Sample - beim Reichert Verlag

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EINFÜHRUNG
Geschichtlicher Rahmen
Die gallo-römische Kulturschicht, deren Spuren hier gezeigt werden, ist das Ergebnis
einer drei- bis vierhundert Jahre andauernden, mehr oder weniger friedlichen gallischrömischen Kulturvermischung, der ein mehrjähriger römischer Eroberungskrieg von
58 bis 52/51 v. Chr. vorausgegangen war. Dieser zähe Krieg, dessen Verlauf uns durch
Caesar ungewöhnlich detailliert dargestellt wird, war keineswegs die erste militärische
Begegnung von Römern und Galliern. Aus entfernterer historischer Perspektive hätte
es auch andersherum kommen können: Im Jahre 387 v. Chr. waren es die von den Römern gefürchteten Gallier, die ein römisches Heer nördlich der Stadt Rom schlugen.
Die Niederlage Roms war vollkommen. Die Stadt wurde besetzt. Schätze und Tribute
wurden weggeschleppt. Nun – es war noch lange nicht das große Rom, aber doch eine
Stadt, die an Ausdehnung und Stärke mit anderen Städten Italiens erfolgreich konkurrieren konnte.
Warum Rom 58 v. Chr. mit der militärischen Unterwerfung ganz Galliens begann
und damit seine politische und wirtschaftliche Einverleibung vorbereitete, ist nicht abschließend aufzuklären1. Caesars Schriften enthalten Anhaltspunkte, aber eine historisch korrekte Darstellung der wirklichen Kriegsziele kann man von ihnen nicht erwarten. Hilferufe von Bundesgenossen allein sind kein Grund, einen großen Krieg zu
führen. Wenn sie überhaupt echt – und nicht bestellt – sind, können sie allerdings in
der politischen Propaganda dem Krieg das Odium des Raubzuges nehmen. Die Intervention auf Einladung war zu allen Zeiten ein Stück Öffentlichkeitsarbeit.
Gallien galt als reich. Neben strategischen Argumenten werden wirtschaftspolitische Begehrlichkeiten im Vorfeld der Invasion im Vordergrund der römischen Diskussion gestanden haben. Starke persönliche Beweggründe bei Caesar und bei anderen römischen Politikern und Militärs mögen hinzugekommen sein. Wer erfolgreich Krieg
führte, konnte sich unvorstellbar bereichern. So raubte denn auch Caesar rücksichtslos, aber in Übereinstimmung mit den Bräuchen der Zeit die mit wertvollen Weihgeschenken ausgestatteten Tempel der Gallier aus (Sueton)2. Das gallische Beutegold
strömte in solcher Menge in die römische Wirtschaft, dass der Goldpreis, gemessen am
Silber, um ein Viertel gefallen sein soll. Vergessen wir außerdem nicht, dass Gefangene,
soweit sie nicht ausnahmsweise wie die Häduer und die Arverner in ihre Orte zurückkehren durften, als Sklaven dem Handel zugeführt wurden. Wir wissen nicht mit Sicherheit, ob die römischen Heere in Gallien eine Million Gefangene gemacht haben,
wie Plutarch berichtet3. Auch wenn es nur einige Hunderttausende gewesen sind, so
war das ein außerordentlich großes Volumen an menschlicher Beute, eine nicht geringe
Belohnung für Caesars Soldaten – aber aus der Sicht der betroffenen Gallier betrachtet,
ein bitteres Los und für den einzelnen und die Familien die bitterste Kriegsfolge4.
Eine Million Gallier sollen gefallen sein. Der Krieg war im modernen Sinne flächendeckend. Nichts anderes kann man Caesars Bericht5 und den vielleicht übertriebenen Zahlen bei Plutarch entnehmen, der mitteilt, dass Caesar über 800 Städte erobert und 300 Völkerschaften unterjocht habe. Luciano Canfora6 greift in seiner modernen Wertung zu dem gewichtigen Wort Völkermord.
Zugleich mit der Kapitulation der verbündeten Gallier in Alesia (52 v. Chr.) wurde
deren Führer Vercingetorix in römischen Gewahrsam genommen. Das bedeutete zwar
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den Zusammenbruch des gesamtgallischen Widerstands, dennoch gab es danach noch
regionale Auseinandersetzungen, wie auch Caesar schreibt7, zum Beispiel mit den Bellovakern im Gebiet des heutigen Beauvais in Nordfrankreich. Der Bürgerkrieg in Italien band alsbald Caesars Truppen und zwang zum Abzug. Germanen und andere
Gruppen aus dem Osten strömten damals noch nicht in das militärische Vakuum nach;
erst lange danach, im 3. Jahrhundert, begann eine spürbare Destabilisierung durch
Einfälle aus dem Osten.
Im großen und ganzen war Gallien nach der Niederlage von Alesia fest und nachhaltig
in römischer Hand. Spätestens 12 v. Chr. hatte die römische Armee das Landesinnere
von Gallien verlassen8. Dieses Bild können einzelne regionale Aufstände nicht wesentlich beeinträchtigen. Die wichtigsten sind die militanten Erhebungen unter Florus und
Sacrovir zur Zeit des Kaisers Tiberius (14–37 n. Chr.), unter Vindex zur Zeit des Kaisers Nero (54–68) – im Schwerpunkt gegen den allgemeinen Machtmißbrauch dieses
Kaisers gerichtet – und unter Civilis zur Zeit des Kaisers Vitellius (69).
Über die politische Geschichte und über die öffentliche Verwaltung des neuen römischen Gallien sind wir durch öffentliche Urkunden, durch die Schriften antiker Autoren und durch Inschriften nur unzureichend und grob unterrichtet.
Unter Gallien verstand man in Rom ungefähr das Gebiet des heutigen Frankreich, ergänzt um das Land bis zur Rheinmündung im Norden; die Ostgrenze bleibt bei den
antiken Schriftstellern unscharf, jedoch ist soviel zu erkennen, daß sie von der heutigen
französischen Ostgrenze abwich. Südfrankreich bis nach Spanien hatte Rom bereits
unter den Konsuln Q. Fabius Maximus und Cn. Domitius Ahenobarbus in den Jahren
125–118 v. Chr. zur Provinz Gallia Narbonensis gemacht.
Das unter Caesar (Abb. 1 S. 3) dazugewonnene Gallien hatte kein einheitliches gallisches Reich gebildet9. Seine Bewohner und ihre Gebiete unterschied man – wohl
nach sprachlichen und anderen kulturellen Merkmalen – in keltische Gallier, Belgier
und Aquitaner10. Die erste bekannte Neuordnung nahm Augustus (Abb. 2 S. 3) bei der
Einrichtung des Prinzipats im Jahr 27 v. Chr. vor. Lugdunensis (nach Lugdunum/Lyon), Belgica und Aquitania bildeten die Verwaltungseinheit „tres Galliae“ mit der
Hauptstadt Lyon. Neben der Einheit tres Galliae gab es die alte Provinz Narbonensis
im Süden sowie die „duae Germaniae“. Alle diese Gebiete behielt Augustus in eigener,
kaiserlicher Verwaltung11. Die tres Galliae bestanden aus 60 civitates ; durch Teilungen
und Ausgliederungen erhöhte sich diese Zahl im Laufe der Zeit beträchtlich12. Der
Unterbezirk Lugdunensis bestand aus 25 civitates. Was wir heute als Burgund bereisen, war für die römischen Politiker, Militärs und Kaufleute in seinem nördlichen Abschnitt das Wohngebiet der Senonen (daher der Name der Stadt Sens an der Yonne)
und der Lingonen (daher der Name der Stadt Langres), im flächenmäßig deutlich
überwiegenden restlichen Teil war es das Stammesland der Häduer, deren Gebiete
über die Grenzen des heutigen Burgund hinaus weiter nach Süden reichten – ins Beaujolais, Forez und Lyonnais. Nach den antiken Quellen genossen die Häduer als politisch und militärisch stärkste Macht das höchste Ansehen unter allen gallischen Stämmen, und insofern bildete ihr Gebiet das Kernland des keltischen Gallien. Dabei war
das Land weit davon entfernt, nach internationalen Maßstäben groß, mächtig oder auf
Grund wirtschaftlicher Ressourcen bedeutsam zu sein. Das Häduer-Territorium war
allerdings Durchgangsgebiet zu den Kanal- und Seehäfen an der Nordsee einerseits
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und zum unruhiger werdenden Germanien
andererseits. Der Rhein war bequem zu erreichen. Alles in allem ein offenes Land ohne natürliche Grenzen.
„Burgund“ gehörte also zur römischen
Verwaltungseinheit tres Galliae. Die Verwaltung besaß Zuständigkeiten für das
Straßen- und Postwesen, für den gallischen
Ein- und Ausgangszoll von 2,5 % (quadragesima Galliarum), für den Bergbau und –
mit der Prägestätte Lyon – für das Münzwesen. Einen gesonderten Teil der Verwaltung bildete das Steuerwesen. Augustus
und seine Nachfolger scheinen dem ersten
census, der erstmaligen Festlegung der konkreten Steuerlast der Steuerpflichtigen besondere, mitunter sogar persönliche Aufmerksamkeit geschenkt zu haben13.
Erst nach fast 300 Jahren bemerkenswerter
Stabilität wurde die kaiserliche Verwaltung
für die Dauer von 15 Jahren ernsthaft
durch separatistische Kräfte beeinträchtigt.
Von 259 bis 272 gab es ein „gallisches Sonderreich“, bestehend aus Gallien, Spanien und
Britannien, unter eigenen Augusti und Caesares – Postumus, Victorinus und Tetricus I –,
vorgeblich oder tatsächlich, wir wissen es
nicht, eine Art Selbsthilfeeinrichtung zum
wirksamen Schutz der Rheingrenze gegen
die Germanen. Auf Postumus, den Gründer dieses Teilreichs, fallen besonders düstere Schatten. Er hatte nicht nur politisch
und militärisch Verrat gegenüber Kaiser
Gallienus begangen, sondern darüber hinaus dessen Sohn – wohl aus politischen
Gründen – ermordet. Die Kaiser Claudius
II (268–270) und Aurelianus (270–275) versuchten mit Erfolg, dieses gallische Reich
wieder unter die kaiserliche Zentralgewalt
zurückzubringen. Die von dem Sonderreich
„abgefallene“ Stadt Autun im heutigen
Burgund wurde im Zuge dieser Auseinandersetzungen zerstört.
Unter Diokletian (285–305) wurde die
Verwaltung von Gallien nochmals durchgreifend geändert. Trier wurde Hauptstadt
der dioecesis Galliarum, welche die Provin-
Abb. 1 Caesar. Denar
(Univ. Tübingen. Arch. Inst.)
Abb. 2 Augustus. Denar
(Univ. Tübingen. Arch. Inst.)
Abb. 3 Agrippa. Denar
(Univ. Tübingen. Arch. Inst.)
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zen Lugdunensis I, Lugdunensis II, Belgica I und II, Germania I und II, Sequania und
Alpes Graiae et Poeninae zusammenfaßte. „Burgund“ war überwiegend Bestandteil
der Provinz Lugdunensis I mit der Regionalhauptstadt Lyon.
Die spätantike Notitia Dignitatum, deren Angaben sich etwa auf die Zeit um 400
beziehen, berichtet, dass zur provincia Lugdunensi die civitas Aeduorum (Autun), die
civitas Lingorum (Langres) sowie das castrum Cabillonense (Chalon-sur-Saône) und
das castrum Matisconense (Mâcon) gehörten – und damit große Gebiete des heutigen
Burgund und unmittelbar angrenzender Landschaften. Die Notitia Dignitatum enthält
außerdem eine Fülle von Informationen über Ämter der kaiserlichen Verwaltung in
den großen Städten, darunter zahlreiche Positionen mit Verantwortung für die Leitung von Betrieben zur Herstellung militärischer Ausrüstungsgegenstände wie Schleudermaschinen (balistaria), Panzerungen (loricaria, clibanaria), Schilde (scutaria), Textilien (ein procurator gynaecii) – in Autun; Pfeile (sagittaria) – in Mâcon. Der Admiral der Saôneflotte (praefectus classis Araricae) hatte sein Hauptquartier in Chalon-sur-Saône14.
Bis zur Mitte des dritten Jahrhunderts ist die Geschichte Galliens, soweit wir sie
kennen, durch ein außergewöhnliches Maß an innerer und äußerer Sicherheit geprägt.
In der zweiten Hälfte des dritten Jahrhunderts begannen nach dieser langen Phase
wirtschaftlicher und politischer Stabilität, die die alten keltischen Stämme wohl niemals gekannt hatten, auch für Gallien wieder unruhige Zeiten. Die äußere Sicherheit
war fortan Bedrohungen, die aus dem Osten kamen, ausgesetzt. Die Rheingrenze
konnte nicht mehr wirksam gehalten werden. Alemannen begannen, in gallische Gebiete einzufallen. Neben räuberischen Attacken kam es immer häufiger zu nach Westen gerichteten Bewegungen ganzer Volksstämme, die ihrerseits dem Druck von Steppenvölkern aus dem Osten nachgaben und aus heutiger Sicht Teile der Völkerwanderung waren. Zu allem Überfluß begannen auch starke Räuberbanden wie die Bagaudes
(z. B. 283/286) das Land unsicher zu machen. Ferner kam hinzu, daß die zeitweise
Überbesteuerung – 25 aurei (das sind 2500 Sesterzen) pro Kopf – den politischen und
sozialen Frieden gefährdete. Kaiser Julian (361–363) verschaffte den „unter äußerster
Bedrängnis stöhnenden gallischen Ländern“ (Ammianus Marcellinus)15 später wieder
einen erträglichen Steuersatz von 7 aurei.
Die Zeit von Kaiser Diokletian (ab 285) bis etwa 350 kann deshalb nur unter Einschränkungen mit Duval als eine verhältnismäßig stabile Phase bezeichnet werden.
Das Jahr 407 brachte schließlich den endgültigen Zusammenbruch der äußeren Sicherheit und der römischen Ordnung. Schon etwas früher, in der zweiten Hälfte des vierten Jahrhunderts hatte die Aggressivität der Völker aus dem Osten in Gallien Sicherheit auf Kosten aller anderen Lebensbelange zur obersten Priorität, zur größten Sorge
aufsteigen lassen. Eine lange Epoche der privaten Initiative und Kreativität war vorüber. Die heidnischen Grabmäler der gallo-römischen Familien verschwanden als Baumaterial in den Wehrmauern der Städte16.
An der großen und erfolgreichen Gallien-Invasion des Jahres 407 beteiligten sich neben Wandalen Sueben und (nicht germanische) Alanen. Auch Burgunder fielen ein. Ihr
Name wurde alsbald Herrschafts- und Territorialbezeichnung für ein Gebiet, dessen
Grenzen sich mehrfach beträchtlich verschoben – zuerst nach Süden an die Rhônemündung und auf Grund der Zuweisung durch die römische Staatsgewalt nach Sapau-
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dia (Savoyen), das südlich und westlich des Genfer Sees gelegen ist, erheblich später
dann nach Norden (Flandern) und schließlich in die heutige Mittellage.
Im 5. Jahrhundert verteilte sich die Herrschaft in ganz Gallien unter germanische
Herrscher. Diese wurden Herren und Besetzer des Landes wie 500 Jahre zuvor die Römer.
Die Auswirkungen dieses dramatischen Herrschaftswechsels auf die gallo-römische
Kultur sind schwer einzuschätzen. Jedenfalls endeten die Lebensgewohnheiten, Rituale, die gesellschaftlichen Verhältnisse und die Wertvorstellungen in Gallien nicht
schlagartig mit den massiven Germanen- und Alaneneinfällen des Jahres 407 und der
unmittelbar darauffolgenden Jahre. Die gallo-römische Kultur ist mit diesen Ereignissen gewiß nicht in Bausch und Bogen erloschen, aber man wird sicher einen Bruch
feststellen können, der in eine rauhe Zeit mit wesentlich anderen, nicht mehr durch das
römische Reich vorgegebenen Lebensbedingungen überleitete. Das frühe Frankenreich begann. Unter dem Blickwinkel Kultur hatten die Veränderungen sicherlich eine
andere Qualität als die einfache Fortentwicklung gallo-römischer Lebensformen.
Der aus Gebieten östlich des Rheins stammende Bevölkerungsanteil hatte schon
vor 407 spürbar zugenommen. Die römische Verwaltung hatte Stämme, die besiegt
worden waren oder sich unter römischen Schutz gestellt hatten, in Gallien zum Militärdienst verpflichtet oder angesiedelt. Neuerdings wird darauf aufmerksam gemacht,
daß in nicht geringer Anzahl auch Nicht-Germanen wie etwa Sarmaten aus den südrussischen Steppen in Zentralgallien angesiedelt worden seien17. Die Stadtgarnisonen,
deren sichtbarer Ausdruck die Mauern der castra sind, bestanden zu einem guten Teil
aus Germanen. Das Jahr 407 führte aber keineswegs zu einer plötzlichen Überschwemmung Galliens mit Germanen. Es fand keine Massenimmigration von landsuchenden Germanen statt – etwa mit der kollektiven Vorstellung, in Gallien mit seinen besseren Böden und seinem günstigeren Klima neuen Wohnsitz zu nehmen.
Gallien hörte im 5. Jahrhundert auch nicht auf, Teil des römischen Reiches zu sein.
Erst recht spaltete sich kein „germanisches Gallien“ als Teilstaat vom römischen Reich
ab. Es trat auch kein Zustand dauerhafter Anarchie ein.
Dagegen fand durchaus ein Herrschaftswechsel statt. Die oberste Macht in dem
geographischen Teil Westeuropas, der als Gallien bezeichnet wurde, ging kraft militärischer Überlegenheit de facto auf Männer germanischer Herkunft über. Man sollte
das durchaus personalisiert und nicht staatsrechtlich-völkerrechtlich sehen. Der gallorömische Adel, der modern gesprochen, die Staatsgewalt ausgeübt hatte, wurde dabei
nicht eliminiert. Die germanischen Führer brauchten ihn, um unterhalb der Führungsspitze die Verwaltung und die Wahrnehmung der Sicherheitsbelange in den weiten Gebieten Galliens zu gewährleisten. Sicher nicht aus persönlicher Rücksichtnahme, sondern aus dieser Notwendigkeit heraus, fand seit dem 5. Jahrhundert eine intensive Integration des germanischen und des gallo-römischen Adels statt, und dies keineswegs
einseitig durch Aufsaugen der gallo-römischen Führungsschicht, sondern durchaus
auch durch Integration von Germanen in gallo-römische Großgrundbesitzerfamilien18. Mit überschwänglicher Bewunderung schreibt Sidonius Apollinaris an einen jungen, von ihm schmeichelhaft neuer Solon der Burgunder genannten Gallier, der
die germanische Sprache erlernt hat und sie nun sinnvoll zur Verständigung mit den
Germanen einsetzen kann19.
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Im Laufe der Zeit gingen die eingewanderten Stämme in der bodenständigen Bevölkerung auf, deren germanischer Anteil in den einzelnen Regionen immer nur eine
Minderheit20 darstellte. Verschwindend klein ist die Zahl französischer Orte mit Namen germanischen Ursprungs. Im Unterschied zu der durchgreifenden und nachhaltigen Wirkung der römischen Eroberung Galliens im 1. Jh. v. Chr. konnte sich die Sprache der Eroberer, der Zwangsangesiedelten und der Einwanderer nicht dauerhaft halten, geschweige denn auf die gallo-römische Bevölkerung ausdehnen – auch dies ein
Indiz für den geringen germanischen Bevölkerungsanteil. Vorübergehend dürften die
weiter westlich angesiedelten Franken zweisprachig gewesen sein; die Eroberer waren
also, wie es scheint, zuweilen gezwungen, sich den Eroberten anzupassen. In das Spätlatein der Zeit sind nur wenige Wörter germanischen Ursprungs eingegangen. Als
Ausdruck kultureller Kontinuität antiker Einrichtungen bestand das römische Finanzsystem lange fort21.
Wie sah sich die germanische Führungsspitze in Gallien selbst? Die Mächtigen betrachteten sich als Regionalherrscher im römischen Reich – oder stellten sich doch aus
politischen Gründen gern so dar. Die Merowinger prägten zunächst noch Goldmünzen mit dem Bildnis des römischen Kaisers. Der Frankenfürst Childerich (gestorben
482) führte den Titel eines römischen Generals. Franken, Burgunder fochten untereinander und gegen die Westgoten um die Macht, nicht gegen Rom. Von Germanen usurpierte Macht wechselte wenigstens nominell immer wieder mit von der römischen
Zentralgewalt – in Rom oder später in Konstantinopel – verliehener Macht. Chlodwig
(482–511) erhielt von einer kaiserlichen Gesandschaft den Ornat eines rex und damit
die offizielle Anerkennung der Regierung in Konstantinopel; er wurde zum Ehrenkonsul22 berufen.
Die Aufrechterhaltung der römischen Macht in Gallien gehörte angesichts der
Probleme mit germanischen Heeren und mit ständigen Bedrohungen im Osten des
Herkunft des Namens ‚Gallier‘ in der antiken Mythologie
„Das Keltenland wurde, wie uns überliefert ist, in den alten Zeiten von einem angesehenen Manne beherrscht, der eine Tochter hatte, ungewöhnlich groß gewachsen und in ihrer
Schönheit allen anderen Mädchen weit überlegen. Doch war sie wegen ihrer Körperkraft
und staunenswerten Anmut auch so hochmütig, daß sie jeden ihrer Freier ausschlug; denn
sie meinte, keiner von ihnen sei ihrer würdig. Als aber Herakles auf seinem Feldzug gegen
Geryones das Keltenland besuchte und dort die Stadt Alesia gründete, bekam ihn das
Mädchen zu Gesicht und mußte seine Kühnheit und körperliche Überlegenheit bestaunen. So nahm sie denn, nachdem auch ihre Eltern einverstanden waren, mit aller Bereitwilligkeit seine Umarmungen entgegen. Aus dieser Verbindung mit Herakles gebar sie einen Sohn namens Galates, der an Geist und Körperkraft alle seine Stammesgenossen weit
übertraf. Als er dann das Mannesalter erreicht und die Thronfolge seines Vaters angetreten
hatte, eroberte er einen Großteil des angrenzenden Landes und vollbrachte große Heldentaten im Kriege. Berühmt geworden durch seine Tapferkeit, gab er seinen Untertanen nach
sich den Namen Galater (Gallier) und von diesen erhielt ganz Galatien (Gallien) seine Bezeichnung.“
(Diodorus Siculus V, 24 - Übers. Veh)
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Reiches nicht zu den Prioritäten der kaiserlichen Reichsverwaltung. Die letzten militärischen Anstrengungen unternahm General Aetius (gestorben 454), der mit hunnischen Truppen Westgoten, Franken und Burgunder23 bekämpfte.
Noch im 6. Jh. spielt das von Goten eroberte Rom seine kulturelle Überlegenheit aus.
Theoderich (493–526) schenkt dem Burgunderkönig Gundibald römische Uhren, eine
Sonnenuhr und eine Wasseruhr samt Bedienungspersonal mit der gutgemeinten Aufforderung, seine burgundischen Untertanen sollten sich mit Bewunderung für diese Erfindungen als Ausdruck fortschrittlicher römischer Zivilisation erwärmen (laudare)24.
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Der historische Rahmen ist damit abgesteckt. Im nächsten Schritt kann nun skizziert
werden, wie das keltische Gallien bei seiner Eroberung beschaffen war, welche
unmittelbaren Wirkungen die Eroberung hervorrief und wie die nachfolgende jahrhundertelange Einbindung in das römische Reich sich auswirkte. Diese Darstellung
wird das Verständnis der auf uns gekommenen Reste der gallo-römischen Kultur erleichtern.
Über die antike Geographie Galliens vor der römischen Eroberung und die Art der in
Gallien erzeugten Güter kann man hauptsächlich bei Diodorus Siculus, der ein Zeitgenosse und Bewunderer Caesars war, bei Plinius dem Älteren und bei Strabo nachlesen
(Auszüge in den Kästen). Die Beschreibungen sind nicht sonderlich detailliert, aber
nachvollziehbar. Und man bekommt den Eindruck, daß Rom ein grobes, im großen
und ganzen zutreffendes Bild der Geographie und der Wirtschaft Galliens besaß. Hervorgehoben werden, besonders ausführlich bei Strabo, die Flüsse und ihre Bedeutung
für den Warentransport. Ferner die blühende Landwirtschaft (gepökeltes Schweinefleisch wurde nach Italien exportiert); der Bergbau; der Transport von Zinn aus Britannien auf Pferden und Schiffen, wobei die Beförderung auf Pferderücken von der Kanalküste bis zur Rhônemündung im 1. Jh. v. Chr. 30 Tage dauerte. Von schwer belade-
Antike Beschreibungen der Gallier
„Die Gallier sind hochgewachsen mit aufgeschwemmten Muskeln und von weißer Hautfarbe. Ihr Haar ist nicht nur von Natur aus blond, sondern sie verstärken die eigentümliche
Farbe mit künstlicher Behandlung. Sie reiben die Haare ständig mit Kalkwasser ein und
streichen sie von der Stirn nach oben gegen den Scheitel und die Nackensehnen, so daß
sie im Aussehen Satyrn und Panen gleichen. Das Haar wird nämlich dick durch diese Behandlung und unterscheidet sich nicht mehr von einer Pferdemähne. Einige rasieren sich,
andere lassen die Barthaare ein wenig wachsen. Die Vornehmen rasieren die Wangen, lassen aber die Haare auf der Oberlippe wachsen, so daß sie den Mund bedecken. Wenn sie
essen, geraten die Haare deshalb in die Speisen, und wenn sie trinken, fließt das Getränk
wie durch ein Sieb.“
(Diodorus Siculus V, 28 - Übers. Malitz)
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nen Wagen wie auch von Zweispännern im Kampf ist bereits bei Diodorus Siculus die
Rede25. Der Reichtum an Gold und Goldschmuck wird herausgestellt.
Um den Beschreibungen der gallischen Menschen und ihrer sozialen und religiösen
Einrichtungen gerecht zu werden, müssen wir uns in eine Welt ohne die Menge und
Genauigkeit an Informationen, wie sie heute von allen Medien und durch das Reisen
vermittelt werden, versetzen. Die römischen Geographen und Geschichtsschreiber der
„Die Kelten nehmen ihre Speisen ein auf einer Unterlage von Heu, an hölzernen, wenig
über den Boden erhobenen Tischen. Ihre Nahrung besteht aus wenig Brot, aber viel
Fleisch, das teils in Wasser gekocht, teils auf Kohlenpfannen oder an kleinen Spießen gebraten ist. Sie sagen dem Mahl reinlich, aber nach Löwenart zu; mit beiden Händen nehmen sie ganze Glieder auf und beißen davon ab. Wenn etwas schwer abzubeißen ist,
schneiden sie es mit einem kleinen Messer ab, das in einer eigenen Tasche an den
Schwertscheiden befestigt ist. Diejenigen, die an den Flüssen oder am inneren und äußeren Meer wohnen, essen auch Fische, und zwar gebacken mit Salz und Essig und Kümmel.
Kümmel fügen sie auch in ihrem Getränk hinzu. Öl gebrauchen sie nicht wegen des Mangels, und weil es ungewohnt ist, scheint es ihnen unangenehm zu sein. Speisen sie in größerer Gesellschaft, sitzen sie im Kreis, in der Mitte, wie der Anführer eines Chors, der
Stärkste, der entweder durch kriegerischen Mut oder durch seine Abstammung oder durch
seinen Reichtum hervorragt. Wer nach ihm der nächste ist, sitzt ihm zur Seite, und so der
Reihe nach auf beiden Seiten nach eines jeden Rang. Hinter ihm stehen die Knappen mit
den Schilden; die Speerträger sitzen am anderen Ende im Kreise und schmausen wie ihre
Herren. Das Getränk tragen die Schenken in Gefäßen auf, die den Ambiken gleichen und
aus Ton oder Silber sind. Auch die Platten, auf denen sie die Speisen auftragen, sind aus
dem gleichen Material; andere benutzen dafür bronzene Platten, wieder andere holzgeflochtene Körbe. Das Getränk bei den Reichen ist Wein, der aus Italien oder aus dem Gebiet von Massilia kommt. Dieser Wein wird ungemischt getrunken; manchmal wird ein
wenig Wasser beigemischt. Bei den weniger Reichen trinkt man Weizenbier, das mit Honig zubereitet ist; beim Volk wird das Bier pur getrunken. Man nennt es ‚Korma‘. Sie
schlürfen zusammen aus demselben Gefäß, aber das tun sie öfters. Der Schenke trägt nach
rechts und links aus; so wird ihnen bei Tisch aufgewartet. Die Götter grüßen sie nach
rechts gewandt.“
(Poseidonios zit. nach Athenaeus - Übers. Malitz)
„Die Frauen der Gallier sind nicht nur in der Körpergröße ihren Männern sehr ähnlich,
sondern wetteifern mit ihnen auch an Körperkraft. Ihre Kinder haben nach der Geburt meistens weißliche Haare, doch wenn sie älter werden, verändert sich das Haar zur Farbe der
Väter. Obwohl sie schöngestaltete Frauen haben, kümmern sie sich wenig um sie, sondern
sind ganz verrückt auf gleichgeschlechtlichen Umgang. Sie pflegen auf Tierfellen am Boden zu ruhen und sich mit Beischläfern auf beiden Seiten herumzuwälzen. Das Merkwürdigste von allem ist, daß sie ohne Rücksichtnahme auf die eigene Schicklichkeit die Blüte
ihres Leibes anderen bereitwillig hingeben und das nicht für schimpflich halten, sondern
dies mehr: wenn sie sich anbieten und einer den Gefallen nicht annimmt, das halten sie
für ehrenrührig.“
(Diodorus Siculus V, 32 - Übers. Malitz)
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späten Republik und der frühen Kaiserzeit konnten selten eigene Erfahrungen verarbeiten und mußten daher im wesentlichen von ihren Vorgängern verarbeitete individuelle Berichte von Kaufleuten26, Militärpersonal oder „Einwanderern“ (Kriegsgefangenen und Sklaven) für ihre eigene Darstellung nutzen. Diodorus und Strabo haben
auf die zu ihren Lebzeiten unter Caesar, Augustus und Tiberius bereits über 50–100
Jahre alte Darstellung von Poseidonios von Apamea (135–51 v. Chr.) zurückgegriffen.
Poseidonios selbst hatte sich allerdings eine Zeitlang in Marseille bei einem Freund
aufgehalten, und Caesar, viel später auch Ammianus Marcellinus verschafften sich
ebenfalls an Ort und Stelle genauere Eindrücke. Die Wiedergabe dieser Eindrücke ist
nicht ohne Verzerrungen. Der gebildete Römer oder Grieche betrachtete als Bürger
der Führungsnation Europas die Gallier als ein ziemlich unzivilisiertes Volk. Die Ge-
Caesar über die Druiden
„Die Druiden sind beim Gottesdienste tätig; sie besorgen die Staats- und Privatopfer und
erklären die Sachen des Glaubens. Der religiösen Lehre wegen versammeln sich bei ihnen
viele junge Leute, und überhaupt stehen die Druiden bei den Galliern in hohem Ansehen.
Denn in fast allen öffentlichen und privaten Streitigkeiten fällen sie die Entscheidung, und
wenn ein Verbrechen begangen worden, ein Mord vorgefallen ist, wenn Erbschafts- und
Grenzstreitigkeiten vorliegen, immer entscheiden sie und setzen die Strafen fest. Einen Privatmann oder einen Stamm, die sich ihrer Entscheidung nicht fügen, schließen sie von der
Teilnahme an den Opfern aus. Das ist bei ihnen die größte Strafe. – An der Spitze aller
Druiden steht ein einziger bei ihnen hochangesehener Mann. Nach seinem Tode folgt entweder einer, der sich vor den übrigen auszeichnet kraft seiner Würde oder, wenn mehrere
gleichen Ansehens da sind, durch Wahl der Druiden; zuweilen kämpfen sie sogar mit Waffen um die erste Stelle. Zu einer bestimmten Zeit im Jahre halten sie im Lande der Carnuten – diese Gegend wird für die Mitte von Gallien gehalten – eine Gerichtssitzung an einem geweihten Orte ab. Hier finden sich von allen Seiten die Menschen ein, die gegenseitig in Streitigkeiten miteinander verwickelt sind, und unterwerfen sich ihren Entscheidungen und Urteilssprüchen. – Die Druiden sind im Gegensatz zur übrigen Bevölkerung vom
Kriegsdienst und den Steuern befreit. Eine solche Bevorzugung läßt viele teils freiwillig
sich der Lehre widmen, teils auch werden sie von ihren Eltern und Verwandten den Druiden geschickt. Bei ihnen sollen sie eine große Menge Verse auswendig lernen; daher müssen einige zwanzig Jahre in der Lehre verweilen. Sie halten es für frevelhaft, den Inhalt der
Lehre niederzuschreiben, obgleich sie im gewöhnlichen Leben und bei der Abfassung von
öffentlichen und privaten Urkunden griechische Buchstaben zu benutzen pflegen. – In ihrer Lehre wollen sie vor allem davon überzeugen, daß die Seelen nicht sterben, sondern
nach dem Tode von einem Körper in einen anderen übergehen, und sie glauben, daß dies
vor allem die Menschen zu tapferem Verhalten anreize, denn die Todesfurcht werde dabei
ganz gebannt. Außerdem stellen sie weitgehende wissenschaftliche Erörterungen an über
die Sterne und deren Bewegungen, über die Größe des Weltalls und der Erde, ferner über
die Natur und die Gewalt und Macht der unsterblichen Götter. Auch darüber belehren sie
die jungen Leute.“
(Caesar, de bello Gallico VI, 13, 14 - Übers. Stegemann)
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schichtsschreiber boten überdies gern das Grelle, das Kuriose und das Schockierende.
Ihre Mitteilungen enthalten überraschend wenig geographische oder ethnische Differenzierung für das riesige Gebiet des geographischen Gallien. Wenn wir von den hellhaarigen Galliern lesen, denken wir eher an Friesen und an manche Slaven als an die
Gallier im Morvan, die man sich übrigens in der lokalen Überlieferung als rothaarig
vorzustellen hat. Aber auch von künstlich blondierten Haaren ist die Rede27.
Es fehlt nicht an kritischen Bemerkungen über die Streitsucht der Gallier und an
anerkennenden Worten für den Mut der Männer im Kampf. Manche Autoren bescheinigen den Galliern eine gewisse intellektuelle Kompetenz. Neben einem scharfen Verstand besäßen sie hohe sprachliche Fertigkeiten, obwohl sie nicht schrieben; und sie
hätten eine ausgeprägte Bereitschaft zu lernen. Heute wird die Auffassung vertreten28,
daß wenigsten die Druiden, Vertreter des religiösen und des erzieherischen Kultus, in
ihren Kontakten zur hellenischen Welt des Mittelmeers die griechische Sprache benutzten und daß daneben auch eine gewisse gebildete Schicht bereits vor der Eroberung Lateinkenntnisse besaß.
Auf musische Fähigkeiten weisen Bemerkungen über Instrumente, Gesang und
Lyrik hin. Funde lassen ein Niveau der bildenden Kunst erkennen, das die Schwelle
der Primitivität längst überschritten hatte. Gemeinsamkeiten von Funden in Gallien
und in einer ausgedehnten Randzone entlang der Donau lassen einen riesigen Kulturraum in Zentral-, West- und Osteuropa, eine keltische Kultur erkennen. Der hohe
Entwicklungsstand handwerklicher Kunst und astronomischer Erfahrung und Überlieferung wird durch den Kalender von Coligny aus dem 1. Jh. v. Chr. unterstrichen29.
Archäologische Funde in Gallien zeigen eine intensive, sich auf viele Gebiete erstreckende handwerkliche Aktivität. Das Versilbern von Bronze galt Plinius als gallische Erfindung30. In den heutigen Departements Nièvre und Yonne wurde Eisenerz
abgebaut und zu Roheisen verarbeitet (siehe Kasten). Plinius berichtet über eine Fülle
Eisengewinnung1
Die Technik der Roheisengewinnung war schon den Kelten gut bekannt. Die damit verbundenen mannigfaltigen Aktivitäten in gallo-römischer Zeit haben mit den Schwerpunkten nördlicher Morvan, nordwestliches Morvan-Vorland, Les Clérimois und Blany (Gemeinde Laizé) im Mâconnais in den Departements Nièvre, Yonne, Côte-d’Or und Saôneet-Loire mit Tagebaugruben2 und Schächten3, vor allem aber mit ungezählten Schlackehalden deutliche Spuren hinterlassen. Das Gebiet liegt, abgesehen von Blany, in einem Bogen, der von La Charité-sur-Loire über die Landschaft Puisaye in den Forêt d’Othe reicht.
Allein für das Puisaye schätzt man das ursprüngliche Volumen dieser Halden aus dem
1.–4. Jh. auf 1 Mio. Tonnen, für das Nièvre allein auf 700.000 Tonnen. Eines der gallorömischen Zentren lag in der Gemarkung Les Fouerettes bei Les Clérimois östlich von
Sens. Die Anlagen zur Roheisengewinnung waren dort etwa 1000 Jahre in Betrieb. Sie lassen damit die technologischen Fortschritte über einen ungewöhnlich langen Zeitraum hinweg erkennen4. Bereits in der Antike hat man geringere Mengen Schlacke zur Dränage
von Baugrund verwendet, etwa in der Ansiedlung Pré Pillats bei Raveau (Nièvre). In unserer Zeit wird die jahrhundertelang von der Vegetation zugedeckte Schlacke dann als Schot-
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ter für den Straßenbau, zur Entschwefelung von Eisen, aber auch zu erneuter Eisengewinnung mit verbesserten Methoden wiederentdeckt. „Ferriers“, wie diese Halden im Nièvre
genannt werden, konnten eine Höhe von 20 Metern erreichen und eine Fläche von einem
Hektar bedecken. Ein intakter Ferrier befindet sich noch in einem Waldstück bei Butte à
Cressis du Ferry in der Nähe von Saint-Amand-en-Puisaye. Im übrigen hat sich das Durchsuchen von Ferriers nach Zeugnissen des antiken Lebens als unergiebig erwiesen.Von den
Schmelzöfen haben sich nur Wandfragmente und Teile von Luftzuleitungen erhalten. Die
bienenkorbförmigen Öfen waren etwa einen bis eineinhalb Meter hoch und hatten einen
Durchmesser bis zu 2,30 Meter. Die Anlagen wurden mit zerkleinertem Eisenerz, Holzkohle – meist aus Buche und Eiche – sowie einem Kalkzuschlag und eventuell mit siliziumhaltigem Material befüllt. Das beim Schmelzen durch Reduktion entstehende Roheisen
sammelte sich am Boden des Ofens und wurde anschließend zu Barren gehämmert. Im
Gegensatz zu anderen Gewerben betrieb man die Roheisenherstellung in dem beschriebenen Gebiet konzentriert für den Bedarf einer größeren Region, also für einen überörtlichen Markt. Man kennt dieses Konzept auch von den überregionalen Töpfereizentren
Gueugnon (Saône-et-Loire) und Jaulges, Villiers-Vineux (Yonne). Über das Eigentum an
den Produktionseinrichtungen, über das kaufmännische und organisatorische Modell,
über den Grad der Arbeitsteiligkeit und Spezialisierung gibt es noch keine Erkenntnisse.
Vereinzelt fand man in der Nähe von Ferriers Spuren gallo-römischer Siedlungen, in Le
Crot-au-Port bei Fontenay-près-Vézelay (Yonne) sogar ein stattliches, zentral gelegenes
Gebäude mit Stuckfries und Wandbemalung, in welchem eine Regionaldirektion untergebracht gewesen sein mag. Bei den Anlagen von Haut-de-Pied, acht Kilometer nördlich von
Joigny (Yonne) stieß man auf ein großes Badegebäude5. Eine Art Bergarbeitersiedlung mit
18 planmäßig auf etwa gleich großen Parzellen errichteten Gebäuden fand man vier Kilometer südwestlich von Montlay-en-Auxois (Côte-d’Or) in der unmittelbaren Nähe von Eisenschmelzöfen, eine ganz ähnliche Siedlung mit Thermen in der Flur Pré Refort bei Thoste (Côte-d’Or)6. Neben diesen überörtlichen Einrichtungen waren in Burgund Schmelzöfen für den Eigenbedarf der großen Güter verbreitet; sie sind in großer Zahl auf dem Gelände von villae gefunden worden.
1 Alain Bouthier, L’Artisanat à travers les âges; techniques et productions. In: 30 ans d’archéologie
dans la Nièvre, S. 116. Eingehende Darstellung bei Bouthier, Duperon, Velde, La métallurgie du
fer, S. 252ff; Christophe Dunikowski et Sandra Cabboi, La sidérurgie chez les Sénons. Les atéliers
celtiques et romains des Clérimois (Yonne). Documents d’Archéologie française 51. Paris 1995;
Mangin, Kleesmann, Birke, Ploquin, Mines et métallurgie chez les Éduens: le district sidérurgique
antique et médiéval du Morvan-Auxois. In: Annales littéraires de l’Université de Besanc,on. No.
456 (1992); Claude Domergue und Marc Leroy (Hrsg.), Mines et métallurgie en Gaule: recherches
récentes. In: Gallia 57 (2000), S. 1–158.
2 Durchmesser ca. 30 m, zum Beispiel bei Girolles und Lucy-le-Bois nordwestlich von Avallon, vgl.
Jaques Momot, Quelques gisements de scories antiques des environs d’Avallon (Yonne). In: RAE
14(1963), S. 36–52 und 249–266.
3 Zum Beispiel bei Minot 100 bis zu acht Meter tiefe Schächte, in der Regel mit quadratischem
Querschnitt.
4 Einzelheiten bei Christophe Dunikowski, Mille ans de sidérurgie. In: Découvertes archéologiques
sur l’Autoroute A 5. Archéologia Hors Série 3 H, S. 52-57 mit zahlreichen farbigen Abbildungen.
5 Skizzen in Gallia 6 (1948), S. 254; Kleinfunde im Musée d’Histoire et d’Archéologie, Villeneuvesur-Yonne.
6 Michel Mangin, Thoste. In: Les agglomérations antiques, S. 192, 194.
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Einführung
Gallische Textilien
„Die Kleider, die sie tragen, sind höchst auffallend: gefärbte, ganz bunt gemusterte Röcke,
und Hosen, die sie ‚Braken‘ nennen. Darüber tragen sie, mit einer Spange an der Schulter
befestigt, gestreifte Mäntel, im Winter aus dickem Stoff, im Sommer aus dünnem Stoff, in
viele bunte Vierecke geteilt.“
(Diodorus Siculus V, 30 - Übers. Malitz)
von Textilerzeugnissen aus Gallien: Tuche und Stoffe, Kissen und Polster sowie Teppiche31. Caesar berichtet anerkennend von den Leistungen der gallischen Pioniere im
Kriege, was sich nur auf technische und logistische Leistungen beziehen kann.
Geopolitisch wichtigstes Ergebnis der Eroberung war für Rom die Gewährleistung eines sicheren, ungestörten kaufmännischen und militärischen Fernverkehrs von Italien
über die Alpenpässe und von der südfranzösichen provincia/Provence aus zu den Kanalhäfen (Zinn aus Britannien) und zum Rhein. Burgund besaß im Verlauf dieser Verbindung – wie heute – eine Drehscheibenfunktion. Hier lagen die kurzen, über Land
geführten Transportverbindungen – nach Westen von der Saône (als Fortsetzung der
Rhône) zur Loire und in nördlicher Richtung von der Saône zur Seine.
Daneben kam, ohne daß dieser Aspekt überschätzt werden sollte, die Wirtschaftskraft
Galliens Rom zugute. Sie läßt sich an den Zahlungen der gallischen Stämme und Städte an Rom ablesen. Eine „Spende“ in Höhe von 10 Millionen Denaren zahlte Gallien
nach Caesars Tod. Mit 40 Millionen Sesterzen jährlicher Steuerlast begannen die Abgaben nach der Eroberung, vielleicht kein geringer Betrag, wenn man die Ausplünderung
im Krieg bedenkt. An Kaiser Claudius flossen bereits nicht weniger als 225 Millionen
Denare. Von diesem fiskalischen Effekt abgesehen, bedeutete die Einverleibung Galliens, daß seine Produkte in weit größerem Maße als vorher nach Italien gelangten und
umgekehrt italische Erzeugnisse nach Gallien – ein die Produktion und den Fernhandel fördernder Binnenmarkteffekt, der durch den 2,5 prozentigen Ein- und Ausgangszoll nicht beeinträchtigt worden zu sein scheint. Das Recht, die klassischen römischen
Ämter der Staatsverwaltung zu übernehmen (cursus honorum), blieb den Galliern
allerdings bis zur Gleichstellung aller Freien durch Caracalla (212) verschlossen. Nur
den Häduern hatte der Senat bereits im Jahre 48 n. Chr. unter Kaiser Claudius I das
Recht, Mitglied in diesem ehrwürdigen Gremium zu werden, gewährt.
Während Rom mit der Eroberung Galliens militärische Ruhe in Westeuropa herstellen konnte und daneben Wirtschafts- und Finanzkraft hinzugewann, verloren die
keltischen Stämme ihre Souveränität. Sie hörten schrittweise auf, ihre eigenen Münzen
zu schlagen. Sie verloren ihre Autonomie auf militärischem Gebiet. Keltisch war nicht
mehr Amtssprache. Nach Rom flossen die Steuern. Römisches wurde Maßstab und
Vorbild32.
Auf diese Aspekte, auf die allgemeine Ausgangssituation in Gallien vor seiner Annektion, ist kurz einzugehen. Über die Organisation der gallischen Stämme weiß man nur
wenig. Die Gallier besaßen jedenfalls eine Organisation, die eine Versammlung von
Stammesfürsten zuließ33. Ob solche Versammlungen der Stammesfürsten turnusmäßig
oder auch nur häufig, wenn auch unregelmäßig, ad hoc stattfanden, ist nicht überlie-
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fert. Die religiöse Organisation, die das Gebiet der formalen Erziehung einschloß, war
dagegen soweit fortgeschritten, daß Vertreter verschiedener Stämme sich einmal jährlich unter einem obersten Druiden im Gebiet der Carnuten zusammenfanden. Die
Verständigung scheint kein Problem gewesen zu sein; wenn Caesar von unterschiedlichen Sprachen der Gallier, Belgier und Aquitaner berichtet, so kann sich diese Beobachtung auf Varianten bezogen haben, die wir als Dialekt bezeichnen würden34. Es hat
kein keltisches Reich im politischen Sinne gegeben; die gemeinsame Kultur hatte die
Kelten in Gallien nicht einmal zu einem staatsähnlichen Gebilde zusammengeführt.
Die Auswertung der Münzfunde läßt zwar intragallische Geldbewegungen erkennen.
Aber wie intensiv der Wirtschaftsverkehr zwischen den keltischen Stämmen gewesen
ist, läßt sich daraus nicht ablesen, weil es noch keine Geldwirtschaft im modernen Sinne gab. Der Verlust der „Souveränität“ traf also wohl eine Vielzahl relativ autonomer
Volksgruppen. Und so bescherte die römische Eroberung den Galliern neben vielem
anderen eine Vereinigung dieser kulturell verwandten Stämme durch fremde Hand zu
einer geographisch sehr weiträumigen, nunmehr befriedeten Sicherheitszone und im
modernen Sinne zu einem gemeinsamen Wirtschaftsgebiet mit einheitlichem Münzwesen durch Eingliederung in das römische System.
Massilia (Marseilles) und andere Städte in Südfrankreich hatten bereits im 3. und im
2. Jh. v. Chr. nach griechischem Vorbild Münzen geprägt. In Zentralgallien scheinen ab
etwa 80 v. Chr. Häduer, Lingonen und Sequaner in weitgehender Anlehnung des
Münzmetalls und der Gewichte an das römische Denar-System gemeinsam Münzen
geprägt zu haben. Diese Variante unterstützte in jedem Fall den Warenaustausch mit
dem römischen Reich. Sofort nach der Niederlage von Alesia hörte die eigene Goldmünzenprägung der Stämme auf – es wäre nicht ganz abwegig anzunehmen, daß die
Sieger das Münzgold abtransportiert und die Stempel vernichtet hatten. Insofern ist
gleichzeitig eine Einbindung in die römische Münzpraxis zu beobachten, die vor Beginn der Kaiserzeit nur ausnahmsweise Goldmünzen kennt. In Übereinstimmung mit
der römischen Praxis in anderen eroberten Gebieten ist die gallische Münzprägung aus
anderen Metallen nach 52 v. Chr. nicht sofort eingestellt – gewiß aber unter römische
Leitung gestellt – worden, denn sie mußte den umfangsmäßig nicht näher bekannten
Zahlungsmittelbedarf der Bevölkerung, der Behörden, des Handels und möglicherweise des Militärs decken, bis die staatlich-römischen Münzstätten genügend Münzen
für dieses große Territorium schlugen, also etwa bis in die 1. Hälfte des 1. Jhs. n. Chr.35.
Wenn wir uns jetzt dem langfristig verlaufenden Prozeß der Romanisierung zuwenden, in welchem keltische und römische Einflüsse eine gallo-römische Kultur hervorbrachten, so muß sogleich vor einem Mißverständnis des Wortes „Romanisierung“
gewarnt werden. Romanisierung bedeutet nicht, daß sich in Gallien schließlich eine
getreue Kopie römischer Einrichtungen und römischer Lebensart etablierte. Wir kennen zwar zu wenige Details, um ein annähernd vollständiges Bild geben zu können.
Aber sie reichen für die Erkenntnis aus, daß die Aufnahme des Römischen ein Selektionsvorgang war. Das Ergebnis dieser Selektion läßt sich, wie hier gezeigt wird, in
Überresten heute noch wahrnehmen. Es ist zum einen Teil eine Ergänzung, zum anderen eine Ersetzung des keltischen kulturellen Erbes. Der Begriff Romanisierung steht
für einen äußerst komplexen Prozeß – nicht für ein einzelnes Ereignis –, mit dem Elemente der römischen Kultur in Gallien übernommen wurden.
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