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[H. H. Ehrenforth (Hg.): Medieninvasion.
Die kulturpolitische Verantwortung der Musikerziehung. Kassel 1985, S. 235 - 245.]
WALTER HEIMANN
MUSIKALISCHES HANDELN ALS DIDAKTISCHES PROBLEM
ÜBER DIE ANTINOMIE VON HANDELN UND ERKENNEN
IM MUSIKUNTERRICHT
Alles Lernen in der Schule wird zunehmend von zwei Grundsätzen angeregt und
verändert. Der erste besagt: Das Denken geht aus dem Handeln hervor. Und der
zweite folgert daraus für den Unterricht, dass im Handeln verankertes Denken
und Sprechen besseres Denken und Sprechen ist (Aebli 1980, S. 6). Beides sind
Aussagen darüber, wie wichtig das praktische Handeln für das Denken ist, wie
grundlegend seine Aufgabe, wenn es darum geht, besser zu denken und besser zu
sprechen.
Im Musikunterricht aber hat das praktische Handeln seit je noch einen anderen
Sinn jenseits seiner kompensatorischen Aufgabe, das Denken und Sprechen zu
verbessern. Und das liegt im besonderen Charakter des künstlerischen Fachs. In
den meisten anderen Fächern, wie z. B. in Erdkunde oder Geschichte, steht das
Handeln immer im Dienst des Denkens und nur in diesem Dienst. Denn ein Erd­
kundelehrer kann und will nicht wirklich „Länder erzeugen“, und der Historiker
kann und darf in der Schule nicht wirklich „Geschichte machen“; auch nur für
eine Partei zu werben, ist ihm im Unterricht verboten. Aber ein guter Musikleh­
rer kann und darf in der Schule wirklich Musik machen und damit in einem sehr
viel weitergehenden Sinn praktisch handeln als seine Kollegen in anderen Fä­
chern. So darf er ohne weiteres für eine bestimmte Musik werben mit Faszination
und praktisch-musikalischer Arbeit. Ja, er muss es tun, wenn er den Auftrag sei­
nes Fachs nicht verfehlen will. Im gleichen, sehr „ursprünglichen“ Sinn wollen
die Schüler Musik machen oder hören und dabei zunächst einmal unbehelligt
sein von der Gängelung durch didaktische Denkaufgaben. Denn mit ihrem mu­
sikalischen „Wollen“ haben „Denken und Sprechen“ in der Tat zunächst einmal
nichts zu tun. Gerade aber in der größeren Unbefangenheit der Kinder und
Jugendlichen bei ihrem musikalischen Wollen zeigt sich oft deutlicher als sonst:
dass das musikalische Handeln seinem Sinn nach den Denk- und Sprachsystemen
(wie Wissenschaft und Logik) nicht nur fremd und unabhängig gegenübersteht,
sondern ihnen auch prinzipiell und unversöhnlich widerspricht.
Anders als die meisten anderen Fächer hat der Musikunterricht den klassischen
Dualismus zwischen Handeln und Erkennen also noch in einer weiteren Dimensi­
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on in sich selbst zu verarbeiten, jene tiefe innere Spannung, die aus dem Sinn­
gegensatz zwischen den praktischen Aufgaben des musikalischen Handelns und
den Aufgaben der Denk- und Sprachsysteme entsteht.
Ich frage im folgenden also zuerst: In welchen Merkmalen des musikalischen
Handelns wird der prinzipielle Gegensatz zum Denken spürbar und greifbar?
Sodann wäre zu fragen: Wie kann und wie soll der Lehrer mit diesem Sinnge­
gensatz im Unterricht praktisch umgehen? Natürlich muss ich dabei ein wenig
vereinfachen.
I.
Musikalisches Handeln ist jedes auf Musik bezogene äußere oder innerliche Tun.
Zum Problem wird es uns im folgenden dadurch, dass es durch Werturteile einen
subjektiven Sinn erhält. Der einzelne Schüler – ebenso wie der Lehrer ent­
scheidet über alles, was ihn musikalisch umgibt, immer durch positive oder nega­
tive Bewertung und gibt sich innerlich fortlaufend Rechenschaft darüber, ob ein
musikalisches Handeln – etwa eine Spielweise oder auch nur eine einzelne Syn­
kope auf dem Kontrabass – ihm gefällt oder nicht, ob es für ihn erfreulich oder
unerfreulich ist, erwünscht oder unerwünscht. Er nimmt sich dadurch die grund­
legende, die „existenzielle“ Freiheit, innerlich Stellung zu nehmen zu dem, was
ihm musikalisch begegnet. Und in dem Maße, wie er sich diese Freiheit wirklich
nimmt – was jeder freilich nur in sehr verschiedenem Maße tut -, bestimmt er
durch seine subjektive Stellungnahme und Auswahl den Sinn seines Tuns.
Formal betrachtet trifft er diese Auswahl vor dem Hintergrund der verschiedenen
musikalischen Sinnalternativen, die sich in Geschichte und Gegenwart her­
ausgebildet haben. Es sind die historischen Epochalstile und die aktuellen Mu­
sikarten wie Schlager, Rock, Jazz, Tanzmusik, Avantgarde usw. Vor diesem Hin­
tergrund trifft er eine ganz auf sich bezogene Auswahl und schafft dadurch zwi­
schen den Sinnalternativen unvermeidlich eine ganz auf sich bezogene Un­
gleichheit. Vor allem dann, wenn er die Auswahl mit großer Entschiedenheit, mit
Leidenschaft, mit Hingabe und einer dementsprechenden Ausschließlichkeit
trifft, zeigt sich die Tatsache der Ungleichheit besonders deutlich, etwa dort, wo
musikalische Sinnentscheidungen – wie im 19. Jahrhundert – mit der Intensität
und Absolutheit einer religiösen Überzeugung vertreten wurden – ähnlich wie
heute in der Jugendkultur -, oder dort, wo mit musikalischen Sinnkomplexen zu­
gleich heils- und unheils- geschichtliche Perspektiven verknüpft wurden. An
Extremen dieser Art zeigt sich der Zusammenhang von Sinnentscheidung und
Ungleichheit, von subjektiver Auswahl und subjektiver „Auserwähltheit“ aber
nur besonders deutlich. Sie veranschaulichen nur das sonst auch überall spürbare
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Prinzip: Grundsätzlich jede Sinnauswahl schafft in der Grenzenlosigkeit der
Sinnalternativen diese ganz parteiliche Auslese. Sie ist logisch immer eine Sinn„Elite“, vom Prinzip her und ganz selbstverständlich also „elitär“. Man hat dieses
Streben nach Ungleichheit und nach Herausgehobenheit der Sinnobjekte, diesen
ausschließenden „elitären“ Charakter einer jeden entschiedenen Sinnwahl oft be­
obachtet und ihn auch als einen „aristokratischen“ Zug an der Musik bezeichnet.
In der Tat begegnet uns dieser Charakter des musikalischen Handelns immer und
überall: bei Rock- und Jazzmusikern ebenso wie bei Avantgarde-Komponisten,
in großen Musikphilosophien ebenso wie im Urteil von Pop- und Schlagerfans
und historisch besonders spürbar in allen Musiklehren seit den frühesten Zeug­
nissen des Nachdenkens über den Sinn der Musik.
Beispiele über das Streben nach Ungleichheit bei Schlagerhörern und deren ari­
stokratische Haltung muss ich hier übergehen.
In dem angedeuteten gleichsam „elitären“ und „aristokratischen“ Charakter der
musikalischen Sinnentscheidung zeigt sich in groben Umrissen zunächst nur ein
erster fundamentaler Gegensatz zu so allgemeinen Prinzipien des wissenschaftli­
chen Denkens wie Intersubjektivität, Pluralität der Sinngegensätze und kritische
Distanz. Zwar muss auch der Wissenschaftler Gegenstand und Methoden sub­
jektiv auswählen, und in der Regel tut er dies mit großer innerer Anteilnahme. Er
steht mit diesen Fragen aber noch ganz im Vorraum seiner Wissenschaft, bei ih­
ren „Vorfragen“, wie Max Weber sie genannt hat. Zwischen diesen und der
Wissenschaft im engeren Sinne besteht der gleiche Gegensatz zwischen Handeln
und Erkennen, wie er uns hier beschäftigt, der Gegensatz also zwischen der IchBezogenheit einer Sinnentscheidung und den davon prinzipiell abgelösten
Grundsätzen wissenschaftlichen Denkens.
Aus der gleichsam „aristokratischen“ Subjektivität der Sinnauswahl als der
ersten Bedingung musikalischen Handelns folgt nun eine zweite Bedingung: das
Partikulare. Wer sich für einen bestimmten musikalischen Sinn entscheidet, ent­
scheidet sich damit zugleich auch immer für eine sinnhafte Begrenzung seiner
Welt, auch wenn er sich darüber hinwegtäuscht oder diese Tatsache nicht zur
Kenntnis nehmen will. Durch seine Auswahl wendet er sich ab von der Gren­
zenlosigkeit der Sinnalternativen, schlägt gewissermaßen die Türen zu unendlich
vielen Freiheitsräumen zu und eröffnet sich dadurch, dass er einen einzigen sub­
jektiv begrenzten Raum betritt, eine neue, ganz andere Freiheit. Die Welt wird
dadurch also kleiner für ihn: Sie wird – als logische Folge der subjektiven Ent­
scheidung und Auswahl – sinnhaft geschlossen, nur subjektiv bedeutsam, parti­
kular. Unser wissenschaftliches Denken freilich sträubt sich gegen eine solche
Begrenztheit und ist nach seinen Idealen in der Tat auch ganz frei davon. Das
wissenschaftliche Denken folgt Prinzipien wie „Offenheit“ gegenüber jeder nur
denkbaren Sinnalternative und „Unabhängigkeit“ durch seine grenzenlose Bereit­
schaft, die Wirklichkeit mit Möglichkeit zu durchdringen. Vor dem Hintergrund
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dieser universalistischen Prinzipien des Denkens muss jede subjektive Sinnaus­
wahl und das unvermeidlich Partikulare daran so fremd und auch so negativ er­
scheinen, dass viele Autoren davon nur mit einem resignativen Unterton spre­
chen. Ich zitiere hier Christoph Richter: „Die Situation, dass der Mensch gerade
durch seine Freiheit zur Entscheidung... seine Freiheit und seine Fähigkeiten not­
wendigerweise einschränkt, ist unabänderlich. Mit dieser Einsicht muss er
leben.“ (Richter 1975, S. 42). Sichtbar wird diese Konsequenz der Sinnent­
scheidung vor allem dort, wo sie den Charakter der Einseitigkeit annimmt. In oft
sehr rigide Einschränkungen und Unfreiheiten stilistischer Art haben sich fast
alle Komponisten und Interpreten begeben. Als produktive Einseitigkeit sind
diese Unfreiheiten in der Geschichte der Musik meistens – zumindest aber seit
Beginn der Neuzeit regelmäßig – eine notwendige Randbedingung herausragen­
der musikalischer Leistung, im Prinzip aber auch eine Randbedingung eines je­
den musikalischen Handelns, sofern es mit Leidenschaft betrieben wird, wie etwa
ganz zweifellos das Schlagerhören unserer Schüler. Zwar sind die Ein­
schränkungen und Unfreiheiten, in welche sich die Schlagerhörer und ihre Stars
begeben haben, eher sozialpsychologischer als stilistischer Natur und in ihrem
subjektiven Sinn kaum zureichend erkannt. Die typische Verbindung aber von
subjektiver Sinnentscheidung und partikularer Einseitigkeit, das also, worum es
hier geht, ist besonders oft gerade in diesem Bereich gleichsam mit Händen zu
greifen. Grundsätzlich – ob beim Komponisten, Interpreten oder beim Schla­
gerhörer – steht jede entschiedene Sinnauswahl und das Partikulare daran, jede
durchschnittliche musikalische Leidenschaft, fremd gegenüber dem Universalis­
mus des Denkens.
Ergänzend hierzu wären gewiss noch weitere Merkmale anzudeuten, durch wel­
che der Charakter einer musikalischen Sinnentscheidung in Gegensatz tritt zum
Denken und Sprechen. Ich müsste zeigen, dass eine Sinnentscheidung in ihrem
Kern unerreichbar ist für logische Argumentation. Sätze wie: Diese Musik ist für
mich erfreulich oder unerfreulich, wünschenswert oder unerwünscht, stehen
außerhalb logischer Überprüfbarkeit, sind logisch unwiderlegbar (auch wenn
andere sie ihrerseits wiederum zu bewerten pflegen als „triftig“ oder „irrelevant“
usw.). Ich müsste schließlich andeuten, dass eine Sinnentscheidung gegenüber
der Gesamtheit der Sinnalternativen niemals gerecht ist und etwa im Sinne des
Denkens oder der modernen Rechtsidealität – niemals gerecht sein kann. Die Be­
zogenheit einer musikalischen Sinnentscheidung auf mich, auf meine Vergangen­
heit, auf meine Gegenwart und Zukunft, ist logisch etwas anderes als eine denk­
bare Gerechtigkeit etwa gegenüber dem Rang einer musikalischen Leistung oder
gegenüber ihrer historischen Relevanz im Rahmen eines bestimmten Geschichts­
bildes. Niemand kann handeln, ohne sich vorher von diesem Gedanken einer „ge­
rechten“ Wahl zu lösen, ja ohne zuvor diese Idee des „gerechten Handelns“
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durch das Handeln selbst, durch seine Subjektivität, zu verraten. Dazu gehört
auch die Frage, ob die Musik in ihrem ursprünglichen Charakter nicht von Natur
aus zu allen Idealen der Aufklärung wie etwa Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit
in Gegensatz steht, oder, wie Max Weber es formuliert, „ob das Reich der Kunst
nicht vielleicht ein Reich diabolischer Herrlichkeit sei... und in seinem tiefinner­
lichst aristokratischen Geist widerbrüderlich“(Weber 1973, S. 600), also gegen­
brüderlich, unfriedlich, intolerant. Ich muss das hier aber übergehen. Und es ge­
nügt vielleicht auch, wenn wir festhalten: Die sinnhaften Orientierungspunkte
des musikalischen Handelns sind nicht allseitige Offenheit der Sinnhorizonte,
sondern deren Geschlossenheit in einem ganz bestimmten musikalischen Sinn,
nicht Unabhängigkeit als Denkprinzip, sondern Abhängigkeit von einer subjek­
tiv-partikularen Begrenzung der Welt, nicht Pluralität der Sinnmöglichkeiten und
Toleranz, sondern Einseitigkeit durch Liebe und Hass, durch leidenschaftliche
Entschiedenheit für eine ichbezogene Ungleichheit der musikalischen Sinngegen­
sätze.
Aus dem Gesagten folgt nun ein drittes Merkmal des musikalischen Handelns,
sein Charakter als Sinnkonkurrenz. Er tritt besonders dann zutage, wenn es um
äußere Sinnverwirklichung geht. Schon innerlich spürt der einzelne Schüler oft
sehr genau, dass viele Mitschüler andere Präferenzen haben und dass auch der
Lehrer seine eigenen Sinnentscheidungen vertritt. Er bekommt die Ungleichheit
der innerlichen Sinngegebenheiten aber umso empfindlicher zu spüren, je ent­
schiedener er nun auch äußerlich in seinem Sinn zu handeln beginnt. Aus seiner
bloß innerlichen Stellungnahme wird dadurch in der Tat eine äußere Teilnahme
im Kampf der musikalischen Sinnalternativen gegeneinander. Immer sind Schü­
ler und Lehrer in diese Sinnkonkurrenz hineingezogen, in den prinzipiell nie
endenden Kampf um das musikalisch Sein-sollende, um das, was sie musikalisch
wollen und nicht wollen. Das Ziel dieses Kampfes ist ganz offen Ungleichheit.
Die Mittel sind meist legitim. Sie reichen von purer musikalischer Faszination
über Musikkritik in allen ihren Formen, über Musiklehre bis hin zu so äußerlich
erscheinenden Mitteln wie Methoden und Organisation. Ausnahmslos jedes Sinn­
ideal – die Hitparade ebenso wie jede musikalische Ästhetik – braucht diesen
schöpferischen und zerstörerischen Kampf um Ungleichheit, zieht die Han­
delnden da hinein und lässt sie niemals in Ruhe. Sie werden gleichsam „be­
schlagnahmt“, müssen Opfer bringen, müssen „bezahlen“ mit Energie und
anderen Lebensleistungen. Und wenn sie das nicht tun wollen, wird jedes Sinn­
ideal verkümmern. Tucholsky – im Rückblick auf seine Erfahrungen mit der
Weimarer Republik – sagt das einmal lakonisch-bitter ganz am Ende seines
Lebens: „Ein Ideal, für das man nicht bezahlt, kriegt man nicht. Ein Ideal, für das
ein Mann oder eine Frau nicht kämpfen wollen, stirbt – das ist ein Naturgesetz.
Der Rest ist familiäre Faschingsfeier im Odeon“ (Tucholsky 1978, S. 182f.).
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Der Rest, heißt das, ist für ein Ideal ganz und gar ohne jede Bedeutung. Das Na­
turgesetz aber, von dem Tucholsky spricht, dass ein Ideal, für das ein Mann oder
eine Frau nicht kämpfen wollen, stirbt, gilt für das musikalische Handeln von
Schülern und Lehrern uneingeschränkt. Die neuen Untersuchungen von Ulrich
Günther, Thomas Ott und Fred Ritzel enthalten eindrucksvolle Beobachtungen
dazu (Günther u. a. 1983).
Oft freilich ist der Charakter als Kampf im äußeren Handeln kaum sichtbar. Ich
kenne Kollegen, die eine ganze Schule in Unordnung und auf die Beine bringen
für ein Händel-Oratorium, das sie schließlich aufführen, andere für ein Konzert
mit Popmusik, andere für Tänze der Renaissance. Sie glauben, man könne bei
solchen Gemeinschaftsleistungen doch nicht von Sinnkonkurrenz sprechen, nicht
von Kampf um Ungleichheit, aber sie täuschen sich. An ihren Schulen ist die Un­
gleichheit nur vollkommen. Der alltägliche Kampf um dieses Ziel ist vor­
ausgegangen, und er ist siegreich in einem ganz bestimmten musikalischen Sinn,
wenn auch immer nur: auf Zeit. Unfriedlich, antipluralistisch, intolerant und ari­
stokratisch ist Musik also immer da, wo sie als praktisches Handeln betrieben
wird, und je leidenschaftlicher dies geschieht, desto ausgeprägter. Sie zeigt diese
Charakterzüge immer dort, wo die gegensätzlichen musikalischen Sinnwelten um
Geltung ringen, um die knappen Überlebenschancen des je eigenen Sinns
rivalisieren, wo sie gegeneinander kämpfen um Sinnverwirklichung und Sinner­
füllung.
II.
Der Charakter des musikalischen Handelns als partikulare Sinnentscheidung und
als Kampf der Sinnalternativen gegeneinander bedeutet eine tiefe innere
Spannung gegenüber den Realitäten der Schule. Das Normale ist hier das Denken
und Sprechen, und als die leitenden Prinzipien gelten hier etwa: Gleichheit der
Sinnalternativen, ihre Pluralität, Toleranz und Ausgewogenheit der Standpunkte,
kritische Distanz und Unabhängigkeit, Logik und methodische Kontrolle, ja so­
gar das Ideal der Werturteilsfreiheit haben hier einen bestimmten Ort. Wie kann
in einer solchen Schule das musikalische Handeln noch sinnvoll betrieben
werden, wenn sein ursprünglicher, „dunkler“ Charakter den Realitäten des schu­
lischen Alltags so grundsätzlich widerspricht? Den Tatsachen nach überlebt Mu­
sik in dieser Institution zunächst in sehr vielen didaktischen Überformungen als
Grundlage und Objekt für handlungsnahes Denken und Sprechen. Davon soll hier
nicht die Rede sein. Daneben aber lebt Musik in der Schule offenkundig auch in
ihrem ursprünglichen Charakter als partikulare Sinnkonkurrenz, nicht etwa, weil
Lehrer und Schüler wüssten, wie dieser Charakter der Musik mit dem Charakter
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von Schule zu vereinbaren wäre, sondern weil sie ihn einfach in die Schule hin­
eintragen, ohne viel nach den gegenläufigen Kräften zu fragen. Denn sie kennen
das musikalische Handeln in seinem ursprünglichen Sinn aus ihrer Freizeit, aus
ihrer musikalischen „Lebenswelt“ als Hörer oder als Musiker. Sie wissen, dass es
dabei immer um partikulare Sinnverwirklichung geht, um Sinnkonkurrenz mit
allem, was dazugehört, um Kampf also mit der Hoffnung auf Sinnerfüllung und
mit der Furcht vor Sinnzerstörung. Für viele Lehrer ist es deshalb ganz natürlich,
auch in der Schule diesen zukunftsoffenen Wettstreit anzustiften. Und sie kämp­
fen auch hier ganz offen und sinnhaft sehr entschieden für ihre musikalischen
Ideale. Umgekehrt will auch der Schüler die Sinnkonkurrenz fortsetzen, die er
aus seiner Freizeit kennt, und tut dies im Unterricht zumindest nach zwei Seiten
hin: sowohl mit seinen Mitschülern als auch mit dem Lehrer. Neue musikalische
Sinnangebote – wie etwa das Händel-Oratorium oder das Schlager-Arrangement
im Unterricht – nimmt er entweder auf, oder er wehrt sich dagegen, etwa mit
dem höchst wirksamen Mittel des Boykotts oder vielleicht auch nur mit Ironie
und amüsiertem Geschmunzel. Schon allein seine äußere Passivität kann für den
Lehrer in bestimmten Situationen sinnhaft ein geradezu zerstörerisches Handeln
sein. Es gibt viele Kollegen, die das, was sie als Musiker sind, deshalb auf ihre
Schüler überhaupt nicht mehr übertragen wollen, die aufgehört haben, für ihre
Sinnpräferenzen zu kämpfen. „Das ist mir zu schade“, sagen sie, und sie meinen,
dass ihnen das Risiko der Sinnkonkurrenz mit den Schülern zu hoch ist. Sie
wissen wahrscheinlich, dass eine verlorene Sinnkonkurrenz durchaus einen
Ernstfallcharakter hat und im Grunde Sinnvernichtung bedeuten kann. Im all­
täglichen Kampfgeschehen des Musikunterrichts signalisieren sie mit dieser
Haltung das, was Hans-Christian Schmidt als „Erschöpfungszustand der Lehrer“
(Schmidt 1978, S. 4) diagnostiziert: „Und dass einem Lehrer, der nach dem ach­
ten 'Freischütz'-Versuch zum achten Male amüsiertes Geschmunzel erntet, dieser
'Freischütz' dann mit Fug und Recht (pardon) zum Hals raushängt, kann nur der
nicht verstehen, der eine Schulstube von innen nicht kennt“ (ebd.).
Die meisten aber kennen das und wissen einerseits, was es bedeutet, wenn die
Schüler eine Sinnkonkurrenz sehr weitgehend gewinnen, andererseits, was es für
sie als Lehrer bedeutet, wenn es ihnen einmal gelingt, den Schüler für ihre mu­
sikalische Sache wirklich zu gewinnen.
Die bloße Tatsache der Sinnkonkurrenz ist so unübersehbar und ihre Beobach­
tung so allgemein, dass wohl kaum jemand davon nichts weiß und nichts ver­
steht. Zum Problem wird sie uns im folgenden nun aber dadurch, dass die Lehrer
sie in verschiedener Weise beurteilen und ebenso verschieden in sie eingreifen,
um sie praktisch zu bewältigen. In der Musikdidaktik haben sich dazu traditionell
zwei Standpunkte herausgebildet, die objektive und die subjektive Wertlehre.
Beide lehren gegenüber der musikalischen Sinnkonkurrenz als Tatsache eine je
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verschiedene Einstellung. Auch das kann nur angedeutet, nicht im einzelnen aus­
geführt werden.
Nach Auffassung der objektiven Wertlehre liegt der Sinn einer Musik in ihrer on­
tologischen Struktur, die als Idee erahnt und in philosophischer Explikation
erfasst werden kann. Ihr Sinn ist hier also vorgegeben oder ethisch „aufgegeben“,
und zwar in Ideen, die als objektive Wahrheit gelten, als Resonanz der ontologi­
schen Sinnstrukturen oder als deren Voraus-Scheinen. Folglich entspricht der
Sinn eines konkreten musikalischen Handelns genau dem Maß, in welchem es
sich diesen „objektiven“ Sinnstrukturen anzunähern vermag. Zwar belässt die ob­
jektive Wertlehre dem einzelnen durchaus die Freiheit der Entscheidung. Aber
diese Entscheidung ist hier eine Wahl zwischen Wahrheit und Unwahrheit, zwi­
schen Scheitern und Gelingen, eine Entscheidung also zwischen den Mächten des
Lichts und der Finsternis. So kann es vom Standpunkt dieser Lehre aus auch
keinen Zweifel darüber geben, wie der Lehrer in die allgegenwärtige Sinnkon­
kurrenz praktisch einzugreifen hat. Er soll, so lehrt sie, dem Kampf der Sinn­
gegensätze jene Richtung geben, die auf das Wesentliche in der Musik hinführt,
auf ihren „objektiven“ Sinn. Zwar muss der Lehrer, so lehrt sie weiter, immer
von den subjektiven Gegebenheiten ausgehen, also von den Schülern und ihrem
subjektiven Bewusstsein. Er soll aber, wie z. B. Adorno es ausdrückt, „zugleich
trachten, jene auf ihr objektives Ziel hinzubewegen“ (Adorno 1964, S. 106). Für
uns wichtig an der objektiven Wertlehre ist besonders die Tatsache, dass Kunst
und Wissenschaft, Handeln und Erkennen in ihren letzten Zielen hier noch keine
völlig getrennten Wege gehen, weil beide sich gleichermaßen an einem „objek­
tiven“ Wahrheitsbegriff orientieren. Wo schon künstlerisches Handeln sich an
„objektiver“ Wahrheit orientiert, ist auch für Wissenschaft kein prinzipiell
anderes Ziel denkbar.
Die subjektive Wertlehre geht von anderen Prämissen aus. Für sie ist die musika­
lische Kultur nicht von „objektiven“ Sinnstrukturen geprägt, sondern von der
Souveränität subjektiver Entscheidungen, deren Gesamtheit die sinnhafte Ursa­
che ist für den „Gang der Kultur“, Für diese Lehre ist Musik, kurz gesagt, die
Summe dessen, was die Menschen davon halten, die Summe also aller sub­
jektiven, ganz partikularen Sinn- und Bedeutungszusammenhänge, die der ein­
zelne der Musik zuordnet. Das Unterscheidungsmerkmal gegenüber der objek­
tiven Wertlehre ist hier vor allem der rein empirische Sinn- und Wertbegriff.
Dort sind die Werte Seinsgegebenheiten mit ethischem Gehalt. Hier entscheidet
allein der Handelnde darüber, was ihm Werte sind. Zwar kann er selbst den sub­
jektiv gemeinten Sinn kaum jemals mit eigenen Worten benennen. In seinen Prä­
ferenzen aber kommt doch recht genau zum Ausdruck, dass er eine klare Vor­
stellung darüber hat, ob eine Musik für ihn einen Sinn hat oder nicht, oft auch
darüber, ob dieser Sinn für ihn größer ist oder kleiner im Vergleich zu einer
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anderen Musik. So entstehen die Werte hier durch innere Vorgänge im Subjekt,
durch Vergleich von Sinnalternativen, durch Abwägen mit subjektiven Maßein­
heiten und Gewichten im Rahmen der je verschiedenen Freiheitsgrade des ein­
zelnen.
Für den Lehrer hat die subjektive Wertlehre allerdings ein gewaltiges Problem
geschaffen. Denn anders als die objektive Wertlehre beantwortet und „verant­
wortet“ sie die Sinnfrage des musikalischen Handelns nicht. Weder gibt sie an, in
welche Richtung der Kampf der Sinngegensätze allgemein entschieden werden
muss, noch äußert sie sich dazu, wie besonders der Lehrer darin eingreifen soll
durch sein Handeln im Unterricht. Auch die empirische Forschung, die auf der
subjektiven Wertlehre gründet, kann sich dazu nicht äußern, weil die Sinnfrage
den Bereich ihrer Zuständigkeiten transzendiert. Auch sie überlässt – besonders
durch das Postulat der Werturteilsfreiheit – die Sinnentscheidung und Sinnver­
antwortung ganz konsequent dem handelnden Subjekt, also dem Lehrer bzw. dem
Schüler und schafft damit die empfindliche Distanz zwischen ihrer empirischen
Arbeit, wo Sachverhalte geklärt werden, und dem Musikunterricht, wo musika­
lisch gehandelt werden muss. Wenn der Lehrer den Sicherheiten der objektiven
Wertlehre misstraut, steht er also erst einmal allein vor der Frage, wie er in die
musikalische Sinnkonkurrenz eingreifen soll. Allerdings kann ihm die Wissen­
schaft zur Beantwortung dieser Frage eine wichtige Hilfe geben und ihm dadurch
einen vielleicht entscheidenden Dienst erweisen. Sie kann ihm Klarheit darüber
verschaffen, dass er im Musikunterricht immer vor zwei völlig heteronomen
Handlungsproblemen steht. Immer nämlich handelt es sich hier entweder um
Wertübertragung oder um Wertunterstützung. Beide Handlungstypen prägen der
Sinnkonkurrenz einen jeweils ganz verschiedenen Charakter auf.
a) Wertübertragung
Nach seiner Tradition ist Musikunterricht im gelungenen Fall immer musika­
lische Wertübertragung vom Lehrer auf den Schüler. Gelingen kann dies aller­
dings nur dann, wenn der Lehrer selbst ein Musiker im „ursprünglichen“ Sinn ist,
ein musikalisch entschiedenes Wertbewusstsein also wirklich hat. Nur dann,
wenn ein musikalischer Wert durch seine Person glaubwürdig ist, kann er anfan­
gen, musikalisch zu wirken, kann er jene Faszination und Überzeugungskraft
aufbringen, die immer notwendig ist, um Schüler sinnhaft in Bewegung zu brin­
gen auf das hin, was er mit ihnen erreichen will. Wenn seine Person seine musi­
kalische Lehre nicht legitimiert, wenn sie sie nicht ausweist, sagt Hartmut von
Hentig einmal, „dann kann er lehren, was er will – es wird nichts bringen“
(Hopf/Nykrin 1978, S. 11). Dabei ist Wertübertragung als Handlungstypus natür­
lich ganz unabhängig vom Stil einer Musik. Wertübertragung wird nicht nur von
dem Lehrer geleistet, der zum Musikleben der Schüler als „Kontrastkonkurrent“
(Antholz) auftritt, sondern ebenso vom Rockmusik-Kollegen, der zwar in der
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gleichen musikalischen Idiomatik lebt wie die Schülermehrheit, der aber in­
nerhalb dieser Idiomatik ein differenziertes Wertbewusstsein kennt und die Über­
zeugung lehrt, dass man auch hier – wie überall – gute und schlechte Musik ma­
chen kann.
Immer ist Wertübertragung ein asymmetrischer Eingriff in die Sinnkonkurrenz,
ein einseitiger Eingriff also von Seiten des Lehrers als Musiker. Ein solches Han­
deln ist auch immer sinnhaft sehr entschieden, konkurriert offen mit allem, was
sich ihm praktisch entgegenstellt und verläuft immer in Richtung der Musiker­
natur des Lehrers. Alles musikalische Handeln in der Schule lebt von diesen Mu­
sikernaturen, die vorangehen, ihre Fronten gegen die normalen Widerstände von
Schulleitung und Schülern vorantreiben und damit die eigene Sinnentscheidung
als Musiker praktisch durchsetzen. Dabei begegnet der Lehrer dem Schüler
immer „fordernd“, nicht nur in dem Sinn, dass er ein bestimmtes äußeres Han­
deln verlangt, sondern in der sehr viel weitergehenden Erwartung, dass sein in­
neres Wertbewusstsein sich als persönliches Engagement auf den Schüler über­
trägt. Ich nenne dieses Handeln mit dem Ziel der Wertübertragung (nach Fröbel)
daher: „fordernde Musikerziehung“.
Ist der Unterricht weiter nichts als fordernde Musikerziehung, dann ist er in
einem uralten Sinn „Musiklehre“, worin der Schüler immer nur sehr einseitig be­
stimmt ist als Objekt für die sinnhaften Forderungen des Lehrers. Dem entgegen
oder zur Seite steht seit langem das praktisch-pädagogische Postulat einer natür­
lichen Gegenseitigkeit im Verhältnis der Unterrichtspartner. Ebenso nämlich wie
der Lehrer seine musikalischen Werte hat und sie als Forderung an den Schüler
heranträgt, so bringt auch der Schüler seine musikalischen Werte in die Schule
mit und trägt sie an den Lehrer heran. Und damit ist für den Lehrer die zweite
wichtige Aufgabe bezeichnet, die Wertunterstützung.
b) Wertunterstützung
Sie ist ein Handlungstypus, der der allgegenwärtigen Sinnkonkurrenz einen ganz
anderen Charakter und eine ganz andere Richtung gibt. Sie ist auch etwas sehr
Seltenes, vielleicht schon deshalb, weil sie aus einer doppelten Leistung des Leh­
rers besteht: er muss das kindliche oder jugendliche Musikhandeln in seinem
subjektiv gemeinten Sinn erstens beachten, d. h. er muss diesen verborgenen
Sinn des Handelns erst einmal aufspüren, entdecken, begreifen und verstehen.
Zweitens muss er diesem Sinnzusammenhang nachgehen können durch Verwirk­
lichung mit den Mitteln der Schule. Beides, einen fremden Sinn beachten und
einem fremden Sinn nachgehen, ist sehr schwer. Ich nenne einen solchen Unter­
richt (wiederum nach Fröbel): „beachtend nachgehende Musikerziehung“.
Die erste und alles entscheidende Frage ist hier: Worin besteht im Einzelfall der
Sinn des Schülerhandelns? Die Schüler selbst können wir danach nicht fragen.
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Sie selbst wissen immer nur, was sie konkret wollen, was sie hören, singen, spie­
len möchten. Selten oder nie wissen sie, was das sinnhaft für sie bedeutet, an
welchem subjektiven Sinn sich ihr konkretes Tun tatsächlich orientiert, und ob
dieser Sinn unter schulischen Bedingungen überhaupt erreichbar ist. Das kann
nur der beobachtende Lehrer wissen. Aber er muss es auch wissen, denn nur um
diesen subjektiv gemeinten Sinn geht es bei nachgehender Erziehung, nicht etwa
um irgend eine bestimmte musikalische Idiomatik. Ich bin deshalb ein wenig
skeptisch, ob mit dem Stichwort „ Pop & Rock“ schon sehr viel von diesem Pro­
blem der „ beachtend nachgehenden Musikerziehung“ gelöst ist. Das Singen von
alten und neuen Hits kann zwar durchaus ein Schritt in diese Richtung sein. Aber
ebenso kann es – wie jedes andere Singen auch – unmittelbar zu „fordernder“
Musikerziehung werden, ja es kann sogar, wie die Erfahrung lehrt, Wert­
vernichtung in ihrer schlimmsten Form bedeuten, wenn bestimmte Schulsitua­
tionen und bestimmte Gegebenheiten darin in diese Richtung drängen und ihre
sinnzerstörerische Wirkung entfalten.
Welche Interessen Kinder und Jugendliche mit ihrem musikalischen Handeln
verfolgen und welche sinnhaften Folgen es für sie hat, erscheint allerdings auch
theoretisch nur erst in Ansätzen geklärt. Wohl handelt es sich in der Mehrheit der
Fälle um einen interaktionalen Sinn noch weit außerhalb der musikimmanenten
Sinnzusammenhänge. Und es ist gewiss erst noch ein Zufallsergebnis, wenn im
Blick auf diese Sinnzusammenhänge nachgehende Musikerziehung hier und da
wirklich einmal gelingt (ein Beispiel habe ich in der Festschrift für Ulrich Gün­
ther erläutert; Ritzel/Stroh 1984, S. 134-145). Jedenfalls muss der Lehrer im Ver­
gleich zu den Schülern immer mehr wissen, als sie selbst über den latenten Sinn
ihres musikalischen Tuns. Und jedenfalls ist dieser verborgene Sinn nicht durch
einfache Formalbefragung oder gar durch Abstimmung in der Klasse zu errei­
chen, sondern nur indirekt, durch leidenschaftlich engagierte, gleichsam „mit­
leidenschaftliche“ Beachtung und Beobachtung der Schüler durch den Lehrer,
ergänzt durch den kollegialen und durch den wissenschaftlichen Diskurs.
So gibt es immer diese beiden heteronomen Handlungsprobleme im Musikun­
terricht: Wertübertragung und Wertunterstützung, die als Sinnmöglichkeiten des
Musiklehrers dem Handeln eine je verschiedene Richtung geben. Der Lehrer
muss sich entscheiden, ob er – wie einst der Rattenfänger von Hameln – die Kin­
der wegführen will in ein anderes Land, in Sinnzusammenhänge also, die nur er
selber kennt, oder ob er die Kinder die Richtung ihres Gehens selbst bestimmen
lassen will – wobei er als Lehrer nicht etwa nur stehen bleibt und zuschaut, son­
dern die doppelte Schwierigkeit auf sich nimmt, gleichsam rückwärts vor ihnen
herzugehen, um ihnen den nötigen Raum zu schaffen für das, was sich aus ihnen
herausentwickeln will. Walter Kempowski, der Lehrer und Schriftsteller, meint,
dass „Kindergartentanten“ das am besten könnten:
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WALTER HEIMANN
„Zwei Arten von Lehrern gibt es, Kindergartentanten und Rattenfänger, jeder
muss sich entscheiden, was er sein will, ob er die Kinder betreuen will, wie sie es
von Natur aus brauchen, ob er also wie die Kindergartentante rückwärts vor ih­
nen her gehen will – oder eben wie der Rattenfänger mit der Flöte“ (Neumann
1980, S. 7).
Die zu Beginn gestellte Frage, wie soll der Musiklehrer in die Sinnkonkurrenz
eingreifen, ist damit natürlich nicht eindeutig beantwortet – außer durch den
Nachweis der Handlungsalternativen. Ich selbst allerdings stelle die Alternativen
immer auch in die gleiche Rangfolge wie Fröbel im 19. Jahrhundert, wonach die
beachtend nachgehende Erziehung immer die praktisch wichtigste Aufgabe ist.
Literatur
Aebli, Hans: Denken, das Ordnen des Tuns, Bd. 1, Stuttgart 1980 (Klett)
Adorno, Theodor W.: Dissonanzen. Musik der verwalteten Welt, Göttingen 4.
Aufl. 1969 (Vandenhoeck & Ruprecht)
Günther, Ulrich / Ott, Thomas / Ritzel, Fred: Musikunterricht 5-11, Weinheim
und Basel 1983 (Beltz)
Hopf, Helmuth / Nykrin, Rudolf: Interview mit Hartmut von Hentig, ZfMP 1978,
Heft 6
Neumann, Michael: Walter Kempowski, der Schulmeister, Braunschweig 1980
(Westermann)
Richter, Christoph: Musik als Spiel, Wolfenbüttel 1975 (Möseler)
Ritzel, Fred / Stroh, Wolfgang M. (Hg.): Musikpädagogische Konzeptionen und
Schulalltag, Wilhelmshaven 1984 (Heinrichshofen)
Schmidt, Hans-Christian: Rockmusik (Opus musicum), Didaktischer Kom­
mentar, Köln 1978 (Volk)
Tucholsky, Kurt: Die Q-Tagebücher, Reinbek bei Hamburg 1978 (Rowohlt) We­
ber, Max: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftstheorie, Tübingen 4. Aufl.
1973 (J. G. B. Mohr [Paul Siebeck])
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