qualitativ, nicht horizontal, son‐
6 Giovanni Gentile: Allgemeine Theorie vom menschlichen Geist als einem reinen Denkakt, in dieser Edition S. 263 (S. 230 der italienischen Originalausgabe). 7 Michele Federico Sciacca: Akt und Sein, a. a. O., S. 103f. 10 GIOVANNI GENTILE: DER MENSCHLICHE GEIST ALS REINER DENKAKT dern vertikal. Die Idee wird also ihrem Wesen nach nicht, sondern ist Mutter des Werdens des Erkennens und hat eine Geschichte; und ist Mut‐
ter des Wollens und des Fühlens (Wahrnehmens): es wird nur das geistige Leben in der Idee, die ist, aber nicht wird. / Nur insofern sie die unwan‐
delbare Idee ist, gibt es Werden; nur insofern es das Sein der Idee oder das Sein als Idee gibt, kraft dessen das Denken ist, ohne je voll und ganz durch den spezifizierenden Inhalt eines Akts verwirklicht zu werden, ist das Werden, das dem Erkennen, dem Wollen und dem Fühlen im Licht des Seins zugehört, reales Werden. Es gibt kein Werden des Seins, denn das wäre Negation des Seins und des Werdens, sondern nur Werden im Sein. Aber das Werden im Sein ist gerade als solches nicht das Sein, sondern es ist die geistige Tätigkeit in der objektiven Wahrheit des Seins, Aktivität des Subjekts, welches wird, um dem unendlichen Sein gleichzukommen. Es handelt sich auch nicht um äusserliche Angleichung, so, als ob die objektive Idee ausserhalb der Aktivität des Geistes wäre, noch auch um eine Ortsanweisung des Werdens im Sein, als ob dieses das ‚Gefäss’ oder der ‚Raum’ des Werdens wäre; und das Sein, das nicht wird, sondern in dem das Werden wird, steht nicht still. Das Sein ist zwar wandelbar, doch es steht nicht still, sondern lebt, als Sein, im Werden, das in ihm ist. Und darum ist das Sein werdelos, ohne jedoch stillzustehen; und das Werden ist Werden im Sein des Seins, als immerwährende geistige Aktivität in dem Urgrund, der es ergründet und mit Tatkraft erfüllt“.8 Diese wohlwollende Kritik soll an dieser Stelle im Sinn einer Anre‐
gung für weitergehende, vertiefende Beschäftigungen mit dem Werk von GIOVANNI GENTILE unkommentiert stehen bleiben. Es bleibt von seiten des Übersetzers und Herausgebers – in seinem Selbstverständnis nicht nur als eines Vermittlers zwischen zwei Sprachgemeinschaften, sondern auch als eines Brückenbauers zwischen unterschiedlichen geistesgeschichtlichen Überlieferungen – der Wunsch zu äussern, dass die Übersetzung von aus‐
gewählten Werken Gentiles in die deutsche Sprache einer regen transalpi‐
nen Rezeption den Weg bereiten möge. Im Herbst 2014 Michael Walter Hebeisen  8 A. a. O., S. 127f. 
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