architektur FACHMAGAZIN 48 Energieeffizienz 49 www.architektur-online.com SPLITTERWERK Architekten Und die Fassade lebt! BIQ-Wohnhaus / Hamburg / SPLITTERWERK Architekten Fotos: Colt, SSC, Arup, Paul Ott „Die Entwicklung von Gebäuden muss dahin gehen, dass sie nicht nur Schutz geben und den Energieverbrauch minimieren, sondern Lösungen anbieten, wie eine urbane Umgebung mit Energie, Wasser, Frischluft und mehr versorgt werden kann. Die SolarLeaf Fassade ist hierfür ein herausragendes Beispiel, das Energiegewinnung ermöglicht ohne zusätzlichen Raum zu verbrauchen. Das Projekt hat auch deshalb eine besondere Qualität, weil es eine bahnbrechende Entwicklung ist, die tatsächlich in einem konkreten Gebäude funktioniert.“ So lautete die Begründung der Jury des Zumtobel Group Award 2014, die das BIQ-Haus mit dem Preis in der Kategorie ‚Applied Innovations‘ auszeichnete. Außen - die SolarLeaf-Fassade Die rot-weißen Streifen auf der Fassade lassen an eine überdimensionale Baustellenabsperrung denken. Zwischen den Streifen schimmert es grün in allen nur erdenklichen Schattierungen. Die Glasflächen, die als Balkongeländer fungieren, sind grün gefärbt, freie Wandflächen sind mit froschgrünen Mustern bedruckt, große, geschosshohe Glaspaneele bedecken den Großteil der Außenfassaden der Architektur. Und in diesen Glasscheiben blubbert eine grüne Flüssigkeit, Luftblasen steigen auf - wie in einem Sumpfaquarium. Es handelt sich um das erste Projekt, bei dem ein neues Fassadensystem, das von Arup Deutschland in Zusammenarbeit mit der SSC Strategic Science Consult GmbH und der Colt International GmbH mit Fördermitteln der Initiative ZukunftBau entwickelt wurde, zur Anwendung kam. Und zwar an dem Wohngebäude BIQ, das von den Architekten SPLITTERWERK zur Internationalen Bauausstellung 2013 (IBA) in Hamburg entworfen worden war. Das kubische, fünfgeschossiges Passivhaus BIQ ist weltweit das erste Gebäude mit einer Bioreaktorfassade als Teil eines ganzheitlich regenerativen Energiekonzepts. Die erste SolarLeaf-Fassade, als ein in das Gebäude integriertes System, das CO2-Emissionen absorbiert, während gleichzeitig Mikroalgen gezüchtet werden, die als erneuerbare Energiequelle Biomasse und Wärme produzieren. Ermöglicht wird der Prozess durch Fotobioreaktoren, die an zwei Fassadenseiten angebracht sind. Die geschosshohen Glaselemente an Südwest- und Südostfassade sind auf ihrer Vertikalachse drehbar gelagert und können so dem Sonnenstand nachgeführt werden. Bei geschlossener Stellung bilden sie eine thermische Pufferzone. Jedes Fassadenelement misst 2,70 x 0,70 Meter und weist einen mehrschichtigen Glasaufbau auf. Von den Deckscheiben aus Verbundsicherheitsglas (VSG) geschützt und thermisch isoliert, befindet sich der 18 Millimeter breite Hohlraum - der sogenannte Fotobioreaktor - der mit Wasser gefüllt ist (24 Liter) und in dem die Mikroalgen wachsen. architektur FACHMAGAZIN Die SolarLeaf-Fassade macht sich den biochemischen Prozess der Fotosynthese für energieeffiziente Gebäude und auch Gebäudecluster zunutze. Das System hat drei wesentliche Vorteile: Erstens wird hochwertiger Biomasse für Energiezwecke oder als Ressource für die Lebensmittel- und die pharmazeutische Industrie (Urban Farming) generiert. Zweitens solare Wärmeenergie erzeugt und drittens dient der Einsatz des Systems als dynamische Beschattungsvorrichtung. Die Züchtung von Mikroalgen in flachen, paneelförmigen Fotobioreaktoren erfordert keine zusätzliche Flächennutzung und ist von den Witterungsbedingungen weitgehend unabhängig. Somit ist die Installation im urbanen Umfeld ermöglicht. Eine Abscheidevorrichtung erntet die Algenbiomasse des BIQ automatisch; der zur Ernährung der Algen benötigte Kohlenstoff wird aus einem Verbrennungsvorgang in der Nähe der Fassadenanlage gewonnen, um einen kurzen Kohlenstoffzyklus zu implementieren. Dadurch wird verhindert, dass Kohlenstoffemissionen zum Klimawandel beitragen. 50 Das BIQ-Projekt ist ein Meilenstein mit Bezug auf die Erschließung dieser Wertkette und die Schaffung der resultierenden Infrastruktur. Die entwickelten Bioreaktoren erfassen außerdem die solare Wärmeenergie mit einer Effizienz von ca. 50 %. Beim BIQ wird die Wärme mittels Wärmetauschern extrahiert, und die Temperaturniveaus der überschüssigen Wärme können durch Einsatz einer Wärmepumpe erhöht werden, um das Gebäude mit Warmwasser zu versorgen oder zu heizen, oder um sie geothermisch zu speichern. Das System umfasst Bioreaktorpaneele, die dazugehörigen mechanischen Leistungen sowie die Steuereinheit zur Verbindung der Durchflussmengen und Optimierung der Effizienz des Gebäudes. Das BIQ spielt eine wichtige Rolle im Rahmen der Errichtung von CO2-neutralen Überschussenergiegebäudekomplexen für die Zukunft. Energieeffizienz Zwischen den rot-weißen Streifen schimmert es grün in allen nur erdenklichen Schattierungen. www.architektur-online.com 51 SPLITTERWERK Architekten Mikroalgen sind winzige, ca. fünf Mikrometer große, meist einzellige Organismen. Wie andere Pflanzen nutzen Mikroalgen das Sonnenlicht als Energiequelle, um daraus zusammen mit CO2 und Nährstoffen durch den fotosynthetischen Prozess die sogenannte Biomasse aufzubauen. Mikroalgen sind wesentlich effizienter in der Umwandlung von Lichtenergie in Biomasse als höhere Pflanzen, da sie einzellig sind und jede einzelne Zelle Fotosynthese betreibt. 52 architektur FACHMAGAZIN Energieeffizienz Innen - tolle Wohnungen Die SPLITTERWERK Architekten haben im BIQ-Haus aber auch zwei sehr interessante Wohnungen eingerichtet. Eine nennen sie die ‚Mailänder Wohnung‘ ein sogenannter ‚smart space‘ mit unterschiedlichen Typologien von rekonfigurierbaren Grundrissen. Der fließende Raum von Mies van der Rohe oder der offene Grundriss von Frank Lloyd Wright, der Raumplan von Adolf Loos, aber auch die Ökonomie der Frankfurter Küche von Margarete Schütte-Lihotzky, finden ihre zeitgemäße Weiterentwicklung in den intelligenten Wohntypologien dieses Grundrisses. Im schaltbaren Gefüge dieser neuen Wohnungstypologien werden Funktionsräume wechselnd oder gleichzeitig – on demand – zu und wieder weggeschaltet. Der Loos’sche Raumplan wird zum individuellen und verzeitlichten Wohnplan. Der zeitliche Wohnablauf und das wechselnde Programm prägen userorientiert das Erscheinungsbild der Wohnung. www.architektur-online.com 53 SPLITTERWERK Architekten Die zweite Wohnung nennen die Architekten die ‚Hamburger Wohnung‘ - eine multiinzidente Hülle, in der sich Funktionen ‚on demand‘ zuschalten lassen. Multiinzidente Hüllen sind schaltbare Gefüge, die mit Ereignissen angereichert sind. Die Nettonutzfläche dieser Wohnung beträgt 64 m2. Davon bilden 46 m2eine Art funktionsneutrale Zone. Die verbleibenden 18 m2 sind durch Bad, WC, Garderobe, Küche und diverse Stauräume belegt. Weiters sind die Einrichtungen wie Tisch, Sofa und Bett Bestandteil dieses schaltbaren Gefüges. Allesamt sind sie getrennt voneinander zur Zone zuschaltbar. So entstehen über 46 m2 große Badezimmer, Küche, Ess- und Schlafzimmer. Bezieht man demzufolge die Flächenberechnung des Prototypen auf seine Einzelteile, ergibt das eine Wohnung mit einer Nettonutzfläche von 368 m2. Effizienz und Nachhaltigkeit kann durchaus auch gepaart mit gutem Design auftreten. Ökologisch richtig bauen, heißt eben nicht, auf Kreativität und Ästhetik verzichten zu müssen. architektur FACHMAGAZIN 54 Energieeffizienz 55 www.architektur-online.com SPLITTERWERK Architekten BIQ - ‚The clever Treefrog‘ Hamburg, Deutschland Bauherr: Planung: Mitarbeiter: Konstruktionsplanung: KOS Wulff Immobilien GmbH PLITTERWERK, Label for Fine Arts, Graz; Arup GmbH, Berlin; B+G Ingenieure Bollinger und Grohmann GmbH, Frankfurt; Immosolar GmbH, Hamburg Mark Blaschitz, Edith Hemmrich, Max Juengling, Josef Roschitz, Ingrid Somitsch Arup GmbH, Berlin; sprenger von der lippe; Timm & Goullon; Technisches Buero der Otto Wulff Bauunternehmung GmbH Grundstücksfläche: Nutzfläche: Planungsbeginn: Bauzeit: Fertigstellung: 839 m2 1.000 m2 12/2011 2011 - 2013 03/2013