Sonntag, 11. September 2016 15.04 – 17.00 Uhr Georg Solti. Von Kai Luehrs-Kaiser 11. Folge: Alles muss raus! Solti, der Medien-Mogul Herzlich willkommen, meine Damen und Herren. Heute wird’s gefährlich. Unser Thema: Alles muss raus! Solti, der Medien-Mogul. 1 Decca LC 00171 440 618-2 Track 107, 108 Richard Strauss Also sprach Zarathustra op. 30 (I.) Einleitung (II.) Von den Hinterweltlern Samuel Magad Chicago Symphony Orchestra Ltg. Georg Solti 1975 5’10 Der Beginn von „Also sprach Zarathustra“, der Tondichtung op. 30 von Richard Strauss. Georg Solti mit dem Chicago Symphony Orchestra im Jahr 1975. Sie hörten die Einleitung sowie „Von den Hinterweltlern“. Ja, und genau dies nicht zu sein: kein Hinterweltler, kein Mauerblümchen, kein Zukurz-Gekommener, darin scheint das Beweis- und Klassenziel des Dirigenten Georg Solti bestanden zu haben. Ihm gelang es wie keinem anderen, die durch die Emigration verbauten Chancen mit Hochgeschwindigkeit nachzuholen – fast als gälte es, Gerechtigkeit zu fordern für die verpassten – und auch wieder nicht verpassten – Jahre. Georg Solti, das ist unser Thema heute, wurde zum meistdekorierten, höchstdotierten, fürstlich honorierten und distribuierten Maestro einer bereits globalisierten Klassik-Welt. Denn das muss wahr sein: Georg Solti vollbrachte das Kunststück, kommerziell der am Besten zu vermarktende Pult-Gott seiner Zeit zu werden. Die Achse zwischen Europa und Amerika verkörperte er noch lukrativer, noch gewinnbringender als Leonard Bernstein. Aus dem inzwischen sozialistischen Osten stammend, wurde er zum Inbegriff einer Kapitalisierung der Klassik. Ist das wirklich so? Oh ja! Karajan, darauf werden wir später in dieser Sendereihe noch zurückkommen, hätte gerne in Amerika denselben Erfolg gehabt wie Solti. Er blieb ihm versagt. Denn Karajans Vergangenheit in der Nazizeit machte auch für die Schallplattenfirmen, die Geld mit ihm verdienen wollten, einen Strich durch diese Rechnung. Leopold Stokowski wiederum verkörperte in Amerika durch Funk- und Fernsehübertragungen den (von Karajan bewunderten) Aufstieg der Klassik zu einem Massenphänomen. Doch Stokowskis Ausstrahlung erstreckte sich nicht bis Georg Solti – 11. Folge Seite 2 von 9 nach Europa. Wilhelm Furtwängler und Arturo Toscanini wiederum waren bereits gestorben. Die Schallplattenkarrieren eines Dimitri Mitropoulos oder Eugene Ormandy hielten sich in regionalen oder nationalen Grenzen. So wartete die klassische Welt in den 60er und 70er Jahren geradezu auf eine Figur, die den Markt der E-Musik international öffnen konnte. Genau hierfür gab nun Georg Solti den Takt an. Mit immerhin mehr als 300 Schallplattenaufnahmen, die bis heute den Grundstock des Back-Kataloges seiner Schallplattenfirma Decca abgeben. Dieser Riesen-Vorrat hat zugleich verhindert, dass dieses Label nach Solti überhaupt jemals wieder einen Exklusiv-Dirigenten wie ihn gebraucht hätte. Motor und Impulsgeber dieser beispiellosen Karriere war – wir haben es festgestellt – ausgerechnet das Werk Richard Wagners gewesen. Doch jetzt galt es das aufwändigste und prestigereichste Feld der Klassik weiter auszubauen und im großen Stile zu bewirtschaften. In Stereo und mit Solisten-Besetzungen, die heute wie aus dem Bilderbuch zusammengestellt erscheinen. Den Triumphmarsch aus dem folgenden Werk haben wir hier in dieser Sendereihe schon einmal gespielt. Doch es waren eben nicht nur die Gusto- und ZugabenStücke, die Solti aufnehmen durfte. Im Aufbruchsfuror der 60er Jahre gelang Georg Solti mit der Gesamtaufnahme von Aida – aber ebenso mit fast jedem WerkDebüt auf Schallplatte: eine Referenzaufnahme, die bis heute einsam leuchtet. Zum Beispiel im folgenden: mit Leontyne Price, Jon Vickers und Rita Gorr im Jahr 1962, eine Szene aus dem 3. Akt von Verdis Aida. 2 Decca LC 00171 460 765-2 Track 209, 210 Giuseppe Verdi “Fuggiam gli ardori inospiti” und “Tu Amonasro!... tu!” aus “Aida”, 3. Akt Leontyne Price, Sopran (Aida), Jon Vickers, Tenor (Radames), Orchestra del Teatro dell’Opera di Roma Ltg. Georg Solti 1962 9’21 “Fuggiam gli ardori inospiti” und “Tu Amonasro!... tu!” aus dem 3. Akt der “Aida” von Giuseppe Verdi. Leontyne Price, Jon Vickers und Robert Merrill sangen, Georg Solti dirigierte eine der besten und typischsten Erfolgsaufnahmen seiner OpernKarriere – hier mit dem Orchestra del Teatro dell’Opera di Roma im Jahr 1962. Typisch, weil die punktgenaue Landung mit Herstellung einer Referenzaufnahme bis heute genau dem Mechanismus der Karriere Soltis entspricht. Betrachten wir es am Beispiel von Verdis “Aida”. Im Jahr 1962 handelte es sich bei Soltis Gesamteinspielung um eine der ersten Gesamtaufnahmen dieser Oper in Stereo. Insofern hatte Solti unter aufnahmetechnischen Gesichtspunkten vergleichsweise leichtes Spiel. © kulturradio vom Rundfunk Berlin-Brandenburg (rbb) www.kulturradio.de Georg Solti – 11. Folge Seite 3 von 9 Andererseits: eine Fülle wichtigster Gesamtaufnahmen dieses Werkes existierte schon: diejenigen mit Maria Callas (aus dem Jahr 1955 mit Richard Tucker), ebenso eine Aufnahme mit der großartigen Zinka Milanov und Jussi Björling (im selben Jahr) sowie gleich zwei maßstabsetzende Aufnahmen mit Renata Tebaldi, 1952 unter Alberto Erede und 1959 unter Herbert von Karajan. Zu schweigen von früheren, auch bereits epochalen Aufnahmen etwa mit Gianina Arrangi-Lombardi (1928), mit Maria Caniglia und Benjamino Gigli (1946 wiederum unter Tullio Serafin) – und nicht zuletzt mit Herva Nelli und Richard Tucker 1949 unter Leitung von Arturo Toscanini. Eine Vielzahl von allerstärksten Konkurrenzaufnahmen! Solti wiederum hatte freilich mit Leontyne Price – wir haben es gehört! – eine Protagonistin aufzubieten, die es mit allen früheren Aidas wahrlich aufnehmen konnte; und die im Grunde alle späteren Sängerinnen dieser Rolle in den Schatten stellt. Nur ließ Leontyne Price in den frühen 70er Jahren unverdrossen noch eine zweite Gesamtaufnahme der „Aida“ folgen – mit Placido Domingo als Partner, unter Leitung von Erich Leinsdorf. Auch Karajan, Muti und Mehta legten in Sachen „Aida“ später noch einmal ordentlich nach. Dass sich die Solti-Aida in diesem Haifischbecken von Konkurrenzprodukten bis heute ohne weiteres behaupten kann, gleicht einem Wunder – und spricht eben doch für den Dirigenten. Es zeigt, dass sich Soltis Erfolg nicht etwa aus bloß günstigen Startbedingungen erklärt. Ob Solti, der Allesfresser, auch gleichzeitig ein Alleskönner war, wollen wir nach der nächsten Musik betrachten. Bewegen wir uns zurück auf symphonisches Repertoire – und hören wir Solti in einem Terrain, auf dem gleichfalls Mitbewerber zu fürchten sind; und besonders heute, wo dieses Gebiet nahezu vollständig von den Spezialisten der historischen Aufführungspraxis okkupiert ist. Mit dem London Philharmonic Orchestra hören Sie Solti als Haydn-Dirigenten: mit den Sätzen 3 und 4: Menuett – Allegro molto – Trio und Finale: Allegro di molto aus der Symphonie Nr. 94 G-Dur. „Surprise“. 3 Decca LC 00171 436 617-2 Track 003, 004 Joseph Haydn Symphonie Nr. 94 G-Dur „Surprise“ III. Menuett – Allegro molto – Trio IV. Finale: Allegro di molto London Philharmonic Orchestra Ltg. Georg Solti 1983 9’13 Man erschrickt zunächst – aufgrund der scheinbar hemdsärmeligen Jovialität und Launigkeit der Aufnahme. Und doch, finde ich, muss man sogleich zugestehen: einen gewissen Ton der Zugänglichkeit und rasenden Beliebtheit, den Haydn durchaus besaß, trifft Georg Solti hier gar nicht schlecht – zumal im Finalsatz dieser Symphonie Nr. 94 G-Dur „Mit dem Paukenschlag“ von Joseph Haydn. Sie hörten Menuett und Finale. Man versteht sofort, dass Haydn im Spektrum seiner Zeitgenossen eine zentrale, und keine von Mozart und Beethoven an den Rand gedrängte Rolle spielte. Diese © kulturradio vom Rundfunk Berlin-Brandenburg (rbb) www.kulturradio.de Georg Solti – 11. Folge Seite 4 von 9 Haydn-Aufnahmen Soltis haben Biss, Drive und einen bisweilen scharfen Witz – und sie sind deswegen immer noch überaus hörens- und spielenswert. Mit anderen Worten: Fehlanzeige, sofern es gilt, Solti auf einer Schwäche zu ertappen. Auch hier, im Fall des gänzlich in Spezialistenhand übergangenen Haydn, bewährt sich Solti über alle Fachgrenzen und Verfallsdaten hinaus. Das soll nun freilich nicht heißen, wir hätten es bei dem Allesvertilger Solti mit einem Mann von musikalischer Unfehlbarkeit zu tun. „Solti, der Medienmogul“, heißt der Untertitel der heutigen Folge unserer SoltiSendereihe. Es wird also – bei dem flächendeckenden Engagement von Soltis Repertoireeroberungen – wohl auch musikalische Felder geben, bei denen er sich verhauen hat. Bei denen also das Solti-Rezept „Angriff ist die beste Verteidigung“ ins Leere läuft. Nun, es gibt sie; keine Frage. Im Getümmel einer turbomäßig anziehenden Schallplattenproduktion wurde selbstverständlich auch Georg Solti auf Werke angesetzt, oder sagen wir ruhig: losgelassen, die seinem Temperament und seinen musikalischen Fähigkeiten nicht entsprachen. Und sogar auf ureigenstem Gebiet. Das folgende Werk von Richard Wagner kam Soltis zupackender Natur gewiss nicht besonders entgegen. Er hat es – innerhalb seines Zyklus der zehn großen WagnerOpern so spät wie möglich aufgenommen. Aber er hat es aufgenommen. Schon die Wahl der Solisten verrät, wie ich meine, eine denkbar große Unsicherheit – und bringt uns damit auf ein Thema (nämlich Sängerbesetzungen), zu dem es in einer späteren Folge unserer Sendereihe noch einiges Prekäres wird zu sagen geben. Kurz: Schon mit Wagners ätherischem „Lohengrin“ konnte Solti im Grunde genommen nicht viel anfangen. Und Jessye Norman als stimmlich zu massive Elsa und dann auch noch Placido Domingo in der Rolle eines offenbar von weither angereisten Schwanenritters machen die Sache nicht besser. Sie hören Elsas Traumerzählung und die anschließende Szene mit Siegmund Nimsgern als Telramund und Hans Sotin als König Heinrich (und hier ohne Domingo). Gerade durch vokales Overacting vergaloppieren sich die Protagonisten – und werden von Solti nicht wieder auf den richtigen Weg gebracht. Die Konzertvereinigung Wiener Staatsopernchor (Einstudierung: Walter Hagen-Groll). Die Wiener Philharmoniker 1985/86 unter Georg Solti. 4 Decca LC 00171 436 604-2 Track 002, 002 Richard Wagner “Einsam in trüben Tagen” (Elsas Traumerzählung) und “Mich irret nicht ihr träumerischer Mut” aus “Lohengrin”, 1. Akt Jessye Norman, Sopran (Elsa), Hans Sotin, Bass (König), Siegmund Nimsgern, Bassbariton (Telramund) Konzertvereinigung Wiener Staatsopernchor (Einstudierung: Walter Hagen-Groll) Wiener Philharmoniker Ltg. Georg Solti 1985/86 © kulturradio vom Rundfunk Berlin-Brandenburg (rbb) 9’35 www.kulturradio.de Georg Solti – 11. Folge Seite 5 von 9 Kein ganz überzeugender Anfang des „Lohengrin“ von Richard Wagner: Jessye Norman als Elsa, Hans Sotin als König Heinrich und Siegmund Nimsgern als Telramund. Sie hörten Elsas Traumerzählung und die anschließende Szene des 1. Aktes in der Gesamtaufnahme mit der Konzertvereinigung Wiener Staatsopernchor (Einstudierung: Walter Hagen-Groll) und den Wiener Philharmonikern unter Georg Solti, entstanden 1985/86. Kein wirkliches Ruhmesblatt, und zwar nicht nur wegen der nicht immer idealen Solisten (am Besten ist Hans Sotin). Sondern auch deswegen, weil Georg Solti mit den Transparenzgebot und dem klanglichen Feinsinn der Partitur im Grunde nicht gut zurecht kam. Ein Beleg dafür, dass Solti im Eifer des Schallplattengefechts vielleicht doch nicht für alles gleichermaßen gut gerüstet war. Solti hat auf der Universalität seines Könnens – wir haben es verschiedentlich gehört – großen Wert gelegt; und zwar, ohne die Marktgerechtigkeit dieses Vermögens jemals kritisch zu reflektieren. Obwohl Solti in einer Atmosphäre der Konsumkritik und kritischen Sensibilität gegenüber der sogenannten Kulturindustrie groß wurde und seine Karriere absolvierte, ja mehr noch: obwohl Theodor W. Adorno in Frankfurt zu seinen wichtigsten Freunden zählte, wurde ausgerechnet Solti zum Aushängeschild eines Industrie-Establishments der Klassik – ohne jedes Bedürfnis einer kritischen Abgrenzung. Solti ließ sich für die Interessen des Schallplattenmarktes einspannen – und verdiente selbstverständlich fürstlich daran. Gewiss muss man festhalten, dass Solti in seiner Generation tatsächlich der Dirigent mit den fast umfassendsten Repertoirekompetenzen war. Das gilt jedoch erstaunlicherweise nicht für die Anzahl der von ihm dirigierten Komponisten. Vergleicht man das Schallplatten- und CD-Erbe Soltis mit demjenigen seiner – kommerziell gesehen – damals schärfsten Konkurrenten, nämlich mit Karajan, Bernstein und Ormandy, so zeigt sich, dass die Zahl der von Solti dirigierten Komponisten kaum die Hälfte der von Karajan, Bernstein und Ormandy bewältigten Klassikernamen ausmacht. Das bedeutet: Wenn bei uns heute der Eindruck entstanden ist, Solti sei ein (unter den kommerziellen Spitzendirigenten) besonders vielseitiger Dirigent gewesen, so liegt dieser (im Grunde falsche) Eindruck nur daran, dass Solti offenbar auf so vielen Gebieten erfolgreich war. Tatsächlich, Solti ist auf kaum einem von ihm dirigierten Felder so sehr ‚durchgefallen’ wie zum Beispiel: Karajan bei Schubert und Mendelssohn – oder wie Bernstein bei Vivaldi. Solti blieb bei seinem Leisten – und dieser Leisten war erstaunlich lang. Trotzdem muss eingeräumt werden, dass etwa Bernstein ein weit größeres Portfolio aus zeitgenössischen, amerikanischen Werken vorzuweisen hatte und dirigierte; ich meine damit jene Vielzahl von Komponisten wie Lukas Foss, Roy Harris, Charles Ives und William Schuman und vieler, vieler anderer, die Bernstein auf seinen Schallplatten dirigiert hat. Ähnliches gilt für Karajan als Dirigent der Werke Arthur Honneggers, Williams Waltons, Karl Komzaks und Wilhelm Lindemanns. © kulturradio vom Rundfunk Berlin-Brandenburg (rbb) www.kulturradio.de Georg Solti – 11. Folge Seite 6 von 9 All derlei hat sich Solti verkniffen – mit Ausnahme einiger weniger ungarischer Komponisten, die man, weil sie Soltis Lehrer waren, auch von ihm erwartete. Nein, keine Frage, Soltis Image des Alleskönners ist ein geschickt (und vielleicht unbewusst) von ihm erzeugter Eindruck; aber einer, der sich nur in kommerzieller Hinsicht bestätigen lässt, während er im Übrigen nicht ganz richtig ist. Solti hat schlicht und ergreifend auf besonders vielen, kommerziell interessanten Repertoirefeldern reüssiert und prägend gewirkt. Aber die Ränder des Repertoires haben ihn in Wirklichkeit nicht interessiert. Überraschendes Fazit: Weniger Komponisten als man vielleicht denken sollte; aber dabei mehr Treffer, was den Eindruck extremer Vielseitigkeit vortäuschte. Frage: Gab es kommerzielle Felder, denen sich Solti verschloss? Antwort: wenige! Die französische Oper etwa, ebenso Rossini, den Solti eher mied, waren – vom Verkaufsstandpunkt aus betrachtet – keine Komponisten von ausschlaggebender Bedeutung. So konnte sich Georg Solti zum Beispiel beim Werk von Charles Gounod ganz entspannt auf das beschränken, worauf er Lust hatte. Solti, mit anderen Worten, hat genau da funktioniert, wo es sein musste. Er wusste, worauf es ankommt. Und erwies sich genau darin als der geschickteste Nutznießer des Schallplattenaufschwungs der 50er bis 90 Jahre. Von Charles Gounod dirigiert Georg Solti: die Ballett-Musik aus „Faust“. 5 Decca LC 00171 476 2724 Track 022 Charles Gounod “Faust” – Ballett-Musik Orchestra of the Royal Opera House, Covent Garden Ltg. Georg Solti 1960 15’52 Die Ballettmusik aus „Margarethe“, der „Faust“-Oper von Charles Gounod. Georg Solti 1960 am Pult des Orchesters des Royal Opera House, Covent Garden. Solti, ein Mann mit ausgeprägt breiter Repertoirespur und ohne viele Leerstellen im Menuangebot eines Alleskönners. Das sagend, haben wir, um es kritischer auszudrücken, Georg Solti als einen Mann des musikalischen Mainstreams gekennzeichnet. Genau das war er – und genau das war das Geheimnis seines Erfolgs (zumindest ein nicht unbeträchtlicher Teil davon). Auf mittlere bis lange Sicht konnte sich die Schallplattenindustrie darauf verlassen, dass Solti in allen wichtigen Bereichen des Repertoires eine vorzeigbare und gut verkäufliche Ware produzieren würde. Er hat sein Label, die Decca, dabei so wenig enttäuscht, dass ihm die Firma ein Leben lang treu blieb. Es war in dieser Liebesgeschichte zwischen einer Firma und einem Dirigenten überhaupt kein Ende abzusehen. Das ist etwas Besonderes. Karajan und Bernstein, zum Vergleich, wechselten virtuos zwischen verschiedenen großen Labels hin und her. Eugene Ormandy in Philadelphia blieb zwar (ähnlich wie Solti) seinem Label treu (dies war die CBS); aber Ormandys Ausstrahlungskraft beschränkte sich vor allem auf den amerikanischen Markt. © kulturradio vom Rundfunk Berlin-Brandenburg (rbb) www.kulturradio.de Georg Solti – 11. Folge Seite 7 von 9 Heute, um einen Vergleich anzustellen, können Sie ähnliche Treueverhältnisse wie bei Ormandy und Solti zwar wieder beobachten; zum Beispiel bei Simon Rattle, der im Grunde alle seine CDs für die EMI gemacht hat. Nur dass der Schallplattenmarkt heute (im Vergleich zu früher) so sehr geschrumpft ist, dass man aus einer solchen Treue keine großen Schlüsse mehr ziehen kann. Im Klartext: Simon Rattle war niemals ein für eine Schallplattenfirma so interessanter Dirigent wie Georg Solti es damals für die Decca war – einfach weil früher die Absatzzahlen und Verdienstmöglichkeiten der großen Firmen ganz andere waren. Solti jedenfalls war ein Mann des Industrie-Kerngeschäfts. Und dies müsste nicht eigens betont werden, hinge damit nicht (wie ich glaube) eine gewisse Geringschätzung zusammen, die Solti immer wieder entgegengebracht wurde – vielleicht nicht ganz zu Unrecht. Aus dem Umstand, dass Solti künstlerisch guten und kommerziell sehr guten Erfolg hatte, wurde nämlich immer wieder – sei es offen oder versteckt – der Schluss gezogen, es handle sich bei ihm im Grunde genommen um einen Dirigenten aus der 2. Reihe, der sozusagen aufgrund glücklicher Umstände bei den aktuellen Börsenwerten in die 1. Reihe aufgerückt sei. Dieser Eindruck wird gern und oft erzeugt; er ist jedoch, wie ich meine, trotz allem falsch; die Qualitäten von Solti etwa als Verdi-Dirigent, aber auch bei Mahler, Bruckner und Teilen des WagnerRepertoires sind zu spezifisch (und zu selten), als dass man sie diesem Dirigenten nicht gutschreiben müsste. Daraus folgt: Solti ist besser als sein Ruf. Tatsache ist aber auch, dass schon mit Solti aufgrund einer geringen Innovativität seines Repertoires ein gewisser Ausverkauf dieses Repertoires begann. Damit meine ich: Solti blieb fast vollkommen auf der Repertoire-Fährte, die ihm von seinen Vätern und Vorbildern vorgezeichnet war. Er zeichnet sich weder in technischer Hinsicht (wie etwa Karajan) durch eine besondere Neugierde auf neue Medien aus. Noch hat er innovativ in Bezug auf das Repertoire eingewirkt. Bartok etwa dirigierten auch andere Dirigenten nach dem Krieg, z.B. Ferenc Fricsay, Fritz Reiner und Ormandy. Die Mahler-Renaissance, um ein anderes Beispiel zu zitieren, wurde von Bruno Walter und von Leonard Bernstein ausgelöst; und von Solti nur gewinnbringend ausgenutzt. Genau in dieser Eigenschaft, in jede Lücke hineinzuspringen, die andere für ihn aufgetan hatten, erwies sich das eigentliche Genie Soltis. Achten wir es nicht gering. Seither hat niemand mehr ein solches Talent wie Solti darin bewiesen, es sich in gemachten Betten bequem zu machen. 6 Decca LC 00171 475 9988 Track 101, 102, 103, 104 Richard Strauss Einleitung und 1. Szene aus “Der Rosenkavalier”, 1. Akt Yvonne Minton, Mezzo-Sopran (Octavian), Régine Crespin, Sopran (Marschallin) Wiener Philharmoniker Ltg. Georg Solti 1968 © kulturradio vom Rundfunk Berlin-Brandenburg (rbb) 16’10 www.kulturradio.de Georg Solti – 11. Folge Seite 8 von 9 Einleitung und 1. Szene aus dem “Rosenkavalier”, der Oper von Richard Strauss und Hugo von Hofmannsthal. Sie hörten Yvonne Minton (als Octavian) und Régine Crespin (als Marschallin). Die Wiener Philharmoniker unter Georg Solti im Jahr 1968. Ein gutes Beispiel dafür, wie Solti, der Medien-Mogul, sich in das gemachte Bett einer vielfach sehr gut aufgenommenen Oper legte – und trotzdem gute Figur machte. Diese Aufnahme des «Rosenkavalier» rangiert zwar nicht unbedingt gleich auf mit den klassischen, unschlagbaren alten Aufnahmen von Erich Kleiber und Herbert von Karajan. Aber sie kommt doch – zumal als Stereo-Aufnahme! – gleich danach, und hat einen von diesen beiden Vorgängern erstaunlich unabhängigen, originellen Weg in das Werk gefunden – nämlich als Ausdruck eines nicht zu stoppenden musikalischen Kraftquells, den ja doch auch schließlich Strauss selber in sich entdeckt und freigesetzt hatte. Und: Interessant auch das Produktionsdatum der Aufnahme: 1968. Um es hier noch einmal zu pointieren: Kein anderer Dirigent – höchstens der Adorno-Schüler Michael Gielen – stand der Kulturkritik im Deutschland der Nachkriegszeit so nahe wie Georg Solti. Schließlich hat ihm Theodor W. Adorno, der wohl wichtigste Repräsentant der Frankfurter Schule, die Partituren Mahlers und Bruckners direkt mit dem Auftrag übergeben, sich mit dieser Musik auseinanderzusetzen. Und doch firmiert kein anderer Dirigent so sehr als Aushängeschild einer die eigenen Resourcen so sehr ausbeutenden Musikindustrie. Solche Widersprüche sind in der Klassik kein Einzelfall. Als Meister aller KommerzKlassen müsste man in der Zeit nach Solti, wenn man die Zahl der Aufnahmen und die Wendigkeit gegenüber dem Zeitgeist zugrunde legt, auf jeden Fall den Dirigenten Claudio Abbado nennen. Auch er ein Repräsentant sogar der intellektuellen Linken, der dennoch in kommerzieller Hinsicht einen sicheren, konformeren und gewinnorientierteren Kurs fuhr als fast jeder andere Dirigent seiner Generation. Sie stutzen? Schauen Sie sich die Breite der Aufnahmetätigkeit Abbados nur einmal an. Er hat nichts ausgelassen und kann als kommerziell erfolgreichster Dirigent nach dem Ende der Ära Karajans und Soltis gelten. Und Abbado hatte dabei noch dazu (was sich Solti erspart hat) immer gleichsam einen kulturkritischen Spruch auf den Lippen (und ein Bekenntnis zu Lugi Nono sowieso). Nichts gegen Claudio Abbado! Aber auch nichts gegen Georg Solti! Sie gaben den großen Jahren der Schallplattenindustrie, was diese wollte. Und nahmen dabei, was man ihnen als Dividende versprach. Hätten wir nicht diese Großverdiener des musikalischen Establishments, wir hätten auch viele der Aufnahmen nicht, die dieses Erbe bewahren und für die Zukunft tradieren. Wollten wir kulturpessimistisch sein, so könnten wir sogar noch einen Schritt weiter gehen und sagen: Georg Solti hat die großen Jahre der Stereophonie von Anfang bis zum Ende, von der Wiege bis zum Grabe mitgemacht, geprägt und für sich auszunutzen gewusst. Und er hat den dazu passenden Titel auch gleich noch mitdirigiert: „Von der Wiege bis zum Grabe“, die Tondichtung von Franz Liszt; 1974 im schönen Paris. © kulturradio vom Rundfunk Berlin-Brandenburg (rbb) www.kulturradio.de Georg Solti – 11. Folge 7 DG LC 00173 00289 477 9525 Track 603 Seite 9 von 9 Franz Liszt „Von der Wiege bis zum Grabe“ S 107 Orchestre de Paris Ltg. Georg Solti 1974 14’48 „Von der Wiege bis zum Grabe“ von Franz Liszt. Georg Solti mit dem Orchestre de Paris im Jahr 1974. „Alles muss raus“ war der Titel dieser Folge unserer Sendereihe über Georg Solti – über Solti als Medienmogul. Dieser Titel sollte aussagen, dass mit Georg Solti ein Mann des musikalischen Massenpublikums in der Schallplattengeschichte reüssierte, der nicht nur fast mehr aufgenommen hat als die meisten seiner Kollegen; sondern dass Solti mit dieser ausgiebigen Aufnahmepolitik auch gleichsam für Generationen im voraus Schallplatten hergestellt hat. Von einem nicht billig aufzunehmenden Orchesterwerk wie dem eben gehörten etwa gibt es bis heute kaum neuere Aufnahmen vorzuweisen. Mit Georg Solti begann also in gewisser Weise ein Ausverkauf der Klassik in dem Sinne, dass man mit Solti bei dem Repertoire stehenblieb, das schon vor ihm aufgetan und auch dargestellt worden war; während kaum Neues mehr dazu kam. Der Sachverhalt klingt abstrakt. Ich kann es Ihnen konkreter beschreiben. Zum 100. Geburtstag des Dirigenten im Jahr 2012 plante die Schallplattenfirma Soltis, die zur Universal gehörende Decca, im Grunde gar nichts. Warum nicht? Nun, man sagte: „Wir haben das Solti-Repertoire ja schon wieder und wieder veröffentlicht. Hier ist schlicht und ergreifend nichts mehr zu tun.“ Auch schön: Georg Solti hat sich die große Zeit seines Wirkens mehr oder weniger noch direkt auszahlen lassen können... Er hat die beste Zeit seiner Karriere voll miterlebt. Davon konnten die Komponisten, dessen Werke er dirigierte, alle nur träumen... 8 Decca LC 00171 436 620-2 Track 001 Wolfgang Amadeus Mozart Symphonie Nr. 40 g-Moll KV 550 I. Molto allegro Chamber Orchestra of Europe Ltg. Georg Solti 1984 8’20 Der 1. Satz: Molto allegro aus Mozarts Symphonie Nr. 40 g-Moll KV 550. Georg Solti hier zur Abwechslung einmal mit dem Chamber Orchestra of Europe im Jahr 1984. In der kommenden Woche macht Georg Solti hier einen Hausbesuch. Nicht bei uns. Sondern in Garmisch bei einem Komponisten, von dem er wichtige Instruktionen für sein ganzes künftiges Dirigentenleben erhalten sollte. Und an dessen Lippen er hing, bis die Ehefrau des Komponisten Richard Strauss, Pauline Strauss, ihn unsanft aufforderte, jetzt müsse er aber gehen, denn der alte Mann brauche jetzt seinen Mittagsschlaf. Auch wir müssen jetzt gehen. Bis zur nächsten Woche, Ihr Kai Luehrs-Kaiser. © kulturradio vom Rundfunk Berlin-Brandenburg (rbb) www.kulturradio.de