1 Johannes Fischer Moral um der Moral willen? Über ein

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1
Johannes Fischer
Moral um der Moral willen?
Über ein moralphilosophisches Missverständnis1
Nach einer verbreiteten Auffassung ist Ethik Reflexion auf Moral.2 Die Moral umfasst
hiernach den Gesamtbereich dessen, womit ethisches Nachdenken es zu tun hat. Diese
Auffassung spiegelt das Ethikverständnis der modernen Ethik wider. Zwar haben auch deren
Vordenker gewusst, dass es neben dem moralisch Richtigen und dem moralisch Guten den
weiten Bereich des aussermoralisch Guten gibt, d.h. des Erstrebenswerten und der Güter wie
Gesundheit oder Glück. Aber anders als die Denker der antiken Ethik haben sie diesem
Bereich keine eigenständige ethische Bedeutung beigemessen, sondern ihm ethisch nur
insoweit Beachtung geschenkt, wie er um der Moral willen wichtig war, z.B. im Sinne einer
konsequenzialistischen Moralbegründung oder, wie bei Kant, als Ermöglichungsbedingung
für die Erfüllung unserer moralischen Pflichten. Diesbezüglich hat sich das Verständnis von
Ethik in den zurückliegenden Jahrzehnten zumindest teilweise gewandelt. Ethikkonzeptionen
wie die Integrative Ethik von Hans Krämer3 oder die Ethik von Paul Ricoeur4 messen der
strebensethischen Perspektive eine eigenständige Bedeutung zu und versuchen, diese mit der
Perspektive der Moral zu verbinden. Die Beschränkung der Ethik auf Moralreflexion ist aus
der Sicht dieser Konzeptionen eine fragwürdige Verkürzung.
In meinen folgenden Ausführungen soll es nun allerdings nicht um die Frage gehen, was über
die Moral hinaus noch alles zum Gegenstandsbereich ethischer Reflexion zu rechnen ist.5 Ich
möchte vielmehr die Frage untersuchen, ob und in welchem Sinne es denn wahr ist, dass
Ethik, was immer sie sonst noch zum Gegenstand hat, die Moral zum Gegenstand ihrer
Reflexion hat. Ich fasse also das Thema dieser Tagung „Grenzen der Moral“ im Sinne einer
1
Die folgenden Überlegungen gehen auf einen Vortrag zurück, den der Vf. bei einer Tagung über „Grenzen der
Moral“ am 23. März 2015 in der evangelischen Akademie Arnoldshain gehalten hat.
2
„In einem allgemeinen Verständnis lässt sich Ethik also als philosophische Reflexion auf Moral verstehen.“
Marcus Düwell u.a. (Hg.), Handbuch Ethik, Stuttgart/ Weimar: Metzler, 2002, 2.
3
Hans Krämer, Integrative Ethik, Frankfurt a.M. 1995.
4
Paul Ricoeur, Das Selbst als ein Anderer, München 1996.
5
Zu denken ist hier nicht nur an den Bereich des aussermoralisch Guten, sondern auch an ethische Standards
z.B. in Gestalt arztethischer Richtlinien, die sich von moralischen Normen dadurch unterscheiden, dass sie durch
Übereinkunft und Beschluss in normative Geltung gesetzt werden, ebenso an Rechtsregeln, für die dasselbe gilt,
aber auch an anthropologische Fragen z.B. im Hinblick auf den Status des vorgeburtlichen menschlichen Lebens,
oder an naturphilosophische Fragen z.B. in der Tierethik und an anderes mehr. All dies kann Gegenstand
ethischer Reflexion sein. Insofern ist die Standardauskunft, dass Ethik Reflexion auf Moral ist, eine grobe
Verkürzung.
2
Eingrenzung und Begrenzung der Bedeutung der Moral für die Ethik auf. Der Hauptteil
meiner Überlegungen befasst sich dementsprechend mit der Frage, was eigentlich Moral ist
und welchen Sinn und welche Funktion moralische Urteile haben. Erst mit der Beantwortung
dieser Fragen ist es möglich, die Bedeutung der Moral für die Ethik genauer zu bestimmen
und einzugrenzen. Die kritische Stossrichtung der folgenden Überlegungen zielt dabei auf
eine Auffassung von Moral, die in der modernen Moralphilosophie dominant geworden ist,
der zufolge die Gründe und Motive moralischen Handelns in der Moral selbst liegen, so als
würde diese einen Wert in sich darstellen. Nach dieser Auffassung ist das moralisch Richtige
zu tun, weil es moralisch ist, so zu handeln, also um der Moral willen, oder in Kantischer
Terminologie: aus Achtung vor dem Sittengesetz. Es ist diese Auffassung, von der her die
Moral jenen überragenden Stellenwert bezieht, welcher der Bestimmung der Ethik als
Moralreflexion zugrunde liegt. Wenn die Gründe und Motive moralischen Handelns in der
Moral selbst liegen, dann muss diese als der eigentliche Gegenstand ethischen Nachdenkens
begriffen werden. Ich werde demgegenüber in meinen folgenden Ausführungen ein
alternatives Verständnis von Moral profilieren, von dem ich behaupte, dass es der Rolle, die
die Moral in unserem Leben spielt, sehr viel adäquater ist. Ich werde dies verbinden mit
einem Plädoyer für eine Entmoralisierung der ethischen Reflexion.
1. Was ist Moral? Eine verbreitete Auffassung
Wer anfängt darüber nachzudenken, was Moral ist, dem dürften zuerst wertende Ausdrücke
wie ‚richtig‘, ‚falsch‘, ‚gut‘ oder ‚schlecht‘ in den Sinn kommen, mit denen menschliches
Handeln und Verhalten beurteilt wird. Von daher wird ihm die Feststellung unmittelbar
plausibel erscheinen, dass im Mittelpunkt der Moral Urteile stehen, die von derartigen
Ausdrücken Gebrauch machen. So schreibt Dieter Birnbacher in seinem Buch „Analytische
Einführung in die Ethik“: „Im Mittelpunkt der Moral stehen Urteile, durch die ein
menschliches Handeln positiv oder negativ bewertet, gebilligt oder missbilligt wird.“6
Allerdings ist mit dieser Feststellung die Frage noch nicht beantwortet, was Moral ist. Denn
derartige Ausdrücke und Urteile kommen auch in nichtmoralischen Kontexten und
Bedeutungen vor. Lässt sich angeben, worin die moralische Bedeutung solcher Ausdrücke
besteht und was ein Urteil zu einem moralischen Urteil macht? Auf diese Frage gibt es bis
heute keine abschliessende Antwort, und auch Dieter Birnbacher lässt diese Frage
unbeantwortet. Was das Moralische an der Moral ist, scheint letztlich ein Rätsel zu sein.7
6
Dieter Birnbacher, Analytische Einführung in die Ethik, Berlin/ New York, Walter de Gruyter, 2003, 12.
So beschränkt sich Birnbacher darauf, „den Bereich des Moralischen durch vier Kennzeichen zumindest grob
einzugrenzen“ (aaO. 12). Es handelt sich um vier Kennzeichen moralischer Urteile, nämlich Handlungsbezug,
7
3
Wird in dieser Weise das moralische Urteil als das Zentrum der Moral angesehen, dann hat
dies weitreichende Folgen für die Ethik. Diese hat nach allgemeiner Auffassung als normative
Ethik die Aufgabe, zu moralisch richtigem Handeln anzuleiten. Wenn aber sich moralisch
orientieren heisst: sich an moralischen Urteilen orientieren, dann muss sie hierzu moralische
Urteile über die Richtigkeit oder Falschheit von Handlungen aufstellen bzw. Kriterien oder
Prinzipien entwickeln, aus denen sich derartige Urteile ableiten und begründen lassen, damit
ihre Adressaten ihr Handeln hieran orientieren können. Prägnant wird dies in folgendem Zitat
von Julian Nida-Rümelin auf den Punkt gebracht: „Den Ausgangspunkt der Ethik bilden
moralische Überzeugungen. Moralische Überzeugungen beziehen sich darauf, was gut ist,
welche Handlung moralisch unzulässig ist, welche Verteilung als gerecht gelten kann etc. Die
ethische Theorie versucht, allgemeine Kriterien für gut, richtig, gerecht etc. zu entwickeln, die
im Einklang sind mit einzelnen unaufgebbar erscheinenden moralischen Überzeugungen und
andererseits Orientierung in Fällen bieten können, in denen unsere moralischen Auffassungen
unsicher oder sogar widersprüchlich sind.“8
Der urteilszentrierten Auffassung von Moral entspricht eine bestimmte Auffassung bezüglich
der Moralität von Handlungen. Bekanntlich kann man das moralisch Richtige aus reinem
Eigeninteresse und Vorteilsstreben tun. In einem solchen Fall sprechen wir nicht von einer
moralischen Handlung. Das wirft die Frage auf, was eine Handlung zu einer moralischen
macht. Die übliche Antwort hierauf ist, dass dies der moralische Charakter ihres Motivs ist.9
Handlungen sind moralische, wenn sie moralisch motiviert sind. Dem liegt die folgende
Überlegung zugrunde, die man z.B. in dem erwähnten Buch von Dieter Birnbacher nachlesen
kann. Leitend ist die Unterstellung, dass die Moral es exklusiv mit dem menschlichen
Handeln zu tun hat, d.h. dass es neben dem Begriff des Handelns keinen weiteren Basisbegriff
der Moral gibt. Was auch immer der Moral zuzurechnen ist, es steht in einer Beziehung zum
menschlichen Handeln.10 Handlungen aber sind Gegenstand deontischer Wertungen wie
‚richtig‘, ‚falsch‘, ‚geboten‘, ‚verboten‘ usw. Demgegenüber drückt das Wort ‚moralisch‘ eine
evaluative Wertung aus, im Sinne von ‚moralisch wertvoll‘. Daher kann sich der Ausdruck
Kategorizität, Anspruch auf Allgemeingültigkeit und Universalisierbarkeit. Diese Kennzeichen haben den Status
von notwendigen, nicht von hinreichenden Bedingungen: Wenn ein Urteil ein moralisches Urteil ist, dann weist
es diese vier Kennzeichen auf. Doch gilt nicht der Umkehrschluss, dass ein Urteil ein moralisches Urteil ist,
wenn es diese vier Kennzeichen aufweist.
8
Julian Nida-Rümelin, Theoretische und angewandte Ethik: Paradigmen, Begründungen, Bereiche, in: ders.
(Hg.), Angewandte Ethik. Die Bereichsethiken und ihre theoretische Fundierung, Stuttgart: Alfred Kröner
Verlag, 1996, 3.
9
Birnbacher, aaO. 279ff.
10
AaO. 12f.
4
‚moralisch‘ nicht unmittelbar auf Handlungen beziehen. Vielmehr muss das Moralischsein
einer Handlung von etwas anderem abgeleitet sein, das in den Bereich evaluativer Wertungen
fällt.
Da es gemäss Voraussetzung neben dem Begriff des Handelns keinen weiteren Basisbegriff
der Moral gibt, der als Bezugsgegenstand evaluativer moralischer Wertungen in Betracht
kommt, können sich evaluative moralische Wertungen nur auf etwas beziehen, das in einem
Bezug zum Handeln steht, und das sind nach vorherrschender Meinung11 Handlungsmotive
und handlungsrelevante Einstellungen oder Charakterzüge. In dieser Aufzählung haben die
Motive den engsten Bezug zum Handeln. Durch sie sind Handlungen unmittelbar veranlasst.
Einstellungen und Charakterzüge wie Grosszügigkeit oder Eifersucht stehen demgegenüber in
einem entfernteren, mittelbaren Bezug zum Handeln. Sie disponieren dazu, aus den ihnen
entsprechenden Motiven heraus zu handeln. Für die Bewertung einer Handlung als
‚moralisch‘ ist daher entscheidend, aus welchem Motiv heraus die Handlung erfolgt ist, und
nicht, welche Einstellungen oder Charakterzüge der Handelnde hat. Jemand kann eine
bestimmte moralische Einstellung haben und gleichwohl aktuell aus einem unmoralischen
Motiv heraus handeln. In diesem Fall würde man die Handlung nicht als ‚moralisch‘
qualifizieren.
Wie angedeutet, kann nun freilich das moralisch Richtige und Gebotene aus unterschiedlichen
Motiven heraus getan werden, wozu auch solche gehören können, die wir als eindeutig
unmoralisch bewerten. Die Frage, was es ist, das eine Handlung zu einer moralischen macht,
spitzt sich daher auf die Frage zu, was es ist, das ein Motiv zu einem moralischen macht.
Folgt man der urteilszentrierten Auffassung von Moral, dann ist eine Handlung moralisch
motiviert, wenn ihr Motiv das Urteil ist, dass sie moralisch richtig ist; also wenn sie getan
wird, weil sie moralisch richtig ist. Moralische Motivation besteht hiernach darin, „das
moralisch Richtige um seiner moralischen Richtigkeit willen zu tun, also moralisch zu
handeln, weil es moralisch ist, so zu handeln“12. Nach dieser Sicht gibt es daher eigentlich nur
ein einziges moralisches Motiv, und dieses besteht darin, das moralisch Richtige um seiner
moralischen Richtigkeit willen zu tun. „Was dieses Motiv vor anderen Motiven auszeichnet
ist, dass es den Gedanken an die moralische Richtigkeit des Handelns, zu dem es motiviert,
ausdrücklich enthält. Es motiviert zu bestimmten Handlungen im Namen der Moral und in
11
Birnbacher, aaO. 279ff; William K. Frankena, Analytische Ethik, 27; 77. Friedo Ricken, Allgemeine Ethik,
Stuttgart 42003, 88f.
12
Birnbacher, aaO. 282.
5
keinem anderen Namen.“13 Moralisch ist, was um der Moral willen geschieht. Bei Kant, so
Birnbacher, hat dieses Motiv den Namen „Achtung vor dem Sittengesetz“. Insgesamt ergibt
sich somit im Blick auf die Frage nach der Moralität von Handlungen das Resultat: Es ist die
motivationale Ausrichtung am moralisch Richtigen, die Handlungen zu moralischen
Handlungen macht.
2. Die Fragwürdigkeit der urteilszentrierten Moralauffassung
Wenn man hier für einen Moment innehält und in der Vorstellung Beispiele dafür Revue
passieren lässt, welche Handlungen wir in unserem alltäglichen Leben als moralisch wertvoll
erachten, dann nimmt sich die soeben skizzierte Auffassung ziemlich kontraintuitiv aus, und
zwar weil sie eine drastische Einschränkung des Bereichs des Moralischen zur Folge hat. Die
allermeisten Handlungen, denen wir einen moralischen Wert zubilligen, dürften nach dieser
Auffassung nicht als moralisch wertvoll gelten. Angenommen, jemand kümmert sich um
seinen erkrankten, alleinstehenden Nachbarn, er besucht ihn, kauft für ihn ein, versorgt ihn
mit allem Lebensnotwendigen. Er tut dies alles um seines Nachbarn willen, weil er sieht, dass
dieser auf seine Hilfe angewiesen ist. Würden wir auch nur einen Augenblick zögern, dem
Handeln dieses Mannes moralischen Wert zuzuerkennen? Doch geht es nach der soeben
skizzierten Auffassung, dann hat sein Handeln keinerlei moralischen Wert, und zwar deshalb,
weil er das, was er tut, um seines Nachbarn willen tut statt um der moralischen Richtigkeit
seines Tuns willen. Moralischen Wert hätte sein Handeln nur dann, wenn er das, was er tut,
um der Moral willen tun würde, also weil es moralisch ist, so zu handeln.
Kontraintuitiv ist diese Auffassung jedoch nicht nur aufgrund der Einschränkung des Bereichs
des Moralischen, die sie zur Folge hat. Kontraintuitiv ist sie auch an sich selbst betrachtet.
Wenn wir wählen müssten, welchem Verhalten wir vorrangig die Bewertung ‚moralisch
wertvoll‘ zuzuerkennen geneigt sind, dem Verhalten dessen, der einem erkrankten Nachbarn
beisteht, weil dieser auf seine Hilfe angewiesen ist, oder dem Verhalten dessen, der dasselbe
tut, aber dies deshalb, weil es moralisch ist, so zu handeln: Würden wir nicht dem Verhalten
des Ersteren eindeutig den Vorzug geben? Was uns dazu veranlasst, ist die Tatsache, dass es
dem Zweiten gar nicht um den erkrankten Nachbarn geht, sondern einzig und allein um die
moralische Richtigkeit seines Handelns. Mit welchen Situationen und Lebenslagen, in denen
Menschen sich befinden, er auch immer konfrontiert wird, sein Handeln ist nicht durch diese
Situationen motiviert, sondern allein dadurch, in jeder Situation das moralisch Richtige um
13
AaO. 283.
6
seiner moralischen Richtigkeit willen zu tun. Das ist das einzige moralische Motiv, das er
kennt. Die Menschen, mit denen er es dabei zu tun hat, sind gewissermassen nur das Material,
an dem er dieses Motiv in die Tat umsetzen kann. Aber es geht ihm nicht eigentlich um diese
Menschen, sondern um das Moralischsein seines Handelns. Würden wir einen solchen
Menschen nicht als moralisch rigide betrachten? Verdient sein Handeln auch nur in
abgeschwächtester Form die Bewertung ‚moralisch wertvoll‘? Oder ist es nicht vielmehr so,
dass diese Art von Motivation auf eine Pervertierung des Moralischen hinausläuft?
Was ist falsch an dieser Auffassung von Moral? Es sind im Wesentlichen zwei Irrtümer, auf
die diese Auffassung zurückzuführen ist. Der erste Irrtum besteht in der Meinung, dass der
moralische Wert einer Handlung unabhängig von dieser selbst allein in ihrem Motiv fundiert
ist. Danach müsste auch eine Handlung, die moralisch falsch ist, moralischen Wert haben
können, nämlich wenn sie subjektiv aus dem Motiv heraus erfolgt, das moralisch Richtige um
seiner moralischen Richtigkeit willen zu tun. Das aber ist kontraintuitiv. Wir beurteilen
moralisch falsche Handlungen nicht als moralisch wertvoll oder gut. Moralischer Wert hängt
vielmehr auch von der Richtigkeit oder Falschheit der Handlung selbst ab. Das bedeutet
freilich in der Konsequenz, dass mit evaluativen moralischen Wertungen weder Motive noch
Handlungen bewertet werden, sondern vielmehr etwas aus beidem Zusammengesetztes,
nämlich ein Handeln aus einem Motiv einer bestimmten Art. Für die Bewertung ‚moralisch
wertvoll‘ oder ‚moralisch gut‘ muss beides zusammenkommen, die Richtigkeit der Handlung
und ein entsprechendes Motiv.
Eigentlich ist dies schon im Begriff des Motivs enthalten. Motiv ist etwas nur mit Bezug auf
eine Handlung, für die es Motiv ist. Daher kann ein Motiv gar nicht separat von der Handlung
bewertet werden, für die es Motiv ist. Das wird sofort klar, wenn man sich vergegenwärtigt,
dass das, was das Wort ‚Motiv‘ bezeichnet, nichts anderes ist als eine Antwort auf eine
Warum-Frage: „Warum hat er seinen Freund erschlagen?“ „Er war eifersüchtig.“ Die letztere
Äusserung nennt uns das Motiv, dies freilich nur, wenn sie als Antwort auf die gestellte Frage
begriffen wird. Abgesehen davon handelt es sich um die Schilderung eines Gefühlszustands,
aber nicht um ein Motiv. Wenn wir daher das, was uns diese Antwort zu verstehen gibt,
evaluativ als moralisch schlecht bewerten, dann ist das, was wir bewerten, nicht, dass er
eifersüchtig war, sondern dasjenige, was diese Äusserung als Antwort auf die gestellte Frage
beinhaltet, nämlich dass er seinen Freund aus Eifersucht erschlagen hat. Anders, als dies bei
Birnbacher und anderen Autoren unterstellt wird, wird also bei der evaluativen moralischen
7
Bewertung nicht zuerst ein Motiv bewertet und von dorther abgeleitet die Handlung, sondern
es ist das Handeln aus diesem Motiv, d.h. das Erschlagen des Freundes aus Eifersucht, auf das
sich die Bewertung bezieht.
Das hat weitreichende Konsequenzen für das Verständnis der Moral.14 Bedeutet es doch, dass
der Begriff des Handelns nicht ausreicht, um den Bereich dessen abzudecken, womit die
Moral es zu tun hat. Vielmehr bedarf es eines zweiten Basisbegriffs der Moral, der sich auf
das bezieht, was Gegenstand evaluativer moralischer Wertungen ist. Umgangssprachlich
verwenden wir hierfür in der Regel das Wort ‚Verhalten‘, z.B. in der Rede von eifersüchtigem
oder grosszügigem Verhalten. Während die Rede von Handlungen eine Trennung macht
zwischen der Handlung und ihrem Motiv, ist bei der Rede von eifersüchtigem Verhalten das,
was bei der Rede von Handlungen Motiv ist, nämlich die Eifersucht, essentieller Bestandteil
des Verhaltens. Dies unterscheidet Handlungen als Gegenstand deontischer Wertungen von
Verhalten als Gegenstand evaluativer Wertungen.
Der zweite Irrtum ist eine direkte Folge des ersten. Er besteht in der Meinung, dass es für das
Moralischsein einer Handlung eines besonderen, eben moralischen Motivs bedarf und dass
dieses für alle moralischen Handlungen dasselbe ist, nämlich in Gestalt der Intention, das
moralisch Richtige um seiner moralischen Richtigkeit willen zu tun. Um das Irrige dieser
Meinung in den Blick zu bekommen, sei noch einmal das Beispiel des Mannes herangezogen,
der seinem erkrankten Nachbarn beisteht. Was ist hier das moralisch Richtige? Offensichtlich
doch dies, dass dem Nachbarn in seiner Notlage beigestanden wird. Insofern tut der Mann das
moralisch Richtige. Nehmen wir nun an, dass er dies nicht mit irgendwelchen Hintergedanken
oder aus selbstsüchtigen Motiven tut, sondern einzig und allein deshalb, weil er dem
Nachbarn in seiner Notlage helfen will. Das ist sein Motiv. Dann gilt nicht nur, dass er das
moralisch Richtige tut, sondern auch, dass er das moralisch Richtige um des moralisch
Richtigen willen tut, nämlich um der Hilfe für seinen Nachbarn willen, und dabei denkt er
nicht eine Sekunde an Moral. Es ist dieses sein tatsächliches Verhalten – sein Handeln aus
diesem Motiv, und nicht bloss dieses Motiv – das wir als moralisch wertvoll beurteilen. Wenn
moralische Motivation darin besteht, eine Handlung, die moralisch richtig ist, um ihrer selbst
willen zu vollziehen, dann gibt es nicht nur ein einziges, immer gleiches moralisches Motiv,
wie die hier kritisierte Moralauffassung unterstellt, sondern es gibt so viele moralische
14
Vgl. hierzu Johannes Fischer, Die religiöse Dimension der Moral als Thema der Ethik, in: ThLZ 137. Jg.
(2012), 388-406, bes. 389ff. Ders., Verstehen statt Begründen. Warum es in der Ethik um mehr als nur um
Handlungen geht, Stuttgart: Kohlhammer, 2012, 103ff.
8
Motive, wie es moralisch richtige Handlungen gibt: einem erkrankten Nachbarn helfen, durch
eine Organspende Leben retten, einem Flüchtling bei der Integration helfen usw..
Letztlich geht es hier um einen Doppelsinn, den der Ausdruck ‚das moralisch Richtige um des
moralisch Richtigen willen tun‘ hat. Er kann bedeuten: Es deshalb tun, weil es moralisch
richtig ist. Und er kann bedeuten: Es um des willen tun, weshalb es moralisch richtig ist, z.B.
weil damit einem Menschen in hilfloser Lage geholfen wird. Im ersten Fall liegt das Motiv für
die Handlung in deren Bewertung als moralisch richtig: Man handelt so, weil es moralisch ist,
so zu handeln. Dies entspricht der urteilszentrierten Moralauffassung, wonach Sichmoralisch-Orientieren heisst: Sich an moralischen Bewertungen orientieren. Im zweiten Fall
liegt das Motiv für die Handlung in dem, was die Situation erfordert, mit der der Handelnde
konfrontiert ist: Er handelt so, weil die Situation danach verlangt. Wie gesagt, muss hier der
Handelnde nicht einen Augenblick an Moral denken, und gleichwohl tut er das moralisch
Richtige um des moralisch Richtigen willen.
3. Bewerten und Handeln: zwei Perspektiven
Die Tatsache, dass jemand das moralisch Richtige um des moralisch Richtigen willen tun
kann, ohne auch nur eine Sekunde an Moral zu denken, verweist auf den für alles Weitere
entscheidenden Punkt. Um das Eigentümliche der Moral in den Blick zu bekommen, muss
man zwischen zwei Perspektiven unterscheiden. Zum einen ist dies die Perspektive, die
derjenige einnimmt, der ein Handeln oder Verhalten moralisch bewertet, es also als moralisch
richtig oder falsch, gut oder schlecht, moralisch wertvoll usw. beurteilt. Sie soll im Folgenden
‚Bewertungsperspektive‘ heissen. Bei dieser Perspektive sind der Handelnde, die
Handlungssituation und die Handlung im Blick, und das manifestiert sich in Urteilen von der
Art: So zu handeln ist in einer solchen Situation moralisch richtig; oder: sich so in einer
solchen Situation zu verhalten ist moralisch gut. In dieser Bewertungsperspektive hat die
Sprache der Moral ihren Sitz. Vor allem ist in dieser Perspektive der intersubjektive Charakter
der Moral angelegt, insofern mit moralischen Urteilen ein intersubjektiver Anspruch auf
Wahrheit15 erhoben wird.
15
Manche Autoren fassen diesen Anspruch als einen Anspruch auf Allgemeingültigkeit auf, so Birnbacher, aaO.
24ff. Dagegen lässt sich einwenden, dass mit Urteilen lediglich ein Anspruch auf Wahrheit erhoben wird. Dieser
ist zu unterscheiden von einem Anspruch auf Geltung für andere, also auf Allgemeingültigkeit, der mit
Behauptungen oder Thesen erhoben wird. Vgl. hierzu Johannes Fischer, Wahrheit und Geltung. Zur Frage, ob
mit moralischen Urteilen ein Anspruch auf Allgemeingültigkeit erhoben wird, www.profjohannesfischer.de
9
Zum anderen ist dies die Perspektive, die derjenige einnimmt, der handelt bzw. sich verhält,
und dies vielleicht auf eine Weise, die aus der Bewertungsperspektive das Urteil ‚moralisch
richtig‘, ‚moralisch wertvoll‘ oder ‚moralisch gut‘ auf sich zieht. Sie soll im Folgenden
‚Handlungsperspektive‘ heissen. Was ist in dieser Perspektive im Blick? Diese Frage führt zu
dem Punkt, an dem sich für das Verständnis der Moral alles entscheidet, nämlich ob ein
Handeln bzw. Verhalten, damit es aus der Bewertungsperspektive betrachtet moralischen
Wert hat, sich auch selbst in der Bewertungsperspektive orientieren, d.h. an moralischen
Urteilen ausrichten muss. Es ist diese Meinung, die durch die urteilszentrierte Auffassung der
Moral nahegelegt wird. Handlungs- und Bewertungsperspektive fallen dann zusammen. Nur
dann, wenn es sich tatsächlich so verhält, haben diejenigen recht, die meinen, die ethische
Anleitung zu moralisch richtigem Verhalten erfolge über die Aufstellung und Begründung
von moralischen Urteilen, die sich an Handelnde richten, damit sie ihr Handeln hieran
orientieren. Im Folgenden soll für die entgegengesetzte These argumentiert werden, nämlich
dass Moralität geradezu an die Bedingung geknüpft ist, dass das betreffende Handeln bzw.
Verhalten nicht Moralität anstrebt, also nicht an moralischen Wertungen orientiert ist. Nur der
verhält sich moralisch, dem es gerade nicht um Moral geht. Statt Handlungs- und
Bewertungsperspektive ineinander zu schieben kommt es für ein adäquates Verständnis der
Moral gerade darauf an, beide Perspektiven auseinander zu halten und solchermassen die
Handlungsperspektive zu entmoralisieren.
Um dies zu erkennen, muss man sich vergegenwärtigen, dass die Schwierigkeiten, vor die
sich die Versuche gestellt sehen, das Moralische an der Moral zu verstehen, wesentlich damit
zu tun haben, dass dabei in der Regel allein die Bewertungsperspektive ins Auge gefasst wird.
Das ist die Folge der urteilszentrierten Auffassung der Moral. Doch werden wir niemals
begreifen, was im Unterschied zu anderen Urteilen das Spezifische eines moralischen Urteils
ausmacht, solange unser Blick nur auf die Bewertungsperspektive fixiert bleibt. Denn an der
äusseren Gestalt des Urteils oder an den Wörtern ‚gut‘, ‚schlecht‘, ‚richtig‘ oder ‚falsch‘, die,
wie gesagt, auch in nichtmoralischen Kontexten vorkommen, lässt sich das nicht feststellen.
Hier liegt nicht zuletzt das Problem einer sprachanalytischen Zugangsweise zur Moral, die
über die Untersuchung der Bedeutung derartiger Wörter dem Phänomen der Moral auf die
Spur zu kommen sucht. Um das spezifisch Moralische in den Blick zu bekommen, müssen
wir vielmehr auch die Handlungsperspektive ins Auge fassen. Um dies zu sehen, muss man
sich lediglich vergegenwärtigen, dass nicht jedes beliebige Handeln oder Verhalten – man
denke an Holzhacken oder an das Lösen einer Rechenaufgabe – auch moralisch bewertet
10
werden kann (oder doch nur unter sehr speziellen Umständen). Vielmehr muss ein Handeln
oder Verhalten von einer bestimmten Art sein, und es muss in ein bestimmtes situatives
Setting eingebettet sein, damit Bewertungen wie ‚moralisch gut‘ oder ‚moralisch falsch‘
adäquat sind. Die Frage, was ein Urteil zu einem moralischen Urteil macht, lässt sich daher
auf die Frage zuspitzen: Wie muss ein Handeln oder Verhalten sowie dessen situatives Setting
geartet sein, damit bei seiner Beurteilung als gut, schlecht, richtig oder falsch diese Ausdrücke
einen moralischen Sinn haben und dementsprechend die betreffenden Urteile moralische
Urteile sind? So begriffen wird das eigentümlich Moralische an der Moral, also jener
Sinngehalt, den wir mit dem Wort ‚moralisch‘ verbinden, durch das Zusammenspiel von
Bewertungs- und Handlungsperspektive konstituiert. Ohne Wertungen in Gestalt von Wörtern
wie ‚gut‘ oder ‚richtig‘ würde es keine Moral geben. Aber ebenso wenig würde es dies, wenn
es nicht Handeln und Verhalten gäbe, bei dessen Bewertung als richtig oder gut diese Wörter
jenen spezifischen Sinn annehmen, den wir als moralisch begreifen. Wie George Edward
Moore mit seinem Argument der offenen Frage gezeigt hat, können wir diesen Sinn nicht in
Form einer Definition einfangen. Aber wir können sehr wohl nach den Bedingungen fragen,
die gegeben sein müssen, damit die Wörter ‚richtig‘ oder ‚gut‘ eine moralische Tönung
annehmen. Und diese Bedingungen betreffen die Handlungsperspektive.
Betrachten wir dazu noch einmal unser Beispiel. Wenn man jenen Mann fragen würde,
warum er seinem Nachbarn beisteht, würde er wohl kaum zur Antwort geben: „Es ist
moralisch geboten, einem Menschen in solcher Lage beizustehen.“ Diese Antwort läge auf
der Linie der urteilszentrierten Auffassung von moralischer Motivation, bei der die
moralische Bewertungsperspektive zur Handlungsperspektive wird. Der Mann würde
vielmehr sagen: „Mein Nachbar ist aufgrund seiner Erkrankung auf Hilfe angewiesen“ oder:
„Man kann doch einen Menschen in einer solchen Lage nicht allein lassen“. Damit gibt er zu
verstehen, dass es die Situation seines Nachbarn ist, die ihn zu seinem Handeln bewegt, und
er gibt dies zu verstehen, ohne den von der Situation ausgehenden Handlungsimpuls als
solchen in Sprache zu fassen, also in Ausdrücke wie ‚sollen‘, ‚Pflicht‘, ‚richtig‘, ‚geboten‘
usw.. Der dänische Theologe, Ethiker und Religionsphilosoph Knud Løgstrup hat diesen
vorsprachlichen Charakter der Anmutung oder des Anspruchs, der von der Präsenz erlebter
Situationen an unser Handeln und Verhalten ausgehen kann, so ausgedrückt, dass die
„ethische Forderung“, wie er diesen Anspruch nennt, „stumm“16 ist. Das bedeutet, dass bei
der Beurteilung des Handelns oder Verhaltens jenes Mannes als richtig, geboten, gesollt oder
16
Knud Eilert Løgstrup, Die ethische Forderung, 2. unveränderte Auflage, Tübingen 1968, 23.
11
gut etwas in der Sprache der Moral artikuliert wird, hinsichtlich dessen sich der Mann selbst
gerade nicht anhand der Sprache der Moral orientiert. Dass er sich nicht an moralischen
Wertungen orientiert, sondern an der Situation, mit der er konfrontiert ist, ist geradezu
Bedingung dafür, dass sein Verhalten in der Bewertungsperspektive als moralisch wertvoll
oder gut qualifiziert werden kann. Denn wie gesagt: Das Verhalten dessen, der sich immer nur
in der Sprache der Moral orientiert und dem es in jeder Situation oder Lebenslage lediglich
darum geht, das moralisch Richtige um seiner moralischen Richtigkeit willen zu tun, wobei
Menschen und Dinge lediglich das Material sind, um dieses Motiv in die Tat umzusetzen,
betrachten wir nicht als moralisch wertvoll, sondern als moralisch rigide.
Nicht in der Bewertungsperspektive, sondern in der Handlungsperspektive ist nun auch
dasjenige strukturell angelegt, was in der Bewertungsperspektive mit der Wendung ‚das
moralisch Richtige um des moralisch Richtigen willen tun‘ ausgedrückt wird und worin das
moralisch Wertvolle und Gute besteht. Es war von der Anmutung bzw. von dem Anspruch die
Rede, der von der erlebten Präsenz einer Situation ausgehen kann und der nach einer Reaktion
oder Antwort verlangt. Diese Antwort besteht nicht schon in einem entsprechenden Handeln,
also – um bei unserem Beispiel zu bleiben – nicht schon darin, dass jener Mann seinem
Nachbarn die nötige Hilfe zuteilwerden lässt. Denn das könnte aus unterschiedlichsten, z.B.
auch eigennützigen Motiven erfolgen. Von einer Antwort auf den von der Situation
ausgehenden Anspruch kann nur dann die Rede sein, wenn das Motiv für sein Handeln in
diesem Anspruch liegt, d.h. wenn er nicht nur das tut, was die Situation erfordert, sondern
wenn er es auch deshalb tut, weil die Situation es erfordert. Es ist genau dies, was der Mann
zu verstehen gibt, wenn er auf die Frage, warum er seinem erkrankten Nachbarn hilft, zur
Antwort gibt: „Er ist auf Hilfe angewiesen.“ Diese Antwort enthält eine zweifache
Information, entsprechend dem versteckten Doppelsinn dieser Frage (‚Warum hilfst Du
ihm?‘; ‚Warum hilfst Du ihm?‘): Was er tut, ist das, wonach die Situation verlangt; und er tut
es, weil die Situation danach verlangt. Die erste Information bezieht sich auf den Grund
seines Handelns, die zweite bezieht sich auf sein Motiv.
Hier liegt die eigentliche Wurzel dessen, was wir in der Bewertungsperspektive ‚moralisch‘,
‚moralisch wertvoll‘, ‚moralisch gut‘ usw. nennen und was in der Wendung ‚das moralisch
Richtige um des moralisch Richtigen willen tun‘ seinen Ausdruck findet: Immer geht es um
ein Verhalten, das auf die Anmutung, den Anspruch, den Anruf – oder wie immer man es
nennen mag: Diese Ausdrücke verweisen ja auf eine Verlegenheit, nämlich dass hier etwas
12
sprachlich Unartikuliertes, „Stummes“, sprachlich eingefangen werden soll – einer in ihrer
Präsenz erlebten Situation antwortet, und zwar indem es erstens das realisiert, wonach die
Situation verlangt (weshalb die betreffende Handlung moralisch richtig oder geboten ist), und
indem es zweitens dies realisiert, weil die Situation danach verlangt (weshalb das betreffende
Verhalten moralisch gut ist).
Ob in diesem Zusammenhang der Ausdruck ‚moralisch wertvoll‘ glücklich ist, ist zu fragen.
Ich habe diesen Ausdruck von Dieter Birnbachers Überlegungen zur moralischen Motivation
übernommen. Wie gesagt, ist im Rahmen der urteilszentrierten Moralauffassung eine
Handlung moralisch wertvoll, wenn und weil sie um der Moral willen geschieht. Wenn man
diese Moralauffassung jedoch für falsch hält und hinter sich lässt, dann verliert auch der
Ausdruck ‚moralisch wertvoll‘ seinen Sinn. Oder es lässt sich ihm ein Sinn nur in der Weise
beilegen, dass er als gleichbedeutend mit dem Ausdruck ‚moralisch gut‘ begriffen wird. Es
gibt dann nicht neben „nur“ moralisch gutem Verhalten auch noch solches Verhalten, das
über sein moralisches Gutsein hinaus zusätzlich moralisch wertvoll ist, nämlich weil es um
der Moral willen geschieht. Es gibt dann lediglich moralisch gutes Verhalten.
4. Über den Sinn moralischer Urteile
Nun könnte das bisher Ausgeführte die Frage aufwerfen, warum es überhaupt Moral braucht.
Wenn dasjenige Handeln und Verhalten, das aus der Bewertungsperspektive betrachtet
moralisch richtig oder gut ist, gerade nicht an moralischen Wertungen orientiert ist, sondern
an den Situationen, mit denen uns das Leben konfrontiert, und an den hiervon ausgehenden
Ansprüchen und Herausforderungen: Ist dann für die Orientierung des Handelns und
Verhaltens die Moral nicht entbehrlich? Wozu braucht es dann überhaupt moralische
Wertungen und Urteile, und welche Funktion kann die Bewertungsperspektive dann noch
haben?
Die Antwort auf diese Frage liegt in etwas, das in den bisherigen Ausführungen nur am Rande
erwähnt wurde, nämlich in der Notwendigkeit intersubjektiver Verständigung über Handeln
und Verhalten. Dass es Moral gibt, hat seine Erklärung darin, dass es für das menschliche
Zusammenleben eine gemeinsame Grundlage braucht und dass Menschen sich deshalb
darüber verständigen müssen, in welchen Situationen welches Handeln und Verhalten
angemessen ist. Wo immer sie dies tun, begeben sie sich gemeinsam in die
Bewertungsperspektive und nehmen Handeln und Verhalten aus dieser Perspektive in den
13
Blick, um es als angemessen oder unangemessen, richtig oder falsch, gut oder schlecht zu
beurteilen.
Von entscheidender Bedeutung für das Verständnis der Moral ist hier allerdings, aufgrund
welcher Kriterien sie dies tun. Nach dem zuvor Gesagten ist ein Handeln oder Verhalten dann
moralisch richtig oder gut, wenn es eine adäquate response auf den Anspruch ist, der von der
betreffenden Situation ausgeht. Das Urteil, dass eine Handlung moralisch richtig ist, besagt so
begriffen nichts anderes, als dass die betreffende Situation Grund gibt, so zu handeln. Um in
der Bewertungsperspektive einen anderen Menschen von der moralischen Richtigkeit einer
Handlung zu überzeugen, gibt es daher keinen anderen Weg, als ihm die betreffende Situation
so vor Augen zu stellen, dass auch er wahrzunehmen imstande ist, dass die Situation Grund
gibt, so zu handeln. Man kann ihn z.B. auf bestimmte Aspekte der Situation hinweisen, die
ihm vielleicht bisher entgangen sind und die ein entsprechendes Handeln begründen. Oder
man kann ihn mit der Frage konfrontieren, was eine bestimmte Situation oder Lebenslage für
einen Menschen bedeutet17: Was bedeutet es für einen Menschen, in völliger Hilflosigkeit
aufgrund einer schweren Erkrankung sich selbst überlassen zu sein? Wer sich empathisch in
eine solche Situation hineinversetzt, wird empfänglich für den hiervon ausgehenden Impuls,
einen Menschen in solcher Lebenslage nicht allein zu lassen. Wo immer man sich in der
Bewertungsperspektive
in
dieser
Weise
verständigt,
kann
dies
daher
in
der
Handlungsperspektive den Blick auf Situationen und Lebenslagen und auf die hiervon
ausgehenden Impulse und Ansprüche an das eigene Handeln beeinflussen und verändern. Das
ist der wichtige Beitrag, den moralische Diskurse für die Orientierung des Handelns und
Verhaltens leisten können: Sie können den Blick auf die Wirklichkeit verändern und für
Situationen und Lebenslagen sensibilisieren, denen Menschen ausgesetzt sind. Aktuell ist hier
etwa an die Situation und die Schicksale von Flüchtlingen und Migranten zu denken und an
die Debatten hierzulande über deren Aufnahme.
Das genaue Gegenteil solcher Sensibilisierung ist allerdings dann der Fall, wenn der Beitrag
der Bewertungsperspektive für die Orientierung im Handeln so aufgefasst wird, als ginge es
darum, moralische Urteile aufzustellen zu dem Zweck, dass diese selbst, qua Urteile, als
Handlungsgründe fungieren. In diesem Fall werden moralische Richtigkeitsurteile nicht als
Urteile über Handlungsgründe aufgefasst – im soeben erläuterten Sinne, nämlich als Urteile
über die betreffenden Situationen, dass diese Grund geben so zu handeln –, sondern sie
17
Vgl. hierzu Christopher Cordner, Ethical Encounter. The Depth of Moral Meaning, Swansea Studies in
Philosophy, 2002.
14
werden selbst als Handlungsgründe in Anspruch genommen. Der Grund, dem erkrankten
Nachbarn zu helfen, liegt dann nicht in dessen Situation, sondern in dem normativen Urteil
‚Es ist moralisch geboten, einem Menschen in hilfloser Lage beizustehen‘, das in Verbindung
mit dem deskriptiven Urteil ‚Herr Müller befindet sich in hilfloser Lage‘ die conclusio ergibt:
‚Es ist moralisch geboten, Herrn Müller beizustehen‘. Wie man sich an diesem Syllogismus
klar machen kann, beruht diese Moralauffassung auf einer dualistischen Ontologie, der
zufolge die Wirklichkeit sich aus zwei Arten von Gegebenheiten zusammensetzt, nämlich aus
Tatsachen und Werten. Die Erkrankung des Nachbarn Herrn Müller sowie dessen
Hilflosigkeit sind wertneutrale Tatsachen, wie sie Gegenstand reiner Beschreibungen sind.
Die Vorstellung, es ginge von Herrn Müllers Situation so etwas wie eine Anmutung oder ein
Anspruch an das Handeln und Verhalten aus, ist im Rahmen dieser Ontologie abwegig. Erst
wenn zu der wertneutralen Tatsache dieser Situation eine Norm hinzukommt in Gestalt des
Gebots, einem Menschen in einer solchen Situation zu helfen, wird diese Situation handlungsund verhaltensrelevant. Es ist diese Moralauffassung und Ontologie, welche dem
regelethischen Paradigma zugrunde liegt, wie es in dem früheren Zitat von Nida-Rümelin zum
Ausdruck kam. Dieses begreift die ethische Aufgabe der Anleitung zu moralisch richtigem
Handeln in der Weise, dass es gilt, im Rekurs auf übergeordnete Prinzipien, Kriterien oder
letztinstanzlich auf ethische Theorien argumentative Begründungen für moralische Urteile
über die Richtigkeit von Handlungen zu entwickeln, um solchermassen zu einer rational
gesicherten Erkenntnis dieser Richtigkeit zu befähigen. Im Fokus steht hier nicht die
Wirklichkeit, wie Menschen sie in ihrer Präsenz erleben und erleiden, sondern es sind
gedankliche Konstruktionen nach Art des oben stehenden Syllogismus, aus denen die
moralische Orientierung abgeleitet werden soll.
Was hier geschieht, ist eine Verlagerung des ethischen Denkens vom Praktischen ins
Theoretische. An die Stelle praktischer Gründe, d.h. solcher, die Grund geben für ein
bestimmtes Handeln, treten theoretische Gründe, d.h. solche, mit denen die Wahrheit von
Urteilen begründet wird. Ein Beispiel für einen praktischen Grund ist die Situation der
Verletzten bei einem Autounfall, die Grund gibt für entsprechende Hilfeleistungen; ein
Beispiel für einen theoretischen Grund liefert der soeben genannte Syllogismus. Überhaupt
sind Argumente theoretische Gründe. Die Vorstellung, Ethik habe die Aufgabe einer
argumentativen Begründung der Moral, macht aus der Ethik ein rein theoretisches
Unterfangen. Praktischen und theoretischen Gründen entsprechen unterschiedliche Vermögen
oder Fähigkeiten. Bei praktischen Gründen ist dies die Klugheit, d.h. der Sinn dafür, worauf
15
es in einer Situation ankommt. Bei theoretischen Gründen ist dies demgegenüber der
Scharfsinn, d.h. die Fähigkeit zu rationalen gedanklichen Ableitungen und Konstruktionen.
Der Grundeinwand gegen das Projekt einer argumentativen Moralbegründung besteht in der
Frage, ob es sich bei dem solchermassen Begründeten denn überhaupt um Moral handelt. Von
Aristoteles über Hume bis hin zur heutigen empirischen Moralforschung in Psychologie und
Neurobiologie gibt es einen breiten Konsens darüber, dass die Moral eine wesentliche
Grundlage in den menschlichen Emotionen hat. Wenn dies so ist, dann kann ein rein
syllogistisch abgeleitetes Urteil nicht beanspruchen, eine moralische Einsicht auszudrücken.
Klassisch hat Harold Arthur Prichard diese Kritik in seinem Aufsatz „Beruht die
Moralphilosophie auf einem Irrtum?“ vorgetragen.18 Prichards These ist, „dass wir nicht
durch eine Argumentation, d.h. durch nicht-moralische Überlegungen zur Erkenntnis einer
<moralischen> Verpflichtung gelangen“19.
Letztlich zielt das Projekt einer argumentativen Moralbegründung darauf ab, die Moral von
der Lebenswirklichkeit mit ihren Anmutungen und Ansprüchen abzukoppeln und sie zu etwas
zu machen, das ohne Rest in der Sphäre der Intersubjektivität der moral community verankert
ist. An die Stelle der Nötigung durch praktische Gründe20 tritt die Nötigung durch
theoretische Gründe in Gestalt des „zwanglosen Zwangs“21 des besseren Arguments.
Praktische Gründe liegen ausserhalb der Kontrolle der moral community, und das macht sie
verdächtig. Sie scheinen – so eine verbreitete Kritik, wie sie auch gegen Prichard vorgebracht
worden ist22 – durch blosse Gefühle gesteuert und deshalb irrational zu sein. Dass auch sie
Gründe sind, über die man sich intersubjektiv verständigen kann, wie dies oben erläutert
wurde, das liegt ausserhalb des Rasters dieses Denkens, für das nur Argumente als Gründe
zählen. Die Kehrseite dieser einseitigen Fokussierung auf argumentative Rationalität ist eine
Desensibilisierung in Bezug auf die Lebenswirklichkeit und deren Ansprüche, d.h. die
Vernachlässigung der Bildung und Formung der emotionalen Grundlagen der Moral.
18
Zur Kritik vgl. Harold Arthur Prichard, Beruht die Moralphilosophie auf einem Irrtum?, in: Günther
Grewendorf/ Georg Meggle (Hg.), Seminar: Sprache und Ethik. Zur Entwicklung der Metaethik, Frankfurt a.M.
1974, 61-82. Vgl. zu Prichards Position auch Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 7, 1989, 429.
19
Prichard, aaO. 71.
20
Vgl. zu dieser Art der Nötigung Peter Winch, Wer ist mein Nächster?, in: ders., Versuchen zu verstehen,
Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1992, 213-230.
21
Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Band 1: Handlungsrationalität und gesellschaftliche
Rationalisierung, Frankfurt 1981, 52f u.ö.
22
Kurt Bayertz, Einleitung: Warum moralisch sein?, in: ders. (Hg.), Warum moralisch sein?, Paderborn/
München/ Wien/ Zürich 2002, 9-34, 18. Zur Kritik dieser Kritik vgl. Johannes Fischer, Verstehen statt
Begründen. Warum es in der Ethik um mehr als nur um Handlungen geht, Stuttgart: Kohlhammer, 2012, 38f.
16
In einer Hinsicht fügt die Bewertungs- bzw. Verständigungsperspektive der Orientierung im
Handeln ein wichtiges Element hinzu, und das ist das Element der Generalisierung und der
Kohärenz. Es ist ein Kennzeichen moralischer Urteile, dass sie mit Generalisierung oder, wie
man auch sagt, mit Universalisierung verbunden sind.23 Das hat mit der Urteilsstruktur zu tun.
Wenn jemand sagt ‚Diese Handlung ist in dieser Situation moralisch richtig (und in jener
nicht)‘ und wenn er dann gefragt wird, warum das so ist, dann muss er in seiner Antwort diese
Handlung und diese Situation so von anderen Handlungen und Situationen unterscheiden,
dass dadurch plausibel wird, warum diese Handlung in dieser Situation richtig ist und warum
dies für andere Handlungen und Situationen nicht gilt. Die Unterscheidungsmerkmale aber
definieren Klassen von Handlungen und Situationen, auf die sie ebenfalls zutreffen, so dass
auch in Bezug auf diese Handlungen und Situationen gesagt werden muss, dass es moralisch
richtig ist, so zu handeln. So kommt es zur Generalisierung, und in diesem Sinne müssen die
Urteile eines moralischen Überzeugungssystems untereinander kohärent sein. Allerdings ist
Kohärenz nur eine notwendige und keine hinreichende Bedingung für die Wahrheit der
Urteile eines moralischen Überzeugungssystems. Ihre Wahrheit kann daher nicht
urteilsimmanent begründet werden, sondern nur mit Bezug auf die praktischen Gründe, die sie
zum Gegenstand haben.
5. Moralische Urteile als Rechtfertigungsinstanzen
Beim Projekt einer argumentativen Moralbegründung ist die Vorstellung leitend, dass das
moralische Handeln seine Begründung in moralischen Urteilen hat und dass die Aufgabe der
Ethik dementsprechend darin besteht, solche Urteile argumentativ zu begründen.
Demgegenüber ist es die These der hier vorgetragenen Überlegungen, dass moralische
Richtigkeitsurteile Urteile über Handlungsgründe sind, aber dass sie nicht selbst, als Urteile,
Handlungsgründe sind. Als Urteile haben sie vielmehr eine andere Funktion, nicht die der
Begründung des Handelns, sondern die Funktion von Instanzen, vor denen Handlungen
gerechtfertigt werden müssen. Das Handeln des Mannes in unserem Beispiel hat seine
Begründung nicht in einem moralischen Urteil, sondern in der Situation seines Nachbarn, die
praktisch Grund gibt, diesem zu helfen. Würde er allerdings seinem Nachbarn nicht beistehen,
dann würde er sich in die Situation bringen, diese Unterlassung rechtfertigen zu müssen, und
zwar rechtfertigen vor dem moralischen Urteil, dass es geboten ist, einen Menschen in einer
solchen Situation nicht allein zu lassen. In diesem Sinne können moralische Urteile, Normen
und Prinzipien als Rechtfertigungsinstanzen für Handeln und Verhalten fungieren. In ihnen
23
Birnbacher, aaO. 31ff.
17
begegnet die intersubjektive Dimension der Moral in Gestalt der moral community, die sich
auf diese Urteile und Prinzipien verständigt hat, welche sie gegenüber abweichendem
Handeln und Verhalten ihrer Mitglieder in Stellung bringt.
Diese Funktion moralischer Urteile als Rechtfertigungsinstanzen sei noch an einem anderen
Beispiel illustriert, bei dem es um eine Klasse von Entscheidungen und Handlungen geht, die
moralischen Bewertungen und Begründungen schlechterdings entzogen sind. Insofern kommt
hier die Moral an eine definitive Grenze. Gemeint sind Einzelfallentscheidungen, die sich der
Verallgemeinerung entziehen und die sich somit auch einer moralischen Bewertung
entziehen, eben weil moralische Bewertungen mit Generalisierungen verbunden sind. Zur
Illustration mag ein Beispiel dienen, das Ihnen wohl allen bekannt sein dürfte. Wenn man
sagt: „Das Handeln des stellvertretenden Frankfurter Polizeipräsidenten Wolfgang Daschner
im Entführungsfall Jakob von Metzler war moralisch richtig“, dann macht man aufgrund
dieses generalisierenden Charakters moralischer Urteile nicht nur eine Aussage über das
Handeln von Wolfgang Daschner in diesem Entführungsfall, sondern man macht eine
Aussage über die betreffende Handlungsweise in Entführungsfällen dieser Art: „Immer wenn
ein Kind entführt wird, ist es moralisch richtig, dem Entführer mit Folter zu drohen, wenn
anders das Leben des Kindes nicht gerettet werden kann.“ Das freilich hat die Implikation,
dass an die Stelle der Ächtung der Folter und Folterdrohung deren moralische Akzeptanz tritt.
Das ist die Konsequenz der moralischen Bewertung einer solchen Entscheidung, und dasselbe
gilt natürlich für jede moralische Begründung einer solchen Entscheidung. Mit ihr wird die
Entscheidung in ein generelles Urteil überführt. Hier liegt das Fragwürdige einer Sichtweise,
die derartige Dilemmakonflikte von vorneherein so auffasst, als ginge es darum, nach
moralisch begründeten Lösungen zu suchen, also solche Konflikte aus der moralischen
Bewertungsperspektive zu analysieren. Ich verweise nur auf das bekannte Trolley-Beispiel
und auf Bernard Williams‘ Beispiel von Jim und Pedro – Beispiele, die im Ethikunterricht
gerne dazu verwendet werden, Moraltheorien an ihnen durchzuspielen. Auch hier steht im
Hintergrund die Auffassung, dass Ethik Reflexion auf Moral ist. Da diese Beispiele vor
ethische Fragen stellen, muss es sich folglich um moralische Probleme handeln.
Demgegenüber erweist sich gerade im Blick auf derartige Dilemmakonflikte die
Unterscheidung zwischen Handlungs- und Bewertungsperspektive als hilfreich. Wenn man
sich in die Handlungsperspektive Wolfgang Daschners versetzt, dann hat er nicht aufgrund
eines generellen moralischen Urteils getan, was er getan hat, sondern aufgrund der Nötigung
18
der singulären Situation, mit der er konfrontiert war. Er wollte nicht allgemein „ein Kind“,
sondern er wollte dieses Kind, Jakob von Metzler, retten. Seine Entscheidung, mit Folter
drohen zu lassen, war eine Entscheidung unter der Nötigung dieser singulären Situation.
Insofern kann man dieser Entscheidung nur gerecht werden, wenn man sich für deren
Beurteilung in Daschners Situation und Handlungsperspektive versetzt und sich fragt, wie
man selbst in dieser Situation gehandelt hätte. Wenn man dann zu dem Urteil gelangt, dass
man in dieser Situation genauso gehandelt hätte, dann ist dies nicht dasselbe wie das aus der
moralischen Bewertungsperspektive getroffene Urteil, dass Daschner moralisch richtig
gehandelt hat. Vielmehr entzieht sich Daschners Entscheidung einer moralischen Bewertung
und Begründung, will man nicht die moralische Akzeptanz von Folterdrohungen befördern.
Dies
ist
ein
Beispiel
für
Entscheidungen
und
Handlungen,
die
nur
aus
der
Handlungsperspektive adäquat nachvollzogen werden können und die sich der moralischen
Bewertungen und Begründungen entziehen.
Die Moral in Gestalt moralischer Urteile kommt hier in anderer Weise ins Spiel, nämlich
nicht als Begründungsinstanz für das Handeln in solchen Ausnahmesituationen, sondern als
Rechtfertigungsinstanz, vor der auch die Handlung Wolfgang Daschners gerechtfertigt
werden muss. Konkret geht es um die Norm, dass auch ein Straftäter nicht mit
Folterdrohungen erpresst werden darf, eine Norm, die durch das Handeln von Daschner
übertreten worden ist. Diese Übertretung muss vor dieser Norm gerechtfertigt werden, und
das kann nur geschehen durch den Verweis auf die Besonderheit der Umstände und den darin
liegenden Notstand, d.h. indem man sich in die Handlungsperspektive begibt und die
Handlung in dieser Perspektive nachvollzieht.
Es gibt andere Beispiele, die dieselbe Struktur aufweisen. So sind auch die Kriterien des
gerechten Krieges nicht Begründungen für Kriege, sondern Rechtfertigungsinstanzen, vor
denen Entscheidungen für Kriegshandlungen gerechtfertigt werden müssen. Und wie im
Daschner-Beispiel können auch hier Fälle nicht ausgeschlossen werden, bei denen aufgrund
der Besonderheit der Umstände und dem darin liegenden Notstand eine militärische
Intervention gerechtfertigt sein kann, obgleich nicht alle Kriterien erfüllt waren, sondern
einzelne übertreten worden sind. Ein anderes Beispiel sind arztethische Richtlinien, die sich
gerade durch ihre Funktion als Rechtfertigungsinstanzen von den Regeln der ärztlichen Kunst
unterscheiden. Letztere haben einen begründenden Status: Wenn ein somatischer oder
psychischer Zustand von dieser Art gegeben ist, dann ist ein ärztliches Handeln von jener Art
19
angezeigt. Arztethische Richtlinien hingegen schreiben nicht vor, an welchen Arten von
Patienten welche Arten von Handlungen ausgeführt werden sollen, sondern sie lassen dem
Arzt die Freiheit der Orientierung an der je besonderen Situation und dem individuellen Wohl
des Patienten. Es ist dies der Würde des Patienten geschuldet, dass er insbesondere da, wo es
um existenzielle Gefährdungen und Leben und Tod geht, nicht bloss als Exemplar oder „Fall“
einer Klasse, sondern als die Person mit ihren individuellen Lebensperspektiven und
Wünschen behandelt wird, die er ist. Doch was immer der Arzt tut, es muss vor den
arztethischen Richtlinien gerechtfertigt werden können.
6. Gesetzesmoral und Gesetzesethik: ein Plädoyer für ihre Überwindung
Ich habe in meinen Ausführungen zwei Auffassungen von Moral gegenübergestellt. Die eine
war jene, die ich die urteilszentrierte Auffassung genannt habe. Danach stehen im Mittelpunkt
der Moral moralische Urteile. Sich moralisch orientieren heisst: sich an moralischen Urteilen
orientieren. Aus diesen bezieht das moralische Handeln seine Gründe und Motive. Das
moralisch Richtige ist zu tun, weil es moralisch richtig ist. Das bedeutet für die Ethik, dass sie
in Wahrnehmung ihrer Aufgabe, zu moralischer Orientierung zu befähigen, moralische
Urteile aufstellen und Kriterien bzw. Prinzipien entwickeln muss, aus denen sich die
Gültigkeit solcher Urteile begründen lässt. Diese Auffassung von Moral und Ethik ist einseitig
an jener Perspektive orientiert, die ich die Bewertungsperspektive genannt habe. Es ist diese
Auffassung, aus der die Meinung ihre vordergründige Plausibilität bezieht, dass Ethik
Reflexion auf Moral ist. Im Fokus der ethischen Reflexion scheinen moralische Wertungen zu
stehen.
Die andere Auffassung von Moral, die ich in meinen Ausführungen stark zu machen versucht
habe, beruht auf der Unterscheidung zwischen Bewertungs- und Handlungsperspektive.
Meine These war, dass das, was wir als ‚moralisch‘ oder als ‚Moral‘ begreifen, auf dem
Zusammenspiel dieser beiden Perspektiven beruht. Nach dieser Auffassung ist für die
Orientierung im Handeln nicht die Bewertungsperspektive, sondern die Handlungsperspektive
massgebend. In ihr geht es nicht um moralische Urteile, sondern um praktische Gründe für
Handlungen. Insofern zielten die vorstehenden Überlegungen auf eine Entmoralisierung der
Orientierung im Handeln. Die Bedeutung und Funktion der Bewertungsperspektive und somit
der Sprache der Moral liegt in der intersubjektiven Verständigung über Handeln und
Verhalten. Doch auch hier geht es nicht darum, die Orientierung im Handeln nun doch an
moralischen Bewertungen auszurichten statt an praktischen Gründen. Nach dem Gesagten
20
sind moralische Richtigkeitsurteile vielmehr als Urteile über praktische Gründe aufzufassen.
Mit dem Urteil, dass in einer gegebenen Situation eine bestimmte Handlung richtig ist, wird
nichts anderes zum Ausdruck gebracht, als dass die Situation praktisch Grund gibt für diese
Handlung. So begriffen leiten moralische Urteile gerade zur Orientierung an praktischen
Gründen an, und der Sinn moralischer Verständigung liegt in der wechselseitigen
Sensibilisierung für die praktischen Gründe, mit denen das Leben uns konfrontiert. Die
Problematik der urteilszentrierten Moralauffassung liegt so gesehen darin, dass sie moralische
Urteile nicht als Urteile über praktische Gründe, sondern dass sie sie selbst als Gründe für das
Handeln auffasst. Demgegenüber haben nach dem Gesagten moralische Urteile keine
Begründungsfunktion für das Handeln, aber sie können als Instanzen fungieren, vor denen
Handeln gerechtfertigt werden muss.
Legt man dieses Verständnis von Moral zugrunde, dann tut man der Moral zu viel Ehre an,
wenn man Ethik als Reflexion auf Moral bestimmt. Denn im Mittelpunkt der ethischen
Reflexion stehen dann nicht moralische Urteile, sondern praktische Gründe für Handlungen.
Nach dem Gesagten muss die Anleitung zu einem Handeln oder Verhalten, das aus der
moralischen Bewertungsperspektive betrachtet moralisch richtig bzw. gut ist, in der
Handlungsperspektive erfolgen, in der es nicht um Moral, sondern um praktische Gründe
geht. Es ist daher in letzter Instanz die Handlungsperspektive, an der sich die ethische
Reflexion ausrichten muss.
Das hat eine wichtige Implikation für das Selbstverständnis der Ethik. Dass eine Situation
praktisch Grund gibt für ein bestimmtes Handeln, das kann man an einem anderen nicht
andemonstrieren, sondern das muss sich ihm selbst zeigen, indem er sich die Situation in ihren
relevanten Aspekten vor Augen führt oder vor Augen führen lässt. Im Blick auf praktische
Gründe gilt das Diktum des Aristoteles: „Die Entscheidung liegt in der Wahrnehmung“24,
nämlich in der Wahrnehmung des Grund gebenden Charakters einer Situation in Bezug auf
ein bestimmtes Handeln. Dies verpflichtet die Ethik zur Bescheidenheit. Sie kann nur
versuchen, zu einer adäquaten Wahrnehmung anzuleiten, um zu situationsgerechten
Entscheidungen zu befähigen, aber sie kann niemandem die eigene Wahrnehmung,
Entscheidung und Einsicht abnehmen, indem sie selbst moralische Urteile aufstellt und mit
einem Anspruch auf Allgemeingültigkeit dekretiert, was richtig oder falsch ist, wie dies durch
24
Nikomachische Ethik 1109 b 23.
21
die urteilszentrierte Auffassung von Moral und Ethik und das Projekt einer argumentativen
Moralbegründung nahegelegt wird.
In einem berühmt gewordenen Aufsatz aus den fünfziger Jahren mit dem Titel „Moderne
Moralphilosophie“25 hat Elizabeth Anscombe die These vertreten, dass unsere Moralbegriffe
und hier insbesondere deontische Begriffe wie sollen, geboten, Pflicht, erlaubt usw. Relikte
einer religiösen Gesetzesethik sind, die die jüdisch-christliche Tradition hervorgebracht hat,
die aber mit der Reformation26 den religiösen Bezugsrahmen verloren hat, in den sie
eingebettet war und innerhalb dessen sie nur Sinn machte. Charakteristisch für diese
Gesetzesethik ist, dass die göttlichen Gebote zu befolgen sind, weil sie durch den göttlichen
Gesetzgeber geboten worden sind.27 Unschwer erkennt man die Strukturanalogie zu einer
urteilszentrierten
Moralauffassung,
welche
moralische
Richtigkeitsurteile
als
Handlungsgründe und –motive begreift und der zufolge daher das moralisch Richtige und
Gebotene getan werden soll, weil es moralisch richtig und geboten ist. Wie der Gottgläubige
dem Willen Gottes verpflichtet ist und das, was er tut, um Gottes willen tut, so ist der
Anhänger einer Gesetzesmoral der Moral verpflichtet und tut, was er tut, um der Moral
willen. Aber warum sollten wir der Moral den Rang einer solchen quasi-religiösen Instanz
zubilligen und uns dieser Instanz verpflichtet fühlen? Anscombes Vorschlag ist, das
deontische moralische Vokabular aufzugeben und zum Beispiel das moralische ‚falsch‘ durch
einen Ausdruck wie ‚ungerecht‘ zu ersetzen.28 Doch müssen wir tatsächlich diese
Schlussfolgerung ziehen?
Es findet sich in der jüdisch-christlichen Tradition auch ein Verständnis der göttlichen
Gebote, wonach diese nicht deshalb zu befolgen sind, weil sie durch Gott geboten worden
sind, sondern um des willen befolgt werden sollen, weshalb sie von Gott geboten worden sind,
z.B. damit der Hungernde satt wird oder der Fremde eine Bleibe hat. Hier wird das Gebot in
der Weise verstanden, dass es den Blick auf die praktischen Gründe lenkt, die für das
menschliche
Handeln
leitend
sein
sollen.
Nur
auf
dem
Hintergrund
dieses
Gebotsverständnisses wird der für die Verkündigung Jesu zentrale Gedanke verständlich, dass
alle Gebote ihre Zusammenfassung im Liebesgebot haben. So zieht sich bereits durch unsere
25
G. E. M. Anscombe, Moderne Moralphilosophie, in: Günther Grewendorf, Georg Meggle (Hg.), Seminar:
Sprache und Ethik. Zur Entwicklung der Metaethik, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1974, 217-243.
26
AaO. 224.
27
Wie Anscombe schreibt, hat der Protestantismus diese Gesetzesethik mit seiner Lehre untergraben, dass das
Gesetz dem Menschen von Gott gegeben worden ist nicht, damit er es befolge, sondern vielmehr, damit er
erkennt, dass er unfähig ist, es zu befolgen; vgl. aaO. 242 Anm. 5.
28
AaO. 236ff.
22
religiöse Überlieferung ein Konflikt zwischen zwei Auffassungen: Die eine begreift die
Gebote selbst als Handlungsgründe bzw. –motive und hält dafür, dass die Gebote um ihrer
Gebotenheit willen zu befolgen sind; die andere begreift die Gebote als Verweise auf
Handlungsgründe bzw. –motive und hält dafür, dass die Gebote um des willen zu befolgen
sind, was sie gebieten.
Wie deutlich geworden ist, geht es um genau denselben Konflikt bei der Moral. Anscombes
Diagnose, dass die moderne Moralphilosophie einem Verständnis von Moral im Sinne jener
Gesetzesmoral verpflichtet ist, trifft ohne Zweifel zu. Und sie lässt sich ausweiten auch auf
grosse Teile der heutigen Moralphilosophie, wie ich exemplarisch an der Moralauffassung
eines ihrer prominenten Vertreter, nämlich Dieter Birnbachers, verdeutlicht habe. Doch
anders, als Anscombe dies vorschlägt, besteht die Alternative nicht darin, die Moralsprache
vom deontischen Vokabular zu reinigen. Es geht vielmehr um einen scheinbar kleinen, aber
für das Verständnis der Moral grundlegenden und in seinen Konsequenzen weitreichenden
Unterschied, was das Verständnis deontischer Urteile betrifft, nämlich dass deontische Urteile
nicht selbst Handlungsgründe sind, sondern dass sie vielmehr Urteile über Handlungsgründe
sind. Wird dieser Unterschied beachtet, dann gewinnt das deontische moralische Vokabular
seine Unschuld zurück, die ihm durch die moralphilosophische Befrachtung der Moral als
einem vermeintlichen Wert in sich geraubt worden ist.
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