Über die philosophische Hürde springen

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Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.03.2002, Nr. 66, S. L24
Neue Sachbücher
Über die philosophische Hürde springen
Sehr eigenwillig erklären Gerald M. Edelman und Giulio Tononi das Entstehen des Bewußtseins / Von Ansgar
Beckermann
Kaum eine Frage war in den letzten Jahren zwischen Naturwissenschaftlern und Philosophen so umstritten wie
die Frage nach der Erklärbarkeit von Bewußtsein. Das hat zwei Gründe: Erstens gibt es sehr unterschiedliche
Auffassungen darüber, was überhaupt erklärt werden muß, und zweitens herrscht auch im Hinblick darauf alles
andere als Einigkeit, was hier als akzeptable Erklärung gelten kann. Was den zweiten Punkt angeht, bestehen
Philosophen auf einem starken Erklärungsbegriff. Bewußtsein ist - in einem interessanten Sinne - noch nicht
erklärt, wenn man lediglich zeigen kann, daß Menschen immer dann bei Bewußtsein sind, wenn bestimmte
Neuronen auf bestimmte Weise feuern. Eine adäquate Erklärung liegt vielmehr erst dann vor, wenn sich
Bewußtsein auf dieselbe Weise auf das Feuern bestimmter Neuronen zurückführen läßt wie die Härte eines
Diamanten auf die spezifische Anordnung seiner Atome oder die elektrische Leitfähigkeit von Metallen auf die
leichte Delokalisierbarkeit einiger ihrer Elektronen.
Beim ersten Punkt betonen Philosophen dagegen den mit Bewußtsein aufs engste verbundenen Aspekt des
Erlebens. Bewußtsein hat zwar auch etwas mit Wissen und insbesondere mit Selbstkenntnis zu tun. Aber darin
erschöpft es sich nicht. Ich kann wissen, wie hoch mein Blutdruck ist, und mir in diesem Sinne meines
Blutdrucks durchaus bewußt sein; dennoch erlebe ich ihn nicht. Ganz anders als einen Zahnschmerz, von dem
ich nicht nur weiß, daß ich ihn habe, den ich vielmehr auch ganz intensiv spüre. Zahnschmerzen sind ebenso wie
Wahrnehmungseindrücke mit einer spezifischen Erlebnisqualität verbunden. Es fühlt sich auf eine ganz
bestimmte Weise an, auf eine von der Frühlingssonne beschienene Wiese zu blicken; so wie es sich, wenn auch
auf ganz andere Weise, anfühlt, mit der Achterbahn durch eine steile Kurve zu fahren. Bewußtsein ist daher so
lange nicht wirklich erklärt, wie eine Erklärung für die Erlebnisqualität bewußter Empfindungen und
Wahrnehmungseindrücke fehlt.
Gerald M. Edelman und Giulio Tononi kennen diese Diskussion. Aber sie sind entschiedene Gegner der
Meinung mancher Philosophen, daß sich Bewußtsein aufgrund des mit ihm verbundenen Erlebnisaspektes
grundsätzlich jeder naturwissenschaftlichen Erklärung entzieht. Sie glauben, daß es durchaus möglich ist, "von
philosophischen Hürden unberührt", eine befriedigende wissenschaftliche Erklärung von Bewußtsein
vorzulegen. Allerdings wählen sie für ihren eigenen Erklärungsversuch eine eigenwillige Strategie. Sie
beschränken sich auf zwei grundlegende Eigenschaften von Bewußtsein: auf seine Einheit oder Unteilbarkeit "die Tatsache, daß jeder Bewußtseinszustand als einheitliches Ganzes erlebt wird und sich nicht in einzelne,
voneinander unabhängige Bestandteile zerlegen läßt" - und auf den hohen Informationsgehalt bewußter Zustände
- die Tatsache, daß jeder der vielen Milliarden möglichen Bewußtseinszustände ganz unterschiedliche Folgen für
das Verhalten haben kann. Wie lassen sich diese beiden Eigenschaften ihrer Meinung nach erklären?
Zunächst: Bewußtsein kann nach Edelman und Tononi nicht auf lokale neuronale Strukturen zurückgeführt
werden. An jedem einzelnen Bewußtseinszustand sind immer weite Bereiche des gesamten Gehirns beteiligt.
Dabei sind besonders wichtig: das aus Großhirnrinde und Thalamus bestehende System, das einerseits durch
eine starke funktionale Differenzierung und andererseits durch eine Vielzahl von reziproken ("reentranten")
Verknüpfungen seiner Subsysteme charakterisiert ist; zweitens das System aus der Großhirnrinde und ihren
Anhängen (etwa Kleinhirn, Basalganglien oder Hippocampus), in dem die Teile nicht reziprok, sondern durch
eine Reihe parallel, richtungsgleich und in Serie geschalteter Ketten von Neuronen verbunden sind; und
schließlich der Hypothalamus und einige Kerne im Hirnstamm, die diffus in alle Bereiche des Gehirns
projizieren und die Edelman und Tononi als "Bewertungssysteme" bezeichnen, da sie in Abhängigkeit von der
Bedeutung oder Wichtigkeit bestimmter Reize die gesamte Hirnaktivität modulieren.
Alle diese Systeme sind nach Edelman und Tononi an der Entstehung von Bewußtsein beteiligt. Primäres
Bewußtsein - das Ausbilden eines phänomenalen Bildes der Welt, das noch kein Empfinden für das eigene Ich
und keine sprachlichen Fähigkeiten voraussetzt - setzt in ihren Augen das Zusammenwirken der differenzierten,
durch eine Vielzahl reziproker Verbindungen verknüpften Schaltkreise des thalamokortikalen Systems, auf
denen die Wahrnehmungskategorisierung beruht, mit jenen älteren Hirnregionen voraus, die für das auf
Wertvorgaben basierende Gedächtnis verantwortlich sind. Nur so entsteht, was Edelman schon früher "erinnerte
Gegenwart" genannt hat - "ein Szenario, das unmittelbare oder imaginäre Zufallsbegebenheiten mit der
zurückliegenden, durch gewisse Randbedingungen mitbestimmten Verhaltenshistorie des Tieres verknüpft".
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Entscheidend für die Entstehung der beiden grundlegenden Eigenschaften von Bewußtsein - Einheit und
Differenziertheit - ist nach Edelman und Tononi jedoch die Struktur des thalamokortikalen Systems. Denn nur
hier haben wir es einerseits mit einer unermeßlichen Zahl spezialisierter neuronaler Schaltkreise zu tun, die
andererseits massiv durch reentrante neuronale Verschaltungen miteinander verknüpft sind. "Reentrante
Verknüpfung" - das ist, wenn man so will, das Hauptthema ihrer Überlegungen.
Das Gehirn verarbeitet einkommende Signale hochgradig parallel und hochgradig spezialisiert. Es gibt
Hirnregionen, die nur auf die Form wahrgenommener Dinge reagieren; andere reagieren nur auf Farben; wieder
andere nur auf Positionen im Raum. Wenn die Wahrnehmung eines einheitlichen Gegenstandes - sagen wir,
eines grünen Kreuzes in der linken oberen Ecke des Sehfeldes - entstehen soll, müssen die Aktivitäten dieser
spezialisierten Hirnbereiche zusammengeführt werden. Und genau dies leisten die reentranten Verbindungen, die
zwischen den spezifischen Schaltkreisen bestehen. Sie lösen das sogenannte "Bindungs- Problem". Aber sie
leisten offenbar noch sehr viel mehr; sie sind auch dafür verantwortlich, daß die Wahrnehmungen der einzelnen
Dinge, die in einer Szene vorkommen, in die einheitliche Wahrnehmung einer zusammenhängenden Szene
integriert werden. Und sie sorgen darüber hinaus für die Entstehung globaler Karten, in denen sensorische mit
motorischen und Gedächtniselementen verknüpft sind.
Auch wenn Edelman und Tononi jeden Versuch kritisieren, Bewußtsein auf lokale neuronale Strukturen
zurückzuführen, so sind sie doch keineswegs der Meinung, daß am Entstehen bewußter Erfahrungen jeweils alle
Teile des Gehirns beteiligt sind. Zur Entstehung bewußten Erlebens trägt die Aktivität einer Neuronengruppe
vielmehr dann bei, wenn sie Teil eines "funktionalen Clusters" ist - einer großen Gruppe neuronaler Schaltkreise,
die über einen Zeitraum von einigen hundert Millisekunden in starker Wechselwirkung miteinander stehen,
während sie mit anderen Teilen des Gehirns kaum interagieren. Die Mitglieder dieses Clusters bilden, was
Edelman und Tononi "dynamischen Kern" nennen - eine Gruppe von wechselnden neuronalen Einheiten, die
durch die zentralen Merkmale hoher Komplexität und starker Interaktion charakterisiert sind.
Sind diese beiden Merkmale aber tatsächlich hinreichend, um Bewußtsein zu erklären? Mir scheint, daß die
entscheidende Frage nach dem Erlebnisaspekt von Bewußtsein auch hier offenbleibt. Die Prozesse der
Integration und Differenzierung, denen Edelman und Tononi mit großer Sorgfalt nachgehen, sind vielleicht
notwendig, wenn kognitive Wesen zusammenhängende und differenzierte Repräsentationen der Welt aufbauen.
Aber nichts spricht dafür, daß solche Repräsentationen per se einen Erlebnisaspekt besitzen. Letzten Endes
begehen Edelman und Tononi einen simplen Fehlschluß. Sie setzen voraus, daß unser bewußtes Erleben
einheitlich und differenziert ist. Doch daraus folgt ganz sicher nicht, daß alles, was einheitlich und differenziert
ist, erlebt wird. Sonst müßte ja auch die globalisierte Weltwirtschaft einen Erlebnisaspekt besitzen.
Das Problem zeigt sich paradigmatisch daran, wie Edelman und Tononi mit der Frage nach den spezifischen
Erlebnisqualitäten (Qualia) von Farbeindrücken umgehen. Wenn eine Photodiode dazu in der Lage ist, rotes von
grünem Licht zu unterscheiden, nehmen wir mit Sicherheit nicht an, daß die Diode ihre verschiedenen Zustände
als Zustände mit einem bestimmten qualitativen Charakter erlebt. Warum ist das dann aber bei uns so, wo doch
auch unsere Farbwahrnehmungen nur darauf beruhen, daß bestimmte Neuronengruppen selektiv auf rotes Licht
reagieren? Als Antwort auf diese Frage bieten Edelman und Tononi die Hypothese an, daß nicht die isolierte
Aktivität bestimmter Neuronengruppen zu einem Roteindruck führt, sondern die Tatsache, daß diese Aktivität
Teil des aktuellen dynamischen Kerns ist, daß sie also Teil eines großen Netzes weit verzweigter
Neuronengruppen mit integrierter Aktivität ist, das Milliarden verschiedener Zustände annehmen kann. Jede
subjektive Rotempfindung entspricht daher "einer Auswahl oder Entscheidung, die unter all den Milliarden
möglichen anderen Zuständen" getroffen wurde. Doch warum soll ein Zustand, der eine Auswahl unter
Milliarden Zuständen darstellt, eher mit einer Erlebnisqualität verbunden sein, als einer, der nur der Auswahl
zwischen, sagen wir, fünf möglichen Zuständen entspricht? Auf diese Frage bleiben auch Edelman und Tononi
die Antwort schuldig.
Gerald M. Edelman, Giulio Tononi: "Gehirn und Geist". Wie aus Materie Bewußtsein entsteht. Aus dem
Englischen von Susanne Kuhlmann-Krieg. Verlag C.H. Beck, München 2002. 368 S., 40 Abb., geb., 26,90
<Euro>.
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