Hajatpour (48573) / p. 1 /26.4.13 WELTEN DER PHILOSOPHIE A Hajatpour (48573) / p. 2 /26.4.13 Über dieses Buch: In den letzten Jahrzehnten wurden im westlichen Kulturraum kontroverse Diskussionen um Klonen, Genoptimierung und ähnliche Themen geführt. Dabei ging es um die Würde, das Leben und die Perfektibilität des Menschen, seine geistige und normative Formbarkeit und seine existentielle Machbarkeit. Auch in der islamischen Wissenskultur wurde darüber kontrovers diskutiert. Die Muslime zeigen dennoch eher eine juristische und theologische Vorliebe für das Thema als eine philosophische und ethische. Die vorliegende Studie widmet sich einer philosophischen und ethischen Analyse der Idee des perfekten Menschen im Islam. Sie zeigt, inwiefern und gemäß welchen Wertvorstellungen die Idee der Perfektionierung des Menschen in einem religiösen Menschenbild verankert ist. Es geht dem Autor darum zu fragen, nach welchem Bild bzw. Selbstbild sich der Mensch im Islam als ein der Perfektionierung bedürfendes und zu ihr fähiges Wesen versteht und welchen Idealen zufolge er nach immerwährender Erneuerung seiner Person strebt. Der Autor versucht anhand der Philosophie bedeutender muslimischer Gelehrter die Wertvorstellungen und Ideale aufzuzeigen, die das Selbstbild des Menschen beeinflusst haben und in diesem Sinne die Vorstellung eines »neuen Menschen«, der sich in einem Prozess der Menschwerdung befindet und einem Entwurf der Selbstvollendung bzw. Selbstperfektionierung folgt, geprägt haben. Über den Autor: Reza Hajatpour, 1958 in Nordiran geboren, hat seit Oktober 2012 den Lehrstuhl für Islamisch-Religiöse Studien mit systematischem Schwerpunkt, Theologie/Philosophie/Mystik an der Friedrich-Alexander Universität Erlangen-Nürnberg (Philosophische Fakultät und Fachbereich Theologie) inne. Er ist Mitglied des Zentrums für interreligiöse Studien (ZIS) in Bamberg. Hajatpour (48573) / p. 3 /26.4.13 Reza Hajatpour Vom Gottesentwurf zum Selbstentwurf Hajatpour (48573) / p. 4 /26.4.13 Welten der Philosophie 10 Wissenschaftlicher Beirat: Claudia Bickmann, Rolf Elberfeld, Geert Hendrich, Heinz Kimmerle, Kai Kresse, Ram Adhar Mall, Hans-Georg Moeller, Ryôsuke Ohashi, Heiner Roetz, Ulrich Rudolph, Hans Rainer Sepp, Georg Stenger, Franz Martin Wimmer, Günter Wohlfahrt, Ichirô Yamaguchi Hajatpour (48573) / p. 5 /26.4.13 Reza Hajatpour Vom Gottesentwurf zum Selbstentwurf Die Idee der Perfektibilität in der islamischen Existenzphilosophie Verlag Karl Alber Freiburg / München Hajatpour (48573) / p. 6 /26.4.13 Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2013 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz: SatzWeise, Föhren Druck und Bindung: CPI buch bücher.de GmbH, Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei) Printed on acid-free paper Printed in Germany ISBN 978-3-495-48573-6 Hajatpour (48573) / p. 7 /26.4.13 Inhalt Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 . . . . . . . . . . . . 13 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 Bemerkungen zum System der Umschrift Vorwort A. B. C. Der neue Mensch in der gegenwärtigen Debatte und die Kontinuität des Menschenbildes im Islam . . . . . . . . . I. Das allgemeine Menschenbild im Islam und seine mögliche Kontinuität . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Der ontologische Status und die Erkenntnisfähigkeit des Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Themen, Methode der Untersuchung und Auswahl der Denker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zur Person und zum Werk der ausgewählten Denker und Übersicht über den Forschungsstand . . . . . . . . . . . I. ʿAzīz ad-Dīn Nasafī: Leben, Werke und Forschungen II. Ṣadr ad-Dīn aš-Šīrāzī: Leben, Werke und bisherige Forschungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die Idee der Perfektibilität in der Forschung . . . . IV. Perfektibilitätsforschung angesichts der bioethischen Debatte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 25 28 31 . . 36 36 . . 39 58 . 66 Kapitel I: Die ontologische Bestimmung des Menschen und seiner Seele in der islamischen Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die Frage nach der Ontologie des Menschen . . . . . . . II. Das ontologische Verständnis des Menschen im Koran . . 73 73 75 7 Hajatpour (48573) / p. 8 /26.4.13 Inhalt III. Ontologische Grundaussagen über den Menschen im Ḥadīṯ und ihre philosophische Auslegung . . . . . . . . IV. Die ontologische Stellung des Menschen in der geschaffenen Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Ṣadrās Existenzlehre und die hierarchische Ordnung der Seinsakte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Die Wandlungsfähigkeit des Seins, der Evolutionsprozeß der Seienden und die menschliche Seele als höchste Entwicklungsform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII. Die ontologische Konstitution der Seele . . . . . . . . . VIII. Der Mensch – ein Wesen aus Licht oder eine Lichtgestalt? Die evolutionäre Entstehungslehre der menschlichen Seele bei Nasafī . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IX. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kapitel II: Die Stellung des Menschen zwischen Intellekt, Wille und Erkenntnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Der Wesenszustand des Menschen . . . . . . . . . . . . II. Die menschliche Seele ist ein unbeschriebenes Blatt und befindet sich in einem unabgeschlossenen moralischen Urzustand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Der Intellekt des Menschen . . . . . . . . . . . . . . . IV. Die Vernunft als Ersatz des verlorenen Seinsursprunges . V. Göttliche Orientierung vs. natürliche Mangelhaftigkeit . VI. Vervollkommnung als kämpferischer Akt des Intellekts und des Willens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII. Erkenntnis als Selbstentfaltung und Seinsentfaltung . . . VIII. Wissen ist eine Selbstorganisierung des seelischen Kreationsvermögens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IX. Metaphysik als Quelle der Natur und die Natur als Quelle einer evolutionären Erkenntnisanthropologie . . . . . . X. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kapitel III: Der Umgang mit der menschlichen Freiheit . . . . . . . . . . . I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 80 90 99 119 127 141 150 154 154 155 176 185 193 198 213 226 243 252 258 258 Hajatpour (48573) / p. 9 /26.4.13 Inhalt II. III. IV. V. VI. VII. VIII. Der Mensch – ein religiöses Wesen? . . . . . . . . Der Glaube als eine architektonische Metaphysik? . Erziehbarkeit des Menschen . . . . . . . . . . . . Erziehung, Vernunft und Philosophie . . . . . . . Die Selbstmacht ist ein Zustand des Selbstentwurfes Das ästhetische Erleben und die Vollkommenheit . Ästhetik, Liebe und Perfektibiltät . . . . . . . . . Schlußbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 277 289 304 311 322 328 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 370 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 384 9 Hajatpour (48573) / p. 10 /26.4.13 Hajatpour (48573) / p. 11 /26.4.13 Danksagung Die vorliegende Habilitationsschrift habe ich im Februar 2009 im Fach Islamwissenschaft an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg eingereicht. Sie wurde im Juni 2009 von der Fakultät Geistes- und Kulturwissenschaften der Otto-Friedrich-Universität Bamberg angenommen. Mein Ziel war es von Anfang an, nicht nur eine akademische Schrift vorzulegen, die einen Beitrag zur Erforschung der islamischen Geistesgeschichte zu leisten hat, sondern darüber hinaus war es mir auch eine Herzensangelegenheit, Denkanstöße zur ideengeschichtlichen Rekonstruktion und Positionierung im gegenwärtigen philosophisch-theologischen Diskurs zu setzen. In diesem Sinne war ich bemüht, die vergangenen Ideen greifbar und lebendig in die aktuelle Entwicklung einzubetten, um zu verhindern, dass sie eine bloße Ahnengalerie der Geister der Vergangenheit werden. Wo eine Arbeit gut ist, ist sie es auch dank der tatkräftigen Unterstützung einer Reihe dienstbarer Geister, Freunde und Kollegen, die ich während meiner Forschung in Anspruch genommen habe. Ich möchte nun die Gelegenheit nutzen, hier all jenen, die mir beim Zustandekommen dieser Arbeit zur Seite gestanden haben und Ausschnitte oder eine vollständige Fassung des Manuskripts gelesen haben, meine herzliche Verbundenheit aussprechen. Mein besonderer Dank gilt vor allem: Gerda Benda, Kirsten Benda-Hajatpour, Prof. Dr. Karsten Fischer, Prof. Dr. Bert Fragner, Gaetano Galasso, Judith Groß, PD Dr. Roxane HaagHiguchi, Dr. Thomas Hildebrandt, Prof. Dr. Birgitt Hoffmann, Prof. Dr. Matthias Kaufmann, Hartmut Kistenfeger, Ria Kopiske, Prof. Dr. Hermann Landolt, Joachim Martini, Omar Ouannas, Prof. Dr. Ulrich Rudolph, Prof. Dr. Christian Schröer, Prof. Dr. Roland Simon-Schäfer (†), Dr. Ines Weinrich, Prof. Dr. Rotraud Wielandt und Lorenz Zellner. Ihre wertvollen Hinweise, freundlichen Anregungen und kritischen Anmerkungen haben es ermöglicht, die notwendigen sprachlichen und argumentativen Korrekturen vorzunehmen. 11 Hajatpour (48573) / p. 12 /26.4.13 Danksagung Herrn Marianus Hundhammer danke ich für seinen freundlichen Einsatz für die Erstellung des Registers dieser Arbeit. Herrn Prof. Dr. Ulrich Rudolph gilt mein herzlicher Dank für seine einleitenden Worte. Den Herausgebern und dem Verlag Karl Alber möchte ich herzlich für die Aufnahme meiner Arbeit in die Reihe »Welten der Philosophie« danken, sowie meinen Kollegen und Kolleginnen am Department Islamisch-Religiöse Studien Erlangen, die der finanziellen Förderung dieser Arbeit aus BMBF-Mitteln zugestimmt haben. Erlangen, Januar 2013 12 Reza Hajatpour Hajatpour (48573) / p. 13 /26.4.13 Bemerkungen zum System der Umschrift Die Umschrift des Arabischen und Persischen folgt dem System der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft. Die arabischen Daten (Kalenderdaten) sind mit »q« (qamari) gekennzeichnet. Die Zitate werden so wiedergegeben, wie sie im Originaltext stehen. In den übersetzten Zitaten aus dem Arabischen bzw. Persischen sind die Erläuterungen des Autors oder Originalbegriffe in [ ] gesetzt. Auslassungen in den Übersetzungen sind mit […] gekennzeichnet. Kurze arabische Sätze, Namen, Buchtitel und einzelne Begriffe werden nicht vokalisiert, mit Ausnahme persischer Iḍāfa. Die Koranzitate orientieren sich an der Übersetzung von Rudi Paret. Die Abkürzung »Arab.« steht für Arabisch und »Pers.« für Persisch. Auf diese Abkürzungen wird bei den arabischen Schriften Ṣadr ad-Dīn aš-Šīrāzīs und den persischen Schriften von ʿAzīz ad-Dīn Nasafī verzichtet. Eigennamen mit dem adjektivischen Suffix »sche« wie sadraisch oder nasafisch werden transkribiert. Die Bibliographie ist alphabetisch geordnet und es wird keine Trennung zwischen Originalschriften und Sekundärliteratur vorgenommen. 13 Hajatpour (48573) / p. 14 /26.4.13 Hajatpour (48573) / p. 15 /26.4.13 Vorwort Wenn von Philosophie in der islamischen Welt die Rede ist, denkt man in der Regel an einige prominente, frühe Autoren. Zu ihnen zählen alKindī (gest. um 865) und al-Fārābī (gest. 950), aber vor allem Ibn Sīnā (lat. Avicenna; gest. 1037) und Ibn Rušd (lat. Averroes; gest. 1198). Ihre Namen sind in Europa seit langem bekannt, denn ihre Werke wurden im 12. und 13. Jahrhundert (zumindest teilweise) ins Lateinische bzw. ins Hebräische übersetzt und fanden danach eine breite Rezeption im europäischen Mittelalter. Das sicherte ihnen einen festen Platz im kulturellen Gedächtnis der Europäer und hatte zur Folge, dass sie auch in der modernen Forschung, die im 19. Jahrhundert einsetzte, immer wieder Gegenstand von Untersuchungen geworden sind. Völlig anders verhält es sich dagegen mit Autoren, die nach Ibn Rušd, also nach 1200, in der islamischen Welt gewirkt haben. Ihre Werke wurden weder (im Mittelalter oder der frühen Neuzeit) in eine europäische Sprache übersetzt noch von der modernen Forschung studiert. Was noch gravierender sein dürfte: Die europäische Islamwissenschaft ist lange Zeit davon ausgegangen, es habe in der islamischen Welt nach 1200 überhaupt keine Philosophie mehr gegeben. Bis vor kurzem jedenfalls konnte man diese These allenthalben lesen, wobei teilweise externe politische Faktoren (z. B. die Reconquista in Spanien oder die mongolischen Eroberungen im Nahen und Mittleren Osten), teilweise interne Entwicklungen (z. B. die angebliche Opposition der ›islamischen Orthodoxie‹ gegen die Philosophie wie überhaupt gegen die Wissenschaften) als Begründungen für den vermuteten ›Tod‹ der Philosophie nach Ibn Rušd ins Feld geführt worden sind. Dass diese These nicht der historischen Wahrheit entspricht, kann inzwischen als gesichert gelten; diesen Nachweis haben zahlreiche Untersuchungen erbracht, die während der letzten beiden Jahrzehnte publiziert wurden. Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass wir über die Entwicklung der Philosophie in der islamischen Welt nach 1200 15 Hajatpour (48573) / p. 16 /26.4.13 Vorwort nach wie vor nur sehr schlecht informiert sind. Sie ist zwar mittlerweile in den Fokus der Forschung gerückt. Aber die Forschung wird einige Zeit brauchen, um die früheren Versäumnisse nachzuholen und ein verlässliches Bild über diese Entwicklung zu erarbeiten. Das hat auch mit dem immensen, oft nur in Handschriften zugänglichen arabischen, persischen usw. Quellenmaterial zu tun, das erst noch erschlossen, analysiert und konzeptuell durchdrungen werden muss. Angesichts dieser Situation ist jeder Beitrag, der Licht in das Dunkel in die Zeit ab dem 13. Jahrhundert bringt, hochwillkommen. Das gilt nun auch für die Studie Vom Gottesentwurf zum Selbstentwurf. Die Idee der Perfektibilität in der islamischen Existenzphilosophie, die Reza Hajatpour vorgelegt hat. Sie dürfte sich sogar in besonderer Weise eignen, ein neues, die bisherigen Konventionen der Forschung überschreitendes Licht auf die Philosophie in der islamischen Welt zu werfen. Denn Hajatpour beschränkt sich in seinem Buch nicht darauf, mehrere Denker des 13. bis 17. Jahrhunderts zu untersuchen und damit die traditionelle Forschungsagenda in zeitlicher Hinsicht auszudehnen. Er geht auch in thematischer Hinsicht deutlich über die bislang gepflegte Forschungspraxis hinaus. Zwei Punkte erscheinen mir in dieser Hinsicht besonders bemerkenswert. Der eine betrifft die Auswahl der Autoren, die in seiner Studie behandelt werden. Sie ist dadurch gekennzeichnet, dass nicht nur Philosophen im engeren Sinn des Wortes zur Sprache kommen (wie Ibn Sīnā oder der 1640 verstorbene Mullā Ṣadrā, der im Zentrum seiner Untersuchung steht). Vielmehr werden auch Lehren vorgestellt und in die Analyse einbezogen, die auf Sufis oder sufisch-theologisch orientierte Autoren zurückgehen (wie Ibn ʿ Arabī oder ʿ Azīz ad-Dīn Nasafī). Dieses Vorgehen ist nicht ohne Brisanz: Es könnte die Leser vielleicht zu der Annahme verleiten, dass Philosophie, Mystik und Theologie in der islamischen Welt vom 13. Jahrhundert an ohnehin zusammenfielen. Dann wäre die Philosophie nach 1200 zwar nicht ›gestorben‹, aber sie hätte ihre Eigenständigkeit als Wissenschaft verloren und nur noch in einer Symbiose mit anderen, spezifisch islamischen Denkformen ›überlebt‹. Darauf will Hajatpour aber nicht hinaus. Er trennt vielmehr zwischen den verschiedenen intellektuellen Traditionen und zeigt dann, wie sie interagiert haben. Damit ergibt sich ein historiographisches Bild von hoher Plausibilität. Denn es spricht vieles dafür, dass die verschiedenen Diskurse – der philosophische, der theologische, der sufische, aber auch andere – nach 1200 (wie teilweise auch 16 Hajatpour (48573) / p. 17 /26.4.13 Vorwort zuvor) im ständigen Austausch miteinander gepflegt wurden. Das führte natürlich zu Berührungspunkten und wechselseitigen Einflussmöglichkeiten, die bei einer historischen Kontextualisierung berücksichtigt werden müssen. Ein zweiter Punkt kommt hinzu. Er ist noch auffälliger als der erste und bricht noch stärker mit den Konventionen, die bislang in der Forschung beachtet wurden. Gemeint ist die Tatsache, dass Hajatpour seine Studie nicht nur aus der Perspektive der historisch-kritischen Forschung, d. h. als Islamwissenschaftler, sondern auch als islamischer Philosoph und Theologe geschrieben hat. Sein Anliegen beschränkt sich nämlich nicht auf die Rekonstruktion von Ideen und historischen Zusammenhängen. Er will nicht nur wissen, was Ibn Sīnā, Ibn ʿ Arabī und ʿ Azīz ad-Dīn an-Nasafī über den Menschen gedacht haben und wie ihre Konzepte von Mullā Ṣadrā aufgenommen und weiterentwickelt worden sind. Mindestens ebenso beschäftigt ihn ein anderer Punkt, nämlich die Frage, ob die Überlegungen der untersuchten Autoren systematisch überzeugen können und ob ihnen möglicherweise auch in der gegenwärtigen Debatte über die biologisch-genetischen und die ethischen Bedingungen des Menschseins noch eine Relevanz zukommen kann. Dieser Problemhorizont ist für europäische Leser sicher überraschend. Wir halten es zwar für selbstverständlich, dass in heutigen Diskussionen über Gentechnik, Ethik, Freiheit und Verantwortung des Menschen Autoren wie René Descartes oder Immanuel Kant zitiert werden. Aber es käme uns kaum in den Sinn, zur Klärung solcher Fragen Texte von Mullā Ṣadrā heranzuziehen (der im übrigen ein Zeitgenosse von Descartes war!). Genau das tut aber nun Hajatpour, und es gelingt ihm durchaus auf überzeugende Weise. Denn er zitiert Mullā Ṣadrā und die anderen Autoren nicht als Gralshüter einer unhinterfragbaren, vom Islam festgelegten Wahrheit, sondern als Denker, deren Konzepte und Argumente vernunftbasiert und einer kritischen Prüfung zugänglich sind. Ob sie diese Prüfung bestehen, muss jeder Leser für sich entscheiden. Dabei spielt es zunächst einmal keine Rolle, ob er sich selbst einer bestimmten Religion bzw. Weltanschauung zurechnet oder nicht. Gleichwohl dürften Hajatpours Ausführungen für muslimische Leser besonders relevant sein. Denn sie erhalten hier die Möglichkeit, ihre reiche intellektuelle Tradition besser kennenzulernen und im Lichte ihres eigenen, gegenwärtigen Lebens zu reflektieren. So entsteht schließlich ein neues Diskursfeld: Positionen, die von bedeutenden 17 Hajatpour (48573) / p. 18 /26.4.13 Vorwort muslimischen Denkern entwickelt worden sind, werden Teil der Debatte, die heute in Europa und anderswo über die Bedingungen des Menschseins geführt wird. Und das ist gewiss nicht das geringste Verdienst, das sich Reza Hajatpour mit seiner Studie erworben hat. Zürich, im Januar 2013 18 Ulrich Rudolph Hajatpour (48573) / p. 19 /26.4.13 Einleitung A. Der neue Mensch in der gegenwärtigen Debatte und die Kontinuität des Menschenbildes im Islam Das Projekt des »neuen Menschen«, wie es im gegenwärtigen westlichen Kulturraum zur Debatte steht, ist ein Phänomen, das in einem religiösen Weltbild nicht in gleicher Weise als Diskussionsangebot aufgenommen werden kann. 1 Viele Religionen gründen ihre Weltanschauung auf eine heilige und übernatürliche Schöpfungsmacht (Gott), deren Werk einzigartig und unantastbar ist. So wissen wir zum Beispiel, daß die monotheistischen Religionen die Erschaffung des Menschen in seiner physischen Form für abgeschlossen halten. Die Erschaffung des Menschen ist demzufolge Sache Gottes; und Neuerschaffung bzw. Neuschöpfung unterstehen dem göttlichen Schöpferwillen. Betrachtet man als Ziel des menschlichen Lebens und Tuns die Glückseligkeit und das Heil im Angesicht Gottes, so müssen das Klonen, die wissenschaftliche und medizinische Verwertung embryonaler Stammzellen, die Beeinflussung des menschlichen Erbmaterials bzw. die Manipulation der menschlichen Gene und ähnliche naturwissenschaftliche Schritte oder Experimente als (unzulässige) Eingriffe in das göttliche Werk gelten. Auch wenn die konkreten religiösen Vorstellungen und Lebensführungsideale unterschiedlich sind und je nach den kulturellen Besonderheiten mannigfaltig erscheinen, entspringt ihre Substanz einer grundsätzlichen Vorstellung des menschlichen Geistes: der Idee vom Menschen als einem begrenzten Wesen mit einer über ihn hinausreiZur Idee des neuen Menschen siehe Hondrich, Karl Otto (2001): Der Neue Mensch. Frankfurt/M.; Küenzlen, Gottfried (1997): Der Neue Mensch. Eine Untersuchung zur säkularen Religionsgeschichte der Moderne. Fankfurt/M.; Dawkins, Richard (42002): Das egoistische Gen. Hamburg; Habermas, Jürgen (2001): Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik? Frankfurt/M; Gerhardt, Volker (2001): Der Mensch wird geboren. Kleine Apologie der Humanität. München. 1 19 Hajatpour (48573) / p. 20 /26.4.13 Einleitung chenden Existenz, und nur diese kann letztlich die spezifische Form und das Maß der menschlichen Perfektibilität bestimmen. Sofern zum Beispiel die Legitimation moderner wissenschaftlicher Experimente die Aufhebung bestimmter religiöser Grundvorstellungen nach sich zieht, wirft sie nicht nur ethische und rechtliche Probleme auf, sondern definiert auch die Frage nach dem Urheber ihrer Möglichkeit neu. Insbesondere im gegenwärtigen islamischen Welt- und Menschenbild steht die Diskussion der physischen Perfektibilität grundsätzlich im Gegensatz zum traditionellen theologischen Schöpfungsentwurf, und alle politischen und ethischen Debatten kann man im islamischen Kontext als Ausdruck und Teil einer theologischen oder juristischen Auseinandersetzung begreifen. 2 Auch wenn die Frage des »neuen Menschen« in der Form, in der sie derzeit im Sinne von genetischen und physischen Veränderungen und Optimierungen gestellt wird, bisher kein direkter Gegenstand religiöser Erwägungen und Interpretationen war und ein solches Vorgehen bei einer großen Mehrheit der religiösen Denker auf Ablehnung stößt, haben diese Probleme der praktischen Ethik und das Projekt des »neuen Menschen« also eine Relevanz in der heutigen islamischen Welt. 3 Sie werden allerdings auf einer anderen Ebene ausgelegt und diskutiert, wie bereits angedeutet. So kennt der Islam den homo novus, wie das Christentum auch, als Teil einer »eschatologischen« bzw. »metanatürlichen« Diskussion. Er ist schon lange mehr oder weniger in beiden Religionen als »innerer Mensch«, »Über-Mensch«, als »wahrer« oder »inwendiger Mensch« bekannt. 4 Diese Konzepte werden uns noch häufig begegnen. Auch wenn die dringenden Fragen der physischen Perfektibilität für diese Arbeit nur als Hintergrund dienen und ich sie hier nicht beantworten kann, spiegelt sich in ihnen deutlich eine grundsätzliche Spannung zwischen den im islamischen Kontext verwendeten Begriffen von In der islamischen Welt finden Diskussionen über die Frage des Klonens und der menschlichen Genoptimierung und über die Ethik bezüglich der modernen Medizin statt. Siehe dazu Eich, Thomas u. Reifeld, Helmut (Hrsg. 2004): Bioethik im christlichislamischen Dialog. Sankt Augustin; Eich, Thomas (2005): Islam und Bioethik. Eine kritische Analyse der modernen Diskussion im islamischen Recht. Wiesbaden; Eich, Thomas (2008): Moderne Medizin und Islamische Ethik. Biowissenschaften in der islamischen Rechtstradition. Freiburg u. a. 3 Siehe dazu Eich, Islam und Bioethik. 4 Vgl. Ritter, Joachim u. Gründer, Karlfried (Hrsg. 1971): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. V. Stuttgart, S. 1061–1112. 2 20 Hajatpour (48573) / p. 21 /26.4.13 Der neue Mensch in der gegenwärtigen Debatte Tradition (womit hier die kontinuierliche Vergegenwärtigung der Vergangenheit, insbesondere aber des religiösen Erbes gemeint ist) und Perfektion: Zunächst steht »der Islam« nicht nur für eine Religion, sondern nicht zuletzt auch für eine intellektuelle, gesellschaftliche und politische Kultur. Die Muslime zeigten schon seit der Frühzeit des Islam ein hohes Potential an kultureller Anpassungs- und Austauschfähigkeit. In den Begegnungen mit »fremden« Kulturen und Religionen erkannte die islamische Gemeinschaft sehr schnell die Vorteile einer politischen und kulturellen »Globalisierung«, die über Jahrhunderte das islamische Reich begleitete. Der Islam war bald nicht mehr nur eine isolierte Religion oder nur eine monotheistische und eschatologische Weltanschauung, sondern Träger und Übermittler eines Kultur- und Wissenschaftsgeflechtes. Seine intellektuelle Elite erhob den Anspruch, in allen weltlichen und geistigen Belangen präsent, also im wahrsten Sinne des Wortes gegenwärtig zu sein. Daher mußte sich der Islam im Laufe der Geschichte auch allen Herausforderungen explizit stellen, die die neuen bzw. fremden Kulturen für ihn darstellten. Ob er ihnen gerecht wurde oder nicht, steht hier nicht zur Debatte. Die Frage ist vielmehr, ob es sich die Muslime ihrem Anspruch nach heute leisten können, die Debatte über den neuen Menschen ohne eigenes Konzept, sei es philosophisch oder ethisch, zu übergehen und die damit verbundenen Fragen unbeantwortet zu lassen. Mit der Idee des neuen Menschen geht – neben ihrer eschatologischen und heilsgeschichtlichen Bedeutung – der »Mythos der Perfektion« einher. Mit einem solchen Ansatz werden in manchen Untersuchungen die Ziele der »neuzeitlich-säkularen Konzepte« verknüpft. Hier heißt es, daß die »Umformung der ›religiösen Idee des Neuen Menschen … zur profanen‹ [auch] eine qualitativ-inhaltliche Neubestimmung« ist, die sich an den »Perfektibilitätsvorstellungen« unserer Zeit zeigt. 5 Die »Suche nach einem neuen Menschen« wird immer als die Suche nach einem »Neuen und Anderssein« verstanden und als ein zentrales »Heils- und Erlösungsziel« gesehen. 6 Die Frage der Perfektibilität oder Degeneration war präsent in dem geistigen und wissenschaftlichen Klima der abendländischen Zivilisation seit dem 18. Jahrhundert, insbesondere im Kreis der Naturwissenschaft und Pädagogik. 5 6 Küenzlen, Der neue Mensch, S. 61. Ebd., S. 19 f. 21 Hajatpour (48573) / p. 22 /26.4.13 Einleitung Eidenbenz zeigt an den Beispielen Darré, Schultze-Naumburg, Buffon, Blumenbach, Johannes und Johann Rudolph Ith (Vater und Sohn) und Morel die unterschiedlichen Facetten dieses Klimas. 7 1822 hielt Johann Rudolph Ith (Sohn) seine Antrittsrede »über die physische Vervollkommnung des Menschengeschlechtes«. Ith verstand darunter allerdings eine allseitige Perfektionierung der menschlichen Person. 8 Der Perfektionierungsgedanke fand nach Oelkers zu Beginn des 20. Jahrhunderts in einem neuen Erziehungsprogramm Ausdruck. Man nannte es »das Jahrhundert des Kindes«. 9 Ellen Key (1849–1926) erhoffte sich mit ihrer Veröffentlichung die Bildung eines »neuen Menschen und höheren Menschengeschlechtes«. Die Pädagogik wird als eine Art Züchtungsprogramm für eine »Massenveredlung« verstanden und sollte im Anschluß an die im 19. Jahrhundert weitverbreitete Idee biologischer Perfektion, nämlich durch gute Zucht den Anteil positiver Erbanlagen zu verbessern, wofür man den Begriff »Eugenik« benutzte, 10 den »neuen Menschen« hervorrufen, um im Dienste des Kindes die Heiligkeit seiner Gattung zu sichern. 11 Oelkers zählt die Eugenik zu den Ersatzreligionen, die Gegenbewegung, die ebenfalls die Perfektionierung des Menschengeschlechtes anstrebte, war stattdessen »esoterisch« und auf dem Boden der christlichen Spiritualitätslehre gewachsen. Oelkers versucht mit den folgenden Sätzen die spirituelle Bewegung zur Perfektionierung darzulegen: »Der ›neue Mensch‹ ist spirituell neu, d. h. eine Geburt ohne Abhängigkeit. ›Neu‹ im Sinne innerer Perfektion, die sich letztlich auf Erziehung zurückführen lassen muß. Erziehung wäre Erleuchtung, die ›neue Erziehung‹ muß das Kind beseelen und körperlich rein halten.« 12 Das Ziel der vorliegenden Arbeit ist nicht, einen logischen Vergleich oder den Unterschied zwischen den beiden Perfektibilitätsbestrebungen, den biologistischen und geistig-spirituellen, aufzuzeigen. Eidenbenz, Mathias: Perfektionierung und Degeneration. Bemerkungen zur Genese wertender Begriffe im evolutionistischen Denken des 18. und 19. Jahrhunderts, in: Kubli, Eric u. Reichardt, Katharina (Hrsg. 2001): Die Perfektionierung des Menschen. Bern u. a., S. 13–42. 8 Ebd., S. 38. 9 Oelkers, Jürgen: Erziehung als Perfektionierung des Menschen, in: Kubli u. Reichardt, Die Perfektionierung, S. 44. 10 Ebd., S. 45. 11 Ebd., S. 60 f. 12 Ebd., S. 50 f. 7 22 Hajatpour (48573) / p. 23 /26.4.13 Der neue Mensch in der gegenwärtigen Debatte Vielmehr geht es hier darum, den Grundgedanken des Vervollkommnungswunsches anhand der Beispiele aufzuspüren, speziell hier ihre Formen in der geistigen Tradition zu zeigen und ihre Bedeutung für ein modernes Verständnis des Menschenbildes im Islam aufzuwerten. In welcher Form man auch immer von einem »neuen« Menschen gesprochen hat, der den »alten« Menschen ersetzen oder ergänzen sollte – man ging von der Grundannahme aus: Der Mensch, so wie er ist, ist nicht gut genug. Das ist die erste Prämisse, die wir der Idee der Perfektibilität für unsere Untersuchung entnehmen können. Der Mensch soll sich, etwa mithilfe der Führung durch eine heilige Person oder durch eine religiöse und sittliche Lebensweise oder durch eine rationale und wissenschaftliche bzw. moderne und säkulare Lebensart, als individuelle Person und als Teil einer Gesellschaft fortentwickeln, erneuern und vervollkommnen. Damit kommen wir zur zweiten Prämisse für die Fragestellung der vorliegenden Arbeit. Man setzt mit der Idee der Perfektion die Tatsache voraus, daß der Mensch das Potential zur Perfektibilität und zur Selbststeigerung besitzt. Dies bezieht sich sowohl auf seine existentielle Anlage als auch, was genauso wichtig ist, auf das menschliche Wissen und die menschliche Führungskraft. In seiner Entwicklung und Vervollkommnung wird der Mensch aber immer als Subjekt und Akteur seiner Selbstverwirklichung betrachtet. Auch nach der religiösen Vorstellung, nach der der Mensch primär ein Gottesentwurf ist und ohne Gottes Gnade nicht vollkommen werden kann, wie wir beispielsweise bei einigen führenden Anhängern der Mystik Ibn ʿArabīs (gest. 1240) feststellen können, wird letztlich der Mensch dazu aufgefordert, sich religiös und sittlich für einen Entwurf der »Neuwerdung« zu betätigen. Als These möchten wir daher aufstellen, daß diese Selbstbeteiligung am eigenen Entwurf die Bedingung dafür ist, daß der Mensch eine »ontologische Begründung« seiner selbst versuchen kann 13 und daß sie als Begriff im Menschenbild des Islam traditionell bereits angelegt ist. Auch wenn der Mensch hinsichtlich seiner Existenz gott- oder naturbezogen argumentiert, kann er die Tatsache nicht ignorieren, daß er als freies und verantwortliches Wesen in der Schöpfung Jüngel behauptet: »Ontologisch ist der Mensch das ganz und gar nicht in sich selbst begründete Wesen. Er kann gar nicht zu sich selber kommen, ohne schon immer bei einem anderen zu sein«. Siehe Jüngel, E.: Der Gott entsprechende Mensch. Bemerkungen zur Gottesebenbildlichkeit des Menschen als Grundfigur theologischer Anthropologie, in: Gadamer, Hans-Georg u. Vogler, Paul (1975): Neue Anthropologie. Bd. 6. Philosophische Anthropologie. Erster Teil. Stuttgart, S. 351. 13 23 Hajatpour (48573) / p. 24 /26.4.13 Einleitung so verankert ist, daß er die Welt, in der er lebt und handelt, nach seiner eigenen Vorstellung und seinem eigenen Handeln gestaltet und darin seine Person zu verwirklichen sucht. Sogar als religiöses Wesen kann der Mensch die Vervollkommnung nicht ungewollt und untätig erwerben. In diesem Zusammenhang ist insbesondere zu fragen, ob, was und in welcher Form die islamische Gelehrtenkultur zur Entstehung der Idee eines Selbstentwurfes des Menschen beigetragen hat. 14 Möglicherweise war sie nicht Initiator einer eigendynamischen kulturellen Selbstreflexion, trotzdem können dabei ihre sozialen Gebilde, gesellschaftlichen Formen, religiösen Bewegungen und politischen Institutionen eine Rolle gespielt haben. Umgekehrt ist es ebenso gut möglich, daß neue wissenschaftliche Disziplinen oder abweichende Lehrmeinungen immer ein tradiertes religiöses Menschenbild in ihre Konzepte und Wertungen einbeziehen mußten. Diese Sichtweise legt allerdings nahe, daß solche Wechselwirkungsprozesse die Entstehung eines neuen und offenen Entwurfes behinderten oder zu verschwommenen Konzepten geführt haben. Aber auf jeden Fall müssen die muslimischen Denker (gerade heute) eine Antwort auf die Frage bereithalten, welchen Begriff von sich selbst der Mensch in seiner epistemischen, physischen und auch religiösen Endlichkeit bilden kann – und es wird zu untersuchen sein, wie sich dieser Begriff mit unserer These verträgt (oder sogar wechselseitig bedingt), daß der Mensch sich selbst als (sittlichen und religiösen) Auftrag begreift. Daher ist es besonders heute wichtig, die Frage zu beantworten, wie der Mensch in seiner Beziehung zu Gott konzipiert ist. Dies alles ist bedeutsam für die Erwartungen, die die Muslime mit der Zukunft des Menschen verknüpfen können. Um dieses Vorhaben zu bewältigen, werden exemplarisch verschiedene geistige Schulen und Disziplinen der islamischen Mystik und Philosophie zu betrachten sein. Dabei wird unser Interesse von zwei Untersuchungsgegenständen geleitet: Wir wollen hier ausdrücklich darauf hinweisen, daß der Begriff »Selbstentwurf« keinen Eingang in die islamische Wissenskultur gefunden hat. Dieser Begriff wurde in den 50er Jahren im Westen im Rahmen der Emanzipations- und Frauenbewegung benutzt. Man findet eine andere Variation dieses Begriffes bei Jean-Paul Sartre. Wir verwenden diesen Begriff nun im Rahmen unserer Untersuchung als eine inhaltliche Umschreibung der ontologischen Selbstkonzipierung. 14 24