Üben_4_09:UM 4_08 Layout ® 15.07.09 10:45 Seite 20 Thema Foto: Ulrike Merk 20 Der fliegende Robert Komponieren im Instrumentalunterricht – eine sinnvolle Ergänzung des pädagogischen Unterrichtsfelds? Ulrike Merk Üben_4_09:UM 4_08 Layout ® 15.07.09 10:45 Seite 21 Thema üben&musizieren Was muss der Instrumentalunterricht nicht schon alles leisten … Ist er nicht bereits mit sekundären Unterrichtsfeldern so stark überlastet, dass er keine Erweiterung seiner Aufgaben mehr verkraftet? Sollte man sich im Instrumentalunterricht nicht darauf beschränken, eine fundierte Instrumentalausbildung zu vermitteln? Sollte nicht sauber zwischen den Aufgabenfeldern des Instrumentalisten und denen des Komponisten getrennt werden, anstatt sie zu vermischen? Die scheinbaren Fremdaufgaben des Instrumentalunterrichts sind vielfältig. Es geht im Instrumentalunterricht nicht nur darum, eine fundierte Instrumentaltechnik zu vermitteln, eine adäquate und überzeugende Interpretation von Werken zusammen mit dem Schüler oder der Studentin zu erarbeiten und ihn oder sie in die Repertoirekunde des Instruments einzuführen. Gerade an Musikschulen fallen viele musikalische „Nebenfelder“ in die Fachkompetenz von Instrumentallehrkräften. Sie werden zumeist nicht wie an den Hochschulen durch FachkollegInnen unterstützt, sondern vermitteln bis zu einem gewissen Grad zusätzlich Wissen aus den Bereichen Musiktheorie, Musikgeschichte und Formenlehre. Darüber hinaus sind sie verantwortlich für eine epochenspezifische Interpretation, die ebenfalls Besonderheiten des historischen Instrumentenbaus mit einbezieht. InstrumentallehrerInnen vermitteln ein ganzheitliches Wissen rund um ihr Instrument, das der musikalischen Interpretation dient. Aber ist das Arbeitsfeld damit schon ganzheitlich und abgerundet? Fehlt nicht noch eine wichtige Komponente, die den Schüler oder die Schülerin vielleicht zur Aufnahme einer musikalischen Ausbildung bewogen hat? Wo bleibt die Kreativität? Wo bleibt die Antwort auf den Drang des Schülers, sich selbst durch das Medium Musik auszudrücken? Von der Renaissance über Barock bis zur Klassik war es übliche Instrumentalpraxis, dass Instrumentalisten bei Wiederholungen (z. B. in Arien) in der Lage waren zu variieren und dass Solokadenzen von Instrumentalkonzerten selbst gestaltet wurden, um die eigene Virtuosität, aber auch kompositorische Befähigung unter Beweis zu stellen. Das historische Selbstverständnis des Instrumentalisten finden wir im nachfolgend zitierten Lehrwerk von Carl Czerny. Die Grenzen zwi- schen Interpret und Komponist waren bei bestimmten Gattungen nicht nur durchlässig, sondern vom Interpreten wurde ein gewisses Maß an Beherrschung von kompositorischer Grundfertigkeit verlangt: „Wenn der ausübende Tonkünstler die Fähigkeit besitzt, die Ideen, welche seine Erfindungsgabe, Begeisterung, oder Laune ihm eingiebt, sogleich, im Augenblick des Entstehens, auf seinem Instrument nicht nur auszuführen, sondern so zu verbinden, dass der Zusammenhang auf den Hörer die Wirkung eines eigentlichen Tonstückes haben kann, – so nennt man dieses: Fantasieren. (:Improvisieren, Extemporieren.:) […] Auch dem Zuhörer biethet das Fantasieren einen eigenen Reiz dar, da in demselben eine Freyheit und Leichtigkeit der Ideenverbindung, eine Ungezwungenheit der Ausführung herrschen kann, die man in wirklichen Compositionen, (:selbst wenn sie als Fantasien benannt sind:) nicht findet.“1 Satztechnische Formen wie Passacaglia, Chaconne und Folia waren in ihrer Anfangsphase reine (Bass-)Schemata, die selbstständig musikalisch ausgefüllt werden mussten. Wo ist diese Fertigkeit geblieben, die Beherrschung des Instruments mit Satztechnik vereint? Es reicht also nicht, wenn Instrumentallehrkräfte noch einige Improvisationsübungen in ihr bereits so eng geschnürtes Aufgabenfeld aufnehmen, sie müssen einem ganz anderen historischen Anspruch gerecht werden. Improvisation ist gut und richtig, aber Improvisation ist nur der Startpunkt für ein selbstbestimmtes musikalisches Handeln, das im Komponieren münden kann. Verschriftlichung war immer schon eine wichtige Komponente für Weiterentwicklung. Beispielsweise kommt die Entwicklung von Kulturen ohne Schrift weitaus langsamer voran als die Entwicklung von schriftunterstützten Kulturen. Übertragen auf die Musik bedeutet dies, dass erst ein Verschriftlichen von Im- provisiertem die vertiefte Möglichkeit von Wertung, Verbesserung und Weiterentwicklung bietet. In diesem Punkt findet man Bestätigung bei Anselm Ernst, der das Komponieren ebenfalls als Weiterführung der Improvisation betrachtet: „Von Improvisieren zum Komponieren ist es kein weiter Weg. Die Erfahrung zeigt immer wieder, daß Schüler, die an der Improvisation Geschmack gefunden haben, ihre Einfälle festhalten möchten. Auch in diesem Punkt kann jeder Instrumentallehrer sich zutrauen, ausreichend fachliche Hilfe zu geben. Die Kompositionsversuche eines Schülers sind wertvolle Ansatzpunkte, in elementarer und ursprünglicher Weise musikalische Problemstellungen zu klären: die formale Gestaltung von Musikprozessen und die Ordnung der Töne, Klänge und Geräusche in den Dimensionen von Dauer, Stärke, Höhe und Farbe. Beim Improvisieren kann dies nicht so ausführlich zur Sprache kommen wie beim Komponieren.“2 Aus diesen Überlegungen heraus ist ein eigenständiges musikpädagogisches Konzept entstanden, dessen jüngste Schülerkomposition nachfolgend vorgestellt wird. Doch zunächst eine Aufwärmübung zum elementaren Komponieren im Instrumentalunterricht. MIT WÜRFELN ZUR MUSIKALISCHEN MELODIE Dies ist ein einfaches kompositorisches Verfahren, zu dem mich der Begriff Aleatorik inspiriert hat. So neu ist dieser Gedanke nicht: Würfelspiele mit präformierten Elementen waren im 18. Jahrhundert (u. a. bei Mozart) weit verbreitet. Grundlage ist eine Gruppe von sechs Tönen. Diese Töne können einer gerade im Unterricht behandelten Skala, soeben erlerntem Tonmaterial oder Tonmaterial, das wiederholt werden soll, entnommen sein. (Geschickt kombiniert man hier die pä- 21 Üben_4_09:UM 4_08 Layout ® 15.07.09 10:45 Seite 22 22 Thema NB 1 dagogische Absicht mit Spiel und Spaß.) Diesen sechs beliebigen Tönen werden die sechs Zahlen des Würfels zugeordnet und indem nun gewürfelt wird, entsteht eine Tonfolge. Es hat sich als sinnvoll erwiesen, die Töne nicht in linear auf- oder absteigender Reihenfolge mit einer linearen Zahlenabfolge zu kombinieren. Obwohl es nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit nicht gehäuft vorkommen dürfte, ergaben sich hierbei sehr oft lineare Melodieverläufe. Also besser die Zahlen ungeordnet einer linearen Reihe zuordnen. Besondere Spielarten bestehen darin, dass Töne oktaviert werden dürfen oder dass eine bestimmte Zahl ein musikalischer Joker ist, für den man sich im melodischen Verlauf einen passenden Ton aussuchen kann. Ein wichtiges Element einer melodischen Linie ist immer auch der Rhythmus. Diesen ebenfalls über Würfeln herzustellen hat sich nicht als sinnvoll erwiesen. Es entstehen zu einer relativ einfachen Tonabfolge oft so komplexe rhythmische Verläufe, dass dies für die Arbeit mit Schülern unverhältnismäßig ist. Es ergeben sich oft Asymmetrien und Schwerpunktverluste durch Überbindungen. Diese permanente Kollision mit dem Akzentstufentakt ist nur Studierenden oder sehr erfahrenen MusikschülerInnen zuzumuten. Praktikabel ist dagegen die Möglichkeit, nur zwei rhythmische Eigenschaften wie lang und kurz über gerade und ungerade Zahlen bestimmen zu lassen. Auch hier kann es zu Überbindungen und Akzentverlust kommen, diese bleiben jedoch noch überschaubar und in erklärbarem Rahmen. Beispiel: Einer Skala in e-Moll harmonisch wurden sechs Töne entnommen und eine Linie gewürfelt (NB 1). Die mit Klammern versehenen Teile wurden dann für die spätere Komposition weiterverwendet. „JUGEND KOMPONIERT“ Als Gitarristin und Komponistin war es mir ein großes Anliegen, meine beiden Tätigkeiten auch pädagogisch auszuüben. Seit 2002 kann ich das Zusatzkursangebot „Kompositionsunterricht für Instrumentalisten“ an der Musikschule Fürstenwalde Spree anbieten. Es sind inzwischen viele Werke von SchülerInnen entstanden, die u. a. beim Wettbewerb „Jugend komponiert“ des Landesmusikrats Berlin und Brandenburg eingereicht werden konnten. Einige davon wurden mit Preisen ausgezeichnet. Jüngstes Beispiel sind die beiden Kompositionen Krimi und Der fliegende Robert (NB 2) von Tabea. Die Kom- position Krimi für Querflöte, Gitarre und Steeldrum hat sie mit zehn Jahren komponiert, Der fliegende Robert für Sprecher, Blockflöte und Gitarre folgte ein Jahr später. Für beide Kompositionen erhielt sie im November 2008 beim Preisträgerkonzert des Wettbewerbs „Jugend komponiert“ in der Akademie der Künste Berlin einen ersten Preis. Tabea – inzwischen zwölf Jahre alt – sagte in einem Interview, dass sie eigentlich lieber Gitarre spielt als komponiert und dass sie ebenfalls gern malt und schreibt. Sie möchte sich noch nicht ausschließlich auf eine dieser künstlerischen Tätigkeiten festlegen. Seit drei Jahren nimmt sie am Kompositionsunterricht teil und hat zahlreiche Kompositionsskizzen angefertigt und Stücke fertigstellen können. Einem Musikstück einen Anfang und einen Schluss geben zu können, ist für die jungen KomponistInnen immer ein wichtiger Gradmesser ihres Könnens. Skizzen allein machen also nicht glücklich. Es ist erstaunlich, dass sich Jugendliche – entgegen der Schnelllebigkeit unserer Zeit – beim Komponieren zum gewissenhaften Ausarbeiten und Abwägen, Bearbeiten und manchmal auch Verwerfen und Neubeginn entschließen können. Wie unterrichtet man elementares Komponieren für junge Instrumentalisten? Zu Beginn eines neuen Projekts stellt sich für mich als Pädagogin und musikalische Begleiterin immer die Herausforderung, die Aufgabenstellung so zu formulieren, dass alle Kursteilnehmer diese mit ihren eigenen musikalischen Gedanken füllen können. Die Aufgabe, aus der heraus Der fliegende Robert entstanden ist, war, einen Text aus Struwwelpeter zur Vertonung auszuwählen. Die Sprache ist das erste Medium, mit dem wir als Kinder kreativ umzugehen lernen. Bereits am Ende der Grundschulzeit hat sich hier ein reiches kreatives Repertoire herausgebildet. Und dieses vorhandene Wissen wurde für das Projekt genutzt. Zum anderen ist Struwwelpeter als Literatur in Kinderzimmern immer noch verbreitet, ob- wohl diese Texte der Pädagogik des 21. Jahrhunderts nicht mehr entsprechen. Genau auf diesen grotesken Zug, der in den Gesprächen mit den SchülerInnen aufgedeckt werden konnte, hatte ich bei der Auswahl gesetzt. Heute würde der Suppenkaspar zum Kinderpsychologen geschickt, der ihm beim Überwinden seiner Magersucht hilft. ERSTER SCHRITT: DIE NUTZBARMACHUNG DES TEXTES Jeder Kursteilnehmer soll zunächst einen Text auswählen und für sich selbst entscheiden, ob er den Text bearbeiten möchte oder in der Originalform für die Vertonung nutzt. Tabea hatte sich für eine Bearbeitung des „Fliegenden Robert“ entschieden. Ihre erste Idee bestand darin, den Struwwelpeter-Text ins Gegenteil zu verkehren. Dabei entstand aus dem ersten Vers folgendes Nonsens-Gedicht: Die Geschichte vom fliegenden Robert (Original) Wenn der Regen niederbraust, Wenn der Sturm das Feld durchsaust, Bleiben Mädchen oder Buben Hübsch daheim in Ihren Stuben. – Robert aber dachte: Nein! Das muss draußen herrlich sein! – Und im Felde patschet er Mit dem Regenschirm umher. Die Geschichte vom flach liegenden Robert (Tabeas erste Fassung) Wenn die Hitze träge steht, Wenn kein Lüftchen sich bewegt, Drängt es Buben oder Mädchen Weit hinaus ins große Städtchen. Robert jedoch sagte: Ja! Das muss draußen scheußlich sein. Und im dunklen Klo allein, Saß er unterm Sonnenschein. Üben_4_09:UM 4_08 Layout ® 15.07.09 10:45 Seite 23 Thema üben&musizieren NB 2 Tabea konnte jedoch in ihrem Nonsens-Gedicht keinen Anhaltspunkt für eine musikalische Umsetzung finden. Der erste Versuch war also nicht erfolgreich. Wie konnte der Text auf andere Art bearbeitet werden? Wir versuchten es mit einer mehrfachen Verkürzung des Texts. Die Zeilen wurden so gekürzt und zusammengefasst, dass wichtige Worte und sinnstiftende Vorgänge erhalten blieben. Das als Refrain angehängte „Oh, Robert“ fungiert als Mahnung im Sinne des „Wehe, wehe, wenn ich auf das Ende sehe“ in Wilhelm Buschs Max und Moritz. Die Katastrophe bahnt sich bereits mit der ersten Handlung von Robert an und das Verhängnis nimmt seinen Lauf. Die Geschichte vom fliegenden Robert (Tabeas zweite Fassung) Es braust der Regen Hübsch? Nein! Nach draußen, mit dem Schirm! Oh, Robert Gewaltig der Sturm Robert fliegt mit Schirm Hoch und höher Oh, Robert Weg Mit Hut Wohin? Oh, Robert Die Konsequenzen für das musikalische Material: Spielerisch wird mit der Funktion von Refrain und Strophe agiert und parallel dazu verläuft die stringente Ursprungshandlung. Es waren also zwei Elemente in diesem Text vorhanden, mit denen abwechslungsreich musikalisch gearbeitet werden konnte. Hinzu kamen die Geräuschqualitäten von Regen und Sturm, die für Tabea vielfältige Möglichkeiten der musikalischen Gestaltung bereithielten. ENTWURF DER DRAMATUR GIE UND AUSARBEITUNG Anders als beim Improvisieren, wo viele musikalische Parameter, die die Gestalt des entstehenden Musikstücks betreffen, ganz spontan während des Musizierprozesses festgelegt werden, bietet das Komponieren 23 Üben_4_09:UM 4_08 Layout ® 15.07.09 10:45 Seite 24 24 Thema hier die Möglichkeit einer zielgerichteten Planung. Man kann mit den SchülerInnen verschiedene Formverläufe und Dramaturgien besprechen und eine Absicht festlegen. Im anschließenden Kompositionsprozess wird sich dann zeigen, ob die Auswahl umzusetzen ist oder ob doch ein anderer Formverlauf geeigneter ist. Beim Improvisieren entscheidet sich die Frage nach der Instrumentierung durch die vorhandenen Instrumentalisten; beim Komponieren ist man in diesem Punkt auf jeden Fall freier. Informationen zu Stimmumfang und Spielweise finden sich in Instrumentationslehren, aber inzwischen auch vielfach im Internet, das die Schüler als Informationsquelle sehr rege nutzen. Auch eine Kooperation mit der betreffenden Instrumentalklasse ist ein sinnvoller Schritt, wobei die Schüler sich gegenseitig über ihre Instrumente informieren. Die Kompositionsschüler vernetzen sich dann sinnvoll mit Ansprechpartnern, die ihnen immer wieder gute Tipps geben können und ihnen die musikalische Umsetzung ihrer Ideen erlebbar machen. Doch zurück zum „Fliegenden Robert“. Tabeas Wahl der Instrumentierung fiel auf die Instrumente Blockflöte und Gitarre, die sie selbst spielt und deshalb gut kennt. Der Text sollte als gesprochener Text erhalten bleiben und nicht durch einen Sänger interpretiert werden. Als Dramaturgie hatte sie sich für eine A-B-A Form entschieden, die sie in der Geschichte des Robert erkannt hatte, wobei der Teil A von den Windgeräuschen bestimmt war. Denkbar wäre auch eine offene Form gewesen, bei der die Komponente Wind immer wieder aufgegriffen wird und sich steigert. Die nächste Arbeitsphase beschäftigte sich mit den Geräuschen des Teils A, die während eines Sturms zu hören sind, und ihrer instrumentalen Umsetzung: Wind, Windböen, Regen, Hagel, aber auch dem Gefühl von Kälte, Nässe und Unbehagen. Bei der Findung der musikalischen Elemente für die verwendeten Instrumente kann man den Schüler oder die Schülerin an neue Spielweisen des eigenen Instruments und anderer Instrumente heranführen. Hörbeispiele, direkte Demonstrationen und eigenes Ausprobieren sind sehr hilfreich. Verschiedene Spieltechniken auf Blockflöte und Gitarre wurden im konkreten Beispiel auf ihre Brauchbarkeit für das Projekt ausprobiert. Aus einer langen Liste von Spieltechniken fiel für den Wind die Wahl auf das Verwenden nur des Blockflötenkopfs: Das Anblasen erfolgte gleichzeitig mit dem über dem Labium aufgelegten Zeigefinger und unter allmählichem Zurückziehen des Fingers, wodurch der Ton vom Luftgeräusch zu einem brüchigen Flötenklang und wieder zurück geführt wurde. Für die Gitarre waren es klirrende Geräusche durch über dem Sattel arpeggierte und tremolierte Saiten. Ein An- und Abschwellen wie während verschiedener Windböen wurde musikalisch von den Instrumenten umgesetzt. Robert handelt einerseits kindlich und naiv, aber auch unbelehrbar oder unbeirrbar: dargestellt durch ein relativ ostinat eingesetztes Arpeggio in der Gitarre über wechselnden Harmonien und eine nur wenig variierte Melodie in der Blockflöte. Diese Melodie wurde mittels Würfelverfahren gewonnen, wie wir es in der vorangegangenen Übung kennen gelernt haben. Die golpe-Schläge in der Gitarre haben ihren Ursprung in der Geräuschliste zum Thema Wind. Das Arpeggio in der Gitarre weckt bei Gitarristen die Assoziation an die Etüde Nr. 1 von Heitor Villa-Lobos, aber auch an die Cello-Suiten von Johann Sebastian Bach könnte man denken. Auch das Verschieben des Akkordgriffs für die verschiedenen Harmonien erinnert wieder an die impressionistische Kompositionsweise von Lobos. Die Schlag- und Rasgueadotechnik der Akkorde entspringt sowohl dem folkloristischen Gitarrenrepertoire wie dem Flamenco als auch den Spielweisen Neuer Musik wie in Sonata for guitar op. 47 von Alberto Ginastera. Die melodischen Bausteine wurden, wie in T. 23 gut zu sehen ist, direkt aus dem gewürfelten linearen Vorrat entnommen (s. erste Klammer in NB 1). Rhythmische Prägnanz wird mittels der Punktierungsfigur erreicht. Bei der Wiederholung der Linie in T. 26 wird der zweite Ton in seiner Tonhöhe verändert. Das nächste melodische Ereignis in der Blockflöte ist eine auf- und wieder absteigende Linie in T. 31-32, deren Tonvorrat gegenüber dem Würfel-Tonvorrat durch die Auflösung des Tons dis zum d erweitert wurde (s. zweite Klammer in NB 1). In T. 36-38 wird die Linie erneut aufgegriffen, jedoch in der Ausdehnung der Auf- und Abwärtsbewegung erweitert. Es entsteht scheinbar eine Skalenbewegung, nur dass diese Skala zwischen mollarem a und mollarem e schwankt. Die vier verschiedenen Harmonien in der Gitarre werden in diesen Takten als sechsstimmige Akkordanschläge vorgestellt. Sie unterstützen das Schweben der melodischen Linie, da sie durch die große Terz in der zweiten und dritten Stimme zwischen einer Moll-Tonika und ihrer Dur-Dominante changieren. Da der Text durch die Bearbeitung relativ kurz geworden war, bot es sich an, ihn zweimal zu sprechen. Hilflos sieht der Sprecher auf die Szenerie, sein Mahnen verhallt ungehört. Am Ende bleibt nur der Wind, der bläst und verebbt, und ein letztes, bedauerndes „Oh, Robert“. Natürlich kann man kritisieren, dass nicht alle Aspekte der Verarbeitungsmöglichkeit berücksichtigt wurden. Die Sprache hätte noch in Phoneme zerlegt werden können, die Musik hätte noch weiter ausgebreitet werden können; sie bleibt doch noch relativ „bausteinhaft“ schematisch. Bedenkt man aber, dass Tabea mehr als zwei Monate auf die Ausarbeitung dieser Komposition verwendet hat, so wird anschaulich, welche Arbeit und welcher Fleiß bereits darin steckt. Eine Erweiterung ihrer kompositorischen Fähigkeiten wird ein Prozess sein, der mit jeder neuen Komposition vorangebracht werden kann. Sie hat bewiesen, dass Potenzial vorhanden ist. Auch wirkt sich ein Beschränken der verwendeten Mittel eher positiv auf die Komposition aus, sie wirkt nicht überfrachtet und vertieft die vorgestellten Elemente, anstatt ständig ziellos weiterzuwandern. Die Uraufführung wurde von SchülerInnen der Musikschule Fürstenwalde vorgenommen – Musik einer Schülerin für Schüler.3 1 Carl Czerny: Systematische Anleitung zum Fantasieren auf dem Pianoforte op. 200, Wien 1829, Einleitung §1 + §3. 2 Anselm Ernst: Lehren und Lernen im Instrumentalunterricht, Mainz 1991, S. 52. 3 Das Preisträgerkonzert in der Akademie der Künste wurde vom Landesmusikrat Berlin mitgeschnitten. Ulrike Merk unterrichtet als Lehrbeauftragte an der Universität der Künste Berlin, promoviert dort und ist als Konzertgitarristin, Pädagogin und Komponistin tätig.