Kultur Nummer 277 • Dienstag, 29. November 2016 Sein Schlagzeug ist das Herz der Band Die Jazzlegende Billy Cobham spielt mit der SWR Big Band in Ludwigsburg – Geboten werden Fusion-Klassiker und Balladen viele Kompositionen Cobhams mit einigen Stücken aus dem Repertoire der Bigband mischen. Zur Linken des Schlagzeugers die Bläser, aufgestellt in drei Reihen; vor ihm Klaus Wagenleiter am Klavier, Decebal Badila an der Bassgitarre, Klaus-Peter Schöpfer an den Gitarren. Schöpfer spielt in einen fantastisch scharfen, harten Rocksound oder lässt die Glissandi seiner Slide-Guitar psychedelisch über das eng verzahnte Zusammenspiel von Cobham und Badilas tief tanzendem Bass hinweg gleiten. „Mirage“ heißt dieses dritte Stück, das derart halluziniert, eine Komposition Cobhams; Axel Kühn spielt sein erstes zupackendes Solo auf dem Tenorsaxofon. Mit „Siesta“ und „Pleasant Pleasant“ folgen zwei Stücke Billy Cobhams, die nie zuvor zu hören waren. „Billy kann auch ruhige Töne“, kündigt Guido Jöris an – „Pleasant Pleasant“ vor allem ist eine Ballade, zunächst ruhig und melodisch getragen von den Holzbläsern. Auch hier erklingen ein faszinierendes Basssolo und die schwirrende Slide-Guitar. Und Billy Cobham setzt im Saal an zu einem Solo, das die Ballade gewaltig weitet, zieht sich wieder zurück, übergibt das Stück an die Bläser, die die Melodie wieder aufnehmen. Die SWR Big Band hat sich einen Schlagzeugmeister, eine Legende nach Baden-Württemberg geholt. Am Sonntagabend endeten die Ludwigsburger Jazztage mit einem umjubelten Konzert, das die Band gemeinsam mit dem amerikanischen Drummer Billy Cobham im Scala gab. Von Thomas Morawitzky Beim Konzert mit Billy Cobham wird die SWR Bigband von Guido Jöris geleitet, der selbst Schlagzeuger ist. „Er war der Schrecken meiner Jugend“, stellt Jöris den Gast vor – ein Kompliment natürlich, denn der Schrecken des jungen Jöris war Bewunderung für Cobhams frappante Schlagzeugtechnik. Billy Cobham ist der hochvirtuose, energievolle Schlagzeuger der Fusion-Ära, bekannt für ein Spiel, bei dem beide Hände ganz unabhängig voneinander agieren und einen neuen, komplexen, dabei doch so druckvoll organischen Groove entstehen lassen. Er bekam schon als Jugendlicher Lehrstunden in workshops mit Größen wie Thelonius Monk und Stan Getz, er spielte mit Miles Davis auf dessen epochalem Album „Bitches Brew“ er spielte mit George Benson, Larry Coryell und vielen anderen; er war Gründungsmitglied von John McLaughlins bis heute stilprägendem Mahavisnu Orchestra. Geboren wurde Cobham 1944 in Panama – nun ist er 71 Jahre alt und noch immer ein Gigant des Schlagzeugs. Er sitzt, aus Sicht des Publikums, links der Bühnenmitte, erhöht, beherrscht von dort aus ganz das Geschehen, ruht ganz konzentriert in sich, interagiert zurückhaltend präzise mit der Band, mit den Solisten, baut Spannungen auf und löst sie. Seine eigenen Soli, dicht, druckvoll, immer schwindelerregender, ragen wie Gebirge aus dieser Landschaft. Billy Cobham lobt ausdrücklich die Jazzförderung im Land. So etwas gebe es anderswo nicht, sagt der US-Schlagzeuger Der Mahlstrom, den Cobham mit der Band erzeugt, lässt das Publikum in Ludwigsburg atemlos und staunend zurück Cobham ist bei seinem Ludwigsburger Gastspiel ungeheuer präsent, nicht nur in den Momenten, in denen sich sein Zusammenspiel mit der Bigband derart monumental steigert, zu einem Mahlstrom wird, der das Publikum atemlos zurücklässt, sondern auch in den leisen, fein ausgearbeiteten Passagen. Selbst wenn sein Schlagzeugspiel sich ganz zurücknimmt, nur noch das leise, scharfe Klicken seiner Stöcke zu hören ist, ist er immer noch das Herz der Bigband, die auf jede seiner Gesten glänzend souverän reagiert. Der Abend, in seiner ganzen Länge, ist ein intensives Gespräch zwischen der Band und diesem gewieften, überzeugenden Lehrmeister, der seine Schüler zu großartigen Leistungen anspornt. Die SWR Big Band hat unverkennbar die größte Freude an dieser musikalischen Begegnung. Der Mann am Schlagzeug reißt die Musiker regelrecht mit sich, die ganze Band schwingt in seinem Rhythmus. „Germs On The Moon“ heißt das erste Stück, der volle Einsteig in ein Programm, in dem sich nun Stets energisch: Billy Cobham bei seinem Auftritt in Ludwigsburg Foto: factum/Bach Zu Beginn des zweiten Sets dann greift Billy Cobham zum Mikrofon und spricht darüber, welches Vergnügen ihm die Arbeit mit den Stuttgarter Musikern bereitet hat, davon, wie groß sein Respekt vor der Förderung ist, die der Jazz hier im Lande erfährt. „So etwas habe ich nirgendwo erlebt“, sagt er, und beginnt, wie um dies zu unterstreichen, mit einem langen Solo, hält zwei Stöcke in jeder Hand, verwandelt sich in ein ganzes Schlagzeug-Orchester, führt vor, welche große Kunst es sein kann, dieses Instrument zu spielen. Lange wird es dauern, bis das Publikum, wie versprochen, erkennt, dass er „Red Baron“ spielt, das Finale seines erstes Solo-Albums „Spectrum“ aus dem Jahr 1973. Dann der Ausflug ins Repertoire der SWR Big Band – Duke Ellingtons „Caravan“ in einem Arrangement Bob Mintzers, „Out Of The Night“ von Sammy Nestico. Cobham eignet sie sich an, unaufdringlich aber bestimmt, und die Bigband folgt ihm dabei Schritt für Schritt. „Cat In The Hat“ heißt das letzte Cobham-Original des Abends, es hat eine fetzige, vorwitzige, sehr unterhaltsame Melodie; Matthias Erlewein steigert sie mit seinem Solo auf dem Altsaxofon. „Chain Reaction“ von Joe Sample folgt dann noch, nicht weniger packend – und mit einem traditionellen Shuffle, Sammy Nesticos „Frankie and Johnny“, schicken Billy Cobham und die SWR Big Band ihr begeistertes Publikum schließlich nach Hause. Die Atmosphäre ist nun ganz locker, viele Bläser stehen gemeinsam am Bühnenrand und lassen den Abend swingend, gut gelaunt und glücklich ausklingen. 350 Besucher haben im Scala ein denkwürdiges Konzert von mehr als zwei Stunden erlebt, mit einer exzellent aufgelegten Bigband und einem brillanten Gaststar. 13 Frau Rotkohl und die anderen Mutanten Die Komödie im Marquardt zeigt „Eine Woche voller Samstage“ Von Julia Lutzeyer Unter dem Titel „Eine Woche voller Samstage“ kommt in der Komödie im Marquardt mit dem Sams das Lieblingsunikum ganzer Kindergenerationen auf die Bühne, um dort Unvorstellbares möglich zu machen. Paul Maar selbst, Schöpfer dieses rothaarigen und Papier fressenden Etwas mit blauen Wunschpunkten rund um die Rüsselnase, hatte sein 1973 erschienenes Kinderbuch 13 Jahre später in eine Theaterfassung mit Musik- und Tanzeinlagen verwandelt. Die Programmgestalter der Schauspielbühnen durften sich also sicher sein, ein Stück zu wählen, das bestens unterhält und den Sprachwitz seiner Vorlage bewahrt. Nur: Ausgerechnet die Feinheiten der Dialoge drohen in dem von Christian Sunkel-Zellmer farbenfroh wie ein Comic inszenierten Kinderstück unter das allzu rasant eingestellte Räderwerk zu geraten. Dabei bieten das multifunktionale Bühnenbild, das sich der ehemalige RampeTheatermann Stephan Bruckmeier klug ausgedacht hat, die schrillen Kostüme von Laura Yoro mit einer lilafarbenen und herrlich krautigen Perücke für Frau Rotkohl, die Vermieterin, und die auf zwei Musiker (Thomas Unruh und Ekki Busch) verteilten Erzählstimmen eigentlich den idealen Rahmen für die Annäherung des frechen Sams an den im Alltag überaus ängstlichen Herrn Taschenbier. Zwischen all den schrägen Gestalten um ihn herum fällt es Jens Waggon als Taschenbier aber schwer, die Nöte eines angepassten Menschen plausibel zu machen. Und so sehr es Spaß macht, der brillant aufspielenden Cathrin Zellmer zuzuschauen, wenn sie als Frau Rotkohl plötzlich nur noch Nettigkeiten sagen kann, während die Empörung noch in ihrem Gesicht steht: Bei so viel Skurrilem verliert sogar das mit akrobatischem Körpereinsatz von Corinne Steudler dargestellte Sams an Exklusivität. So geht es bei aller Buntheit ein wenig zu gleichförmig und ohne echtes Bangen und Mitfühlen drunter und drüber. Die Kinder haben aber einen Heidenspaß, und auch für Erwachsene bietet „Eine Woche voller Samstage“ abwechslungsreiche Szenen. ¡ Vorstellungen bis 7. Januar außer freitags und sonntags, an Schultagen Aufführungen am Vormittag. Nachgefragt Fadil Jaf Der Regisseur kommt mit dem Ararat Theater aus dem kurdischen Erbil im Irak zum SETT-Festival. „Die Situation im Irak ist absurd“ Von Ulla Hanselmann Schöne Streicher und der Groove des Neuen Das Adventskonzert des SWR-Vokalensembles Gemeinsam stark: Kammerorchester und Ensemble Ascolta Von Markus Dippold Von Susanne Benda Als Zeit des Innehaltens und der Vorbereitung auf das Weihnachtsfest versteht das Christentum den Advent. Der Gläubige öffnet sich für das Wunder von Jesu Geburt, singt Dank und Lob für seine Mutter Maria und erwartet das spirituelle Heil. Für Komponisten ist seit einem guten Jahrtausend diese liturgische Hochphase ein Quell der Inspiration. Und sie fördert stilistisch äußerst vielseitige Werke zutage, wie im Adventskonzert des SWR-Vokalensembles in der prallvollen Gaisburger Kirche zu hören war. Eine lange Tradition bringt vielfältige Werke hervor Ganz im Sinne der venezianischen Mehrchörigkeit schreibt an seinem Lebensende Heinrich Schütz sein „Deutsches Magnificat“, verteilt den Lobgesang Marias dabei auf vier Vokalgruppen, mal solistisch, mal chorisch besetzt, und nutzt die satztechnischen Errungenschaften des Frühbarock für ein bildmächtiges Werk. Das SWR-Vokalensemble und sein Chefdirigent Marcus Creed gestalten dieses an Verzierungen und polyfonen Strukturen überreiche Musikwerk als filigranen Jubel, der auch mal exaltiert wirken kann. Den Gegenpart zu dieser figurativen und rhetorisch durchgeformten Musik bildet Olivier Messiaens 1937 entstandenes „O sacrum convivium“. Creed hält hier den Chorklang in einem stetigen, gleichsam in sich ruhenden Fluss. Langsam verschieben sich die dissonanten Akkorde, bilden immer neue Klangflächen, die den Hörer auf sich selbst zurückwerfen. Satt leuchten die Bässe in abgründiger Lage, sanft schillern die Mittelstimmen, tragen den Sopran in seinen sphärischen Höhen. Innehalten, reflektieren, sich in religiöser Andacht dem Transzendenten öffnen – diesem Ideal kommt man in dieser Interpretation sehr nahe. Ähnlich gelagert sind die beiden modernsten Stücke dieses Programms, das 1941 entstandene „Salve Regina“ von Francis Poulenc und Krzysztof Pendereckis „Cherubinischer Lobgesang“ von 1987. In beiden Werken werden die Chorklänge weit aufgespreizt, die Stimmen in ihre Extrembereiche getrieben, ohne in äußere Erregung zu verfallen. Ätherisch schweben die Klänge bei Poulenc, in sich ruhend und melodisch um sich selbst kreisend schafft Penderecki die Aura einer Meditation. Im vorweihnachtlichen Konsumrausch sind das wohltuende Momente der Ruhe. Die größte Herausforderung bereitet, gleichsam als Zentrum des Konzerts in der Gaisburger Kirche, die große Motette „Träufelt ihr Himmel von oben“ von Arnold Mendelssohn. Formal steht dieses 1923 entstandene Werk in der Tradition des Frühbarock. Choralsätze wechseln mit hochkomplexen imitatorischen Abschnitten ab, die Möglichkeiten der traditionellen Harmonik reizt Mendelssohn bis in ihre Extreme aus. Die Leichtigkeit des SWR-Vokalensembles bei dem Konzert in der Gaisburger Kirche ist beeindruckend. Makellos die Intonation, stufenlos lässt Marcus Creed die Klänge anund abschwellen und zelebriert hier ein adventliches Wunder. „Reingeworfen“ sollen sich die Musiker fühlen, und „möglichst leicht und locker“ sollen sie spielen. So hat es Michael Wertmüller in die Partitur des Stückes geschrieben, welches das Stuttgarter Kammerorchester bei ihm in Auftrag gab, und man kann sich gut vorstellen, wie sich der 50-jährige Schweizer Komponist bei diesen Worten selbst ein klein bisschen ironisch fand – schließlich ist gerade Lockerheit nicht eben eine der herausragenden Eigenschaften eines klassischen Ensembles. Bei der Uraufführung seines Stücks am Sonntagabend im Theaterhaus dürfte dem großen Groover unter den Neue-Musik-Tonsetzern das ironische Lächeln freilich ein wenig vergangen sein, denn gemeinsam mit dem Ensemble Ascolta spielten sich die Musiker des Kammerorchesters ziemlich frei. So kam es, dass „beschleunigt“ (so der Titel von Wertmüllers Werk) am Ende eines spannenden Abends von einem begeisterten Publikum als eben das bejubelt wurde, was die dreiteilige Konzertreihe „Neue S@iten“ gern erreichen möchte: als eine intelligente zeitgenössische Erweiterung des Streichorchester-Repertoires. Dabei klingt das Stück präzise so, wie es heißt: Die Motorik, die sich auch aus vielen Wiederholungen speist, wird so lange immer kleingliedriger, rascher, ja mechanischer, bis das Schneller, Höher, Weiter der in wechselnden Allianzen agierenden Musiker und des Cello-Solisten Erik Borgir fast zirzensisch anmutet. „Beschleunigt“ enthält viel Jazz, aber auch Elemente des Rock und der Minimal Music; es ist extrem klar gebaut, was das Zuhören leicht und lustvoll macht. Und das Spielen scheint den alten Neue-Musik-Hasen des Ensembles Ascolta ebenso viel Spaß zu bereiten wie den Streichern des Kammerorchesters, deren natürlicher (und historisch präformierter) Neigung zu eher kollektivem denn solistischem Denken Wertmüller gerne entspricht. Intelligente zeitgenössische Erweiterungen des Repertoires Zuvor hatte es Spröderes von Beat Furrer gegeben, darunter – in „antichesis“ für 14 Streicher – schöne Momente, in denen der Komponist den Instrumenten einen tonlosen Bogenstrich verordnet: gleichsam ein gespenstisches Klang-Negativ. Die in der Partitur verlangte Verteilung der Musiker im Raum hätte man an diesem Abend auch gerne erlebt; womöglich hätte dies das zwischenzeitlich stark dissoziative Stück etwas präsenter wirken lassen. Insgesamt stark wirkte hingegen „Mysterious Anjuna Bell“ des Stuttgarter Kompositionspreisträgers von 2015, Michael Pelzel. Glockenklängen und Gleitbewegungen der Streicher stehen hier scharfe Akzente von Klavier und Schlagwerk entgegen; das Auftragswerk feiert die Schönheit des Streicherklangs ebenso wie die Kunst der Übergänge. Auch hier bildete die Klarheit der Struktur eine sehr eigene Qualität. Und auch dieses Stück haben die Musiker des Stuttgarter Kammerorchesters unter Peter Rundels kompetenter Leitung nicht als lästige zeitgenössische Pflicht verstanden, sondern sich wirklich „reingeworfen“. Bravi! Es treten zwei Charaktere auf, beinahe archetypische Vertreter von Flüchtlingen: „AA“ ist ein Intellektueller, mit der Ambition zum gesellschaftlichen Umbau. „XX“ ist ein Wirtschaftsemigrant, dem es nur um die Verbesserung der persönlichen ökonomischen Situation geht. Damit ist das zentrale Spannungsfeld des Stückes angelegt. Beide Figuren eint allerdings das Streben oder die Sehnsucht nach dem besseren Leben. Der Autor Slawomir Mrozek gilt als Meister des Absurden. Foto: Veranstalter Jenseits des Konsumrauschs Herr Jaf, was sind das für Emigranten, die dem Stück seinen Namen geben? Diese Klassifizie- Fadil Jaf will sich rung hat der Autor durch den Krieg stets vehement abge- nicht entmutigen lehnt. Hilfreich ist lassen. vielleicht folgende Unterscheidung: Im westeuropäischen absurden Theater ging es um existenzielle Fragen wie Leben/Tod, Sein/Nichtsein; im Osten ist der Konflikt zwischen Individuum und Macht zentral. Davon spiegelt sich auch etwas in „Emigranten“. In Erbil ist die Front zum IS-Gebiet nicht weit. Welche Funktion hat Theater unter solchen Umständen? Hier haben wir eine wirklich absurde Situation: Ein kurdisches Staatsgebiet gibt es nicht, zugleich sind etwa eine Million Menschen in die Region geflohen. In dieser Lage stehen Theater und alle anderen Kunstsparten vor allem vor einer Aufgabe: das Eis zu brechen zwischen Alt- und Neubürgern. Eine immense Herausforderung, weil man es mit durchgängig zutiefst traumatisierten Menschen zu tun hat. ¡ Tri-Bühne, Mittwoch, Donnerstag, jeweils um 20 Uhr