Opera seria

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Musikgeschichte der
europäischen Neuzeit
Repertorium zur Vorlesung
Die
Opera seria
Opera seria
• Die Opera seria ist ein – mit Ausnahme
Frankreichs – gesamteuropäisches Phänomen.
• In allen Höfen und Städten Europas – mit
Ausnahme Frankreichs – ist die Opera seria
die herrschende Gattung der ernsten Oper.
• Sprache (Italienisch), musikalische Formen
und die Formen der Dichtung bzw. der Aufbau
des Librettos sind weitgehend normiert.
Opera seria
Allgemeine Hauptmerkmale
• 3 Akte
• Teilung in Einzelszenen (Scenae) oder Auftritte
• Bis zu 20 Scenae pro Akt
• Das Personal besteht aus
prima donna – primo uomo
seconda donna – secondo uomo
Herrscherfigur
Intriganten, Bösewicht, Volk usw.
Opera seria
Musikalische Hauptmerkmale
• Dreiteilige Ouverture.
• Rezitativ und Arie.
• Rezitativ in sog. versi sciolti = unregelmäßig
wechselnde Sieben- und Elfsilbler.
• Arie in lyrischen Versen in verschiedenen
Metren.
• Als Faustregel (!) kann gelten, dass das
Rezitativ eher handlungsbetont, die Arie eher
affektbetont oder reflektiert ist.
Opera seria
Musikalische Hauptmerkmale (Forts.)
• Rezitativ als Recitativo secco („trocken“): nur
Singstimme + Generalbass.
• Recitativo accompagnato: Singstimme +
Orchesterbegleitung.
• Die Arien sind in der Regel als Da-capo-Arien
in der Form ABA ausgeführt.
• Von den Strophen her ist die Form zumeist
A1A2 B1B2 da capo
Opera seria
• Die Struktur der Libretti wurde in der Opera
seria nachhaltig von Pietro Metastasio geprägt.
• Pietro Metastasio (1698-1782) verfasste seit
1722 hauptsächlich Opernlibretti und gilt als
der einflussreichste Librettist des 18. Jh.
• Metastasio übernahm die aristotelischen
Kategorien:
Einheit von Zeit, Raum und Handlung
Kátharsis
Opera seria
• das Metastasianische Libretto ist formal streng
durchkomponiert.
• Eine Szene besteht entweder nur aus Rezitativen
oder aus Rezitative(n)+Arie.
• Wenn eine Arie verwendet wird, steht sie
grundsätzlich am Schluss der Szene (Abgangsarie).
• Rezitative: freie Sieben- oder Elfsilber (versi sciolti).
• Arie: lyrische Verse, die im Libretto klar abgesetzt
werden.
Pietro
Metastasio,
Demetrio,
Braunschweig
1734
Opera seria
Zum italienischen Vers
• Bei der Silbenzählung ist die Verschmelzung
von Silben zu beachten (Synaloephe/sinalefe).
• Treffen im Aus- und Anlaut zwei Vokale
aufeinander, werden diese grundsätzlich
zusammengezogen und als eine Silbe gezählt:
„torbido al mar sen va ...“
sind zusammen sechs Silben, da „do“ und „al“
zusammengezogen werden.
Opera seria
Zum italienischen Vers (Forts.)
Von Bedeutung sind auch die Versenden:
Versi piani: Betonung auf der vorletzten Silbe:
„So chi t’accése ...“
Versi sdruccioli: Betonung auf der drittletzten Silbe:
„...... géntile“
Versi tronchi: Betonung auf der letzen Silbe: „qui
non si fa.“
Opera seria
Zum italienischen Vers (Forts.)
In der Regel enden die Strophen der Arien mit
einem verso tronco, der zugleich den Ort der
Kadenz angibt.
=> Faustregel: Verso tronco = Kadenz
Se povero il ruscéllo
mormora lento e básso,
un ramoscello, un sásso
quasi arrestar lo fá.
Opera seria
Zum italienischen Vers (Forts.)
• Der Tronco-Schluss steht also in der Regel
grundsätzlich am Ende einer Strophe und zeigt
zugleich den Kadenzort an.
• Das Beachten der Versenden bzw. Versstruktur
ist für die Komposition der Arien von
entscheidender Bedeutung.
Opera seria
Die Ouverture
• Grundsätzlich finden zwei Formen der Ouverture
Verwendung: Die Neapolitanische und die
Französische Ouverture.
• Beide Ouverturen sind dreiteilig.
• Die Neapolitanische hat die Satzfolge schnelllangsam-schnell
• Die Französische: langsam-schnell-langsam
• Der langsame Teil der Franz. Ouverture besitzt
punktierte Rhythmen, der schnelle Teil ist fugiert.
Opera seria
Bedeutende Komponisten der Opera seria
• Alessandro Scarlatti (1660-1725)
• Antonio Vivaldi (1678-1741)
• Georg Friedrich Händel (1685-1759)
• Nicola Porpora (1686-1768)
• Leonardo Vinci (1690-1730)
• Johann Adolf Hasse (1699-1783)
• Christoph Willibald Gluck (1714-1787)
• Joseph Haydn (1732-1809)
Opera seria
Georg Friedrich Händel
Ezio
Opera seria
Plot
• Der siegreiche Feldherr Ezio und Fulvia,
Tochter des römischen Patriziers Massimo,
bilden das Liebespaar aus primo uomo und
prima donna.
• Valentiniano, der röm. Kaiser, liebt Fulvia
ebenfalls,
• während Valentinianos Schwester Onoria in
Ezio verliebt ist.
Opera seria
• Massimo ist zugleich Vertrauter und Feind des
Kaisers.
• Er versucht Ezio zum Mord am Kaiser
anzustiften und lässt, als dies misslingt, selbst
den Mordanschlag am Kaiser ausführen.
• Dieser misslingt ebenfalls und Massimo
schiebt den misslungenen Anschlag Ezio unter.
• Fulvia soll nun den Kaiser heiraten, Ezio soll
hingerichtet werden.
Opera seria
• In ihrer Verzweiflung nimmt Fulvia die Tat auf
sich.
Opera seria
Korrespondenzen von Versund musikalischen Strukturen
Arie Nr. 9 des Massimo
Opera seria
Arie Nr. 9 des Massimo
Aufbau der Arie
Rit A1 rit A2,1 A2,2 Rit B1 B2 Rit A1 Rit A2 A3 Rit
I V V
I I I vi iii I V V I I I
Weitere mögliche Arien-Bauformen
Rit A1 Rit – B – A1
I
VI/III I
Rit A1,1 A1,2 Rit A2,1 A2,2 A2,3 Rit
I
(V) V
V V V I
Opera seria
Arie Nr. 9 des Massimo – Strukturen
• In der Regel wird zum Tronco-Schluss =
Strophenende kadenziert.
• Kommt ein Tronco-Schluss noch vor
Strophenende, muss dieser „überspielt“
werden durch:
- Halbschluss
- Überbrückung durch ein kleines Zwischenspiel
• So verfährt Händel in T. 8: Halbschluss +
Zwischenspiel der Oboen.
Opera seria
Arie Nr. 9 – Strukturen / Textausdruck
• In T. 10 wird abweichend die Versmitte
„arrestar [lo fa]“ zum Tronco-Schluss
umfunktioniert, der durch ein langes Melisma
„übersungen“ wird und dessen eigentliche
„Kadenz“ in T. 11 ohne Basston in der Luft
hängt.
• Damit bringt Händel den Text „quasi arrestar
lo fa“ – „beinahe stillsteht“ kongenial zum
Ausdruck.
Opera seria
Affektausdruck
Opera seria
Arie Nr. 9 des Massimo – Affektausdruck
A-Teil
• murmelnder Bach = Naturschilderung
• Idylle
-> wiegender 12/8-Takt (Pastorale)
-> Oboen (Hirteninstrument)
-> G-Dur
-> Larghetto
Opera seria
Arie Nr. 9 des Massimo – Affektausdruck
B-Teil
• Fluss, der über die Ufer tritt = ebenfalls
Naturschilderung, doch zerstörerisch
-> Taktwechsel ins gerade Metrum
-> Moll
-> Allegro
-> abwärtsstürzende Streicherkaskaden
Opera seria
Arie Nr. 27 des Valentiniano – Affektausdruck
Angst
• g-Moll
• Allegro: Erregung
• Abgerissene, kleingliedrige Motivik
• Keine melodische/gesangliche Linie
• Unruhe der 16tel in Va und Fagott (!)
• Quasi Tremolo im A2-Teil
Opera seria
Arie Nr. 14 des Massimo – Affektausdruck
Wut, Verzweiflung
• f-Moll
• Allegro: Erregung
• Aggressive Punktierungen
• Einzelne Worte als isolierte Rufe „Va!“,
„Ingrata!“ -> Exclamatio
• Keine Kantilenen
Opera seria
Arie Nr. 14 des Massimo – Affektausdruck
Wut, Verzweiflung
• der B-Teil wechselt den Affekt: Massimo fleht
faktisch um sein Leben
• Damit Wechsel in die Paralleltonart As-Dur
• „stockender Gang“ des Satzes
• weithin in Eineinhalbtakter
• dazwischen auffällige Generalpausen
• Reduktion auf Singstimme + Generalbass
Opera seria
Arie Nr. 32 des Varro - Affektausdruck
Mut, Hoffnung
• D-Dur (Trompetentonart)
• Trompete + Pauken -> Militärinstrument
• Allegro
• Dialogstruktur Trompete + Oboen
• Ausgreifende Stimmführung + Melismen
• Baßstimme -> Präfekt / Soldat
Opera seria
Arie Nr. 31 der Fulvia – Affektausdruck
Verzweiflung
• h-Moll
• Larghetto
• Von Pausen durchbrochener Satz
• Sängerin endet in T. 16f zu früh mit troncoSchluss auf der Kadenz
• „Wahnsinnsausbrüche“ in schnell
deklamierten 16teln
Opera seria
Arie Nr. 31 der Fulvia – Affektausdruck
• Ohne Generalbass = „bodenlos“
• T. 21 Sängerin setzt zu früh ein, eigentlich
noch ins Ritornell
• Synkopen
• Um ein 8tel verschobene Oktav-/
Dezimsprünge T. 44ff „wahnsinnig“
• B-Teil: Tonmalerei des herabfahrenden Blitzes
• Nähe des Fis-Dur in B zu h-Moll
Opera seria
Tamerlano: Arie Nr. 9 der Asteria – Affektausdruck
Klage, Lamento
• h-Moll
• Larghetto
• Ausgedünnter Satz
• Kurze, pausendurchbrochene Motive
• Absteigende Melodik
Opernkritik und
Opernreform
Christoph Willibald Gluck
Opernkritik und Opernreform
Die gängige musikwissenschaftliche
Forschung verbindet die Opernreform –
die Abkehr von der Opera seria – mit
der Uraufführung der
Azione teatrale Orfeo ed Euridice
von Chr. W. Gluck und Raniero Calzabigi
am 5. Oktober 1762 im Theater bei der
Hofburg in Wien.
Opernkritik und Opernreform
• Allerdings stellt Glucks / Calzabigis Orfeo
keineswegs ein Werk von singulärem
Zuschnitt dar, sondern muss im Kontext
vergleichbarer Werke eingeordnet
werden.
• Bereits in den 1750er Jahren lässt
Friedrich d. Große am Berliner Hof seinen
Kapellmeister C. H. Graun italienische
Bearbeitungen französischer Libretti
vertonen.
Opernkritik und Opernreform
• Von 1754 bis 1768 komponiert zudem Niccolò
Jommelli am Stuttgarter Hof Opern, die sich
vom metastasianischen Operntyp stark
absetzen und im Gegenzug der Tragédie
lyrique merklich annähern.
• Die franz. Tragédie lyrique folgt nicht der
mechanischen Abfolge von Rezitativ und Arie,
sondern besitzt komplexere Formen, u.a.
unter Einbeziehung von Chören, Ballett und
Instrumentalstücken.
Opernkritik und Opernreform
• Bereits 1761 – ein Jahr vor Glucks Orfeo –
wurde in Wiendie Azione teatrale Armida
nach dem Libretto von Philippe Quinault
uraufgeführt. Komponist war Tommaso
Traetta (1727-1779).
• Glucks Orfeo kann damit nicht als singuläres
neues Opernmodell betrachtet werden.
• Er findet sich in einem breiteren Kontext von
Werken, die sich von der metastasianischen
Oper abwenden oder diese zumindest
modifizieren.
Opernkritik und Opernreform
Die Azione teatrale setzt sich deutlich von der
Opera seria ab. Merkmale sind:
• Allegorische oder moralische Stoffe
• Figuren aus der Mythologie
• Obligate Verwendung des Chors
• Einheitliche Handlung
• Keine Nebenhandlungen, keine Nebenfiguren
• Sprache am pastoralen Charakter orientiert
Opernkritik und Opernreform
• Die Arien sind keine Abgangsarien
• Arien sind daher flexibel einsetzbar
• Arien gehen teilweise in Ariosi über oder
werden mit Chören gekoppelt
• Die Recitativi accompagnati werden auch für
Dialoge verwendet
• Die Orchesterbegleitung ist in der Regel
illustrativer, nicht dramatischer Natur
Opernkritik und Opernreform
• Neu ist in Glucks Orfeo eher die Ästhetik:
– der Einsatz des Orchesters auch für
dramatische Zwecke
– die Teilung in drei Akte anstatt der in der
„Azione teatrale“ üblichen zwei.
Opernkritik und Opernreform
Orpheus‘ Arie „Chiamo il mio ben cosi“
• Einfache Anlage: abcc efgg g = 3+3+3+4 3+3+5 4
• Einfache harmonische Anlage
• Keine Ritornelle
• Singstimme syllabisch
• Liedhafter Melodiebau
• Die einzelnen Strophen sind gleich vertont
• Sie werden nur durch Rezitative unterbrochen
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