In stabiler Seitenlage Das politische System in Deutschland ähnelt immer mehr den früheren Volkskammern in Osteuropa. Die rekordhohe Unzufriedenheit mit der Regierung wird bei den anstehenden Wahlen kaum d ­ urchdringen. Kanzlerin Angela Merkel ist alternativlos. Ein Ausblick auf das Wahljahr 2017. Von Roland Tichy Die Überraschungssiegerin der Bundestags­ wahl im September 2017 wird Angela Merkel sein. Das ist insofern überraschend, als ihr ­Ansehen spätestens seit dem Beginn der – «Flüchtlingskrise» genannten – Krise der Ein­ wanderungspolitik im Sommer 2016 schwer leidet. Auch frühere Bundeskanzler – Helmut Schmidt, Helmut Kohl und Gerhard Schröder – waren bei grossen Teilen der Wählerschaft extrem unbeliebt, im Falle von Willy Brandt sogar regelrecht verhasst. Aber so viel Wider­ stand, wie Merkel derzeit ins Gesicht bläst, hatten ihre Amtsvorgänger nicht auszuhalten. Dass sie trotzdem ein viertes Mal in das Amt gewählt werden wird, hängt mit zwei Beson­ derheiten des deutschen politischen Systems zusammen: der Schwäche der Sozialdemo­ kraten und dem noch nicht vollzogenen Ge­ nerationenwechsel der politischen Klasse in Deutschland. «Die Regierung kontrolliert das Parlament» Das politische System ist wie so vieles in Deutschland in der Geschichte des National­ sozialismus begründet – jedenfalls wurde nach 1945 ein Grundgesetz gezimmert, das den Macht- und Regierungswechsel erschwert. Nicht der Wähler soll entscheiden: Dem wird heute noch vorgeworfen, dass zu viele seiner Sorte einst Adolf Hitler gewählt hatten, wes­ halb Volksentscheide gemeinhin als «un­ demokratisch» gelten. Zwischen dem Wähler und dem Gesetz stehen vielmehr Parteien, die zornige Wähler bändigen und dirigieren sol­ len und mit ihrer ausufernden Funktionärs­ schicht längst Bundestag, aber auch Verwal­ tung, Gerichte, Medien und zunehmend die Wirtschaft durchwuchern. Im Deutschen Bundestag koalieren Parteien miteinander, weil seit den Tagen des legendär­ en Gründungskanzlers Konrad Adenauer die Stimmenmehrheit einer Partei wegen des ver­ winkelten Wahlsystems nicht mehr zu errin­ gen war. Letztlich entscheiden von den Partei­ en aufgestellte Listen; die Wähler bestimmen die relativen Verhältnisse der Listen zueinan­ der. Direkt gewonnene Mandate werden den Listen abgezogen. Gibt es mehr direkte Man­ date, als die Listen vorsehen, wird das Parla­ ment verlängert – wovon regelmässig die ­grossen Parteien profitieren. Zwischen den Parteien wird dann ein Koali­ tionsvertrag geschlossen, der die Pläne für die jeweilige Legislaturperiode festlegt. Solche Verträge haben zwar keinen bindenden Cha­ 64 rakter im rechtlichen Sinne und sind auch nicht im Grundgesetz vorgesehen – aber sie sind die neue, übergesetzliche Verfassungs­ wirklichkeit. Was dann «Koalitionsausschüs­ se», also die Spitzenfunktionäre der Parteien, absegnen, wird gemacht. In keinem einzigen Fall hat in den letzten Jahrzehnten eine grössere Zahl von Bundestag­ sabgeordneten solchen Verträgen je widerspro­ chen.Laut Grundgesetz sind Parlamentarier nur ihrem Gewissen, nicht einmal den Wählern verantwortlich – de facto sind sie eine Art Parla­ mentsangestellte ihrer Parteien. ­Diese bestim­ men über Listenplätze, Sonderzahlungen und Merkel ist eine ungeschlagene Meisterin der notwendigen ­politischen Feinmotorik. Sonderfunktionen deren Einkommen und Existenz. «Die Demokratie hat sich umgekehrt: Nicht das Parlament kontrolliert die Regie­ rung, sondern die Regierung kontrolliert über Wer tritt an? SPD-Politiker Schulz, Gabriel. die Fraktionsführungen der Parteien das Parla­ ment», kritisiert etwa Heiner Weiss, früher Prä­ sident des Industriellenverbands. In diesem System, das mit dem Tag der Fest­ legung der Parteilisten eher früheren osteuro­ päischen Volkskammern ähnelt als einem selbstbewussten, diskussionsfreudigen Parla­ ment in der Tradition der Westminster-Demo­ kratien, ist es die Aufgabe des zukünftigen Bundeskanzlers, sich eine parlamentarische Mehrheit zu suchen. Angela Merkel ist eine ungeschlagene Meis­ terin der notwendigen politischen Feinmoto­ rik. Nach derzeitigen Umfragen wird sie zwar einen Viertel ihrer Wähler verlieren; aber um die 30 Prozent wird sie sich von der Wähler­ wurst schon abschneiden. Niemals mit der AfD Ihre grösste Herausforderung ist die Alterna­ tive für Deutschland (AfD), eine ­Neugründung, die gemeinhin als «rechtspopulistisch» ver­ schrien wird, in vielen Positionen aber dem früheren konservativen Teil der CDU ent­ spricht, der unter Merkel ins Abseits gedrängt wurde. Weil Populismus ja in einer Demokra­ tie deutscher Art unbedingt als ­Makel zu ver­ stehen ist, haben alle Parteien versprochen, niemals mit der AfD zu koalieren. Rechnerisch hat Merkel gute Chancen, zum dritten Mal ih­ re «grosse Koalition» der gesellschaftlichen Lähmung mit der SPD fortsetzen zu können – einmal bildete sie eine Koalition mit den ­Liberalen, was am Ende zu deren Ausscheiden aus dem Parlament führte. Für die Sozialdemokraten sieht die Dauer­ koalition mit Merkel ebenfalls trist aus. Die von ihnen erhoffte «linke Mehrheit» als Alter­ native gibt es nicht. Denn sowohl die postkom­ munistische Partei der Linken als auch die Grünen schwächeln. Deren eigener Bürger­ meister in Tübingen, Boris Palmer, sagt, seine Partei erwecke den Eindruck, «dass wir im Zweifel eher die Täter vor den Kontrollen schützen als die Frauen vor Übergriffen». Das ist angesichts der massiven Bedrohung von Frauen durch Neueinwanderer seit 2015 ein hartes Wort, und die Parteivorsitzende ­Katrin Göring-Eckardt reagierte programm­ gemäss hilflos: Sie empfahl die Subventio­ nierung von Sicherheitsschlössern für Bürger mit schmalem Geldbeutel, um wenigstens den vielen Wohnungseinbrüchen einen Riegel ­ ­vorzuschieben. Alle gewinnen Bei so viel Schwäche kann sich Merkels CDU sogar wieder als Partei der inneren Sicherheit profilieren und marschiert in den Umfragen auf über 30 Prozent Stimmenanteil zu. Die SPD droht eher unter 20 Prozent zu rutschen, als sich deutlich auf die 30 Prozent hinzube­ wegen. Also bleibt den hasenfüssigen Partei­ führern der SPD nichts anderes übrig, als nach dem von Merkel hingehaltenen Wurstzipfel zu schnappen. Ausserdem hat Merkel die Wahl, alternativ eine schwarz-grün-gelbe ­Koalition zu bilden, die nach den Flaggen­ Weltwoche Nr. 03.17 Bild: Emmanuele Contini (NurPhoto, Getty Images) i­ hren Strukturkonservatismus. Helmut Schmidt war zwar Sozialdemokrat. Mit sei­ nem scharfen Befehlston des Weltkrieg-­ Leutnants beeindruckte er eher die Wähler der ­Union. Seine SPD war längst beherrscht von akademisierten «Ich sach mal so»-Sozial­ demokraten der 68er Generation, die ihm seinen entschiedenen wie blutigen Kampf ­ ­gegen den Terror von links ebenso vorwarfen wie seinen Nachrüstungsbeschluss, der Deutschland an der Seite der USA in die letzte und ­erfolgreiche Drehung der Aufrüstungs­ spirale gegen die Sowjetunion führte. An der eigenen Partei gescheitert Bis zum radikalen Bruch: Kanzlerin Merkel. farben des bankrotten Karibikstaates wenig versprechend «Jamaika-Koalition» heisst. So­ wohl die deutschen Liberalen wie auch die Spitzen der Grünen stehen geradezu hechelnd dafür bereit, sich von Merkel mit Minister­ ämtern belohnen zu lassen. Diese Rechnung erklärt die enervierende Selbstzufriedenheit des politischen Systems in Deutschland: Die CDU kann auf Machterhalt setzen, die SPD auf eine Regierungsbeteiligung selbst bei weiterer Verschlechterung ­ihres Stim­ menanteils, während Grüne wie FDP auf Plätze am Kabinettstisch hoffen, falls die Sozialdemo­ kraten allzu jämmerlich abschneiden. Weil so alle gewinnen, bleibt das politische System in einer Art stabiler Seitenlage. Für den Wähler sind die Alternativen eher trist: Egal, ob er CDU, SPD, FDP oder Grüne wählt – am Ende heisst die Kanzlerin Merkel. Dass mehr Wähler zur Linken wechseln, ist unwahrscheinlich. Ein Anschwellen der AfD auf das Niveau von 20 Prozent oder darüber wird bisher nicht erwartet: Die Deutschen scheuen das politische Risiko, das damit ver­ bunden ist. Die durchaus wählerattraktive Vorsitzende der AfD, Frauke Petry, hat sich ge­ rade in ihre fünfte Schwangerschaft geflüch­ tet, die sie in zweiter Ehe mit einem anderen Führer ihrer Partei beglückt begeht – der Rest des Personals streitet zurzeit ohne sie. Das alles darf man Merkel nicht vorwerfen. Sie ist weder für die unterwürfige Schwäche ihrer Partei verantwortlich noch für den Total­ ausfall der SPD. Dabei hat der Wechsel der Kanzlerschaft von der Union zur SPD Deutsch­ Weltwoche Nr. 03.17 Bild: Ina Fassbender (Andalou Agency, Getty Images) land jahrzehntelang geprägt und für frische Luft gesorgt. Lange war die FDP das stabile Ge­ wicht in der Mitte, das das Schiff beim Linksrechts-Schwanken ausbalancierte. Rainer Bar­ zel gegen Willy Brandt, Franz-Josef Strauss gegen Helmut Schmidt oder Gerhard Schrö­ der gegen Helmut Kohl – das waren personi­ fizierte Duelle. Die Wahlkämpfe, die Angela Merkel gegen den Verwaltungsfachangestellten Frank-Wal­ ter Steinmeier (SPD) führte oder gegen den stolpernden Peer Steinbrück, faszinierten nicht. Ob gegen die mittlerweile präsidial agierende Angela Merkel mit ihrer ausgefeil­ ten Machtbesetzungsstrategie in allen Institu­ tionen ein Sigmar Gabriel, ihr Wirtschafts­ minister von der SPD, antritt oder der aus Acht Monate vor der Wahl hat die SPD sich noch nicht ­einmal entschieden. Brüssel herbeieilende Martin Schulz, ändert wenig am Machtungleichgewicht: Acht Mona­ te vor der Wahl hat die SPD sich noch nicht ein­ mal entschieden – die Wahl zwischen zwei ge­ borenen Verlierern ist auch schwer. Politische Wechsel in Deutschland voll­ziehen sich in langen Schwüngen, die auch auf die je­ weils tonangebende demografische ­ Kohorte zurückgehen. Willy Brandt mobilisierte die ­demografische Altersgruppe veränderungs­ bereiter Wähler, die von der Nachkriegszeit ge­ prägt war, gegen die Kriegsgeneration und Helmut Kohl musste die wirtschafts- und ­gesellschaftspolitische Trümmerlandschaft sortieren, die dabei zurückgelassen worden war, und gewann souverän gegen den extrem linksstehenden Oskar Lafontaine, der selbst die Wiedervereinigung abgelehnt hatte. Letzt­ lich unterlag er erst Gerhard Schröder, mit dem die schon alt gewordene Generation der 68er ihren Sieg zusammen mit Joschka Fischer von den Grünen feierte und die seither den Ton in Bildung, Medien und Politik angibt. Gerhard Schröder scheiterte wie einst Helmut Schmidt an seiner eigenen Partei, die seine er­ folgreichen wie notwendigen Sozialreformen ablehnte und seither nicht mehr weiss, ob sie Partei der marktwirtschaftlichen Realität oder der sozialistischen Utopie sein will. Damit öffnet sich der Raum der Möglich­ keiten, den Angela Merkel ausfüllt: Persönlich ohne jede Überzeugung oder Ideologie, ver­ waltet sie die Restmasse mit wurstiger Be­ liebigkeit und beliebigen Partnern. Neues, ­überzeugendes politisches Führungspersonal haben weder ihre Partei noch SPD oder Grüne vorzuweisen. Die Generation der Post-68er ist politisch schwach und konnte sich nicht von der Sozialisation der Elterngeneration lösen. Dabei ist Merkels Bilanz kritikwürdig. Die EU bröckelt auch wegen Merkels unent­ schiedener Euro-Politik und droht zu zerfal­ len. Ihre Energiepolitik ist ökologisch wegen des steigenden CO2-Ausstosses schädlich und wirtschaftsfeindlich. Ihre Einwanderungs­ politik spaltet Deutschland: Sie findet keine Antwort auf die ungeheuren wirtschaftlichen Kosten der millionenfachen Einwanderung Unqualifizierter in das Sozialsystem und die schwindende innere Sicherheit. So torkelt Deutschland inmitten der europäischen Krise hinter einer Führerin ohne Führung und Kompass her. «Alternativlos» nannte sie im­ mer wieder ihre Politik. Jetzt ist sie selbst alter­ nativlos bis zum unvermeidlichen radikalen Bruch. Roland Tichy, deutscher Publizist und langjähriger ­Chefredaktor verschiedener ­Zeitungen, ist Verleger des Magazins Tichys Einblick und Präsident der ­Ludwig-Erhard-Stiftung. 65