Pisa Vortrag

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Pisa Vortrag
Von den Satzbauplänen zu den Corpora und umgekehrt: Linguistische Überlegungen
Das klassische Repertoire der Beispielsätze in den Valenzlexika hat bis vor einigen Jahren
kleineTextauszüge dargeboten, die einen erläuternden Charakter haben, d.h. sie hatten die
Funktion, die Satzbaupläne und somit alle morphologischen, syntaktischen und semantischen
Belegungsregeln zu illustrieren.
Da die Valenzwörterbücher für Lerner auf dem Grundstufenniveau konzipiert waren, stammte
das Wortmaterial der Beispiele in der Regel aus der Wortliste des Zertifikats DaF: Es sollte
gewährleistet werden, dass die Sätze den Sprachkenntnissen der Zielgruppe angemessen waren.
Auch wenn sie daher etwas “steril“ wirkten, entsprachen sie aber den Anforderungen der
Generalisierung und der Verwertbarkeit im DaF-Unterricht. Die harmlosen Beispielsätze, die in
diesen Wörterbüchern enthalten sind, leisteten gute Dienste, indem sie nicht nur die
syntaktische sondern auch die semantische Umgebung eines Verbs, eines Substantivs oder eines
Adjektivs auflisteten. Auch wenn man ab und zu merkwürdigen Sätzen begegnete, wie:
1. Das Auto folgte auf die Pause (H/S: 310) oder
2. Die Polizei/ der Käfer/der Stein dürfte aus dem Steinbruch kommen (H/S: 261),
sind in diesen Wbs. auf jeden Fall die Hauptinformationen gesichert: Welche
Verwendungsmöglichkeiten hat dieses Wort?
Was die Verben angeht, zeigen die ersten Verfassungen von Valenzwörterbüchern eine ungefähr
gleiche lexikographische Behandlung.
Das Verb fliegen, z. B., weist drei Varianten in Helbig/Schenkel (1968) auf:
Variante: sich durch die Luft bewegen
3. Der Pilot/der Sperling fliegt
Variante: durch die Luft transportieren
4. Der Pilot fliegt die Apparate nach Afrika
Variante: unfreiwillig durch die Luft transportiert werden
5. Der Fahrer flog gegen den Baum, der Fisch/der Stein flog durch die Luft
Im KVL (1978) gibt es insgesamt fünf Varianten, da es zwischen fliegen mit haben oder sein als
Hilfsverb unterschieden wird, wie auch zwischen einem Satzbauplan mit einer obligatorischen
Direktivergänzung und Pertinenzelement im Dativ und einem Satzbauplan mit fakultativer
Direktivergänzung ohne Pertinenzdativ:
für fliegen, flog hat geflogen
(Lesart 1) 6. Hans fliegt eine Sportmaschine
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für fliegen, flog, ist geflogen
(Lesart 2) 7. Meine Haare fliegen [im Wind]
(Lesart 3) 8. Das Flugzeug fliegt die Strecke Hannover-Berlin
(Lesart 4) 9. Der Ball flog über die Mauer/ Sie flog ihm an den Hals
(Lesart 5) 10. Der Vogel fliegt (nach Süden)/ Hans fliegt [im Jumbo Jet] (nach Mailand).
Das Valenzlexikon deutsch-rumänisch (1983) enthält zwei Varianten für fliegen mit haben und
vier mit dem Eintrag plus sein.
In den letzten Jahren orientiert sich aber die valenzielle Lexikographie an immer mehr
genaueren wissenschaftlichen Kriterien, schenkt den Benutzerbedürfnissen größere Achtung und
versucht, den Beispielsätzen eine kommunikative Relevanz zu sichern. Aus diesem Grund haben
die VerfasserInnen des VALENZWÖRTERBUCH DEUTSCHER VERBEN, (VALBU, das im Herbst
erscheint), nur Textkorpora verwendet. Belege aus den Korpora haben – wie Schumacher sagt –
eine großen heuristischen Wert, denn sie können angeben, welche Strukturen ein Lexikograph in
einem Wörterbuch erfassen muss.
Die Verwendung von authentischen Beispielsätzen hat als Folgen:

Erweiterung der Anzahl der Verbvarianten

Detailliertere Beschreibung der Realisationsmöglichkeiten bei Verben mit Präposition

Revision des Begriffs der Obligatorik einiger Korrelate

Berücksichtigung von nicht „traditionellen“ verbalen Verwendungen; man denke diesbezüglich
an das Verb danken, das keine Eakk verlangt und dennoch mit einer direkten Rede i. S. v.
dankend sagen vorkommen kann:
11. „Du warst mir immer eine Stütze“ dankte er
Danken ist also auch als Kommunikationsverb zu betrachten.
Was die Erweiterung der Anzahl der Lesarten betrifft, zeigt der Eintrag fliegen in VALBU elf (!)
Varianten, also fast das Doppelte als bei den anderen Valenzlexika; neben den schon zitierten
sind auch folgende zu erwähnen:
sich von etwas sehr angezogen fühlen:
12. Die Kinder fliegen auf die kleinen Dinosaurierfiguren
etwas nicht bestehen:
13. Max ist durch die Fahrprüfung geflogen
aus etwas ausgeschlossen werden:
14. Wenn du weiter so schlecht spielst, fliegst du aus der Mannschaft
eine Geschwindigkeit von irgendwieviel erzielen:
15. Es gibt Flugzeuge, die doppelte Schallgeschwindigkeit fliegen
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schnell irgendwohin laufen:
16. Der Junge war so glücklich über sein Zeugnis, dass er nach Hause flog.
Die Anwendung von Korporabelegen zeigt aber auch, dass oft Erscheinungen auftreten können,
die die Valenztheorie nicht befriedigend behandelt. Ich beziehe mich hier auf einige Fälle, vor
allem verblose Konstruktionen, die ich an dieser Stelle nur kurz andeuten will.
Bei den Verben des Glaubens, die in einigen Valenzwörterbüchern den SBP <Esub Eakk Esit>
haben, wird die Eakk in Form eines elliptischen Satzes realisiert:
17. Man glaubt/weiss/vermutet den Entflohenen in Berlin
Das für wahr gehaltene Sachverhalt wird durch einen dass-Satz ausgedrückt:
17a. Man glaubt/weiss/vermutet, dass der Entflohene in Berlin ist
In diesen Sätzen wird das Subjekt des getilgten Verbs sein im Satzbauplan des Glauben-Verbs
zur Eakk. In VALBU werden diese Verbvarianten als zweiwertig angesehen (jemand
glaubt/weiss/meint/vermutet etwas); in einer ANM wird auf die Besonderheiten der Eakk
hingewiesen. Bei solchen Verben hat die Eakk eine besondere Form, da sie in der
Oberflächenstruktur die einfache Ausdrucksform einer Nominalgruppe hat; in der
Tiefenstruktur aber ist sie auf einen Nebensatz zurückzuführen.
Bei einigen der Verben des Glaubens kommen auch Konstruktionen mit prädikativen Adjektiven
oder mit Verben in Partizip II vor:
18. Die Mutter glaubte die Tochter völlig gesund
19. Die Fans glaubten das Spiel schon gewonnen/schon verloren
20. Er glaubte den Rasen von Wildschweinen zertrampelt
21. Er vermutete den Wagen bereits verkauft
In Fällen wie Satz (18) mit einem Subjekt und einer Eakk, ist gesund als Adjektivalergänzung des
Verbs glauben oder des getilgten Verbs sein zu werten?
18a. Die Mutter glaubte, die Tochter sei völlig gesund/dass die Tochter völlig gesund sei
Die VALBU-VerfasserInnen haben hier den SBP <01> angesetzt, und in einer ANM auf die
Besonderheit dieses Konstrukts hingewiesen.
In den Beispielen 19. – 21. kommen Partizip II-Konstruktionen vor; in der Version Engels der
Valenztheorie wird das Partizip II nicht als Adjektivalergänzung gewertet (der Nukleus ist kein
Adjektiv). Sie als Verbativergänzung zu werten, wäre recht ungewöhnlich, da der Nukleus in
dieser E-Klasse immer ein Verb ist: Sie ist die einzige Ergänzung, die satzartig ist (als
Nebensatz, als Infinitivkonstruktion u.a.).
Aber die Partizip II-Konstruktionen kommen nicht nur bei den Verben des Glaubens, sondern
auch bei vielen anderen vor, nämlich bei
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
sehen: 22. Ich sah alle Blumen verwelkt

sich fühlen: 23.Er fühlte sich von seinen Freunden in Stich gelassen

sich finden: 24.Er fand sich in einen Skandal verwickelt

kommen: 25. Er kam ins Zimmer geschwankt/ Sie kam hupend in den Hof gefahren

stehen: 26. In diesem Buch steht alles geschrieben.
Die von den VALBU-VerfasserInnen vorgeschlagenen Alternativen wären zwei:
1. man postuliert eine neue E-Klasse mit Namen „Partizipialergänzung (PartE)“ , die aber keine
eigenständige Anaphorisierung hätte, oder
2. man wertet die Partizipialkonstrunktionen als Verbativergänzungen, unter der Bedingung, dass
man explizit sagt, der Nukleus dieser Ergänzungen könne auch ein Partizipi II sein.
Auch in diesem Fall wird in VALBU das Verb glauben als zweiwertig gewertet, dann eine ANM
geschrieben und auf die Sonderform unter dem Begriff „elliptischer Satz“ hingewiesen.
Korporabelege haben auch die Behandlung vom Verb sich wünschen bedingt. Im Valenzlexikon
deutsch-rumänisch findet man für dieses Verb nur eine Variante mit SBP <Sub, Eakk, (Eprp 1),
(Eprp2)>:
27. Hans wünscht sich (von seinem Vater) ein Moped (zum Geburtstag)
Korpora bringen aber auch Beispiele des Typs:
28. Die Geschäftsführung wünscht sich ihre Angestellten jung, dynamisch und flexibel
29. Etwas komfortabler hätte ich mir unser Hotelzimmer [schon] gewünscht
30. Nachlesen kann man diese Artikel, die man sich in den Geschichtsbüchern
abgedruckt wünscht, im zweiten Teil des Bandes
31. Hast du dir dein Leben [manchmal] [nicht] anders gewünscht?
32. Er wünschte sich seine Eltern in Sicherheit, weit weg vom Bombenhagel
Auch bei solchen Fällen wird in VALBU eine ANM notiert und auf die Sonderform der Eakk
hingewiesen: Gelegentlich wird die Eakk in Form eines elliptischen Satzes realiziert, der aus
einer Nominalgruppe im Akkusativ mit Adjektivalergänzung, mit Partizipialkonstruktion, mit einer
Adverbialgruppe und mit einer Präpositionalgruppe (in + Dativ) bestehen kann.
Korpora haben also Belege geliefert, die für die valenzielle lexikographische Praxis eine
Vertiefung der Valenztheorie nötig machen. Selbst die ValenzlerInnen weisen in einigen
Berichten über bestimmte Klassen von Verben auf Schwierigkeiten hin, die sich bei der
Erarbeitung des VALBU ergeben haben, und sie gezwungen haben, „grammatikographische
Darstellungen zu entwickeln“.
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Aus einem didaktischen Blickwinkel bleibt abschließend anzumerken: Kann man sich mit
Anmerkungen zufrieden geben? Oder ist für so ein Grundstufenniveau eine Analyse der
Oberflächenstruktur ausreichend?
Ich wäre für eine „periodica manutenzione“ - wie Renzi/Elia (1995) schon empfohlen haben – d.h.
für eine periodische Revision der Ergänzungsklassen, zumal heute kein Lexikograph mehr mit ad
hoc und zufällig erfundenen Beispielen arbeitet und immer wieder Korporabelege anwendet.
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