527 Musikwahrnehmung Kapitel 47 Musikwahrnehmung und Amusien Eckart Altenmüller – 529 IX 529 Musikwahrnehmung und Amusien Eckart Altenmüller 47.1 Musik als komplexe auditive Gestalt – 530 47.2 Anatomische und neurophysiologische Grundlagen der Musikwahrnehmung – 531 47.2.1 47.2.2 Einhören und Gehörbildung: Die Plastizität des auditiven Systems beim Musikhören – 531 Funktionelle Neuroanatomie der Musikwahrnehmung – 534 47.3 Amusien 47.3.1 Neuroanatomische Befunde bei amusischen Störungen – 536 – 536 47 530 47 Kapitel 47 · Musikwahrnehmung und Amusien Musik als komplexe auditive Gestalt )) 47.1 »Und ich fragte mich, ob nicht … die Musik das einzige Beispiel dessen sei, was – hätte es keine Erfindung der Sprache, Bildung von Wörtern, Analyse der Ideen gegeben – die mystische Gemeinschaft der Seelen hätte werden können. Sie ist wie eine Möglichkeit, der nicht weiter stattgegeben wurde; die Menschheit hat andere Wege eingeschlagen, die der gesprochenen und geschriebenen Sprache. Aber diese Rückkehr zum Nichtanalysierbaren war so berauschend, dass mir beim Verlassen des Paradieses die Berührung mit mehr oder weniger klugen Menschen außerordentlich banal erschien.« (Marcel Proust, »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit«, S. 3096–3097) In diesem Zitat wird das Wesen der Musik meisterhaft beschrieben. Als einzige Spezies besitzt Homo sapiens zwei lautliche Kommunikationssysteme, nämlich Sprache und Musik. Während sprachliche Kommunikation durch die Möglichkeit der Informationsübermittlung zweifellos einen evolutionären Vorteil mit sich brachte, ist bis heute umstritten, warum sich Musik als weiteres Kommunikationssystem erhielt oder entwickelte. Anthropologische Theorien betonen den Gemeinschaft stiftenden Aspekt der Musik. Früher dienten Wiegenlieder, Arbeitslieder (»Spinnerlieder«, »Erntelieder«) oder Kriegslieder (Marschmusik) diesem Zweck, heute wird der soziale Aspekt des Musizierens und Musikhörens eher in der Identifikation und der gegenseitigen Abgrenzung unterschiedlicher Jugendkulturen deutlich. Musikausübung und Musikwahrnehmung dienen danach als Mittel zur Organisation des Gemeinschaftsleben und stärken die Bindung einer Gruppe bei Auseinandersetzungen mit anderen Gruppen. Ein zweiter Aspekt, den Proust anspricht, ist Musik als Mittel, um intensive Emotionen zu erzeugen. Die »Gänsehaut« beim Hören bestimmter Musikstücke als vegetative Begleitreaktion der Aktivierung des limbischen Systems kennen die meisten Menschen. Derartige starke emotionale Reaktionen sind nicht nur von einer Aktivierung der neuronalen Korrelate des Belohnungssystems mit Ausschüttung von Endorphinen begleitet, sondern wirken sich auch positiv auf den Immunhaushalt des Körpers aus. Die dominante Rolle von Musik in unserem Alltag zeigt sich darin, dass in Umfragen Musizieren oder Musikhören am häufigsten als Hobby genannt wird. Musik wird nach Familie, Freundschaft und Gesundheit als wichtiger Grundwert angesehen und rangiert vor Sport, Religion und Reisen. Musik ist ein komplex zusammengesetzter auditiver Reiz. Grundelemente der Musik sind einzelne Klänge, die durch Tonhöhe, Tonfarbe (Chroma), Klangfarbe (Timbre), Tondauer und Lautstärke charakterisiert werden können. Unter Tonfarbe, auch »Tonigkeit« oder »Chroma« genannt, versteht man eine gewisse Toneigenheit, die unabhängig von der Oktavlage z. B. allen »fis«-Tönen gemeinsam ist. Demgegenüber besteht die Klangfarbe aus den Einschwingvorgängen und den Obertongewichtungen, die den charakteristischen Klang beispielsweise einer Violine ausmachen. Wird eine Serie von Klängen nacheinander gespielt, entstehen auditive Gestalten, die zunächst im auditiven Kurzzeitgedächtnis extrahiert werden, als Muster im auditiven Arbeitsgedächtnis über die Zeit integriert werden und schließlich im Langzeitgedächtnis abgespeichert werden können. Das musikalische Langzeitgedächtnis kann als mental repräsentierte »Musikbibliothek« aufgefasst werden. Neu gehörte Musik wird mit abgespeicherten Mustern verglichen und auf Vertrautheit und musikalischen Sinngehalt geprüft. Musik kann als musikalische Imagination aus dieser »Musikbibliothek« abgerufen werden und vor dem »inneren Ohr« erklingen. > Musik ist die bewusst gestaltete, zeitlich strukturierte Ordnung von akustischen Ereignissen in sozialen Kontexten. Musik ist daher neben Sprache ein zweites menschspezifisches, innerartliches lautliches Kommunikationssystem, das soziale Bindung herstellt und Emotionen erzeugt. > Ähnlich wie für Sprache legen wir ein musikalisches Lexikon, eine mentale »Musikbibliothek« an. Wir können so aus dem Gedächtnis Musik als mentales Erinnerungsbild abrufen. Die Struktur musikalischer Muster kann durch mehrere Parameter beschrieben werden. Dazu gehören 4 die Melodiestruktur, 4 die Zeitstruktur, 4 die vertikale harmonische Struktur (Akkorde) und 4 die dynamische Struktur. Diese Parameter bilden die Grundlage für ein übergeordnetes Regelwerk von Beziehungen untereinander. So unterliegen die für die klassische westliche Musik typischen sich in der Zeit entfaltenden Akkordfolgen Regeln, die manche Autoren als »musikalische Syntax« bezeichnen (vgl. Koelsch 2005). Die Melodiestruktur ist eine sich in der Zeit entfaltende Komponente. Melodiestrukturen enthalten die einzelnen Intervalle als zeitliche Abfolge von diskreten Tonschritten, Konturen als Aufwärts- und Abwärtsbewegungen von Tonfolgen und schließlich Perioden als größere, mehrere Sekunden andauernde Melodieeinheiten. Eine Periode gehorcht Symmetrieregeln und Harmoniegesetzen und besteht in der Terminologie der Musiktheorie aus »Vordersatz« und »Nachsatz«. Perioden erzeugen meist ein Gefühl der Spannung und Entspannung. Diese verschiede- 531 47.2 · Anatomische und neurophysiologische Grundlagen der Musikwahrnehmung nen Wahrnehmungseinheiten der Melodiestruktur setzen eine unterschiedlich lange Integration auditiver Ereignisse über die Zeit voraus. Somit ist auch das auditive Arbeitsgedächtnis in unterschiedlichem Ausmaß an dieser Wahrnehmungsleistung beteiligt. Kognitionstheoretisch wird intervallbezogenes Hören mit Segmentierung kleiner Wahrnehmungseinheiten als lokaler, konturbezogenes Hören dagegen als globaler Verarbeitungsmodus aufgefasst (Lehrdal u. Jackendoff 1983). Die zeitliche Organisation von Musik erfolgt durch ihre Zeitstruktur. Die wichtigsten musikalischen Zeitstrukturen sind Rhythmen und Metren. Rhythmus ist definiert durch die zeitlichen Verhältnisse dreier aufeinanderfolgender Ereignisse. Metrum ist die einer Gruppe von aufeinanderfolgenden Tönen zugrunde liegende gleichmäßige Pulsation. Auch die Wahrnehmung von Rhythmus und Metrum setzt eine über die Zeit integrierende Speicherung akustischer Ereignisse und das Erkennen einer Ordnung voraus. Die Wahrnehmung von Metren beruht dabei auf dem Erkennen einer Periodizität. Analog zur Verarbeitung von Melodien kann bei Zeitstrukturen die Verarbeitung von Rhythmen als lokaler, die von Metren als globaler Verarbeitungsmodus aufgefasst werden. Als harmonische Struktur wird die harmonische Organisation einzelner Klänge bezeichnet. Harmonische Strukturen können als Klangfarbe oder als Akkordstruktur beschrieben werden. Die Empfindung einer bestimmten Klangfarbe wird durch das spezifischen Obertonspektrum eines Klanges und durch die bei der Tonerzeugung entstehenden Geräusche erzeugt. Wahrnehmung von Akkordstrukturen beruht auf der Erkennung von Schwingungsverhältnissen. Einfache Schwingungsverhältnisse (z. B. Oktave: 2:1, Quinte: 3:2, Quarte: 4:3) werden in der Regel als konsonant oder als harmonisch empfunden, komplexe Schwingungsverhältnisse (z. B. kleine Sekunde 16:15) als dissonant. Diese Empfindungen sind subjektiv, interkulturell verschieden und waren über die Jahrhunderte einem Wechsel unterworfen. So wurde in der abendländischen Musik beispielsweise die Quarte noch im 16. Jahrhundert von einigen Musiktheoretikern als dissonant klassifiziert. Die Wahrnehmung von Klangfarben und Akkordstrukturen setzt schnelle auditorische Analysevorgänge im Bereich von wenigen Millisekunden voraus. Die dynamische Struktur bezeichnet als vertikale Dynamik die Lautstärkenverhältnisse innerhalb eines Klanges, als horizontale Dynamik die Lautstärkenverhältnisse innerhalb einer Gruppe aufeinanderfolgender Klänge. Vertikale Dynamik ermöglicht durch Hervorheben und Zurücktreten bestimmter Stimmen die Abstufung eines Klangraums in Vordergrund und Hintergrund. Horizontale Dynamik vermittelt ganz wesentlich die affektive Qualität eines Musikstücks (Übersicht bei Juslin u. Sloboda 2009). > Musikwahrnehmung beruht auf einem komplexen Zusammenspiel der Verarbeitung von Melodie-, Zeit-, Harmonie- und dynamischen Strukturen. Die Analysevorgänge können unterschiedliche Zeitabschnitte umfassen und benötigen ein leistungsfähiges auditorisches Arbeitsgedächtnis. Lokale Verarbeitung von Melodiestrukturen beruht auf der Analyse einzelner Intervalle, globale Verarbeitung auf der Analyse von Konturen. Lokale Verarbeitung von Zeitstrukturen beruht auf der Analyse von Rhythmen, globale auf der von Metren. 47.2 Anatomische und neurophysiologische Grundlagen der Musikwahrnehmung Die anatomischen und neurophysiologischen Grundlagen der Musikwahrnehmung konnten bisher nur unvollständig aufgeklärt werden. Während die neuronalen Korrelate der frühen Verarbeitungsschritte der Musikwahrnehmung, z. B. der Tonhöhen- oder Klangfarbenempfindung, recht gut erforscht sind, besteht hinsichtlich der neurobiologischen Grundlagen der Verarbeitung komplexer musikalischer Strukturen weiterhin eine verwirrende Variabilität der Befunde. Dies weist auf individuell angelegte und weit verzweigte neuronale Netzwerke als Grundlage der Musikwahrnehmung hin. Seit Längerem ist bekannt, dass der Grad der musikalischen Ausbildung die Hirnlateralisation beim Musikhören beeinflusst: Berufsmusiker zeigen bei analytischen Musikaufgaben stärkere linkshemisphärische, Laien stärkere rechtshemisphärische Aktivierung (Altenmüller 1986). In 7 Abschn. 47.2.1 werden zunächst weitere Faktoren dargestellt, die Einfluss auf die neuronalen Korrelate der Musikwahrnehmung haben. In 7 Abschn. 47.2.2 wird dann das derzeitige Wissen zur funktionellen Anatomie der Musikverarbeitung zusammengefasst. 47.2.1 Einhören und Gehörbildung: Die Plastizität des auditiven Systems beim Musikhören Die Veränderbarkeit der Musikwahrnehmung durch Anpassung und Übung wird im Sprachgebrauch der Musiker durch Begriffe wie »Einhören« oder »Gehörbildung« verdeutlicht. Die Plastizität der Musikwahrnehmung – und generell der auditiven Mustererkennung – mag mit der besonders starken Divergenz der aufsteigenden auditorischen Bahnen zusammenhängen. Den 2-mal ca. 3.500 inneren Haarzellen im Innenohr stehen ungefähr 100 Mrd. zentrale Neurone gegenüber. Das bedeutet, dass pro Sinneszelle auf der Basilarmembran des Innenohres etwa 14 Mio. Ner- 47 532 47 Kapitel 47 · Musikwahrnehmung und Amusien venzellen zur weiteren Verarbeitung zur Verfügung stehen. Wie Gerhard Roth ausführt, muss das menschliche Gehirn einen ungeheuren Aufwand treiben, um aus der extrem spärlichen Information, die vom Innenohr kommt, all die ungeheuren Details der auditorischen Wahrnehmung zu erzeugen, die etwa beim Sprachverstehen oder bei der Musikwahrnehmung vorliegen. Je »dürftiger« aber ein von der Peripherie kommendes Signal ist, desto mehr Aufwand müssen die Gehirnzentren treiben, um diesen Signalen eine eindeutige Bedeutung zuzuweisen. Diese Bedeutungszuweisung ist dann hochgradig erfahrungsabhängig (Roth 1995). > Der Prozess des Musikhörens ist ein strukturierender, Bedeutung generierender Vorgang, als dessen Resultat erfahrungsabhängig komplexe auditive Muster als Musik wahrgenommen werden. Übungsinduzierte auditive Plastizität Die Anpassung an akustische Bedingungen kann bereits nach sehr kurzer Zeit eine Veränderung der auditiven Mustererkennung bewirken. Nach wenigen Stunden Training ist dies auch mit objektiven Methoden nachweisbar. Pantev et al. (1999) zeigten, dass durch künstliche Elimination eines bestimmten Frequenzbandes beim Musikhören schon nach drei Stunden eine Verringerung der neuronalen Antwort des primären und sekundären auditorischen Kortex selektiv in diesem Frequenzbereich entstand. Umgekehrt führt intensives musikalisches Training zu einer Vergrößerung rezeptiver Felder in primären und sekundären auditiven Regionen (Pantev et al. 1998). Dabei sind diese Veränderungen spezifisch für die jeweiligen Instrumente und musikalischen Erfordernisse. Trompeter beispielsweise besitzen nur für Trompetenklänge, nicht aber für Geigenklänge vergrößerte rezeptive Felder (Pantev et al. 2001). Dirigenten zeigen im Vergleich zu Pianisten eine stärkere Reaktion auditiver Neurone bei Aufgaben, die eine präzise Ortslokalisation von Klangquellen erfordern (Münte et al. 2001). Eben diese Fertigkeit wird im Alltag eines Dirigenten ständig geübt. Auch in Verhaltensexperimenten wird deutlich, dass Musikwahrnehmung spezifisch für die jeweiligen Erfordernisse des Instruments trainiert wird. Die speziellen Hörfertigkeiten von Musikern spiegeln sich auch in neuroanatomischen Anpassungen wider (7 Abschn. 47.2.2, Übersichten dazu auch bei Münte et al. 2002; Wan u. Schlaug 2010). > Musikhören unterliegt ständigen plastischen Lernvorgängen. Bereits nach wenigen Stunden auditiven Trainings lassen sich Veränderungen rezeptiver Felder in den auditiven Arealen nachweisen. Diese Veränderungen sind hoch spezifisch für die geübte Hörfertigkeit. Absolutes Gehör Absolutes Gehör bezeichnet die Fähigkeit, Tonhöhen ohne einen zuvor gehörten und benannten Referenzton korrekt zu benennen. Die kategoriale Zuordnung der Tonhöhe erfolgt sehr rasch, gelingt auch bei Sinustönen und wird nur bei extrem hohen oder tiefen Tönen unsicher. Manche Absoluthörer neigen dazu, die Oktavposition von Tönen zu verwechseln (sog. Oktav- oder Chromafehler). Als Gegensatz des absoluten Gehörs wird das weitaus häufigere relative Gehör gesehen. Absolutes Gehör kann als eine besondere Form der übungsbedingten Anpassung des auditiven Systems angesehen werden. Voraussetzung für den Erwerb eines absoluten Gehörs ist frühes musikalisches Training. Die sensitive Periode scheint zwischen dem Kleinkindalter und etwa 9 Jahren zu liegen. Ab dem Alter von 12 Jahren kann das absolute Gehör nicht mehr erworben werden. Dieses frühe Training ist eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung, um absolutes Gehör zu erwerben, da viele Kinder trotz frühen Trainings Relativhörer bleiben. Offenbar spielt eine genetische Disposition eine Rolle. So zeigen Zwillingsstudien, dass absolutes Gehör mit einer Konkordanz von 8–15% auftritt, auch wenn die Zwillinge getrennt aufwachsen (Überblick bei Zatorre 2003). Für die genetische Komponente spricht auch, dass absolutes Gehör in Japan, China, Korea und Vietnam häufiger auftritt als bei kaukasischen Volksgruppen. Dabei mag auch das Erlernen von tonalen Sprachen, bei denen Tonhöhen semantische Qualitäten zugewiesen werden, den Erwerb des absoluten Gehörs unterstützen (Deutsch et al. 2009). Allerdings sind Japanisch und Koreanisch keine tonalen Sprachen, und dennoch findet sich in beiden Ethnien ein höherer Anteil von Absoluthörern. Absoluthörer weisen als neuroanatomische Besonderheit eine verstärkte Asymmetrie des Schläfenlappens mit relativ größerem linksseitigem Planum temporale im hinteren Anteil der oberen Temporalhirnwindung auf (Schlaug et al. 1995; 7 Kap. 62). Dies wird als Ausdruck einer morphologischen Anpassung des Nervensystems auf frühes Training gewertet. In funktionellen Aktivierungsstudien mit der PET-Methode konnte gezeigt werden, dass Absoluthörer bei der Identifikation von Tonhöhen im linken dorsolateralen präfrontalen Kortex ein Aktivitätsmaximum zeigten, das bei Relativhörern fehlte. Wurden Relativhörer aber trainiert, bestimmte Klänge mit willkürlich ausgesuchten Ziffern zu assoziieren, dann zeigte sich bei ihnen genau das gleiche Aktivierungsmaximum. Dies spricht dafür, dass die konditionierte Assoziation eines Klanges mit einem Namen in dieser Region erfolgt (Bermudez u. Zatorre 2005). Zusätzlich findet man bei Absoluthörern während der Wahrnehmung von im Gedächtnis einzuspeichernden Melodien eine Aktivierung in der linken hinteren oberen Temporalwindung und des angrenzenden 533 47.2 · Anatomische und neurophysiologische Grundlagen der Musikwahrnehmung Parietalkortex, die wahrscheinlich einer frühen verbalvisuellen Kategorisierung der Töne entspricht (Schulze et al. 2009). > Absolutes Gehör bezeichnet die Fähigkeit, Tonhöhen ohne einen zuvor gehörten und benannten Referenzton korrekt zu benennen. Frühes musikalisches Training vor dem Alter von 9 Jahren scheint die Ausbildung des absoluten Gehörs zu fördern. Darüber hinaus ist eine genetische Komponente für den Erwerb des absoluten Gehörs von Bedeutung. Effekte von Gehörbildung An Musikhochschulen wird das Fach Gehörbildung angeboten. In diesem Unterricht werden auditive Diskriminationsfähigkeit, Mustererkennung und die Fertigkeit, musikalische Strukturen zu kategorisieren und zu benennen, trainiert. Gehörbildung und musikalisches Lernen im Allgemeinen bedeutet den Erwerb zusätzlicher mentaler Repräsentationen von Musik. Folgendes Beispiel mag dies verdeutlichen: Während ungeübte Hörer eine unbekannte Orchestermusik in der Regel ausschließlich ganzheitlich auditiv erleben, verfügen geschulte Hörer über multiple Repräsentationen. Sie erkennen Instrumente, Strukturen und Stilmerkmale des Stückes, können sie benennen und z. B. als Notenbild visuell repräsentieren. Spielen die Hörer selbst ein Instrument, wird zusätzlich eine kinästhetisch-sensomotorische Repräsentation der Musik aktiviert. Besonders eindrucksvoll können diese zusätzlichen mentalen Repräsentationen bei Berufsmusikern dargestellt werden. So zeigen Pianisten im funktionellen Kernspintomogramm beim Hören von Klaviermusik und beim Sehen von pianistischen Bewegungen eine starke Aktivierung der primären motorischen Handareale ohne messbare Muskelkontraktionen (Bangert et al. 2006; Haslinger et al. 2005). Diese unbewusst ablaufenden motorischen Korepräsentationen von Klängen oder Bewegungsbildern können als Spiegelneuronsystem gedeutet werden. Zusätzlich kommt es zur Aktivierung der Broca-Region, die offenbar das mit dem Instrumentenspiel gelernte Regelwerk repräsentiert. Dieses Netzwerk ist für das erlernte Instrument spezifisch. So zeigen Geiger beim Hören von Geigenmusik, nicht aber von Flötenmusik diese Aktivierung und umgekehrt (Margulis et al. 2007). > Jahrelange Gehörbildung und Instrumentalunterricht führen zum Erwerb zusätzlicher mentaler Repräsentationen von Musik. Die verschiedenen mentalen Repräsentationen musikalischer Strukturen werden in unterschiedlichen neuronalen Netzwerken abgelegt (. Abb. 47.1). Ein weiterer Faktor, der Struktur und Lokalisation der beteiligten neuronalen Netzwerke beeinflusst, ist die Art und Weise, wie musikalisches Wissen erworben wurde. So scheint beispielsweise überwiegend prozedurales musikalisches Handlungslernen durch Musizieren ohne verbale Intervention eher auf rechtsfrontotemporalen Netzwerken zu beruhen, Erwerb von explizitem Faktenwissen »über« Musik aber eher auf linksfrontotemporalen Strukturen (Altenmüller et al. 1997). > Die neuroanatomischen Substrate des Musikhörens sind stark erfahrungsabhängig und repräsentieren eher die Art und Weise, wie wir gelernt haben, Musik zu hören, als feststehende »Musikzentren«. Sie spiegeln also die individuellen Hörbiografien wider. Anatomische Besonderheiten der Musikergehirne Intensive Gehörbildung und jahrelanges Üben auf dem Instrument führen zu plastischen Anpassungen des ZNS, die sich mit morphometrischen Methoden im MRT sehr gut abbilden lassen. Bereits zwei Jahre Klavierunterricht führen bei Kindern zu spezifischen Vergrößerungen sensomotorischer und auditiver Großhirnregionen (Hyde et al. 2009). Langjährige Übung der Feinmotorik erzeugt bei Pianisten und Geigern eine Größenzunahme der sensomotorischen Handregionen, insbesondere der nicht dominanten Hand. Diese Unterschiede sind besonders bei denjenigen Instrumentalisten deutlich, die vor dem Alter von 7 Jahren mit dem Instrumentalspiel begonnen hatten. Untersuchungen mit der »voxelbasierten Morphometrie« (VBM; 7 Kap. 2) zeigen, dass nicht nur die anatomische Größe des motorischen Kortex bei Musikern zunimmt, sondern auch die Dichte der Neuronen (Gaser u. Schlaug 2003) und dass letztere Veränderungen auch noch entstehen, wenn erst im Erwachsenenalter begonnen wird zu üben. Auch das Broca-Areal, das Kleinhirn, und der primäre auditive Kortex besitzen bei Musikern eine größere neuronale Dichte. Die absolute Größe der primären Hörrinde korreliert sehr gut mit Hörfertigkeiten, die vor allem auditives Arbeitsgedächtnis erfordern (Schneider et al. 2002). Derartige übungsabhängige plastische Anpassungen des Nervensystems betreffen auch die Faserstruktur. So ist der Balken bei Musikern im Vergleich zu Nichtmusikern kräftiger ausgeprägt. Mithilfe der Faserdarstellung (Diffusion Tensor Imaging, DTI; 7 Kap. 2) konnte gezeigt werden, dass diese Größenzunahme vor allem diejenigen Anteile des Balkens betrifft, die die auditiven Kortizes beider Hemisphären verbinden. Auch die Pyramidenbahn vom primär motorischen Kortex zu den Vorderhornregionen des Rückenmarks ist bei Pianisten stärker ausgeprägt als bei einer Kontrollpopulation (Bengtsson et al. 2005). 47 534 Kapitel 47 · Musikwahrnehmung und Amusien 47 . Abb. 47.1 Vereinfachtes Modell der Beziehung zwischen Komplexität auditorischer Information und Ausdehnung der beteiligten neuronalen Netzwerke. Im Gegensatz zum ungeübten Hörer verfügen Musiker über multiple Repräsentationen von Musik. Das Kreuz »P.« links verdeutlicht die Plastizität des primären (A1), sekundären (A2), und assoziativen auditiven Kortex. Das rechts eingezeichnete Kreuz »L.B.« verdeutlicht die Rolle der auditiven »Lernbiografie«, durch die individuell unterschiedliche mentale Repräsentationen von 47.2.2 Funktionelle Neuroanatomie der Musikwahrnehmung Die funktionelle Neuroanatomie der Musikwahrnehmung ist durch Vielfalt und Widersprüchlichkeit der Befunde gekennzeichnet. Die Vielfalt entsteht zum einem durch die Komplexität von Musik, denn die verschiedenen Teilaspekte werden in unterschiedlichen, teilweise überlappenden neuronalen Netzwerken verarbeitet. Andererseits sind diese neuronalen Substrate, – wie oben erläutert, – stark erfahrungsabhängig. Als Faustregel gilt, dass frühe Verarbeitungsstufen der Musikwahrnehmung, z. B. Tonhöhenund Lautstärkediskrimination noch interindividuell recht konstant in primären und sekundären auditiven Arealen beider Hemisphären stattfinden. Spätere Verarbeitungsstufen und komplexere Mustererkennungsprozesse, wie die Wahrnehmung von Melodien und von Zeitstrukturen sind jedoch nicht mehr auf interindividuell konstante, eng umgrenzte neuronale Netzwerke zurückzuführen. Frühe Verarbeitungsstufen der Musikwahrnehmung Wie bei jeder auditiven Verarbeitung wird auch beim Musikhören zunächst die aufsteigende Hörbahn von den bei- Musik entstehen. Diese können abwechselnd aktiviert werden. Geübte Hörer können musikalische Strukturen vereinfachen (Pfeil nach links unten) oder komplizieren (Pfeil nach rechts oben). Die lokalisatorischen Angaben auf der y-Achse sind nicht wörtlich zu verstehen, sondern sollen die zunehmende Ausdehnung der neuronalen Netzwerke andeuten. Die z-Achse »Akkulturation« verdeutlicht, dass mentale Repräsentationen von Musik auch vom jeweiligen kulturellen Rahmen abhängen den Cochleae bis zur primären Hörrinde (A1) in den beiden Heschl-Querwindungen (Brodman-Areal 41) durchlaufen (s. Unter der Lupe »Anatomische Grundlagen« in 7 Kap. 17). Im primären auditorischen Kortex reagieren viele Neurone nicht nur auf reine Sinustöne, sondern auch auf komplexe akustische Reize. Bereits auf dieser Stufe besteht eine Spezialisierung beider Hirnhemisphären. So erfolgt die Verarbeitung sehr rascher Zeitstrukturen (z. B. die Stimmeinsatzzeiten bei der Artikulation von Konsonanten) eher in der linksseitigen, die Verarbeitung von Spektren und Klangfarben eher in der rechtsseitigen Area 41 (Zatorre 2001). Lautstärkediskrimination beruht überwiegend auf sekundären auditiven Arealen (A2) der rechten oberen Temporalhirnwindung. Sie umgeben den primären Hörkortex halbkreisförmig (Belin et al. 1998). Tonhöhendiskrimination und Melodiewahrnehmung Musikalische Laien zeigen beim Vergleich unterschiedlicher Tonhöhen Aktivierungen im rechten dorsolateralen präfrontalen Kortex und in der oberen Temporalhirnwindung. Dabei scheint die rechte präfrontale Region eher der vergleichenden Bewertung zu dienen, während die temporale Aktivierung die Tätigkeit des auditiven Arbeitsge- 535 47.2 · Anatomische und neurophysiologische Grundlagen der Musikwahrnehmung dächtnisses widerspiegelt (Zatorre et al. 1994). Wird der Schwierigkeitsgrad der Aufgabe gesteigert, indem zwischen die zu vergleichenden Töne zunehmend längere Störreize eingefügt werden, so werden die mittleren und unteren Temporalhirnwindungen mit einbezogen (Holcomb et al. 1998). Offensichtlich sind dort neuronale Netzwerke für komplex strukturierte oder länger im Gedächtnis zu haltende musikalische Strukturen lokalisiert. Bei Berufsmusikern sind linkshemisphärische Netzwerke in stärkerem Ausmaß an Tonhöhenunterscheidung oder Akkordwahrnehmung beteiligt (Altenmüller 1986; Beisteiner et al. 1994). Die Wahrnehmung von Melodien aktiviert zusätzlich zu primären und sekundären auditiven Arealen die rechten, in geringerem Ausmaß auch die linken anterioren und posterioren auditiven Assoziationsareale der oberen Temporalhirnwindung (Griffiths et al. 1998). Die Verarbeitung der musikalisch-harmonischen Regeln, der musikalischen Syntax, erfolgt in spezialisierten neuronalen Netzwerken des unteren frontolateralen Kortex, die auf der linken Hemisphäre zur Broca-Area gehören (BrodmannArea 44). Bei Regelverletzungen z. B. durch einen unerwarteten Akkord in einer konventionellen Akkordfolge entstehen Aktivitätsmaxima in diesem Anteil der linken Hemisphäre und im rechtshemisphärischen Broca-Analogon. Darüber hinaus sind auch beidseitig Anteile des hinteren oberen Temporalkortex aktiviert (Übersicht bei Koelsch 2005). Eine Aktivierung der sprachrelevanten Broca-Area (Brodmann-Area 44) findet sich bei vielen musikbezogenen Aufgaben, z. B. wenn Pianisten Fingerbewegungen auf einer stummen Tastatur ausführen, aber auch bei anderen regelbezogenen symbolischen Bewegungsfolgen, etwa beim affektiven Gestikulieren oder bei der Ausführung von Zeichensprache. Es ist daher davon auszugehen, dass diese Region grundsätzlich auf Regeln beruhende komplexe Verhaltensweisen sowohl wahrnehmungsseitig wie auch ausführungsseitig verarbeitet. Verarbeitung musikalischer Zeitstrukturen Bei der Verarbeitung einfacher rhythmischer Beziehungen (Verhältnis der Dauern 1:2:4 oder 1:2:3) werden linkshemisphärische prämotorische und parietale Areale aktiviert, bei komplexen (1:2,5:3,5) Zeitverhältnissen dagegen rechtshemisphärische prämotorische und frontale Regionen (Sakai et al. 1999). Beide Bedingungen führen darüber hinaus zur Aktivierung des Zerebellums. Dies passt gut zur Auffassung, dass dem Kleinhirn die Rolle eines »Zeitgebers« zukommt. Die parietale Aktivierung kann mit auditiven Aufmerksamkeitsprozessen in Zusammenhang gebracht werden. So wurde in mehreren Hirnaktivierungsstudien nachgewiesen, dass gezielte auditive Aufmerksamkeit zur Aktivierung eines frontozentralen-parietalen Netzwerks führt (z. B. Belin et al. 1998). Andere Ergebnisse erhält man, wenn man geübte Hörer untersucht: So zeigen Musikstudenten bei der Diskrimination von Rhythmen oder Metren die höchsten kortikalen Aktivierungen rechtsfrontotemporal (Altenmüller et al. 2000). Verarbeitung der durch Musik induzierten Emotionen Erst in den letzten Jahren wurde begonnen, mit funktioneller Bildgebung (PET, fMRT, MEG) die Neurophysiologie der durch Musik induzierten Emotionen zu erforschen. Wenn Jugendliche Musik als »schön« empfinden, kommt es zu einer stärkeren Aktivierung linksfrontotemporaler Netzwerke. Negativ bewertete Musik geht mit einer stärkeren Aktivierung rechtsfrontotemporaler Regionen einher (Altenmüller et al. 2002). Eine starke Beteiligung des limbischen Systems konnte mit der PET-Methode gezeigt werden: Bei konsonant klingender und angenehm empfundener Musik kam es bilateral im orbitofrontalen Kortex, im Bereich des medialen Gyrus cinguli sowie rechtsfrontopolar zur Aktivierung. Dissonante, als unangenehm empfundene Musik führte dagegen zu Aktivierung im rechten Gyrus parahippocampalis (Übersicht bei Koelsch 2010). Noch eindrucksvoller sind die Befunde, wenn die Probanden Musik anhören, die starke Emotionen mit »Gänsehautgefühl« auslöst. Die Aktivierungen während der Gänsehauterlebnisse umfassen Bereiche des Mittelhirns, des Nucleus accumbens sowie des orbitofrontalen Kortex; gehemmt wird dagegen die Aktivität der Amygdala (Blood u. Zatorre 2001). Neue Untersuchungen zeigen, dass die Antizipation des musikalischen Glückserlebens zu einer Dopaminausschüttung im N. caudatus führt, der eigentliche Gänsehautmoment dann zu einer Dopaminausschüttung im N. accumbens (Salimpoor et al. 2011). > Auf frühen auditiven Verarbeitungsstufen existiert eine Hemisphärenbevorzugung mit Zeitverarbeitung links-, spektraler Verarbeitung rechtstemporal. Bei musikalischen Laien beruhen Tonhöhenund Melodiewahrnehmung auf bilateralen, jedoch rechtshemisphärisch überwiegenden frontotemporalen Netzwerken. Die Verarbeitung von Zeitstrukturen aktiviert zusätzlich zu auditiven Arealen prämotorisch frontale und parietale Areale sowie das Kleinhirn. Durch Musik erzeugte Emotionen werden in spezifischen Anteilen des limbischen Systems verarbeitet. Emotionale Valenzurteile korrelieren bei positiver Bewertung mit einer Mehraktivierung linksfrontotemporal, bei negativer Bewertung rechtsfrontotemporal. Glückszustände beim Musikhören mit »Gänsehauterlebnissen« führen zur Aktivierung des limbischen Selbstbelohnungssystems. In . Tab. 47.1 wird die relative Hemisphärenlateralisation musikalischer Teilleis tungen, soweit es bekannt ist, zusammengefasst. 47 536 Kapitel 47 · Musikwahrnehmung und Amusien . Tab. 47.1 Übersicht über die relative Hemisphärenlateralisation unterschiedlicher musikalischer Teilleistungen 47 Linke Hemisphäre Rechte Hemisphäre Artikulation ++++ + Klangfarben ++ +++ Dynamik ++ +++ Tonhöhe ++ +++ Intervalle +++ ++ Konturen ++ +++ Perioden Abhängig von Ausbildung Rhythmen +++ ++ Metren ++ +++ Gedächtnis +? ++++? Emotionen Positiv Negativ 47.3 Amusien > Unter Amusien versteht man Störungen der Musikverarbeitung. Rezeptive Amusie bezeichnet eine Störung der Musikwahrnehmung, expressive Amusie eine Störung der musikalischen Produktion. Der Begriff der Amusie wurde 1871 erstmals verwendet und 1877 von Kußmaul aufgegriffen. Früher teilweise synonym gebrauchte Bezeichnungen sind »musikalische Agnosie«, »Instrumentalapraxie« oder »Dysmusie«. Häufig betreffen Amusien nur bestimmte Aspekte der Musikverarbeitung, etwa die Wahrnehmung von Rhythmen oder von Melodien. Eine Untergliederung der Amusien in missverständliche Begriffe wie »Arhythmie« als Bezeichnung für Störungen der Rhythmuswahrnehmung oder »Amelodie« für Störungen der Melodiewahrnehmung sollte vermieden werden. Die häufigsten Ursachen von Amusien sind umschriebene Hirnläsionen nach Schlaganfällen. In den letzten Jahren wurde durch systematische Untersuchungen das Krankheitsbild der genetisch mitbedingten kongenitalen Amusie charakterisiert. Dabei handelt es sich um eine Teilleistungsschwäche, die bevorzugt die Tonhöhenwahrnehmung betrifft und weniger mit Defiziten der Rhythmuswahrnehmung einhergeht (Peretz et al. 2002). Nach Schätzungen leiden ca. 4% der Menschen an einer kongenitalen Amusie. Für eine genetische Ursache spricht die familiäre Häufung und erhöhte Konkordanzraten bei eineiigen gegenüber zweieiigen Zwillingen (Peretz et al. 2007). Im klinischen Alltag werden Amusien häufig übersehen, obwohl bei ca. 70% der Schlaganfallpatienten amusische Defizite vorliegen (Schuppert et al. 2000). Die hohe Dunkelziffer ist dadurch bedingt, dass musikalische Leistungen meist nicht abgefragt werden. Darüber hinaus werden Einbußen musikalischer Fertigkeiten von den betroffenen Patienten während des Klinikaufenthalts häufig nicht bemerkt, zumal in der Regel gravierendere Defizite im Vordergrund stehen. Ausnahmen bilden Berufsmusiker, die sehr viel sensibler auf Veränderungen ihrer musikalischen Fertigkeiten reagieren. Es ist darum nicht erstaunlich, dass seit dem Beginn der Amusieforschung 1870 die weitaus meisten Fallberichte Berufsmusiker betreffen. Eine weitere Schwierigkeit liegt darin, dass – im Gegensatz zu vielen anderen als Kulturleistungen etablierten kognitiven Fertigkeiten – das Leistungsniveau im musikalischen Bereich in der Bevölkerung sehr unterschiedlich ist. So kann z. B. die Beherrschung einfacher Grammatikregeln, ein bestimmter Wortschatz oder die Kenntnis der Grundrechenarten in Deutschland vorausgesetzt werden. Ein vergleichbares Standardniveau musikalischer Leistungen gibt es nicht. Dadurch wird die Zusammenstellung einer Normgruppe für die Testung erheblich erschwert. Um eine rezeptive Amusie zu erfassen kann bei musikalisch nicht vorgebildeten Patienten die »Montreal Battery of Evaluation of Amusia« (MBEA; http://www.brams.umontreal.ca/plab/ research) herangezogen werden. Allerdings prüft der Test weder die oft stärker betroffenen expressiven musikalischen Fertigkeiten ab, noch werden die emotionalen Defizite der Musikverarbeitung berücksichtigt (7 Fallbeispiel). > Amusische Defizite treten bei ca. 70% der Schlaganfallpatienten auf und sind damit häufiger als Aphasien. Am Krankenbett werden sie meist übersehen, da musikalische Leistungen häufig nicht abgefragt und von den Patienten in der Regel nicht spontan bemerkt werden. Auch ohne Hirnschädigung kommen bei ca. 4% der Bevölkerung amusische Störungen vor allem der Tonhöhen- und Melodiewahrnehmung vor. Hier wird als Ursache eine genetisch mitbedingte Teilleistungsstörung angenommen. 47.3.1 Neuroanatomische Befunde bei amusischen Störungen Eine eindeutige Zuordnung bestimmter amusischer Störungen zu definierten Läsionen ist nicht möglich. Eine komplette Amusie mit Ausfall aller rezeptiven und expressiven Leistungen setzt immer eine ausgedehnte bilaterale Läsion der Temporallappen mit Einbeziehung der beiden vorderen Temporalpole voraus. Zahlreiche Fallstudien sind zu 537 47.3 · Amusien Fallbeispiel KD ist ein pensionierter Lehrer und begeisterter Musikliebhaber, ohne jemals selbst ein Instrument erlernt zu haben. Er besucht regelmäßig Konzerte und hört vor allem klassische Musik und Jazz im Radio. Als er eines Morgens ein leichtes Hängen des linken Mundwinkels und eine Ungeschicklichkeit der linken Hand beim Rasieren bemerkte, suchte er den Hausarzt auf, der ihn sofort in die neurologische Klinik einwies. Dort klangen die motorischen Störungen im Laufe des Tages ab. Die Untersuchungen ergaben eine leichte Reflexbetonung links und ein Absinken des linken Armes im Halteversuch. Sprachstörungen bestanden nicht. Eine computertomografische Untersuchung am ersten Tag war unauffällig, die Dopplersonografie zeigte mehrere große Plaques in der rechten Arteria carotis communis. Nach 4 Tagen wurde KD entlassen. Zwei Tage nach der Entlassung besuchte er mit seiner Frau ein Abonnentenkonzert, bei dem ein von ihm besonders geschätztes Trompetenkonzert von Joseph Haydn gespielt wurde. Doch für ihn völlig unverständlich ließ ihn diese Musik völlig kalt. Die Musik kam ihm »flach« vor. Er konnte auch nicht mehr sicher den Klang der Trompete aus der begleitenden Streichermusik heraushören, obwohl er die Bewegungen des Störungen einzelner Aspekte der Musikwahrnehmung und Musikproduktion nach Hirnläsionen veröffentlicht worden. Bei den Betroffenen handelte es sich in der Regel um Berufs- oder Amateurmusiker. Eine Übersicht und kritische Würdigung dieser Einzelfälle würde den Rahmen dieses Kapitels sprengen, eine Zusammenfassung und Systematisierung der Befunde ist wegen der Heterogenität der Krankheitsbilder und der Läsionsorte jedoch auch nicht möglich. Diese große Variabilität ergibt sich einerseits aus den neurobiologischen Grundlagen der Musikverarbeitung, andererseits aus dem Einsatz unterschiedlicher, in der Regel nicht vergleichbarer Testverfahren. Aber auch systematische Untersuchungen an größeren Gruppen von Patienten mit vergleichbarem Testmaterial zeigen durchaus heterogene Ergebnisse. Isabelle Peretz untersuchte Schlaganfallpatienten mit dem MBEA-Test. Sie fand, dass Patienten nach Schädigung der linken Hirnhälfte häufiger Schwierigkeiten hatten, Melodien zu unterscheiden, in denen einzelne Intervalle variiert waren (lokale Hörweise), während Patienten nach rechtshirnigen Läsion eher bei der Unterscheidung von Konturen (globale Hörweise) eine schlechtere Leistung zeigten (Peretz 1990). Diese klare Dichotomie konnten Schuppert et al. (2000) nicht bestätigen: Bei 20 Patienten bestand ein ganz heterogenes Ausfallsmuster nach Schlaganfällen der linken oder der rechten Hemisphäre. Insgesamt 70% der Patienten Trompeters an seinem Instrument sehr gut erkannte. Überhaupt hatte er den Eindruck, als seien die Klänge der verschiedenen Instrumente zu einem Brei vermischt. Eine unerfreuliche Erfahrung. Am anderen Tag suchte er den Ohrenarzt auf, der jedoch eine altersentsprechend sogar überdurchschnittliche Hörfähigkeit attestierte. Er stellte sich dann in unserem Institut vor. Wir untersuchten seine Fähigkeit, Klangfarben zu erkennen, Tonhöhen, Intervalle, Melodiekonturen, Rhythmen und Metren zu unterscheiden. Außerdem wurde das musikalische Langzeitgedächtnis überprüft: Wir baten ihn, Musikstücke aus seiner Plattensammlung mitzubringen, und testeten seine Erkennensleistung. Alle Testwerte wurden mit Werten einer kleinen Normgruppe verglichen, die an etwa gleichaltrigen, musikalisch ebenfalls interessierten, aber nicht aktiv musizierenden Männern mit abgeschlossenem Hochschulstudium erhoben wurden. Es zeigte sich, dass bei KD selektiv nur die Klangfarbenerkennung beeinträchtigt war. Eine daraufhin durchgeführte Kernspintomografie ergab den Befund einer etwa 3 cm großen ischämischen Läsion rechtstemporal, die die vorderen Anteile des oberen und mittleren Gyrus temporalis und eines kleinen Teiles der Inselregion mit einschloss (publiziert in Kohlmetz et al. 2003). zeigten rezeptive amusische Störungen und 6 der 12 linkshemisphärisch geschädigten Patienten litten zusätzlich unter einer Aphasie. Auch neuere Untersuchungen kommen zu ähnlichen Ergebnissen. So untersuchten Särkämö et al. (2010) insgesamt 53 Schlaganfallpatienten 1 Woche, 3 Monate und 6 Monate nach dem Insult mit dem MBEA-Test. Sie fanden bei 12 der insgesamt 24 Patienten (=50%) mit linkshemisphärischen Läsionen und bei 20 von 29 Patienten (=69%) mit rechtshemisphärischen Läsionen eine Amusie. Patienten, mit rechtshemisphärischen Läsionen hatten eine stärker ausgeprägte Amusie und bei Schädigung des auditorischen Kortex auch schlechtere Heilungsraten. Ähnlich wie in der Studie von Schuppert et al. (2003) erholte sich die Hälfte der Patienten ohne Schädigung des auditorischen Kortex nach 6 Monaten. Interessanterweise litten die amusischen Patienten in dieser Gruppe auch unter allgemeinen kognitiven Defiziten, insbesondere unter Störungen des Arbeitsgedächtnisses, der Aufmerksamkeitssteuerung und der kognitiven Flexibilität. Systematische Untersuchungen zu expressiven musikalischen Fertigkeiten werden derzeit durch uns durchgeführt. Bei 33 Schlaganfallpatienten wurde zusätzlich zu dem rezeptiven Amusietest die Fähigkeit untersucht, Rhythmen nachzuklopfen oder Melodien auf einem Glockenspiel nachzuspielen. Die Testergebnisse wurden auf Band aufgenommen, mit Aufnahmen von Kontrollpersonen gemischt 47 538 47 Kapitel 47 · Musikwahrnehmung und Amusien und von 3 Experten anschließend »blind« bewertet. Vier wesentliche Ergebnisse sind bemerkenswert: 1. Die expressiven Tests mit Nachspielen von Rhythmen und Melodien sind sensitiver als die rezeptiven Tests; die Patienten zeigten hier die größten Leistungseinbrüche. 2. Das Erkennen bekannter Volkslieder ist die stabilste Leistung nach Schlaganfällen – hier zeigten sich die geringsten Unterschiede zu den Kontrollprobanden. 3. Es ergeben sich auch bei den expressiven Störungen keine eindeutigen Hinweise auf eine Hemisphärenbevorzugung. 4. Entscheidend für das Ausmaß einer Einbuße im expressiven Bereich ist die musikalische Vorbildung. Bereits eine kurze musikalische Ausbildung in der Kindheit, z. B. 1 Jahr Blockflötenunterricht, verringert das Ausmaß der expressiven amusischen Defizite signifikant. Man kann spekulieren, ob in diesen Fällen früh erworbene zusätzliche mentale Repräsentationen von Musik reaktiviert werden können. > Komplette Amusien mit Ausfall aller musikalischen Leistungen beobachtet man nur nach ausgedehnten bilateralen Temporallappenläsionen. Die amusischen Defizite nach einseitigen Hemisphärenläsionen sind heterogen und bilden sich oft rasch zurück. Expressive Amusien sind häufiger als rezeptive Amusien. Frühe musikalische Ausbildung scheint den Ausprägungsgrad einer expressiven Amusie im späteren Lebensalter deutlich zu verringern. Das Krankheitsbild der kongenitalen Amusie wird auf eine genetisch mitbedingte Entwicklungsstörung, bevorzugt der Tonhöhen- und Melodiewahrnehmung, zurückgeführt. Zusammenfassung Musik ist neben Sprache ein zweites menschspezifisches, innerartliches lautliches Kommunikationssystem. Musik kann als komplexe auditive Gestalt verstanden werden, die Emotionen erzeugt und soziale Bindung verstärkt. Musikwahrnehmung beruht auf dem Zusammenspiel der Verarbeitung von Melodie-, Zeit- und Harmoniestrukturen. Die funktionelle Neuroanatomie dieser Leistungen ist individuell variabel, da stark von Erfahrung geprägt. Die neuronalen Substrate der Musikwahrnehmung spiegeln die individuellen mentalen Repräsentationsweisen für Musik wider. Professionelle Musiker besitzen andere mentale Repräsentationen von Musik als Laien. Unter einer »Amusie« wird eine Störung der Musikverarbeitung verstanden. Ein völliger Ausfall der Musikwahrnehmung wird nur nach ausgedehnten beidseitigen Temporallappenläsionen beobachtet. Defizite in einzelnen Bereichen der Musikwahrnehmung und Musikproduktion finden sich bei ca. 70% der Schlaganfallpatienten. Amusien sind somit deutlich häufiger als Sprachstörungen. Eine systematische Zuordnung bestimmter Ausfallmuster zu Läsionsorten gelingt nicht, da von individuell angelegten, weit verzweigten neuronalen Netzwerken als Grundlage der Musikwahrnehmung und -produktion auszugehen ist. Bei ca. 4% der Menschen findet sich eine kongenitale Amusie mit Störungen der Tonhöhen- und Melodiewahrnehmung. Als Ursache wird eine genetisch bedingte Teilleistungsstörung angenommen. ? Kontrollfragen Die Antworten auf die folgenden Fragen finden Sie im Lerncenter zu diesem Kapitel unter 7 www.lehrbuchpsychologie.de (Projekt Kognitive Neuropsychologie). 1. Wie kann man Musik definieren? 2. Warum sind neuroanatomische Substrate der Musikwahrnehmung individuell so unterschiedlich? 3. Welche Probleme ergeben sich bei der Testung auf Musikwahrnehmungsstörungen (Amusie-Tests)? 4. Welche Formen der Amusie kennen Sie?