ANZEIGE %) # -$ +.!& ) "$ $,$) „Taktisch gibt es nicht viel Neues“ )$%) Eintracht-Kapitän Alex Meier über Fußball im Wandel und den Wunsch, mal wieder alleine zu frühstücken l Seiten S6/S7 )% . & ' +!*!. UNABHÄNGIGE TAGESZEITUNG Montag, 10. Oktober 2016 Bundesanwalt ermittelt 10041 4 197352 202209 S D 2987 2,20 Euro Das atmende Haus Die Gebäude der Zukunft funktionieren wie eigene Ökosysteme. Im niederländischen Venlo steht schon eins. N ach dem brisanten Bombenfund in Chemnitz zieht die Bundesanwaltschaft in Karlsruhe die Ermittlungen an sich. Die bisherigen Erkenntnisse deuteten darauf hin, dass der gesuchte 22-jährige Syrer einen „islamistisch motivierten Anschlag“ durchführen wollte, so eine Sprecherin. Es gehe um den Verdacht einer schweren, staatsgefährdenden Gewalttat. Bei der Anti-Terror-Razzia in Chemnitz war der Hauptverdächtige der Polizei nur knapp entwischt. Die Beamten gaben am Samstag in dem Plattenbau-Viertel einen Warnschuss ab und sahen ihn auch, konnten ihn aber nicht fassen. Das Landeskriminalamt (LKA) wies Vorwürfe zurück, ihm sei eine Panne unterlaufen. In dem noch nicht geräumten Haus habe man zu Recht Sprengstoff vermutet, so ein Sprecher. „Da können wir nicht ins Risiko gehen.“ Bei der Erstürmung einer Wohnung, in der sich der 22-jährige Dschaber Albakr aufgehalten hatte, waren mehrere Hundert Gramm eines hochexplosiven Sprengstoffs gefunden worden. Die Polizei fahndet weiterhin bundesweit nach dem Mann, der Kontakte zur Terrormiliz IS haben soll. Sie beschrieb ihn als etwa 1,70 Meter groß, „schlurfend“ und mit oft schräger Kopfhaltung. Albakr kam vor einigen Monaten nach Deutschland und wurde offenbar als Flüchtling anerkannt. In Chemnitz in Gewahrsam genommen und befragt wurde am Sonntag ein weiterer Mann, der Kontakt zu dem gesuchten Syrer gehabt haben soll. Das Spezialeinsatzkommando hatte auch hier die Tür aufgesprengt. Nach Angaben von „Süddeutscher Zeitung“, NDR und WDR fanden sich in der Chemnitzer Wohnung 500 Gramm bereits gemischter Sprengstoff und ein weiteres Kilo Chemikalien, die für den Bombenbau geeignet sind. Demnach waren mögliche Ziele Berliner Flughäfen. dpa Seite 4 Nr. 236 Seiten 2/3 Sonnenschornstein für natürliche Durchlüftung Emporen für Durchlüftung Solarzellen für saubere Energie Gewächshaus reinigt Luft Gewächshaus erwärmt Luft FLUCHTURSACHEN Merkel reist nach Afrika Fassadenbegrünung reinigt die Luft Wasser aus Waschbecken wird zu Pflanzenkläranlagen geleitet Zerrissene, Getriebene, Verunsicherte: Falk Richters „Safe Places“ im Schauspiel Frankfurt ist eine bissig-böse Nummernrevue, die kein gesellschaftlich brisantes Thema auslässt. Seiten 20/21 Pflasterung reinigt Luft Luft aus Parkhaus erwärmt oder kühlt WM-QUALIFIKATION Deutsche Elf von Zwängen befreit Unterirdische Wasserspeicherung zur Bewässerung der grünen Fassade Grauwasser aus Pflanzenkläranlage wird für die Toilettenspülung genutzt Wärmepumpenheizung sorgt für Wärme und Kühlung durch Grundwasser FRANKFURTER RUNDSCHAU, 60266 Frankfurt am Main, Telefon 069/21 99-1 Anzeigen-Service, Fax 069/131 00 30, Telefon 069/21 99 – 30 00, E-Mail: [email protected], Abo-Service, Fax 069/21 99-32 64, Telefon 069/21 99-30 00, E-Mail: [email protected] Auslandspreise der Frankfurter Rundschau: A, B, NL: 2,90 € - DPAG Entgelt bezahlt Bei ihrem Besuch in Mali, Äthiopien und dem Niger will die Kanzlerin den Blick der deutschen und europäischen Politik auf die dort herrschenden Ursachen für Flucht und Migration lenken. Seite 6 THEATER Falk Richters Revue über AfD und Pegida Patio Pflanzenkläranlage im Patio reinigt Wasser Nach sechs Wochen ist die U5 wieder in Betrieb. Die Station Musterschule ist barrierefrei umgestaltet, die Haltestelle Glauburgstraße ist Ende Oktober fertig und entfällt bis dahin. Seite F1 In dieser Woche werden 6000 Menschen ihr Studium an der Goethe-Uni beginnen. Präsidentin Birgitta Wolff freut sich im FR-Interview darüber, bemängelt aber fehlende Professuren. Seiten F2/F3 Optimal entworfene Fenster Wasserauffang auf dem Dach FRANKFURT Die U5 fährt endlich wieder HOCHSCHULE Wohl neuer Rekord an der Goethe-Uni Quelle: Gemeente Venlo, FR Verdächtiger soll Kontakt zu IS haben 72. Jahrgang INHALT Leser/Wetter . Magazin . . . . Politik. . . . . . . 4 Wirtschaft . . . Meinung . . . . 10 Feuilleton . . . 12 14 16 20 Wissen . . . . . Rätsel . . . . . . Panorama . . . Sport 19 25 26 S1 Frankfurt/Region . F1 TV-Programm . . . B4 Familienanzeigen 23 Impressum . . . . . . 8 Beim 3:0-Erfolg über Tschechien in der WM-Qualifikation zeigt die deutsche Mannschaft ein fast perfektes Spiel. Bundestrainer Joachim Löw befreit seine Elf von taktischen Zwängen. Seiten S1-S3 FR-ONLINE.DE Alles zum Rennen ums Weiße Haus: fr.de/uswahl 2 THEMA DES TAGES ÖKO-HÄUSER DIE ZUKUNFT DER BAUWIRTSCHAFT Moderne Gebäude sollen künftig Wasser und Luft reinigen, Feinstaub herausfiltern und komplett recycelt werden können. C2C IN VENEDIG Das Cradle to Cradle-Konzept wird noch bis 27. November auf der 15. Architektur-Biennale in Venedig gezeigt. Unter dem Thema „Celebrating our Human Footprint: A Building like a Tree – A City like a Forest“ wird in der Ausstellung anhand von praktischen Beispielen demonstriert, wie Gebäude aktiv das Wasser und die Luft reinigen und zum Beispiel Feinstaub aus der Luft filtern können. Am 28. und 29. Oktober findet eine geführte Tour mit C2C-Erfinder Braungart statt. A m 14. Oktober ist es soweit: Im niederländischen Venlo wird das weltweit erste Öko-Rathaus eingeweiht, das „mehr als nur nachhaltig“ sein soll. Das Gebäude hat elf Geschosse, bietet Platz für 900 Mitarbeiter – und soll eine Ikone des neuen grünen Bauens werden. Ein Haus, das „wie ein Baum“ ist, das gute Luft produziert, den Wasserhaushalt stabilisiert, seine eigene Energie produziert und nach dem Ende seiner Nutzungszeit wieder als Rohstoff für neue Gebäude zur Verfügung steht. Das mächtige Gebäude sieht schon von Ferne ungewöhnlich aus, besonders wenn man von Norden kommt. Die Fassade ist üppig begrünt, es wachsen dort 100 verschiedene Pflanzensorten. Auffällig ist außerdem ein Gewächshaus, das einen Teil der obersten beiden Stockwerke einnimmt. Beides dient als reinigende „grüne Lunge“, durch die die Luft im Öko-Rathaus sauberer wird als die in der Umgegend. Die Glasfassade im Süden ist so konzipiert, dass die Sonne das Gebäude im Winter erwärmt, im Sommer aber nicht überwärmt. Zusätzlich sorgt ein „SonnenSchornstein“ für eine Durchlüftung der Räume durch natürlicher Konvektion. Im Süden, Osten und Westen des Gebäudes sind 300 Quadratmeter Solarpanele installiert, die Strom produzieren. Ein künstliches Feuchtgebiet ist im Innenhof angelegt, es reinigt das „graue“ Abwasser aus dem Rathaus, das dann wieder zur Toilettenspülung und Bewässerung verwendet wird. Das Erdgeschoss ist als lichtdurchflutetes, offenes Besucherzentrum konzipiert, in dem viele Dienstleistungen zentral angeboten werden. In den Stockwerken darüber liegen die Büros der Ämter und die „Plaza“-Ebene mit Restaurant, alles verbunden durch breite „Kommunikationstreppen“, die für Fitness und Kontakt der Angestellten sorgen. „Ein Gebäude muss den Menschen dienen und nicht umgekehrt“, hieß es 2009 in der Ausschreibung für das Projekt. „Das Gebäude muss den Mitarbeitern ebenfalls ein Wohlgefühl vermitteln und so funktional und strukturiert sein, dass Arbeitsabläufe unterstützt werden.“ Frankfurter Rundschau Montag, 10. Oktober 2016* In Venlo wird diese Woche das neue Rathaus eröffnet – es soll eine Ikone grünen Bauens werden Von Joachim Wille Ideengeber für die Konzeption des Bauwerks in der Hauptstadt der niederländischen Provinz Limburg ist der Chemieprofessor und Umweltvordenker Michael Braungart, der in den 1990er Jahren zusammen mit dem USArchitekten William McDonough das „Cradle to Cradle“-Konzept – kurz C2C – entwickelt hat. Dessen Ziel ist eine optimierte, weil komplett abfallfreie Kreislaufwirtschaft. Die Idee dahinter: Die für Waren – egal ob T-Shirt, Fernseher oder Baustein – genutzten Materialien werden so designed, dass sie nach der Nutzungsphase entweder vollständig in den biologischen oder den technischen Kreislauf zurückkehren können (von der „Wiege zur Wiege“). Müllverbrennungsanlagen und Mülldeponien gibt es in dem C2C-System nicht mehr Produkte aus biogenen Stoffen wie Baumwolle, anderen Pflanzenfasern oder Holz werden nach den C2C-Konzept absolut schadstofffrei hergestellt. Sie sind damit nach der Gebrauchsphase biologisch abbaubar und werden „Nährstoffe“ für neue Pflanzen. Für die anderen Materialien gilt, dass sie ohne Qualitätsverlust immer wieder recycelt werden können. Sie werden nach ihrer Nutzung in sortenreine Ausgangsstoffe zerlegt und wieder dem Kreislauf zugeführt. Dabei bleibt ihre stoffliche Güte erhalten. Alle Inhaltsstoffe sind chemisch unbedenklich und kreislauffähig. Das bisher übliche „Downcycling“ von Produkten, bei dem die Qualität bei jedem Schritt abnimmt, wird so vermieden. Müllverbrennungsanlagen und Mülldeponien gibt es in dem C2C-System nicht mehr. „Abfall- oder BauschuttDeponien sind die Bankrotterklärung des Ingenieurs“, sagt Braungart (siehe Interview). Produkte mit dem C2C-Siegel, das von einem unabhängigen Zertifizierungsinstitut in San Franciso vergeben wird, gibt es weltweit inzwischen Hunderte – es geht vom komplett abbaubaren Waschmittel über „kompostierbare“ T-Shirts und Matratzen bis zum Bürostuhl. Seit einigen Jahren arbeiten Braungart und Co. allerdings daran, ihr Konzept auch auf den gesamten Baubereich auszudehnen. Das liegt eigentlich nahe. Denn der Rohstoffhunger des Bauwesens ist enorm, in Europa gehen laut dem UNUmweltprogramm Unep rund 50 Prozent der Ressourcen in diesen Sektor. Mindestens ebenso kritisch ist die Abfallseite, mit einem Anteil von rund 60 Prozent. Das soll sich ändern. Häuser sollen „Materialbanken“ werden, aus denen künftige Generationen sich wieder bedienen können. Heute besteht ein neu gebautes Haus aus 800 bis 900 einzel- nen Materialien. Mit den wenigsten der üblicherweise eingesetzten Bauprodukte lässt sich das C2C-Prinzip bereits umsetzen. So ist selbst ein „einfacher“ Werkstoff wie Beton nicht einfach eine Mischung aus Sand, Zement und Wasser; vielmehr gibt es rund 300, zum Teil problematische chemische Additive, die ihm je nach Nutzung zugesetzt werden. Damit die Materialien, die in einem Gebäude stecken, nach dessen Abbruch wieder verwendet werden können, müssen die Baustoffe möglichst materialrein und schadstofffrei entwickelt werden. Tabu sind beispielsweise giftige Lösungsmittel sowie Weichmacher, die im Verdacht stehen, erbgutverändernd zu wirken. Wichtig außerdem: Bereits beim Bau ist darauf zu achten, dass alle Baustoffe leicht wieder demontiert und getrennt werden können. Von diesem Prinzip hat sich die Bau- GEMEENTE VENLO FASSADENBEGRÜNUNG Mehr als hundert Pflanzenarten bilden die begrünte Fassade, in der sich auch Insekten und andere Tiere tummeln. Der Bewuchs, der mit aufgefangenem Regenwasser bewässert wird, ist Teil der Dämmschicht und schützt vor Hitze. FR Nr. 236 Ein Haus wie ein Baum Das ÖkoRathaus von Venlo (auch links im Foto). Infos im Internet unter www.beneficialfootprint.net/ 72. Jahrgang PFLANZENKLÄRANLAGE Schmutzwasser fließt durch eine reinigende Schicht aus schilfartigen Pflanzen und kann dann als Grauwasser für die Toilettenspülung verwendet werden. FR Bauen nach dem Cradle-to-Cradle-Konzept 2 praxis zuletzt weit entfernt. Verbundbaustoffe und „Sandwichmaterialien“ sind weit verbreitet, zum Beispiel bei der Wärmedämmung von Fassaden. Hier sind eine Reihe von Stoffen so fest miteinander verbunden, dass eine anschließende Aufbereitung schwierig ist oder sogar ausscheidet. Kritiker des Cradle to CradleBaukonzepts monieren denn auch, es lasse sich nur schwer auf die Praxis übertragen. Doch der neue Ansatz gewinnt in der Fachwelt zunehmend an Unterstützung. Das Branchenmagazin „Deutsches Baublatt“ urteilte: „Für die Baupraxis liefert das Prinzip einen Denkansatz, um Produkte und Technologien sowie Gebäude möglichst ressourcenschonend zu entwickeln.“ Klinkerbausteine, die wie Legosteine fixiert werden, lassen sich demontieren Tatsächlich gibt es Bewegung in der Baustoffindustrie. Auch renommierte Unternehmen haben inzwischen bereits C2C-zertifizierte Produkte im Angebot, so der Fenster- und Fassadenhersteller Schüco, der WienerbergerKonzern, der Bausteine aus Ton und Abwasserrohre anbietet, oder der Ytong-Anbieter Xella Deutschland. Fast in allen Produktbereichen gibt es C2C-Alternativen – ob Dachziegel oder Dämmstoff, ob Parkett, oder Teppichboden. Die unabhängige Zertifizierungsstelle mit Sitz in San Francisco (www.c2ccertified.org) verzeichnet aktuell bereits 157 Baustoffe aus den verschiedensten Bereichen. Damit alleine freilich ist es noch nicht getan. Es kommt auch darauf an, die Verbindungen der Baustoffe so zu gestalten, dass die Demontagefähigkeit gegeben ist. Bei diesen „Fügetechniken“ ist noch viel Innovation nötig. Erste Ansätze existieren bereits. Es gibt Klinkerbausteine („Click-Brick“), die wie Legosteine fixiert werden, neuartige Baustoffklebeverbindungen, die sich durch Zugabe von Enzymen leicht wieder lösen lassen, oder Dämmstofffassadenelemente, die nur vorgehängt werden. Nicht nur in den Niederlanden und Kalifornien, die als Nr. 236 THEMA DES TAGES Frankfurter Rundschau Cradle to Cradle-Vorreiter gelten, sondern auch in Deutschland gibt es bereits einzelne Neubauprojekte, die sich mehr oder minder stark an der BraungartMcDonough-Philosophie orientieren. Das erste C2C-Gebäude war die 2007 eröffnete Zentrale des Arzneimittelherstellers Bionorica in Neumarkt (Oberpfalz). Das größte aktuelle Projekt ist das Verwaltungsgebäude von RAG-Stiftung und RAG-Aktiengesellschaft in Essen. Der 2017 bezugsfertige Neubau wird aus schadstofffreien Materialien erstellt, die komplett recyclingfähig sind. Der Komplex werde ein „Rohstofflager“, sagte Professor Hans-Peter Noll, der Chef der RAG Montan Immobilien, die die Zentrale baut. „Wir wissen von Anfang an genau, was wo verbaut werden wird. Und es wird ein Lebensraum mit gesunden, ästhetischen Stoffen und Materialien.“ Verfechter des Cradle to Cradle-Bauens finden sich auch unter den großen Bau-Projektierern. Die renommierte Stuttgarter Bauträger- und Beratungsfirma Drees und Sommer, ein international tätiger Konzern mit 2150 Mitarbeitern, sieht in dem Konzept die Zukunft. Es geht nämlich auch um einen großen ökonomischen Vorteil: Es entstünden „nicht nur besonders nachhaltige, sondern auch werthaltige Gebäude“, meint Valentin Brenner, der bei dem Unternehmen das C2C-Team leitet. Grund: Der Rohstoff-Wert der Materialien bleibt erhalten, da diese am Ende der Nutzungszeit ja nicht als Abfall verloren gehen. Immerhin beläuft sich der Materialkostenanteil bei Hochbauprojekten auf 20 bis 30 Prozent der Gesamtkosten. Und dieser Block dürfte wachsen. Der Drees und Sommer-Manager Martin Lutz erwartet, dass sich die bereits existierende Rohstoffknappheit in den nächsten Jahren „immer weiter zuspitzen wird“. Studien zeigten, dass die Rohstoffe für Aluminium, Stahl, aber auch Kunststoff nur noch zwischen 50 und 100 Jahre verfügbar seien. „In Zeiten, in denen sogar Sand bald so wertvoll sein wird, dass er vielleicht genauso wie Kupferleitungen oder Dachrinnen geklaut werden wird, müssen wir reagieren.“ Neubau der RAG-Stiftung in Essen. TON DESAR, GEMEENTE VENLO „Damit kann man Geld verdienen“ Professor Michael Braungart über den Nutzen grüner Architektur Professor Braungart, Sie sind nicht der erste, der eine „grüne Architektur“ propagiert. Es geht vom Energiesparhaus bis zum Öko-Haus aus Lehm-Baustoffen, es gibt Solar-, Passivund Plus-Energie-Häuser. Was missfällt Ihnen an den bisherigen Konzepten? Erstmal gar nichts. Die Erfinder dieser Konzepte haben alle wichtige Pionierarbeit geleistet. Es waren notwendige Vorstufen für ein besseres Bauen. Aber: Wir sollten dabei nicht stehenbleiben. Es kommt aber darauf an, Gebäude vom Grundsatz her noch einmal neu zu denken – aus zwei Gründen. Erstens verursacht der Baubereich alleine rund die Hälfte des Ressourcenverbrauchs. Hier anzusetzen, ist besonders erfolgversprechend. Zweitens halten wir Mitteleuropäer uns 90 Prozent der Zeit in Gebäuden auf. Daher sollte die Luft darin rein und gesund sein, sauberer als die belastete Außenluft. Wir brauchen Gebäude, die die Umwelt nutzen und für Menschen wirklich geeignet sind. Sie sagen: „Ein Haus kann wie ein Baum sein – und eine Stadt wie ein Wald“. Was heißt das? Gebäude sollen, so wie ein Baum, nützlich sein für den Menschen und die anderen Lebewesen. Ich will keine Passivhäuser, die nur weniger schädlich sind als andere, weil sie weniger Energie verbrauchen. Gebäude sollen die Luft sauberer machen und Sauerstoff erzeugen, sie sollen das gebrauchte Wasser reinigen und anderen Lebewesen Lebensraum bieten. Sie sollen auch wertvolle Rohstoffe erzeugen, zum Beispiel durch Algenreaktoren, vielleicht auch die Farben mit den Jahreszeiten wechseln können. Das von Ihnen entwickelte „Cradle to Cradle“-Konzept sieht eine ideale Kreislaufwirt- ENERGIEGEWINNUNG Die Fassade ist mit Solarzellen bestückt, so wird die Sonnenstrahlung in Energie umgesetzt und liefert Strom und Wärme. Gleichzeitig dienen die Solarzellen als Sonnenschutz, weil sie in die Fassade integriert sind. FR 3 LUFTSÄUBERUNG WIEDERVERWERTUNG Die Fassadenbegrünung produziert saubere Luft. Über eine natürliche Durchlüftung mittels eines „Sonnenschornsteins“ (die Sonne heizt den Schornstein auf, wodurch ein Luftzug entsteht) strömt die Luft durch das Gebäude. FR Die verwendeten Materialien landen nicht auf dem Müll, sondern werden nach der Nutzung wiederverwertet. Damit ein konstanter Rohstoffkreislauf entstehen kann, müssen alle Bestandteile des Gebäudes demontiert werden können. FR ZUR PERSON Professor Michael Braungart ist Chemiker und Verfahrenstechniker, er lehrt an den Universitäten in Lüneburg und Rotterdam. Braungart startete seine Karriere in den 1980er Jahren bei der Umweltorganisation Greenpeace. Zusammen mit dem US-Architekten William McDonough entwickelte er in den 1990er Jahren mit „Cradle to Cradle“ ein Konzept für nachhaltiges Produktdesign. Er wurde unter anderem mit dem „Hero of the Planet Award“ des „Time Magazin“ ausgezeichnet. jw schaft vor. Ist das überhaupt realistisch? Es geht um mehr als eine Kreislaufwirtschaft. Wir orientieren uns an der Natur. Müll- oder Bauschuttdeponien sind die Bankrotterklärung des Ingenieurs. Alle biologischen Werkstoffe wie etwa Holz, die bei der Nutzung über kurz oder lang verschleißen, sollen wieder als Nährstoffe in die Biosphäre zurückgeführt werden. Die anderen Werkstoffe, die zur Technosphäre gehören, wie Steine, Beton, Baustahl, sollen als Recyclingrohstoffe immer wieder zur Verfügung stehen, und zwar nicht nur im Bausektor. Stahl, der jetzt im Haus steckt, kann später ein Autoteil und noch später die Trommel einer Waschmaschine sein. Dazu müssen die Werkstoffe aber von Anfang an konsequent auf diese Wiedereinsetzbarkeit hin entwickelt werden. Die Intelligenz liegt am Anfang. Wie reagieren die Architekten und Stadtplaner hierzulande auf Ihr Konzept, das von einem Außenseiter der Baubranche kommt? Das Bauen nach Cradle to Cradle steigert den Wert der Gebäude dauerhaft. Bei den großen Gebäude-Zertifizierern gibt es Extra-Punkte bei der Bewertung. Daher orientieren sich immer mehr Architekten daran. Ich hätte nie geglaubt, dass wir hier so schnell eine Fuß in die Tür bekommen. Schneller ginge es noch, wenn man auch im Bausektor zum „Nutzen statt Besitzen“ überginge. Die Idee ist: Komponenten wie Fenster, Steine oder Dämmfassaden würden im Eigentum des Herstellers bleiben und nur für eine bestimmte Nutzungszeit – etwa 25 oder 50 Jahre – gemietet. Der nimmt sie dann wieder zurück und macht neue Produkte daraus. Sie haben mit Ihrem Cradle to Cradle-Konzept vor allem Erfolg im Ausland. Die niederländische Provinz Limburg nennt sich „Cradle to Cradle-Region“, Kalifornien ist zum „C2C“Staat ernannt worden. Wieso ist es in Deutschland anders? Weil man Cradle to Cradle im Ausland als positives Innovationsthema sieht, während man es bei uns in die Ökoecke und damit in die Moralecke steckt. In den Niederlanden und in Kalifornien fragen sie: „Professor Braungart, kann man damit Geld verdienen?“ Und weil man das kann, machen sie es. Dass die Umwelt dadurch gewinnt, ist ein schöner Nebeneffekt. Die Firmen, die nach unserem Konzept Teppichböden herstellen, die die Luft etwa von Feinstaub reinigen, haben Umsatzrenditen, die an die von Apple herankommen. Wenn man den Umweltschutz gleich ins Produktdesign hineinpackt, braucht man den ganzen nachgeschalteten, so genannten Umweltschutz nicht mehr. Die Filter, die Kläranlagen, die Müllverbrennung – alles fällt weg. Interview: Joachim Wille 2015 GEMEENTE VENLO, FR 72. Jahrgang PRIVAT Montag, 10. Oktober 2016*