Funktionelle Bauchschmerzen Kinderpsychiatrische Aspekte Dr. med. Simone KrähenbühlBlanchard Fortbildung Kinderspital Luzern 30. Oktober 2007 7 Dimensionen des Symptoms 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. Lokalisation: wo? Qualität: vergleichbar mit… Qantität: wie stark, wie gross? Zeitlicher Ablauf Umstände: unter welchen Umständen… Beeinflussbarkeit: was hilft, was schadet? Begleitphänomene: Fieber, Gewichtsverlust… Krankheitsverhalten Symptom Verleugnung, Bagatellisierung Überreaktion auf normale körperliche Sensationen Normale Reaktion auf körperliche Veränderungen Einteilung Stufe 1 Stufe 2 Stufe 3 Rekurrierende Bauchschmerzen Pädiater Rekurrierende Bauchschmerzen mit beginnenden psychosozialen Folgen Pädiater und/ oder Psychiater Chronifizierte Somatisierung und/ oder komorbide psychische Störung Pädiater und Psychiater Stufe 1 Rekurrierende Bauchschmerzen Somatische Abklärung Kursorische psychische Anamnese* Normale, gesunde Ernährung Entspannung / Ablenkung / Normalisierung im Alltag *Funktionelle Beschwerden in der Familie Psychische Erkrankungen Schulbesuch Freizeitaktivitäten Stufe 2 Rekurrierende Bauchschmerzen mit beginnenden psychosozialen Folgen Schmerztagebuch durch Kind und Eltern Gefahr: dauerndes Nachfragen, Aufmerksamkeitsfokussierung Verhaltensanalyse der Schmerzepisoden Umgang mit der Unsicherheit und Angst aller Beteiligten Voraussetzung: Gemeinsame Problemdefinition Kooperation Vertrauen Symptomzentrierte Intervention Kontrolle der auslösenden und aufrechterhaltenden Bedingungsfaktoren Kreislauf der Angst Angst des Kindes: Ich bin schwer krank. Kindliche Klagen Fehlende „positive“ Ergebnisse Angst der Mutter Das Kind ist schwer krank. Mache ich einen Fehler, dann bin ich eine schlechte Mutter. Abklärungen Arztbesuch Angst des Arztes: Ich verpasse etwas. Stufe 3 Chronifizierte Somatisierung und/ oder komorbide psychische Störung Keine weiteren somatischen Abklärungen, auch wenn andere Organsysteme betroffen sind! Ausgedehnte psychiatrische Exploration Kooperation Eltern- und Familiengespräche Gruppentherapie (soziale Fähigkeiten Selbstsicherheit) Länger dauernde intensive Einzelpsychotherapie Ev. Hospitalisation Artikel 2006 / 07 Eltern mit Colon irritabile (IBS) • Erwachsene mit IBS erlebten schon als Kinder Verstärkung bei Krankheitsäusserungen. • Ihre Kinder äussern mehr GI-Symptome, mehr Magenbeschwerden, fehlen häufiger in der Schule und gehen häufiger zum Arzt. – 25% mehr Arztbesuche als Kontrollgruppen, davon 22% wegen GI-Symptomen. • Der gelernte Anteil ist viel grösser als eine genetische Disposition (die aber auch vorhanden ist). Mütter von Kindern mit funktionellen Bauschschmerzen (FAP) • In der Anamnese gehäuft: – – – – IBS Migräne Angststörungen und Depressionen Somatoforme Störungen • Gegenwärtig: – Angststörungen und Depression, somatische Symptome – Schlechtere Lebensqualität (gehäuft geschiedene Eltern, – Häufigere Arztbesuche, aber nicht gehäuft psychiatrische Konsultationen* Mütter von Kindern mit somatoformen Störungen • Unsicherheit und verzerrte Wahrnehmung bei der Bewertung von Äusserungen des Kindes • Weinen im Säuglingsalter wird mit somatischem Unwohlsein, z.B. Hunger, oder Krankheit assoziiert. • Es entstehen dadurch falsche Muster • Bei der Anamnese sprechen diese Mütter nur über somatische Krankheiten. Frühkindliche Risikofaktoren für die Entwicklung von RAP im Schulalter • RAP = rezidivierende abdominelle Schmerzen • Angststörungen von Vater und Mutter, mütterliche Symptome ohne somatisches Korrelat • Temperament des Kindes: schlecht rhythmisiert, (über)aktiv • Tendenz der Mütter, die Symptome der Kinder zu überbewerten • Erhöhte Wahrscheinlichkeit für RAP im Schulalter mit vermehrten Arztbesuchen, Schulabsenzen, Angststörungen des Kindes (generalisierte Angststörungen, Trennungsangst) Frühkindliche Risikofaktoren für die Entwicklung von RAP im Schulalter 2 Mögliche Mechanismen • Ängstliche Eltern verstärken die Wiederholung von Symptomen, wenn das Kind dadurch Aufmerksamkeit erhält • Sie modellieren das Krankheitsverhalten ihres Kindes. • RAP kann seinerseits ein Zeichen einer Disposition für Angststörungen beim Kind sein. • Emotionale Symptome beeinflussen den Verlauf negativ. Auswirkung von RAP im Kindergartenalter • Mütterliche Angst ist eng gekoppelt mit schlechterem Verlauf bei 6-jährigen Kindern mit RAP • Mütterliche Angst ist ebenfalls gekoppelt mit Angststörungen des Kindes und Schulabwesenheit. • RAP des Kindes ist gehäuft assoziiert mit Kopfoder Gliederschmerzen. • Emotionale Symptome beeinflussen den Verlauf negativ. Kinder • Leistungsorientierung: Perfektionismus, hohe Leistungsansprüche, wenig Erholung • Selbstwertprobleme: Abhängigkeit von der Anerkennung von Leistung, Selbstentwertungstendenz • Konfliktleugnung: Harmonisierungsbedürfnis, vermeidendes Verhalten in Konfliktsituationen • Aggressionshemmung: geringes Durchsetzungsvermögen, Überanpassung • Alexithymie: Unfähigkeit, Gefühle wahrzunehmen und zu beschreiben Komorbidität bei Kindern • • • • • • Emotionale Störung mit Trennungsangst Depressionen Generalisierte Angststörung des Kindesalters Emotionale Störung mit Geschwisterrivalität Reaktive Bindungsstörung im Kindesalter Schulische Leistungsüber- oder -unterforderung • Stress durch Familienprobleme, Überlastung Einige Zahlen • h bis 15% aller Kinder • Bis 90% der Kinder mit chronischen Bauchschmerzen haben FAP. • 2/3 der Kinder mit FAP haben mehr als 6 Monate lang Bauchschmerzen. • ¾ der Kinder hatten wiederholte Abklärungen in verschiedenen Spitälern. • Bis zu 50% hatten eine depressive oder Angststörung. Einige Zahlen 2 • Bis zu 50% hatten 3 Jahre später immer noch Bauch- oder andere Schmerzen. Dazu kamen andere Symptome und Schulabsenzen. • Weniger als 10% der Eltern der Kinder mit fortdauernden Beschwerden glaubten an eine psychosomatische Genese. • Bei den geheilten Kindern glaubten dies ¾ der Eltern. • Die Akzeptanz einer psychosomatischen Genese hilft also, die Krankheit zu überwinden. Verlauf funktioneller Beschwerden von Kindheit ins Erwachsenenalter Steinhausen 2007 • Häufigste funktionelle Symptome bei Kindern und Jugendlichen: FAP, Übelkeit und Kopfschmerzen. Des weiteren Schwindel, Müdigkeit und andere Schmerzen. • Weibliches Geschlecht • FAP und andere funktionelle Beschwerden persistieren häufig bis ins Erwachsenenalter. • Im Erwachsenenalter gehäuft psychiatrische Erkrankungen • Die Mütter erzählen mehr somatische und depressive Symptome als die Kinder selber. Verlauf funktioneller Beschwerden von Kindheit ins Erwachsenenalter 2 Steinhausen 2007 • 1100 Jugendliche im Jahr 1994, mittleres Alter 13,5 Jahre • Nachkontrollen 1997 und 2001 (593 Jug.) • „stimmt häufig“: 6-8% Kopfschmerzen, 3-6% Müdigkeit, 6% Hautprobleme (Akne), 3% Bauchschmerzen. • Bei 90% der Jugendlichen bestanden die Symptome auch 7 Jahre später unverändert. • In dieser Studie bestand kein Zusammenhang mit früheren emotionalen oder Verhaltensstörungen. Gespräche Gefahr • Gefahr: dauernde Diskussion über somatogen versus psychogen. • Gefahr Doktorshopping: der beste Arzt ist derjenige, der endlich die „richtige“ Diagnose stellt (die mit dem eigenen Krankheitsverständnis übereinstimmt). • Falsch: – – – – – Das Kind hat nichts Es ist gesund Es ist nur im Kopf Die Abklärungen haben nichts ergeben Positiv ist negativ (Berner Troubadour) • Mehr (Abklärungen) ist immer besser. Was sage ich Eltern und Kind 1 Wesen der Krankheit • Gemeinsame Problemdefinition • Funktionelle Störung • Intensivierung normaler gesunder Darmfunktionen (Hyperreagibilität) • Verstärkte Wahrnehmung der Vorgänge im Bauchraum (Hypersensitivität) • • • • Es verschlägt mir den Appetit. Es liegt mir auf dem Magen. Ich habe Schiss. Es ist zum Kotzen. • Bauchschmerzen vor Prüfungen (Angst) • Der Körper reagiert funktionell auf Beanspruchung: – „Seitenstiche“, Wadenkrampf beim Fussballspielen – Herzklopfen, schneller Atem und Schwitzen bei Anstrengung oder Aufregung – Muskelkater – Gänsehaut und Zittern bei Kälte, Angst oder Schrecken – Schwindel, Übelkeit und Erbrechen beim Karussel Fahren Was sage ich Eltern und Kind 2 Ursachen • Keine körperliche oder psychische Erkrankung im engeren Sinne • Angeborene oder erworbene Veranlagung für eine besondere Empfindsamkeit. • Psychosoziale Faktoren (Stress, Sorgen, Angst) können die Darmfunktionen und deren Wahrnehmung auslösen, verstärken und aufrechterhalten. • Die Beschwerden und Schmerzen sind keinenfalls eingebildet, sondern real. Was sage ich Eltern und Kind 3 Verlauf • Bei vielen Kindern bilden sich die Beschwerden völlig zurück, bei anderen kommen sie immer wieder. • Keine akute Lebensgefahr in den Schmerzsituationen, keine Gefahr einer längerfristigen körperlichen Schädigung. • Gefahr der Chronifizierung: – Schulabsenzen – Psychische Störungen (Angststörung, Trennungsangst, Somatisierungsstörung) Was sage ich Eltern und Kind 4 Konsequenzen • Beschwerden können die Lebensqualität der ganzen Familie beeinträchtigen. • Ziel ist Linderung der Beschwerden, soziale und schulische Integration, familiäre Entspannung, Umgang mit der Angst. • Die Eltern sind die wichtigsten Bezugspersonen und müssen sich deshalb sicher fühlen, wie sie im Alltag auf die Symptomatik reagieren sollen. Was sage ich Eltern und Kind 5 Kontrollierbarkeit und Heilungsmöglichkeiten • Veranlagung kann nicht verändert werden. • Wir können unseren Körper, seine Funktionen und unsere Psyche beeinflussen und steuern. • Wir können den Verlauf beeinflussen: – Schmerzauslöser – Umgang mit dem Schmerz – Aufrechterhaltende Bedingungen