Besprechungen Islam Der bedeutende Orientalist Tilman Nagel hatte in seinen Arbeiten schon darauf hingewiesen, daß in der islamischen Theologie und erst recht im Alltagsbewußtsein der meisten Muslime die Gestalt Muhammads unhistorisch und dogmatisch erstarrt ist. Seine im Koran ihm zuteil gewordenen Offenbarungen gelten als immer gültiges Gotteswort. Daraus erklärt sich der Haß vieler Muslime, z.B. in Pakistan, auf alle, die angeblich den Propheten beleidigen oder den Koran entweihen (wie in den bekannten Karikaturen). In letzter Zeit sind einige spezielle Arbeiten über die Historizität Muhammads und des Koran erschienen, die den heutigen Wissensstand sachlich darlegen. Joachim Gnilka: Wer waren Jesus und Muhammad? Ihr Leben im Vergleich. Herder, Freiburg 2011, 330 S. Der emeritierte und verdienstliche Münchener Neutestamentler Gnilka referiert zunächst die unterschiedlichen Positionen sowohl der Muhammad- als auch der Jesusforschung. Die Diskussion, die teilweise mit großer Heftigkeit kontrovers geführt wird, betrifft grundlegende historische Fragen wie den Geburts- und Wirkungsort des Propheten, die Einflüsse anderer Religionen, bis hin zur Frage, ob der überhaupt gelebt hat. „Die Aufarbeitung der historischen MuhammadFrage ist in vollem Gang. Den Außenstehenden, der sich dieser Frage nähert, befällt Ratlosigkeit.“ (S. 246) Die traditionelle Auffassung folgte bis heute der Prophetenvita von Ihn Ishaq in der Bearbeitung von Ibn Hisham († 828). Einerseits hält man an den Traditionen fest wie in der Welt der gläubigen Muslime, aber auch unter einigen westlichen Orientalisten. Der Gegensatz zur histori- schen Infragestellung könnte größer nicht sein, dazwischen liegen viele Varianten hinsichtlich der Glaubwürdigkeit der traditionellen Biographie und Lehre. Zwischen den angenommenen Lebensdaten Muhammads und der allgemein im Islam anerkannten Biographie von Ibn Ishaq liegen zwei Jahrhunderte, die von den gesammelten Hadithen überbrückt werden, deren Überlieferungsgang im allgemeinen bei den muslimischen Theologen als gesichert gilt, was aber nicht den Standards historischer Forschung entspricht. Die Beweislage des Neuen Testaments ist ungleich günstiger, obwohl es auch unterschiedliche Deutungen der Person Jesu gibt. Aber Kerndaten des Lebens Jesu sind kritisch gesichert. Ein wesentlicher Unterschied zwischen Jesus und Muhammad besteht in der Rolle, welche die Personen in den Schriften spielen. Jesus wird im NT 919mal genannt, Muhammad im Koran nur 4mal. Der Koran ist göttlichen Ursprungs und eine Offenbarung vor allem von Moral- und Rechtsbestimmungen, die biblische Offenbarung besteht in der Person Jesu und seinen Worten und Taten. Was im Islam der Koran ist, das ist im Christentum die Person Jesu. Bemerkenswert ist eine Arbeit des Alttestamentler von der evangelischen Fakultät Münster über die Anwendung der Textkritik des AT auf den Koran, etwas, das die muslimischen Theologen bis auf Ausnahmen rundweg ablehnen, da der Koran als unantastbares, ewiges Gotteswort gilt: Karl-Friedrich Pohlmann: Die Entstehung des Korans. Neue Erkenntnisse aus Sicht der historischkritischen Bibelwissenschaft. Wissenschaftl. Buchgesellschaft, Darmstadt 2011, 208 S. Unter muslimischen Gelehrten wird nur diskutiert, ob und wann Muhammad die Offenbarungen schriftlich festgehalten 239 hat und ob er frühere Suren später ergänzt hat und wann der Koran abgeschlossen worden ist. Diese Einschätzung des unverfälschten ewigen Gotteswortes erinnert an Auffassungen, wie sie bis ins 18. Jahrhundert von christlichen Theologen vertreten wurden. Erst die historisch-kritische Exegese ermöglichte differenzierte Erkenntnisse hinsichtlich der Verfasser, der Abfassungszeit, der literarischen Quellen u.a. Pohlmann zeigt nun aus seinem Fachgebiet, wie kompliziert die Textgeschichte mit verschiedenen Verfassern, Quellen und Einschüben bei den Propheten, besonders bei Jesaja ist. Mit ähnlichen Methoden lassen sich im Koran Erkenntnisse gewinnen, die an der Autorschaft des Propheten zweifeln lassen. Der Autor macht das besonders an den Texten über den Satan deutlich, aber auch an anderen, die z.B. aus christlichen und jüdischen Interpolationen stammen. Es ist sicher, daß solche Passagen nicht von Muhammad stammen. Ein weiteres, leicht lesbares Buch, kann helfen, die bisherigen Gewißheiten hinsichtlich der Person Muhammads in Frage zu stellen. Der Autor ist Islamwissenschaftler in Freiburg und in Paris: Rainer Brunner: Mohammed. Wissen, was stimmt. Herder, Freiburg 2011, 127 S. Das Buch ist auch für Nichteingeweihte im Unterschied zu dem vorgenannten, leicht lesbar. „Wenn der Leser am Ende weniger Gewißheiten, aber dafür mehr neugierige Fragen hat, hätte das Buch seinen Zweck mehr als erfüllt.“ (S. 10) Der wissenschaftliche Zweifel macht nicht einmal mehr von den Fundamenten halt: die zeitliche Einordnung, die Orte des Wirkens und sogar die Existenz des Propheten. Andererseits ist noch keine alternative historische Darstellung gegenüber den traditionellen und dogmatischen islamischen Auffassungen 240 entstanden. Die Vorstellung, daß von Anfang an der eine Islam da war, der von Mohammed in frühen siebten Jahrhundert gestiftet und binnen weniger Jahrzehnte im Koran niedergelegt ist, mit ziemlicher Sicherheit nicht zu halten. (S. 38) Nur wenige muslimische Gelehrte wagen es, den Koran als ewiges und unangreifbares Gotteswort, das so Mohammed geoffenbart wurde, anzuzweifeln. Sie mußten dafür büßen wie der Iraner Ali Dashti, die Ägypter Nagib Mahfus und Abu Zaid. Nützlich ist der Hinweis auf die Überlieferungen in den Hadithen, die auch für die Ausgestaltung der Scharia neben dem Koran die Quellen sind. Trotz ihrer Divergenzen sollen sie die Treue der Überlieferungen von Mohammeds Leben, Wirken und Lehren garantieren. Einige kontroverse Korandeutungen behandelt der Autor zusätzlich: Frauen, Staat und Politik, Toleranz. Die abschließende Frage des Autors, ob der Islam zu Europa paßt, wird nicht endgültig beantwortet; es gibt negative und positive Antwortversuche. Sicher scheint dem Rezensenten zu sein, daß eine positive Antwort nur möglich ist, wenn der Koran und die Hadithe historisch-kritisch von maßgeblichen muslimischen Gelehrten interpretiert werden. Sonst ist eine Integration unglaubwürdig. Wenn man als Laie erfahren will, was im Koran vor allem über rechtliche und moralische Fragen zu lesen und zu deuten ist, der wird gut beraten in dem Buch: Leo Pollmann: Was steht wirklich im Koran? Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2009, 160 S. des Regensburger Romanisten und Islamwissenschaftlers, das aber die historisch-kritische Gesamthaltung der anderen Autoren nicht ganz teilt. Aber es informiert darüber, was im Koran steht und nicht steht. Hans Joachim Türk