Freitagsansprache vom 23.12.2005 von Ayatollah Seyyed Abbas Hosseini Ghaemmaghami Imam und Leiter des Islamischen Zentrums Hamburg Göttliche Offenbarung und Heilige Schriften Im Namen Gottes, des Gnädigen, des Barmherzigen. Lobpreis sei Allah, dem Gepriesenen und Erhabenen, dem Herrn der Welten, und Sein Frieden und Segen sei mit unserem Propheten Mohammad (Friede sei mit ihm ), seinen reinen Nachkommen (Friede sei mit ihnen) und seinen rechtschaffenen Gefährten. Zum Weihnachtsfest, dem Geburtstag des großen göttlichen Propheten Jesus (?) und dem Beginn des neuen christlichen Jahres gelten unsere Glückwünsche allen Christen, und zu Chanukka, dem Lichterfest, gratulieren wir allen Juden. Mit dieser Freitagsansprache wollen wir die Diskussion einiger wichtiger Thematiken aus der Sicht des Qur’an beginnen. Deshalb ist es notwendig, zunächst einige primäre Kenntnisse vom Qur’¢n, seinen Ansichten und seiner Stellung bei der Bildung der Gedanken und der islamischen Gemeinschaft zu erörtern. Für jede Religion sind die Heiligen Schriften die wesentlichen Quellen für die Erlangung von Kenntnis und das Erreichen eines Bewusstseins von der jeweiligen Religion. Daher sind diese Schriften in den Religionen für gewöhnlich sehr unterschiedlich. Folglich muss man, bevor man sich mit solchen Schriften auseinandersetzt, die Frage beantworten, wie hoch der Erkenntniswert jeder dieser Schriften ist, denn zweifellos haben diese Schriften nicht alle den gleichen Erkenntniswert. Für die Juden und die protestantischen Christen haben von 46 Büchern des Alten Testaments, die Katholiken und orthodoxen Christen heilig sind, sieben Bücher einen niedrigeren Erkenntniswert als die restlichen 39 Bücher, und deshalb werden sie als Apokryphen oder sekundäre Gesetze bezeichnet, die eine nachrangige Bedeutung haben. Die heiligen Schriften der Muslime können aufgrund ihrer Bedeutung und ihres Wertes, der sich in dem Maße manifestiert, in dem man mit ihrer Hilfe Kenntnis über den Islam und den Propheten des Islam erlangen kann, in zwei Gruppen unterteilen, nämlich erstens den Qur’an und zweitens die Sunna. Mit der Sunna sind die gesamten Aussprüche und das Verhalten des Propheten des Islam (? ) gemeint. Nach Meinung aller Muslime ist der Qur’¢n Gottes Wort. Wenn wir die Beziehung zwischen den Begriffen und der Bedeutung der Begriffe vergleichen mit der Beziehung zwischen einem Behälter und dessen Inhalt, dann können wir sagen, dass Gott Seine Botschaft dem Propheten des Islam in Form von Offenbarung mitgeteilt hat, ihm aber nicht erlaubt hat, den Behälter dieser Botschaft und die Begriffe und Wörter selbst zu wählen, sondern Gott selbst hat den Behälter ausgesucht. Deshalb sind nicht nur die im Qur’an enthaltenen Bedeutungen und Begriffe die Offenbarung und Botschaft Gottes, sondern auch die bei dieser Offenbarung verwendete Sprache und die Begriffe sind Teil der Offenbarung, und Mohammad (s.a.s.) hat keinerlei Erlaubnis gehabt, die Offenbarung auch nur um einen einzigen Begriff zu verkürzen oder ihr ein Wort hinzuzufügen. 2 Gott betont wiederholt im Qur’¢n, dass die Begriffe und arabischen Buchstaben von Ihm selbst als Behälter der Offenbarung ausgewählt wurden und diese Begriffe neben der Bedeutung und dem Verständnis vom Qur’an als Teil der Offenbarung gezählt werden. Dieser Qur’an ist vom Schöpfer des Universums offenbart worden, und ru½-ul-amÍn, ein großer göttlicher Engel, hat diese Offenbarung auf das Herz Mohammads herabgesandt, auf dass Mohammad die Menschen mit diesen Versen warne. (Vgl. Sure aÊ-Éuþar¢’, Vers 195). Gott hat den Qur’an auf Arabisch offenbart mit der Absicht, dass sie (die Menschen) darüber nachdenken und dass ihr Verstand geweckt wird, heißt es in Sure YÚsuf, Vers 2. Und in Sure aÊ-ÉÚr¢, Vers 6, steht geschrieben, dass Gott Mohammad den Qur’an arabisch offenbart hat. Hieraus geht deutlich hervor, dass für Gott das Arabischsein des Qur’an Teil der Offenbarung ist, und Er sagt in aller Deutlichkeit, dass die Begriffe und Wörter, also der Behälter der qur’¢nischen Offenbarung, eine heilige Wurzel haben und wie die ursprünglichen Begriffe von Gott offenbart wurden. Dieser Punkt wurde im Qur’an wiederholt erwähnt und hervorgehoben. Es darf hier auch nicht unerwähnt bleiben, dass der Qur’an niemals beabsichtigt, der arabischen Sprache eine Sonderstellung zuzuweisen und sie gegenüber anderen Sprachen zu bevorzugen, sondern der Qur’an spricht alle Menschen ungeachtet ihrer ethnischen Abstammung, Nation oder Sprache an. Aber selbstverständlich ist die arabische Sprache als die ursprüngliche Sprache für die Herstellung der Beziehung und Verbindung bevorzugt; aber diese Bevorzugung ist nicht essentieller Natur, sondern beruht auf einer von der Realität bestimmten Notwendigkeit. Dies lässt die Bedeutung der Offenbarung, die Gestaltung des Islam und der islamischen Gemeinschaft und die prophetische Funktion Mohammads (? ) deutlicher werden. Im Christentum ist Jesus (?) selbst die Reflexion und Verwirklichung der göttlichen Offenbarung. Die Apostel waren als seine Schüler und Jünger diejenigen, die diese Offenbarung erstmalig und von nahe erlebt haben, bevor sie ihre Erfahrung von Jesus den anderen Menschen weiter gegeben haben, und in Wirklichkeit ist die Heilige Schrift kein Buch der göttlichen Offenbarung, sie enthält auch nicht die Worte Jesu und auch nicht die ursprüngliche Niederschrift der Jünger, die Jesus unmittelbar erlebt haben, sondern sie wurde von Menschen verfasst, die selbst Jesus nicht erlebt haben, sondern von den Jüngern und Schülern Jesu ihr Wissen erlangt haben. Folglich basiert der christliche Glauben auf dem Glauben der Jünger und Schüler Jesu. Es waren die Urchristen, die aus 27 christlichen Schriften und Büchern die vier Evangelien ausgesucht haben, nämlich das Matthäus-, das Markus-, das Lukas- und das Johannesevangelium und hinsichtlich der Richtigkeit dieser vier Evangelien einig waren, die Teil des Neuen Testaments wurden, das im Laufe der Geschichte die wichtigste Quelle für christliches Wissen war und die Basis für den christlichen Glauben ist. Auch die Briefe von Paulus, einer der wichtigsten Vertreter des Urchristentums, sind Teil des Neuen Testaments. Nach Meinung der Christen ist er der größte christliche Theologe des Neuen Testaments, obwohl er Jesus niemals gesehen hat. Die Muslime glauben hingegen an die wörtliche Offenbarung. Sie sind der Meinung, dass der Prophet nur ein Vermittler für die Übertragung der göttlichen Botschaft für die Menschen ist, ein Vermittler, der selbst die Auswahl der Begriffe nicht bestimmen konnte, denn die göttliche Botschaft ist nicht wie gewöhnliche mündliche Botschaften, die dem Sprecher diese Möglichkeiten einräumen. Die Botschaft Gottes ist eine klare und schriftliche Botschaft, und dem Propheten 3 wurde von Gott der Rang und die Stellung voller Ehre und Weisheit zuteil, als Vermittler dieser Botschaft von Gott an die Menschen zu fungieren. Aufgrund dieser Stellung und dieses Ranges, die deutlich aus dem Qur’an hervorgehen, hat Gott dem Propheten gestattet, Sein Wort, also die Offenbarung, für die Menschen zu interpretieren, um ihnen damit die Praktizierung und Verwirklichung der göttlichen Botschaft in ihrem Leben zu ermöglichen. Das, was als Sunna bezeichnet wird, beinhaltet diese Interpretationen, die jedoch klar vom qur’anischen Inhalt abgegrenzt sind, einen anderen Rang haben, und niemals mit dem qur’anischen Inhalt vermischt werden können. Nach dem Qur’an sind die Sunna und die Aussprüche des Propheten für die Muslime sehr wichtig. Deshalb wurde im Laufe der Geschichte viel Mühe und Genauigkeit darauf verwendet, seine Worte mittels sicherer Methoden genau zusammenzutragen, um somit sicherzustellen, dass das, was erzählt wird, auch wirklich die Worte des Propheten sind. Dafür wurde eine besondere Wissenschaft begründet, die Textwissenschaft der Überlieferung. Aufgrund der in dieser Wissenschaft vorhandenen Prinzipien wird ein Ausspruch oder eine Verhaltensweise des Propheten nicht als gültig anerkannt und gezählt, wenn nicht mit gänzlich wissenschaftlichen und exakten Methoden festgestellt wird, dass dieser Ausspruch oder diese Tat auf den Propheten zurückzuführen ist. Folglich werden die islamischen Gelehrten das, was die Masse der Muslime oder die Nichtmuslime als Worte des Propheten bezeichnen, nicht akzeptieren und nicht als gültig anerkennen, wenn dies mittels dieser genauen Prinzipien nicht bestätigt wird. Aber dennoch kommen auch die Aussprüche und Verhaltensweisen, die gemäß den exakten Methoden authentisch sind, und von denen man mit Sicherheit weiß, dass sie vom Propheten überliefert wurden und folglich als prophetische Aussagen zu verstehen sind, nach dem Qur’an. Die Heiligkeit, Wahrheit und Wichtigkeit des Qur’an als heilige Schrift und göttliches Wort ist für die Muslime so wichtig, dass sie ähnlich den Urmuslimen, die den Propheten (? ) erlebt haben und bei einer Empfehlung oder einem Ausspruch von ihm nachfragten, ob er dieses Wort als Prophet und von Seiten Gottes spricht, seine Worte unterscheiden; das bedeutet, dass zwischen dem Qur'an, den prophetischen Aussagen und den normalen Worten des Propheten differenziert wird. Das bisher Gesagte macht deutlich, dass das Geheimnis der Begriffe und qur’anischen Worte im Islam in ihrer besonderen Heiligkeit und Hochachtung liegt. Zweifellos hätten die Worte nicht diese Stellung und diesen Rang, wenn die göttliche Botschaft nur eine mündliche Botschaft wäre. Aber da diese Worte von Gott selbst gewählt wurden, haben sie eine besondere heilige und göttliche Eigenschaft, die sie von normalen Begriffen unterscheidet. Deshalb berühren die Muslime den Qur’an mit voller Wertschätzung, und deshalb ist es ihnen z. B. nicht erlaubt, bei bestimmten Anbetungen wie z. B. dem rituellen Gebet, andere Begriffe zu benutzen, denn kein anderer Begriff spiegelt die Vollkommenheit und Vollständigkeit der heiligen Begriffe richtig wieder. Aus diesem Grund wurde die Legitimation und Richtigkeit der Übersetzung des Qur’an von der Hauptsprache in andere Sprachen von manchen Gelehrten und Islamkennern in den ersten islamischen Jahrhunderten abgelehnt. Sie haben so argumentiert, dass man eine vollkommene und genaue Kenntnis von den heiligen Begriffen des Qur’an nur erlangen kann, wenn man mit der Sprache und Literatur direkt verbunden ist, und nicht mittels Überset- 4 zungen, die Unterschiede zur Hauptsprache aufweisen. Das bedeutet nicht, dass die Übersetzung des Qur’an völlig negiert wird, sondern vielmehr wird damit betont, dass die Übersetzung zwar den Abstand derjenigen, die sich mit dem Qur’an beschäftigen, zum Hauptwerk verringert, diesen Abstand aber nicht gänzlich überwinden kann. Abgesehen vom Qur’an, dessen Sprache eine besondere und heilige Eigenschaft beinhaltet, können Übersetzungen von Werken mit tiefer Bedeutung in Übersetzungen nicht deren wahre Botschaft widerspiegeln. Deshalb ziehen Wissenschaftler, die genaue Kenntnisse über eine Theorie erlangen wollen, es vor, die Hauptsprache dieser Werke zu lernen. Aus diesem Grund ist das Erlernen der arabischen Sprache für das Kennen lernen der Kultur und literarischen Struktur der qur’anischen Sprache für die Muslime sehr wichtig. Die religiösen Autoritäten betonen, dass all jene, die eine profunde Kenntnis und genaueres Bewusstsein vom Qur’an erlangen möchten, diese Sprache erlernen sollen. Soweit zu diesem Thema, das wir in den kommenden Freitagsansprachen fortsetzen werden. Abschließend möchte ich zum Weihnachtsfest und zum neuen christlichen Jahr nochmals allen gratulieren. Weihnachten ist das Gedenken an die Geburt Jesu, und das ist für uns Muslime ein geehrter Tag. Islamischen Überlieferungen zufolge hat der Prophet des Islam den Tag der Geburt Jesu für uns Muslime als einen Festtag bezeichnet. Darüber hinaus fühlen wir Muslime uns als einen Teil dieser Gesellschaft und für die Angelegenheiten dieser Gesellschaft mitverantwortlich und sind niemals ein gleichgültiger Beobachter, wenn es um die Vorteile, Freude oder Trauer dieser Gesellschaft geht. Gleichfalls gratuliere ich nochmals allen Juden zum Chanukkafest. Der Qur’an lehrt uns, dass alle abrahamitischen Religionen, d. h. Judentum, Christentum und Islam, eine gemeinsame Wurzel haben und wir alle die Mitglieder einer großen Familie der religiösen Menschen und Monotheisten sind. Wir sollen jede Gelegenheit nutzen, damit wir unsere Freundschaft und enge Beziehung festigen, und wir sollen nicht zulassen, dass einige Dinge zwischen den Mitgliedern dieser Familie Kälte und Konflikt verursachen. Darüber hinaus möchte ich unsere außerordentliche Freude über die Befreiung der deutschen Mitbürgerin, die im Irak als Geisel festgehalten wurde, kundtun, und unserem Wunsch Ausdruck verleihen, dass das neue Jahre das Jahr der Beendigung von Gewalt und das Jahr der Herrschaft von Frieden und Gerechtigkeit in der gesamten Welt sein wird. Und der Friede sei mit euch und die Gnade Gottes und Seine Segnungen. 5 Im Namen Gottes, des Gnädigen, des Barmherzigen Die Heiligen Schriften geben uns Wissen über die Religionen. Die Muslime gewinnen ihr Wissen über den Islam und das Prophetentum aus dem Qur’an und der Sunna. Gott selbst hat die Worte bestimmt, die im Qur’an enthalten sind. Der Prophet durfte kein Wort ändern, hinzu tun oder weglassen. Aber er durfte den Menschen die Worte erklären, damit sie die Botschaft Gottes verwirklichen können. Wir gratulieren allen Christen zum Geburtstag des Propheten Jesus (?) und zum Beginn des neuen Jahres, und allen Juden zum Lichterfest. Wir hoffen, dass die große Familie der Gläubigen im neuen Jahr ihre Freundschaft stärken wird. Wa salamu alaykum wa rahmatullahi wa barakatuh.