Musikwahrnehmung - PublicationsList.org

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527
Musikwahrnehmung
Kapitel 47
Musikwahrnehmung und Amusien
Eckart Altenmüller
– 529
IX
529
Musikwahrnehmung
und Amusien
Eckart Altenmüller
47.1
Musik als komplexe auditive Gestalt
– 530
47.2
Anatomische und neurophysiologische Grundlagen
der Musikwahrnehmung – 531
47.2.1
47.2.2
Einhören und Gehörbildung: Die Plastizität des auditiven Systems
beim Musikhören – 531
Funktionelle Neuroanatomie der Musikwahrnehmung – 534
47.3
Amusien
47.3.1
Neuroanatomische Befunde bei amusischen Störungen
– 536
– 536
47
530
47
Kapitel 47 · Musikwahrnehmung und Amusien
Musik als komplexe auditive Gestalt
))
47.1
»Und ich fragte mich, ob nicht … die Musik das einzige Beispiel dessen sei, was – hätte es keine Erfindung der Sprache,
Bildung von Wörtern, Analyse der Ideen gegeben – die
mystische Gemeinschaft der Seelen hätte werden können.
Sie ist wie eine Möglichkeit, der nicht weiter stattgegeben
wurde; die Menschheit hat andere Wege eingeschlagen, die
der gesprochenen und geschriebenen Sprache. Aber diese
Rückkehr zum Nichtanalysierbaren war so berauschend,
dass mir beim Verlassen des Paradieses die Berührung mit
mehr oder weniger klugen Menschen außerordentlich banal
erschien.« (Marcel Proust, »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit«, S. 3096–3097)
In diesem Zitat wird das Wesen der Musik meisterhaft
beschrieben. Als einzige Spezies besitzt Homo sapiens zwei
lautliche Kommunikationssysteme, nämlich Sprache und
Musik. Während sprachliche Kommunikation durch die
Möglichkeit der Informationsübermittlung zweifellos einen
evolutionären Vorteil mit sich brachte, ist bis heute umstritten, warum sich Musik als weiteres Kommunikationssystem
erhielt oder entwickelte. Anthropologische Theorien
betonen den Gemeinschaft stiftenden Aspekt der Musik.
Früher dienten Wiegenlieder, Arbeitslieder (»Spinnerlieder«,
»Erntelieder«) oder Kriegslieder (Marschmusik) diesem
Zweck, heute wird der soziale Aspekt des Musizierens und
Musikhörens eher in der Identifikation und der gegenseitigen Abgrenzung unterschiedlicher Jugendkulturen
deutlich. Musikausübung und Musikwahrnehmung dienen
danach als Mittel zur Organisation des Gemeinschaftsleben
und stärken die Bindung einer Gruppe bei Auseinandersetzungen mit anderen Gruppen. Ein zweiter Aspekt, den
Proust anspricht, ist Musik als Mittel, um intensive Emotionen zu erzeugen. Die »Gänsehaut« beim Hören bestimmter
Musikstücke als vegetative Begleitreaktion der Aktivierung
des limbischen Systems kennen die meisten Menschen.
Derartige starke emotionale Reaktionen sind nicht nur von
einer Aktivierung der neuronalen Korrelate des Belohnungssystems mit Ausschüttung von Endorphinen begleitet,
sondern wirken sich auch positiv auf den Immunhaushalt
des Körpers aus. Die dominante Rolle von Musik in unserem
Alltag zeigt sich darin, dass in Umfragen Musizieren oder
Musikhören am häufigsten als Hobby genannt wird. Musik
wird nach Familie, Freundschaft und Gesundheit als wichtiger Grundwert angesehen und rangiert vor Sport, Religion
und Reisen.
Musik ist ein komplex zusammengesetzter auditiver
Reiz. Grundelemente der Musik sind einzelne Klänge, die
durch Tonhöhe, Tonfarbe (Chroma), Klangfarbe (Timbre),
Tondauer und Lautstärke charakterisiert werden können.
Unter Tonfarbe, auch »Tonigkeit« oder »Chroma« genannt, versteht man eine gewisse Toneigenheit, die unabhängig von der Oktavlage z. B. allen »fis«-Tönen gemeinsam ist. Demgegenüber besteht die Klangfarbe aus
den Einschwingvorgängen und den Obertongewichtungen,
die den charakteristischen Klang beispielsweise einer Violine ausmachen. Wird eine Serie von Klängen nacheinander gespielt, entstehen auditive Gestalten, die zunächst
im auditiven Kurzzeitgedächtnis extrahiert werden, als
Muster im auditiven Arbeitsgedächtnis über die Zeit integriert werden und schließlich im Langzeitgedächtnis
abgespeichert werden können. Das musikalische Langzeitgedächtnis kann als mental repräsentierte »Musikbibliothek« aufgefasst werden. Neu gehörte Musik wird
mit abgespeicherten Mustern verglichen und auf Vertrautheit und musikalischen Sinngehalt geprüft. Musik
kann als musikalische Imagination aus dieser »Musikbibliothek« abgerufen werden und vor dem »inneren Ohr«
erklingen.
> Musik ist die bewusst gestaltete, zeitlich strukturierte Ordnung von akustischen Ereignissen
in sozialen Kontexten. Musik ist daher neben
Sprache ein zweites menschspezifisches, innerartliches lautliches Kommunikationssystem, das soziale Bindung herstellt und Emotionen erzeugt.
> Ähnlich wie für Sprache legen wir ein musikalisches Lexikon, eine mentale »Musikbibliothek«
an. Wir können so aus dem Gedächtnis Musik als
mentales Erinnerungsbild abrufen.
Die Struktur musikalischer Muster kann durch mehrere
Parameter beschrieben werden. Dazu gehören
4 die Melodiestruktur,
4 die Zeitstruktur,
4 die vertikale harmonische Struktur (Akkorde) und
4 die dynamische Struktur.
Diese Parameter bilden die Grundlage für ein übergeordnetes Regelwerk von Beziehungen untereinander. So
unterliegen die für die klassische westliche Musik typischen
sich in der Zeit entfaltenden Akkordfolgen Regeln, die
manche Autoren als »musikalische Syntax« bezeichnen
(vgl. Koelsch 2005).
Die Melodiestruktur ist eine sich in der Zeit entfaltende Komponente. Melodiestrukturen enthalten die einzelnen Intervalle als zeitliche Abfolge von diskreten Tonschritten, Konturen als Aufwärts- und Abwärtsbewegungen von Tonfolgen und schließlich Perioden als größere,
mehrere Sekunden andauernde Melodieeinheiten. Eine
Periode gehorcht Symmetrieregeln und Harmoniegesetzen und besteht in der Terminologie der Musiktheorie aus
»Vordersatz« und »Nachsatz«. Perioden erzeugen meist ein
Gefühl der Spannung und Entspannung. Diese verschiede-
531
47.2 · Anatomische und neurophysiologische Grundlagen der Musikwahrnehmung
nen Wahrnehmungseinheiten der Melodiestruktur setzen
eine unterschiedlich lange Integration auditiver Ereignisse
über die Zeit voraus. Somit ist auch das auditive Arbeitsgedächtnis in unterschiedlichem Ausmaß an dieser Wahrnehmungsleistung beteiligt. Kognitionstheoretisch wird
intervallbezogenes Hören mit Segmentierung kleiner
Wahrnehmungseinheiten als lokaler, konturbezogenes
Hören dagegen als globaler Verarbeitungsmodus aufgefasst (Lehrdal u. Jackendoff 1983).
Die zeitliche Organisation von Musik erfolgt durch
ihre Zeitstruktur. Die wichtigsten musikalischen Zeitstrukturen sind Rhythmen und Metren. Rhythmus ist definiert
durch die zeitlichen Verhältnisse dreier aufeinanderfolgender Ereignisse. Metrum ist die einer Gruppe von aufeinanderfolgenden Tönen zugrunde liegende gleichmäßige
Pulsation. Auch die Wahrnehmung von Rhythmus und
Metrum setzt eine über die Zeit integrierende Speicherung
akustischer Ereignisse und das Erkennen einer Ordnung
voraus. Die Wahrnehmung von Metren beruht dabei auf
dem Erkennen einer Periodizität. Analog zur Verarbeitung
von Melodien kann bei Zeitstrukturen die Verarbeitung
von Rhythmen als lokaler, die von Metren als globaler Verarbeitungsmodus aufgefasst werden.
Als harmonische Struktur wird die harmonische Organisation einzelner Klänge bezeichnet. Harmonische
Strukturen können als Klangfarbe oder als Akkordstruktur
beschrieben werden. Die Empfindung einer bestimmten
Klangfarbe wird durch das spezifischen Obertonspektrum
eines Klanges und durch die bei der Tonerzeugung entstehenden Geräusche erzeugt. Wahrnehmung von Akkordstrukturen beruht auf der Erkennung von Schwingungsverhältnissen. Einfache Schwingungsverhältnisse (z. B.
Oktave: 2:1, Quinte: 3:2, Quarte: 4:3) werden in der Regel
als konsonant oder als harmonisch empfunden, komplexe
Schwingungsverhältnisse (z. B. kleine Sekunde 16:15) als
dissonant. Diese Empfindungen sind subjektiv, interkulturell verschieden und waren über die Jahrhunderte einem
Wechsel unterworfen. So wurde in der abendländischen
Musik beispielsweise die Quarte noch im 16. Jahrhundert
von einigen Musiktheoretikern als dissonant klassifiziert.
Die Wahrnehmung von Klangfarben und Akkordstrukturen setzt schnelle auditorische Analysevorgänge im Bereich von wenigen Millisekunden voraus.
Die dynamische Struktur bezeichnet als vertikale
Dynamik die Lautstärkenverhältnisse innerhalb eines
Klanges, als horizontale Dynamik die Lautstärkenverhältnisse innerhalb einer Gruppe aufeinanderfolgender
Klänge. Vertikale Dynamik ermöglicht durch Hervorheben und Zurücktreten bestimmter Stimmen die Abstufung eines Klangraums in Vordergrund und Hintergrund. Horizontale Dynamik vermittelt ganz wesentlich
die affektive Qualität eines Musikstücks (Übersicht bei
Juslin u. Sloboda 2009).
> Musikwahrnehmung beruht auf einem komplexen Zusammenspiel der Verarbeitung von Melodie-, Zeit-, Harmonie- und dynamischen Strukturen. Die Analysevorgänge können unterschiedliche Zeitabschnitte umfassen und benötigen
ein leistungsfähiges auditorisches Arbeitsgedächtnis. Lokale Verarbeitung von Melodiestrukturen beruht auf der Analyse einzelner Intervalle,
globale Verarbeitung auf der Analyse von Konturen. Lokale Verarbeitung von Zeitstrukturen
beruht auf der Analyse von Rhythmen, globale
auf der von Metren.
47.2
Anatomische und neurophysiologische
Grundlagen der Musikwahrnehmung
Die anatomischen und neurophysiologischen Grundlagen
der Musikwahrnehmung konnten bisher nur unvollständig aufgeklärt werden. Während die neuronalen Korrelate
der frühen Verarbeitungsschritte der Musikwahrnehmung,
z. B. der Tonhöhen- oder Klangfarbenempfindung, recht
gut erforscht sind, besteht hinsichtlich der neurobiologischen Grundlagen der Verarbeitung komplexer musikalischer Strukturen weiterhin eine verwirrende Variabilität
der Befunde. Dies weist auf individuell angelegte und weit
verzweigte neuronale Netzwerke als Grundlage der Musikwahrnehmung hin. Seit Längerem ist bekannt, dass der
Grad der musikalischen Ausbildung die Hirnlateralisation
beim Musikhören beeinflusst: Berufsmusiker zeigen bei
analytischen Musikaufgaben stärkere linkshemisphärische,
Laien stärkere rechtshemisphärische Aktivierung (Altenmüller 1986). In 7 Abschn. 47.2.1 werden zunächst weitere
Faktoren dargestellt, die Einfluss auf die neuronalen Korrelate der Musikwahrnehmung haben. In 7 Abschn. 47.2.2
wird dann das derzeitige Wissen zur funktionellen Anatomie der Musikverarbeitung zusammengefasst.
47.2.1
Einhören und Gehörbildung:
Die Plastizität des auditiven Systems
beim Musikhören
Die Veränderbarkeit der Musikwahrnehmung durch Anpassung und Übung wird im Sprachgebrauch der Musiker
durch Begriffe wie »Einhören« oder »Gehörbildung« verdeutlicht. Die Plastizität der Musikwahrnehmung – und
generell der auditiven Mustererkennung – mag mit der besonders starken Divergenz der aufsteigenden auditorischen
Bahnen zusammenhängen. Den 2-mal ca. 3.500 inneren
Haarzellen im Innenohr stehen ungefähr 100 Mrd. zentrale Neurone gegenüber. Das bedeutet, dass pro Sinneszelle
auf der Basilarmembran des Innenohres etwa 14 Mio. Ner-
47
532
47
Kapitel 47 · Musikwahrnehmung und Amusien
venzellen zur weiteren Verarbeitung zur Verfügung stehen.
Wie Gerhard Roth ausführt, muss das menschliche Gehirn
einen ungeheuren Aufwand treiben, um aus der extrem
spärlichen Information, die vom Innenohr kommt, all die
ungeheuren Details der auditorischen Wahrnehmung zu
erzeugen, die etwa beim Sprachverstehen oder bei der
Musikwahrnehmung vorliegen. Je »dürftiger« aber ein
von der Peripherie kommendes Signal ist, desto mehr
Aufwand müssen die Gehirnzentren treiben, um diesen
Signalen eine eindeutige Bedeutung zuzuweisen. Diese
Bedeutungszuweisung ist dann hochgradig erfahrungsabhängig (Roth 1995).
> Der Prozess des Musikhörens ist ein strukturierender, Bedeutung generierender Vorgang, als dessen Resultat erfahrungsabhängig komplexe auditive Muster als Musik wahrgenommen werden.
Übungsinduzierte auditive Plastizität
Die Anpassung an akustische Bedingungen kann bereits
nach sehr kurzer Zeit eine Veränderung der auditiven Mustererkennung bewirken. Nach wenigen Stunden Training
ist dies auch mit objektiven Methoden nachweisbar. Pantev
et al. (1999) zeigten, dass durch künstliche Elimination
eines bestimmten Frequenzbandes beim Musikhören
schon nach drei Stunden eine Verringerung der neuronalen Antwort des primären und sekundären auditorischen
Kortex selektiv in diesem Frequenzbereich entstand. Umgekehrt führt intensives musikalisches Training zu einer
Vergrößerung rezeptiver Felder in primären und sekundären auditiven Regionen (Pantev et al. 1998). Dabei sind
diese Veränderungen spezifisch für die jeweiligen Instrumente und musikalischen Erfordernisse. Trompeter beispielsweise besitzen nur für Trompetenklänge, nicht aber
für Geigenklänge vergrößerte rezeptive Felder (Pantev et
al. 2001). Dirigenten zeigen im Vergleich zu Pianisten eine
stärkere Reaktion auditiver Neurone bei Aufgaben, die
eine präzise Ortslokalisation von Klangquellen erfordern
(Münte et al. 2001). Eben diese Fertigkeit wird im Alltag
eines Dirigenten ständig geübt. Auch in Verhaltensexperimenten wird deutlich, dass Musikwahrnehmung spezifisch
für die jeweiligen Erfordernisse des Instruments trainiert
wird. Die speziellen Hörfertigkeiten von Musikern spiegeln sich auch in neuroanatomischen Anpassungen wider
(7 Abschn. 47.2.2, Übersichten dazu auch bei Münte et al.
2002; Wan u. Schlaug 2010).
> Musikhören unterliegt ständigen plastischen
Lernvorgängen. Bereits nach wenigen Stunden
auditiven Trainings lassen sich Veränderungen
rezeptiver Felder in den auditiven Arealen nachweisen. Diese Veränderungen sind hoch spezifisch für die geübte Hörfertigkeit.
Absolutes Gehör
Absolutes Gehör bezeichnet die Fähigkeit, Tonhöhen
ohne einen zuvor gehörten und benannten Referenzton
korrekt zu benennen. Die kategoriale Zuordnung der
Tonhöhe erfolgt sehr rasch, gelingt auch bei Sinustönen
und wird nur bei extrem hohen oder tiefen Tönen unsicher.
Manche Absoluthörer neigen dazu, die Oktavposition von
Tönen zu verwechseln (sog. Oktav- oder Chromafehler).
Als Gegensatz des absoluten Gehörs wird das weitaus
häufigere relative Gehör gesehen. Absolutes Gehör kann
als eine besondere Form der übungsbedingten Anpassung
des auditiven Systems angesehen werden. Voraussetzung
für den Erwerb eines absoluten Gehörs ist frühes musikalisches Training. Die sensitive Periode scheint zwischen
dem Kleinkindalter und etwa 9 Jahren zu liegen. Ab dem
Alter von 12 Jahren kann das absolute Gehör nicht
mehr erworben werden. Dieses frühe Training ist eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung, um absolutes Gehör zu erwerben, da viele Kinder trotz frühen
Trainings Relativhörer bleiben. Offenbar spielt eine genetische Disposition eine Rolle. So zeigen Zwillingsstudien,
dass absolutes Gehör mit einer Konkordanz von 8–15%
auftritt, auch wenn die Zwillinge getrennt aufwachsen
(Überblick bei Zatorre 2003). Für die genetische Komponente spricht auch, dass absolutes Gehör in Japan, China,
Korea und Vietnam häufiger auftritt als bei kaukasischen
Volksgruppen. Dabei mag auch das Erlernen von tonalen
Sprachen, bei denen Tonhöhen semantische Qualitäten
zugewiesen werden, den Erwerb des absoluten Gehörs
unterstützen (Deutsch et al. 2009). Allerdings sind Japanisch und Koreanisch keine tonalen Sprachen, und dennoch findet sich in beiden Ethnien ein höherer Anteil von
Absoluthörern.
Absoluthörer weisen als neuroanatomische Besonderheit eine verstärkte Asymmetrie des Schläfenlappens mit
relativ größerem linksseitigem Planum temporale im hinteren Anteil der oberen Temporalhirnwindung auf (Schlaug
et al. 1995; 7 Kap. 62). Dies wird als Ausdruck einer morphologischen Anpassung des Nervensystems auf frühes
Training gewertet. In funktionellen Aktivierungsstudien
mit der PET-Methode konnte gezeigt werden, dass Absoluthörer bei der Identifikation von Tonhöhen im linken
dorsolateralen präfrontalen Kortex ein Aktivitätsmaximum
zeigten, das bei Relativhörern fehlte. Wurden Relativhörer
aber trainiert, bestimmte Klänge mit willkürlich ausgesuchten Ziffern zu assoziieren, dann zeigte sich bei ihnen
genau das gleiche Aktivierungsmaximum. Dies spricht
dafür, dass die konditionierte Assoziation eines Klanges
mit einem Namen in dieser Region erfolgt (Bermudez u.
Zatorre 2005). Zusätzlich findet man bei Absoluthörern
während der Wahrnehmung von im Gedächtnis einzuspeichernden Melodien eine Aktivierung in der linken
hinteren oberen Temporalwindung und des angrenzenden
533
47.2 · Anatomische und neurophysiologische Grundlagen der Musikwahrnehmung
Parietalkortex, die wahrscheinlich einer frühen verbalvisuellen Kategorisierung der Töne entspricht (Schulze et
al. 2009).
> Absolutes Gehör bezeichnet die Fähigkeit, Tonhöhen ohne einen zuvor gehörten und benannten Referenzton korrekt zu benennen. Frühes
musikalisches Training vor dem Alter von 9 Jahren scheint die Ausbildung des absoluten Gehörs
zu fördern. Darüber hinaus ist eine genetische
Komponente für den Erwerb des absoluten
Gehörs von Bedeutung.
Effekte von Gehörbildung
An Musikhochschulen wird das Fach Gehörbildung angeboten. In diesem Unterricht werden auditive Diskriminationsfähigkeit, Mustererkennung und die Fertigkeit, musikalische Strukturen zu kategorisieren und zu benennen,
trainiert. Gehörbildung und musikalisches Lernen im Allgemeinen bedeutet den Erwerb zusätzlicher mentaler Repräsentationen von Musik. Folgendes Beispiel mag dies
verdeutlichen:
Während ungeübte Hörer eine unbekannte Orchestermusik in der Regel ausschließlich ganzheitlich auditiv erleben, verfügen geschulte Hörer über multiple Repräsentationen. Sie erkennen Instrumente, Strukturen und Stilmerkmale des Stückes, können sie benennen und z. B. als
Notenbild visuell repräsentieren. Spielen die Hörer selbst
ein Instrument, wird zusätzlich eine kinästhetisch-sensomotorische Repräsentation der Musik aktiviert. Besonders
eindrucksvoll können diese zusätzlichen mentalen Repräsentationen bei Berufsmusikern dargestellt werden. So
zeigen Pianisten im funktionellen Kernspintomogramm
beim Hören von Klaviermusik und beim Sehen von pianistischen Bewegungen eine starke Aktivierung der primären
motorischen Handareale ohne messbare Muskelkontraktionen (Bangert et al. 2006; Haslinger et al. 2005). Diese
unbewusst ablaufenden motorischen Korepräsentationen
von Klängen oder Bewegungsbildern können als Spiegelneuronsystem gedeutet werden. Zusätzlich kommt es zur
Aktivierung der Broca-Region, die offenbar das mit dem
Instrumentenspiel gelernte Regelwerk repräsentiert. Dieses
Netzwerk ist für das erlernte Instrument spezifisch. So zeigen Geiger beim Hören von Geigenmusik, nicht aber von
Flötenmusik diese Aktivierung und umgekehrt (Margulis
et al. 2007).
> Jahrelange Gehörbildung und Instrumentalunterricht führen zum Erwerb zusätzlicher mentaler
Repräsentationen von Musik.
Die verschiedenen mentalen Repräsentationen musikalischer Strukturen werden in unterschiedlichen neuronalen
Netzwerken abgelegt (. Abb. 47.1). Ein weiterer Faktor, der
Struktur und Lokalisation der beteiligten neuronalen Netzwerke beeinflusst, ist die Art und Weise, wie musikalisches
Wissen erworben wurde. So scheint beispielsweise überwiegend prozedurales musikalisches Handlungslernen durch
Musizieren ohne verbale Intervention eher auf rechtsfrontotemporalen Netzwerken zu beruhen, Erwerb von explizitem
Faktenwissen »über« Musik aber eher auf linksfrontotemporalen Strukturen (Altenmüller et al. 1997).
> Die neuroanatomischen Substrate des Musikhörens sind stark erfahrungsabhängig und repräsentieren eher die Art und Weise, wie wir gelernt
haben, Musik zu hören, als feststehende »Musikzentren«. Sie spiegeln also die individuellen Hörbiografien wider.
Anatomische Besonderheiten
der Musikergehirne
Intensive Gehörbildung und jahrelanges Üben auf dem
Instrument führen zu plastischen Anpassungen des ZNS,
die sich mit morphometrischen Methoden im MRT sehr
gut abbilden lassen. Bereits zwei Jahre Klavierunterricht
führen bei Kindern zu spezifischen Vergrößerungen sensomotorischer und auditiver Großhirnregionen (Hyde et
al. 2009). Langjährige Übung der Feinmotorik erzeugt bei
Pianisten und Geigern eine Größenzunahme der sensomotorischen Handregionen, insbesondere der nicht dominanten Hand. Diese Unterschiede sind besonders bei
denjenigen Instrumentalisten deutlich, die vor dem Alter
von 7 Jahren mit dem Instrumentalspiel begonnen hatten.
Untersuchungen mit der »voxelbasierten Morphometrie«
(VBM; 7 Kap. 2) zeigen, dass nicht nur die anatomische
Größe des motorischen Kortex bei Musikern zunimmt,
sondern auch die Dichte der Neuronen (Gaser u. Schlaug
2003) und dass letztere Veränderungen auch noch entstehen, wenn erst im Erwachsenenalter begonnen wird
zu üben. Auch das Broca-Areal, das Kleinhirn, und der
primäre auditive Kortex besitzen bei Musikern eine größere neuronale Dichte. Die absolute Größe der primären
Hörrinde korreliert sehr gut mit Hörfertigkeiten, die vor
allem auditives Arbeitsgedächtnis erfordern (Schneider et
al. 2002). Derartige übungsabhängige plastische Anpassungen des Nervensystems betreffen auch die Faserstruktur. So ist der Balken bei Musikern im Vergleich zu Nichtmusikern kräftiger ausgeprägt. Mithilfe der Faserdarstellung (Diffusion Tensor Imaging, DTI; 7 Kap. 2) konnte
gezeigt werden, dass diese Größenzunahme vor allem
diejenigen Anteile des Balkens betrifft, die die auditiven
Kortizes beider Hemisphären verbinden. Auch die Pyramidenbahn vom primär motorischen Kortex zu den Vorderhornregionen des Rückenmarks ist bei Pianisten stärker ausgeprägt als bei einer Kontrollpopulation (Bengtsson
et al. 2005).
47
534
Kapitel 47 · Musikwahrnehmung und Amusien
47
. Abb. 47.1 Vereinfachtes Modell der Beziehung zwischen Komplexität auditorischer Information und Ausdehnung der beteiligten
neuronalen Netzwerke. Im Gegensatz zum ungeübten Hörer verfügen Musiker über multiple Repräsentationen von Musik. Das Kreuz
»P.« links verdeutlicht die Plastizität des primären (A1), sekundären
(A2), und assoziativen auditiven Kortex. Das rechts eingezeichnete
Kreuz »L.B.« verdeutlicht die Rolle der auditiven »Lernbiografie«,
durch die individuell unterschiedliche mentale Repräsentationen von
47.2.2
Funktionelle Neuroanatomie
der Musikwahrnehmung
Die funktionelle Neuroanatomie der Musikwahrnehmung
ist durch Vielfalt und Widersprüchlichkeit der Befunde
gekennzeichnet. Die Vielfalt entsteht zum einem durch die
Komplexität von Musik, denn die verschiedenen Teilaspekte werden in unterschiedlichen, teilweise überlappenden neuronalen Netzwerken verarbeitet. Andererseits sind
diese neuronalen Substrate, – wie oben erläutert, – stark
erfahrungsabhängig. Als Faustregel gilt, dass frühe Verarbeitungsstufen der Musikwahrnehmung, z. B. Tonhöhenund Lautstärkediskrimination noch interindividuell recht
konstant in primären und sekundären auditiven Arealen
beider Hemisphären stattfinden. Spätere Verarbeitungsstufen und komplexere Mustererkennungsprozesse, wie
die Wahrnehmung von Melodien und von Zeitstrukturen
sind jedoch nicht mehr auf interindividuell konstante, eng
umgrenzte neuronale Netzwerke zurückzuführen.
Frühe Verarbeitungsstufen
der Musikwahrnehmung
Wie bei jeder auditiven Verarbeitung wird auch beim Musikhören zunächst die aufsteigende Hörbahn von den bei-
Musik entstehen. Diese können abwechselnd aktiviert werden. Geübte Hörer können musikalische Strukturen vereinfachen (Pfeil nach
links unten) oder komplizieren (Pfeil nach rechts oben). Die lokalisatorischen Angaben auf der y-Achse sind nicht wörtlich zu verstehen,
sondern sollen die zunehmende Ausdehnung der neuronalen Netzwerke andeuten. Die z-Achse »Akkulturation« verdeutlicht, dass mentale Repräsentationen von Musik auch vom jeweiligen kulturellen
Rahmen abhängen
den Cochleae bis zur primären Hörrinde (A1) in den beiden Heschl-Querwindungen (Brodman-Areal 41) durchlaufen (s. Unter der Lupe »Anatomische Grundlagen« in
7 Kap. 17). Im primären auditorischen Kortex reagieren
viele Neurone nicht nur auf reine Sinustöne, sondern auch
auf komplexe akustische Reize. Bereits auf dieser Stufe besteht eine Spezialisierung beider Hirnhemisphären. So erfolgt die Verarbeitung sehr rascher Zeitstrukturen (z. B. die
Stimmeinsatzzeiten bei der Artikulation von Konsonanten)
eher in der linksseitigen, die Verarbeitung von Spektren
und Klangfarben eher in der rechtsseitigen Area 41 (Zatorre 2001). Lautstärkediskrimination beruht überwiegend
auf sekundären auditiven Arealen (A2) der rechten oberen
Temporalhirnwindung. Sie umgeben den primären Hörkortex halbkreisförmig (Belin et al. 1998).
Tonhöhendiskrimination
und Melodiewahrnehmung
Musikalische Laien zeigen beim Vergleich unterschiedlicher Tonhöhen Aktivierungen im rechten dorsolateralen
präfrontalen Kortex und in der oberen Temporalhirnwindung. Dabei scheint die rechte präfrontale Region eher der
vergleichenden Bewertung zu dienen, während die temporale Aktivierung die Tätigkeit des auditiven Arbeitsge-
535
47.2 · Anatomische und neurophysiologische Grundlagen der Musikwahrnehmung
dächtnisses widerspiegelt (Zatorre et al. 1994). Wird der
Schwierigkeitsgrad der Aufgabe gesteigert, indem zwischen
die zu vergleichenden Töne zunehmend längere Störreize
eingefügt werden, so werden die mittleren und unteren
Temporalhirnwindungen mit einbezogen (Holcomb et al.
1998). Offensichtlich sind dort neuronale Netzwerke für
komplex strukturierte oder länger im Gedächtnis zu haltende musikalische Strukturen lokalisiert. Bei Berufsmusikern
sind linkshemisphärische Netzwerke in stärkerem Ausmaß
an Tonhöhenunterscheidung oder Akkordwahrnehmung
beteiligt (Altenmüller 1986; Beisteiner et al. 1994).
Die Wahrnehmung von Melodien aktiviert zusätzlich zu primären und sekundären auditiven Arealen die
rechten, in geringerem Ausmaß auch die linken anterioren
und posterioren auditiven Assoziationsareale der oberen
Temporalhirnwindung (Griffiths et al. 1998). Die Verarbeitung der musikalisch-harmonischen Regeln, der musikalischen Syntax, erfolgt in spezialisierten neuronalen
Netzwerken des unteren frontolateralen Kortex, die auf der
linken Hemisphäre zur Broca-Area gehören (BrodmannArea 44). Bei Regelverletzungen z. B. durch einen unerwarteten Akkord in einer konventionellen Akkordfolge
entstehen Aktivitätsmaxima in diesem Anteil der linken
Hemisphäre und im rechtshemisphärischen Broca-Analogon. Darüber hinaus sind auch beidseitig Anteile des
hinteren oberen Temporalkortex aktiviert (Übersicht bei
Koelsch 2005). Eine Aktivierung der sprachrelevanten
Broca-Area (Brodmann-Area 44) findet sich bei vielen
musikbezogenen Aufgaben, z. B. wenn Pianisten Fingerbewegungen auf einer stummen Tastatur ausführen, aber
auch bei anderen regelbezogenen symbolischen Bewegungsfolgen, etwa beim affektiven Gestikulieren oder bei
der Ausführung von Zeichensprache. Es ist daher davon
auszugehen, dass diese Region grundsätzlich auf Regeln
beruhende komplexe Verhaltensweisen sowohl wahrnehmungsseitig wie auch ausführungsseitig verarbeitet.
Verarbeitung musikalischer Zeitstrukturen
Bei der Verarbeitung einfacher rhythmischer Beziehungen
(Verhältnis der Dauern 1:2:4 oder 1:2:3) werden linkshemisphärische prämotorische und parietale Areale aktiviert, bei komplexen (1:2,5:3,5) Zeitverhältnissen dagegen
rechtshemisphärische prämotorische und frontale Regionen (Sakai et al. 1999). Beide Bedingungen führen darüber
hinaus zur Aktivierung des Zerebellums. Dies passt gut
zur Auffassung, dass dem Kleinhirn die Rolle eines »Zeitgebers« zukommt. Die parietale Aktivierung kann mit
auditiven Aufmerksamkeitsprozessen in Zusammenhang
gebracht werden. So wurde in mehreren Hirnaktivierungsstudien nachgewiesen, dass gezielte auditive Aufmerksamkeit zur Aktivierung eines frontozentralen-parietalen
Netzwerks führt (z. B. Belin et al. 1998). Andere Ergebnisse
erhält man, wenn man geübte Hörer untersucht: So zeigen
Musikstudenten bei der Diskrimination von Rhythmen
oder Metren die höchsten kortikalen Aktivierungen rechtsfrontotemporal (Altenmüller et al. 2000).
Verarbeitung der durch Musik induzierten
Emotionen
Erst in den letzten Jahren wurde begonnen, mit funktioneller Bildgebung (PET, fMRT, MEG) die Neurophysiologie der durch Musik induzierten Emotionen zu erforschen.
Wenn Jugendliche Musik als »schön« empfinden, kommt
es zu einer stärkeren Aktivierung linksfrontotemporaler
Netzwerke. Negativ bewertete Musik geht mit einer stärkeren Aktivierung rechtsfrontotemporaler Regionen einher (Altenmüller et al. 2002). Eine starke Beteiligung des
limbischen Systems konnte mit der PET-Methode gezeigt
werden: Bei konsonant klingender und angenehm empfundener Musik kam es bilateral im orbitofrontalen Kortex, im Bereich des medialen Gyrus cinguli sowie rechtsfrontopolar zur Aktivierung. Dissonante, als unangenehm
empfundene Musik führte dagegen zu Aktivierung im
rechten Gyrus parahippocampalis (Übersicht bei Koelsch
2010). Noch eindrucksvoller sind die Befunde, wenn
die Probanden Musik anhören, die starke Emotionen mit
»Gänsehautgefühl« auslöst. Die Aktivierungen während
der Gänsehauterlebnisse umfassen Bereiche des Mittelhirns, des Nucleus accumbens sowie des orbitofrontalen
Kortex; gehemmt wird dagegen die Aktivität der Amygdala
(Blood u. Zatorre 2001). Neue Untersuchungen zeigen,
dass die Antizipation des musikalischen Glückserlebens
zu einer Dopaminausschüttung im N. caudatus führt, der
eigentliche Gänsehautmoment dann zu einer Dopaminausschüttung im N. accumbens (Salimpoor et al. 2011).
> Auf frühen auditiven Verarbeitungsstufen existiert
eine Hemisphärenbevorzugung mit Zeitverarbeitung links-, spektraler Verarbeitung rechtstemporal. Bei musikalischen Laien beruhen Tonhöhenund Melodiewahrnehmung auf bilateralen, jedoch
rechtshemisphärisch überwiegenden frontotemporalen Netzwerken. Die Verarbeitung von Zeitstrukturen aktiviert zusätzlich zu auditiven Arealen
prämotorisch frontale und parietale Areale sowie
das Kleinhirn. Durch Musik erzeugte Emotionen
werden in spezifischen Anteilen des limbischen
Systems verarbeitet. Emotionale Valenzurteile korrelieren bei positiver Bewertung mit einer Mehraktivierung linksfrontotemporal, bei negativer Bewertung rechtsfrontotemporal. Glückszustände
beim Musikhören mit »Gänsehauterlebnissen«
führen zur Aktivierung des limbischen Selbstbelohnungssystems. In . Tab. 47.1 wird die relative
Hemisphärenlateralisation musikalischer Teilleis
tungen, soweit es bekannt ist, zusammengefasst.
47
536
Kapitel 47 · Musikwahrnehmung und Amusien
. Tab. 47.1 Übersicht über die relative Hemisphärenlateralisation unterschiedlicher musikalischer Teilleistungen
47
Linke Hemisphäre
Rechte Hemisphäre
Artikulation
++++
+
Klangfarben
++
+++
Dynamik
++
+++
Tonhöhe
++
+++
Intervalle
+++
++
Konturen
++
+++
Perioden
Abhängig von
Ausbildung
Rhythmen
+++
++
Metren
++
+++
Gedächtnis
+?
++++?
Emotionen
Positiv
Negativ
47.3
Amusien
> Unter Amusien versteht man Störungen der
Musikverarbeitung. Rezeptive Amusie bezeichnet eine Störung der Musikwahrnehmung, expressive Amusie eine Störung der musikalischen
Produktion.
Der Begriff der Amusie wurde 1871 erstmals verwendet
und 1877 von Kußmaul aufgegriffen. Früher teilweise synonym gebrauchte Bezeichnungen sind »musikalische Agnosie«, »Instrumentalapraxie« oder »Dysmusie«. Häufig betreffen Amusien nur bestimmte Aspekte der Musikverarbeitung, etwa die Wahrnehmung von Rhythmen oder von
Melodien. Eine Untergliederung der Amusien in missverständliche Begriffe wie »Arhythmie« als Bezeichnung für
Störungen der Rhythmuswahrnehmung oder »Amelodie«
für Störungen der Melodiewahrnehmung sollte vermieden
werden. Die häufigsten Ursachen von Amusien sind umschriebene Hirnläsionen nach Schlaganfällen. In den letzten Jahren wurde durch systematische Untersuchungen das
Krankheitsbild der genetisch mitbedingten kongenitalen
Amusie charakterisiert. Dabei handelt es sich um eine
Teilleistungsschwäche, die bevorzugt die Tonhöhenwahrnehmung betrifft und weniger mit Defiziten der Rhythmuswahrnehmung einhergeht (Peretz et al. 2002). Nach
Schätzungen leiden ca. 4% der Menschen an einer kongenitalen Amusie. Für eine genetische Ursache spricht die familiäre Häufung und erhöhte Konkordanzraten bei eineiigen
gegenüber zweieiigen Zwillingen (Peretz et al. 2007).
Im klinischen Alltag werden Amusien häufig übersehen, obwohl bei ca. 70% der Schlaganfallpatienten amusische Defizite vorliegen (Schuppert et al. 2000). Die hohe
Dunkelziffer ist dadurch bedingt, dass musikalische Leistungen meist nicht abgefragt werden. Darüber hinaus
werden Einbußen musikalischer Fertigkeiten von den betroffenen Patienten während des Klinikaufenthalts häufig
nicht bemerkt, zumal in der Regel gravierendere Defizite im
Vordergrund stehen. Ausnahmen bilden Berufsmusiker,
die sehr viel sensibler auf Veränderungen ihrer musikalischen Fertigkeiten reagieren. Es ist darum nicht erstaunlich, dass seit dem Beginn der Amusieforschung 1870 die
weitaus meisten Fallberichte Berufsmusiker betreffen. Eine
weitere Schwierigkeit liegt darin, dass – im Gegensatz zu
vielen anderen als Kulturleistungen etablierten kognitiven
Fertigkeiten – das Leistungsniveau im musikalischen Bereich in der Bevölkerung sehr unterschiedlich ist. So kann
z. B. die Beherrschung einfacher Grammatikregeln, ein bestimmter Wortschatz oder die Kenntnis der Grundrechenarten in Deutschland vorausgesetzt werden. Ein vergleichbares Standardniveau musikalischer Leistungen gibt es
nicht. Dadurch wird die Zusammenstellung einer Normgruppe für die Testung erheblich erschwert. Um eine rezeptive Amusie zu erfassen kann bei musikalisch nicht vorgebildeten Patienten die »Montreal Battery of Evaluation of
Amusia« (MBEA; http://www.brams.umontreal.ca/plab/
research) herangezogen werden. Allerdings prüft der Test
weder die oft stärker betroffenen expressiven musikalischen
Fertigkeiten ab, noch werden die emotionalen Defizite der
Musikverarbeitung berücksichtigt (7 Fallbeispiel).
> Amusische Defizite treten bei ca. 70% der Schlaganfallpatienten auf und sind damit häufiger als
Aphasien. Am Krankenbett werden sie meist
übersehen, da musikalische Leistungen häufig
nicht abgefragt und von den Patienten in der
Regel nicht spontan bemerkt werden. Auch ohne
Hirnschädigung kommen bei ca. 4% der Bevölkerung amusische Störungen vor allem der Tonhöhen- und Melodiewahrnehmung vor. Hier wird
als Ursache eine genetisch mitbedingte Teilleistungsstörung angenommen.
47.3.1
Neuroanatomische Befunde
bei amusischen Störungen
Eine eindeutige Zuordnung bestimmter amusischer Störungen zu definierten Läsionen ist nicht möglich. Eine komplette Amusie mit Ausfall aller rezeptiven und expressiven
Leistungen setzt immer eine ausgedehnte bilaterale Läsion
der Temporallappen mit Einbeziehung der beiden vorderen Temporalpole voraus. Zahlreiche Fallstudien sind zu
537
47.3 · Amusien
Fallbeispiel
KD ist ein pensionierter Lehrer und begeisterter Musikliebhaber, ohne jemals selbst ein Instrument erlernt
zu haben. Er besucht regelmäßig Konzerte und hört vor
allem klassische Musik und Jazz im Radio.
Als er eines Morgens ein leichtes Hängen des linken
Mundwinkels und eine Ungeschicklichkeit der linken
Hand beim Rasieren bemerkte, suchte er den Hausarzt
auf, der ihn sofort in die neurologische Klinik einwies.
Dort klangen die motorischen Störungen im Laufe des
Tages ab. Die Untersuchungen ergaben eine leichte
Reflexbetonung links und ein Absinken des linken
Armes im Halteversuch. Sprachstörungen bestanden
nicht. Eine computertomografische Untersuchung am
ersten Tag war unauffällig, die Dopplersonografie zeigte
mehrere große Plaques in der rechten Arteria carotis
communis. Nach 4 Tagen wurde KD entlassen.
Zwei Tage nach der Entlassung besuchte er mit
seiner Frau ein Abonnentenkonzert, bei dem ein von
ihm besonders geschätztes Trompetenkonzert von
Joseph Haydn gespielt wurde. Doch für ihn völlig unverständlich ließ ihn diese Musik völlig kalt. Die Musik kam
ihm »flach« vor. Er konnte auch nicht mehr sicher den
Klang der Trompete aus der begleitenden Streichermusik heraushören, obwohl er die Bewegungen des
Störungen einzelner Aspekte der Musikwahrnehmung
und Musikproduktion nach Hirnläsionen veröffentlicht
worden. Bei den Betroffenen handelte es sich in der Regel
um Berufs- oder Amateurmusiker. Eine Übersicht und kritische Würdigung dieser Einzelfälle würde den Rahmen
dieses Kapitels sprengen, eine Zusammenfassung und Systematisierung der Befunde ist wegen der Heterogenität der
Krankheitsbilder und der Läsionsorte jedoch auch nicht
möglich. Diese große Variabilität ergibt sich einerseits aus
den neurobiologischen Grundlagen der Musikverarbeitung, andererseits aus dem Einsatz unterschiedlicher, in
der Regel nicht vergleichbarer Testverfahren.
Aber auch systematische Untersuchungen an größeren
Gruppen von Patienten mit vergleichbarem Testmaterial
zeigen durchaus heterogene Ergebnisse. Isabelle Peretz untersuchte Schlaganfallpatienten mit dem MBEA-Test. Sie
fand, dass Patienten nach Schädigung der linken Hirnhälfte
häufiger Schwierigkeiten hatten, Melodien zu unterscheiden, in denen einzelne Intervalle variiert waren (lokale
Hörweise), während Patienten nach rechtshirnigen Läsion
eher bei der Unterscheidung von Konturen (globale Hörweise) eine schlechtere Leistung zeigten (Peretz 1990).
Diese klare Dichotomie konnten Schuppert et al. (2000)
nicht bestätigen: Bei 20 Patienten bestand ein ganz heterogenes Ausfallsmuster nach Schlaganfällen der linken oder
der rechten Hemisphäre. Insgesamt 70% der Patienten
Trompeters an seinem Instrument sehr gut erkannte.
Überhaupt hatte er den Eindruck, als seien die Klänge der
verschiedenen Instrumente zu einem Brei vermischt. Eine
unerfreuliche Erfahrung. Am anderen Tag suchte er den
Ohrenarzt auf, der jedoch eine altersentsprechend sogar
überdurchschnittliche Hörfähigkeit attestierte. Er stellte
sich dann in unserem Institut vor. Wir untersuchten seine
Fähigkeit, Klangfarben zu erkennen, Tonhöhen, Intervalle,
Melodiekonturen, Rhythmen und Metren zu unterscheiden. Außerdem wurde das musikalische Langzeitgedächtnis überprüft: Wir baten ihn, Musikstücke aus seiner
Plattensammlung mitzubringen, und testeten seine Erkennensleistung.
Alle Testwerte wurden mit Werten einer kleinen Normgruppe verglichen, die an etwa gleichaltrigen, musikalisch
ebenfalls interessierten, aber nicht aktiv musizierenden
Männern mit abgeschlossenem Hochschulstudium erhoben wurden. Es zeigte sich, dass bei KD selektiv nur die
Klangfarbenerkennung beeinträchtigt war. Eine daraufhin
durchgeführte Kernspintomografie ergab den Befund
einer etwa 3 cm großen ischämischen Läsion rechtstemporal, die die vorderen Anteile des oberen und mittleren
Gyrus temporalis und eines kleinen Teiles der Inselregion
mit einschloss (publiziert in Kohlmetz et al. 2003).
zeigten rezeptive amusische Störungen und 6 der 12 linkshemisphärisch geschädigten Patienten litten zusätzlich unter einer Aphasie. Auch neuere Untersuchungen kommen
zu ähnlichen Ergebnissen. So untersuchten Särkämö et al.
(2010) insgesamt 53 Schlaganfallpatienten 1 Woche, 3 Monate und 6 Monate nach dem Insult mit dem MBEA-Test.
Sie fanden bei 12 der insgesamt 24 Patienten (=50%) mit
linkshemisphärischen Läsionen und bei 20 von 29 Patienten (=69%) mit rechtshemisphärischen Läsionen eine
Amusie. Patienten, mit rechtshemisphärischen Läsionen
hatten eine stärker ausgeprägte Amusie und bei Schädigung
des auditorischen Kortex auch schlechtere Heilungsraten.
Ähnlich wie in der Studie von Schuppert et al. (2003) erholte sich die Hälfte der Patienten ohne Schädigung des auditorischen Kortex nach 6 Monaten. Interessanterweise litten
die amusischen Patienten in dieser Gruppe auch unter allgemeinen kognitiven Defiziten, insbesondere unter Störungen des Arbeitsgedächtnisses, der Aufmerksamkeitssteuerung und der kognitiven Flexibilität.
Systematische Untersuchungen zu expressiven musikalischen Fertigkeiten werden derzeit durch uns durchgeführt.
Bei 33 Schlaganfallpatienten wurde zusätzlich zu dem rezeptiven Amusietest die Fähigkeit untersucht, Rhythmen
nachzuklopfen oder Melodien auf einem Glockenspiel
nachzuspielen. Die Testergebnisse wurden auf Band aufgenommen, mit Aufnahmen von Kontrollpersonen gemischt
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Kapitel 47 · Musikwahrnehmung und Amusien
und von 3 Experten anschließend »blind« bewertet. Vier
wesentliche Ergebnisse sind bemerkenswert:
1. Die expressiven Tests mit Nachspielen von Rhythmen
und Melodien sind sensitiver als die rezeptiven Tests;
die Patienten zeigten hier die größten Leistungseinbrüche.
2. Das Erkennen bekannter Volkslieder ist die stabilste
Leistung nach Schlaganfällen – hier zeigten sich die
geringsten Unterschiede zu den Kontrollprobanden.
3. Es ergeben sich auch bei den expressiven Störungen
keine eindeutigen Hinweise auf eine Hemisphärenbevorzugung.
4. Entscheidend für das Ausmaß einer Einbuße im expressiven Bereich ist die musikalische Vorbildung. Bereits eine kurze musikalische Ausbildung in der Kindheit, z. B. 1 Jahr Blockflötenunterricht, verringert das
Ausmaß der expressiven amusischen Defizite signifikant. Man kann spekulieren, ob in diesen Fällen früh
erworbene zusätzliche mentale Repräsentationen von
Musik reaktiviert werden können.
> Komplette Amusien mit Ausfall aller musikalischen Leistungen beobachtet man nur nach ausgedehnten bilateralen Temporallappenläsionen.
Die amusischen Defizite nach einseitigen Hemisphärenläsionen sind heterogen und bilden sich
oft rasch zurück. Expressive Amusien sind häufiger als rezeptive Amusien. Frühe musikalische
Ausbildung scheint den Ausprägungsgrad einer
expressiven Amusie im späteren Lebensalter
deutlich zu verringern. Das Krankheitsbild der
kongenitalen Amusie wird auf eine genetisch
mitbedingte Entwicklungsstörung, bevorzugt
der Tonhöhen- und Melodiewahrnehmung, zurückgeführt.
Zusammenfassung
Musik ist neben Sprache ein zweites menschspezifisches, innerartliches lautliches Kommunikationssystem. Musik kann als komplexe auditive Gestalt verstanden werden, die Emotionen erzeugt und soziale
Bindung verstärkt. Musikwahrnehmung beruht auf
dem Zusammenspiel der Verarbeitung von Melodie-,
Zeit- und Harmoniestrukturen. Die funktionelle
Neuroanatomie dieser Leistungen ist individuell variabel, da stark von Erfahrung geprägt. Die neuronalen
Substrate der Musikwahrnehmung spiegeln die individuellen mentalen Repräsentationsweisen für Musik
wider. Professionelle Musiker besitzen andere mentale
Repräsentationen von Musik als Laien. Unter einer
»Amusie« wird eine Störung der Musikverarbeitung
verstanden. Ein völliger Ausfall der Musikwahrnehmung wird nur nach ausgedehnten beidseitigen Temporallappenläsionen beobachtet. Defizite in einzelnen
Bereichen der Musikwahrnehmung und Musikproduktion finden sich bei ca. 70% der Schlaganfallpatienten.
Amusien sind somit deutlich häufiger als Sprachstörungen. Eine systematische Zuordnung bestimmter
Ausfallmuster zu Läsionsorten gelingt nicht, da von
individuell angelegten, weit verzweigten neuronalen
Netzwerken als Grundlage der Musikwahrnehmung
und -produktion auszugehen ist. Bei ca. 4% der Menschen findet sich eine kongenitale Amusie mit Störungen der Tonhöhen- und Melodiewahrnehmung. Als
Ursache wird eine genetisch bedingte Teilleistungsstörung angenommen.
? Kontrollfragen
Die Antworten auf die folgenden Fragen finden Sie im
Lerncenter zu diesem Kapitel unter 7 www.lehrbuchpsychologie.de (Projekt Kognitive Neuropsychologie).
1. Wie kann man Musik definieren?
2. Warum sind neuroanatomische Substrate der Musikwahrnehmung individuell so unterschiedlich?
3. Welche Probleme ergeben sich bei der Testung auf
Musikwahrnehmungsstörungen (Amusie-Tests)?
4. Welche Formen der Amusie kennen Sie?
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