Musikwissenschaftliches Seminar Detmold/Paderborn SoSe 2016

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Musikwissenschaftliches Seminar Detmold/Paderborn
SoSe 2016
Musikgeschichte II
Dozent: Prof. Dr. Sabine Meine
Protokoll zur Sitzung am 9.06.2016
Protokollschreiber: Luisa Docter
Musikwissenschaft im 2 Fach Bachelor
Lied
Die zwanzigste Veranstaltung der Vorlesung „Musikgeschichte II“ unter Prof. Dr. Sabine Meine bietet einige exemplarische Beispiele zu dem Themenfeld „Lied“.
Frau Prof. Dr. Meine begann die Veranstaltung mit einem Rückgriff auf die 4. Vorlesung vom
12.11.2015: Warum erklingt Musik? Über das Beispiel des Gospel „Down by the riverside“
wird in das Thema der aktuellen Vorlesung eingestiegen. Der Gospel entstand im 19. Jahrhundert. Ab Ende dieses Jahrhunderts finden sich Überlieferungen in Drucken. Gospels sollten die Christianisierung v.a. von afrikanischen Sklaven in Amerika unterstützen. In Form von
Gemeindegesängen im Wechsel mit dem Prediger sollte der Glaube gestärkt werden. Gospel
wurden von Sklaven während der Arbeit gesungen und dienten als Disziplinierungsmaßnahme, aber auch zur Stärkung des Gemeinschaftsgefühls. Durch den Rhythmus fielen die Sklaven nicht aus der Arbeit heraus und waren produktiver, was sie vor Bestrafung bewahrte.
Warum die Texas Prisoners, wie in dem Video in der Veranstaltung gesehen, „Down by the
riverside“ sangen, könnte aus den zuvor genannten Gründen sein, sowie um ihre Solidarität
für die Leiden der afroamerikanischen Bevölkerung auszudrücken. Somit vereint das Beispiel
der Texas Prisoners eine starke politische Komponente mit der Unmittelbarkeit des Gesangs
und dessen Funktion.
Stellt man sich die Frage nach „Wer singt?“ und „Wer hört zu?“, so gibt es die Unterscheidung „Wir“ und „Ich“, welche allerdings keine strikte Trennung darstellt. Auf der einen Seite
stehen dann Liedgattungen wie u.a. Gospel, Chorgesang, Arbeits- und Kampflieder und auf
der anderen Seite u.a. das Klavierlied und Kunstlied, worum es in der weiteren Vorlesung
auch im Detail gehen soll. Dazu muss man desweiteren noch sagen, dass diese Gattungen
nur einen Bruchteil des großen Themenbereichs „Lied“ repräsentieren. Das „Wir“ suggeriert
zum Teil auch eine große Hörerschaft (siehe z.B. Karnevalslieder). Dies führt zu dem Wechselspiel von Öffentlichkeit und Gesellschaftsbezug, sowie von Einsamkeit, Innerlichkeit und
dem privaten Rahmen.
Das Liedpanorama ist eine Darstellung des Kosmos „Lied“, inklusive Chorliteratur, also Mehrstimmigkeit, sowie rein instrumentalen Formen, wie das Lied ohne Worte. Nationale Traditionen werden dargestellt, ebenso wie Volkstümlichkeit mit u.a. dem Kinderlied oder dem
Wanderlied. Doch im Folgenden soll es mit drei Fallbeispielen um das Klavier- und Kunstlied
gehen.
Das erste Beispiel bezieht sich auf das Klavier- und Kunstlied in der Aufklärung und Empfindsamkeit, mit dem Ideal des „natürlichen“ Singens. Dies führt uns zunächst zu Jean-Jacques
Rousseau (1712-1778), (Musik-)Literat, Philosoph, Pädagoge, Naturforscher und Komponist
der Aufklärung. In seinem „Essai über den Ursprung der Sprachen, wo die Rede von der Melodie und der musikalischen Nachahmung“ spricht Rousseau den Gesang allein dem Menschen zu, woraus Rousseau folgert, dass dieser allein moralisch gut sei. Denn wenn Musik
erklinge, sei die Menschlichkeit da, somit könne der Mensch auch etwas Gutes und Schönes
produzieren. Das Wichtigste dabei sei die Melodie, welche gesungen erklingen müsse. Dass
das Lied zunehmend an Wichtigkeit in der Musikrezeption gewinnt, scheint demnach nachvollziehbar.
So hielt man es auch in Potsdam unter Friedrich II, dessen Hofkapellmeister und
„Singekomponist“ war Johann Friedrich Reichardt (1752-1814), welcher ca. 1500 Lieder nach
125 Dichtern schrieb. Er war Patriot, Freiheitskampfer und Revolutionsbefürworter, weshalb
Friedrich Wilhelm II ihn schließlich 1794 entließ. Reichardt agierte danach freischaffend. Er
gehörte zur 2. Berliner Liederschule, unter welcher das Strophenlied favorisiert wurde. Dabei
hatten die Texte, häufig Gedichte, besondere Priorität. Die Lieder sollten wie Volkslieder
klingen, mit dem Ideal der Schlichtheit und Eingängigkeit für den tugendhaften Menschen. In
seinem „Musikalische[n] Almanach“ sagt Reichardt: „Das Lied soll der einfache musikalische
Ausdruck einer bestimmten Empfindung sein, ein korrekt vollendetes Ganzes, [...] dessen
eigentlicher Wert in der Einheit des Gesanges besteht.“ Hier findet sich erneut das immer
wieder auftauchende Ganzheitsideal.
Als Liedbeispiel hierzu hatten wir von Reichardt „Die schöne Nacht“, nach Johann Wolfgang
von Goethe. Das lyrische Ich geht nachts in die Natur und wünscht sich nur eine Nacht mit
der Liebsten zusammen. Aber das Glück in der Natur ist getrübt, da das lyrische Ich nicht mit
der Geliebten zusammen sein kann; es ist innerlich zerrissen. Hier finden sich einige zentrale
Motive der Romantik wieder. Der Zerrissenheit des lyrischen Ichs wird als Kontrast der einheitliche Charakter der Musik des Stückes entgegengestellt.
Erklungen ist dieses Lied u.a. in hausmusikalischen Kreisen für Kinder, Jugendliche und „gute
deutsche Mütter“. Reichhardt war der Meinung das Potential der Musik in der Erziehung
würde viel zu wenig genutzt werden, und man solle Musik zur „Aufmunterung zu Wahrheit
und Güte“ einsetzen. Hier finden sich also Ansätze einer Gesangspädagogik.
Reichardts Frau Juliane und Tochter Louise waren beide Sängerinnen und komponierten
auch selber. Louise spielte und sang zuweilen in einer Herberge in Giebichenstein/Halle. Die
Reichardts verkehrten dort unteranderem mit den Schriftstellern Ludwig Tieck und Achim
von Arnim.
In der Vorlesung beschäftigten wir uns mit dem Lied „Unruhiger Schlaf“ von Louise Reichardt. Das Lied ist geprägt von einer ruhigen Melodie und ausdrucksstarken Sprüngen. Die
unterschiedlichen Teile des Liedes sind sehr verschieden zu singen. Zu Beginn soll der Sänger
pathetisch deklamieren, dann folgt ein Largo und zum Ende hin entsteht ein Liedfluss. Für
den Vortrag des Liedes benötigt man einen verständigen Sänger, welcher jene „bestimmte
Empfindung“ mit seinem Gesang beleben kann und zur Ganzheit bringt; es handelt sich also
um eine Interpretation des Sängers. Auch dieses Lied erklang u.a. zuhause in hausmusikalischen Kreisen mit gleichgesinnten Freunden.
Wir hatten also jeweils ein Beispiel für ein schlichtes Strophenlied, sowie für ein deklamiertes Lied. Reichardt kam zu einer künstlerischen Unterscheidung zwischen auf der einen Seite
schlichten Liedern, sowie auf der anderen Seite die künstlerische Erhabenheit eines Gedichtes mit entsprechender Musik zu betonen.
Für Reichardt war die Geselligkeit ein aufklärerisches Ideal. Zu diesem Zweck stellte er
Sammlungen wie „Lieder geselliger Freunde“ zusammen, eben um „den frohen geselligen
Gesang neu [zu] beleben“.
Im Folgenden wird es um das 2. Fallbespiel gehen: Kunstvolle, tiefsinnige Lieder von Robert
Schumann (1810-1854) zur Zeit der Romantik.
Robert Schumann widmete sich immer einer Gattung äußerst intensiv und voller Begeisterung. In der Zeit von ca. 1840 – 1850 durchlebte er einen regelrechten „Gattungsschub Lied“,
in welchem ca. 300 Lieder entstanden. 1838 kam Schumann zu einer Idee einer neuen melodischen Musik, wie er an seine spätere Frau Clara (sie heirateten 1840) schrieb: Er unterscheidet den Gesang je nach Nationalität des Sängers; Italienisch sei wie Vogelgesang, „inhalts- und gedankenlos“. Für ihn müsse ein Lied gedankenvoll und dramaturgisch durchdacht
geschrieben sein.
Clara Schumann (1819-1896) war eine Klaviervirtuosin, Komponistin, und Klavierpädagogin.
Sie betätigte sich als Konzertveranstalterin, Herausgeberin und Professorin für Musik. Robert
und Clara verband eine starke romantische Liebesbeziehung, die allerdings auch von musikalischem Schaffen und Produktion geprägt war.
Das Musikbeispiel an dieser Stelle ist „Mondnacht“, nach Joseph von Eichendorff. Adorno
bezeichnete das Gedicht allein schon als musikalisch. Es hat ein jambisches Versmaß mit 3
Senkungen, Eichendorff arbeitet mit Kreuzreimen. Die formale Gestalt des Gedichtes ist tendenziell eher schlicht gehalten, aber dennoch ist es von Klangvielfalt erfüllt. Das lyrische Ich
geht nachts in die Natur. Eine traumhafte, spirituelle Atmosphäre wird geschaffen. In der 1.
und 3. Strophe setzt Eichendorff Konjunktiv ein als Betonung des traumhaften, irrealen Charakters. Das Ende deutet Schumann weltlicher und persönlicher als Eichendorff, bei ihm war
es ein religiös gemeintes nach Hause kommen. Das Lied ist in E-Dur geschrieben (ist aber erst
ab dem 10. Takt tatsächlich in E-Dur). Es beginnt mit einem tiefen h und geht dann direkt zu
einem dreigestrichenen Cis über; dies leitet direkt in den traumhaften Charakter der Musik
ein. Der jambische Charakter des Gedichts wird größtenteils beibehalten, Abweichungen
davon betonen die jeweilige Bedeutung der Stelle. Zentrale Töne des Stückes sind e und h,
welche häufig wechseln, was das Wort Ehe ergibt. Schumann hat eine Hommage an Clara in
die Musik hinein komponiert. Desweiteren könnte das e für Erde und h für Himmel stehen,
die zentralen Begriffe des Gedichts. In der ersten Strophe findet eine Steigerung zu dem
Wort „Himmel“ statt, welches schließlich in den höchsten Ton des Stückes, Fis, mündet. Der
Klang des Himmels wird dargestellt. Die Strophen des Liedes sind in einer Klimax angeordnet. Am Ende der dritten Strophe bleibt der Gesang unvollendet, sozusagen in der Luft hängen, was Ungewissheit und Unsicherheit ausdrückt. Das Klavier bringt es dann schließlich zu
einem Ende. Die Funktion des Klavieres nimmt deutlich eine kommentierende Position ein.
Schumann vertonte noch weitere Eichendorff Gedichte und so wie er mit „Mondnacht“ eine
Hommage an Clara komponierte, verfuhr er auch weiter: „es steht auch viel von Dir darin [...]
Geschwärmt habe ich in diesen Gedichten [...].“
Für Schumann bilden das Klavier und der Gesang zusammen eine Einheit und erreichen
Ganzheit. Zusammen können die feineren Züge eines Gedichtes hervorgehoben werden und
so entstehen gedankenvolle und inhaltvolle Lieder. Franz Schubert habe für das Lied bereits
viel vorgearbeitet, so Schumann. Bei Schubert stellt das Lied einen Parallelismus zweier
selbstständiger musikalischer Gefüge dar. Hier lässt sich eine Entwicklung von dem Lied bei
Reichardt in der Aufklärung zu dem Lied bei Schubert bzw. Schumann in der Romantik feststellen, von der Einheit des Gesangs hin zur Einheit aus Klavier und Gesang zusammen. Der
neue Dichtergeist der Zeit spiegelt sich auch in der Musik wieder, weswegen die Entwicklung
des Liedes laut Schumann auch nicht früher vonstattengehen konnte. Die Problematik des
Fortschritts nach Beethoven wurde also von Schumann und seinen Zeitgenossen in Zusammenarbeit mit den Dichtern der Zeit gelöst und zwar in Form des Liedes. „Und in Wirklichkeit
ist vielleicht das Lied die einzige Gattung, in der seit Beethoven ein wirklich bedeutender
Fortschritt geschehen.“
Abschließend muss dazu noch angemerkt werden, dass Schumann Schubert nicht die Bedeutung zugemessen hat, wie es in der heutigen Rezeption üblich ist.
Nun folgt das 3. Fallbeispiel, „Must a song always be a song“. Hierbei wenden wir uns nach
Amerika und zu dem Komponisten Charles Ives genannt „Father of American Music“.
Amerika Ende des 19. Jahrhunderts war geteilt, an der Ostküste herrschte eine fromme,
konservative Strömung mit den Puritanern vor; gen Westen wuchs der Fortschrittsgedanke
zunehmend an.
Ives ging es um eine neue aufbrechende, amerikanische Musiktradition. Er fand Inspiration
beim amerikanischen Transzendentalismus u.a. nach Ralph Waldo Emerson. Musik solle originell, kantig und kontrastreich sein und Elemente des Landes beinhalten, im Land verwurzelt sein. In Charles Ives „114 Songs“ (1921) findet sich das Lied „Ich grolle nicht“ nach Heinrich Heine. Es erinnert entfernt an Schumann und klingt europäisch. Danach änderte sich
sein Stil vollkommen. Wir hatten das Hörbeispiel „Like a sick eagle“ nach John Keats behandelt. Das lyrische Ich ist schwach und muss sterben. Es erhebt sich noch ein letztes Mal zum
Himmel zu Gott. Ives hat Teile der Vorlage verändert. Die Musik ist chromatisch aufgebaut.
Der Sänger soll seine Stimme zwischen den Sekunden schleifen lassen, als hätte er keine
Kraft mehr, er soll schwach klingen. Bei Ives Liedern ist das Ende häufig offen gelassen. Den
Schluss soll man sich selber denken. Die Welt ist schließlich auch noch nicht abgeschlossen,
daher sollen es Kompositionen auch nicht sein. In Ives Vorstellung sollen sich seine Stücke
mit jedem neuen Interpreten immer wieder weiterentwickeln und verändern. In einer Vielfältigen Welt müssen auch die Komponisten vielfältig sein. Für Ives Kompositionstechnik
charakteristisch ist also kurz Zusammengefasst die Einheit in der Heterogenität.
Abschließend lässt sich sagen, dass wir in einer Veranstaltung nur kleine Auszüge aus dem
weiten Panorama „Lied“ erfassen konnten. Über Reichardt und das schlichte Strophenlied
und das deklamierte Lied, Schumann und die kunstvollen und tiefsinnigen Lieder, hin zu Ives
Klangexperimenten und Gospel singenden Gefangenen scheint eines vollkommen klar zu
sein: Liedkultur ist heterogen!
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