Von der musikalischen Gestalt

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Andreas Käch
Von der musikalischen Gestalt
Grundlagen und Techniken zur Rekonstruktion
von musikalischen Zusammenhängen
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Inhalt
Einführung
Von einem Mysterium und dessen Handhabung
Abteilung I
- Das symmetrische Grundprinzip
Abteilung II
- Die innere Form
Von der Tonordnung
Von den Tonbeziehungen
Abteilung III - Das Problem der Notation
Von den Tonwerten
Einführung
Von einem Mysterium und dessen Handhabung
Melodie und Harmonie,
die zwei Hauptfaktoren der Tonkunst,
finden sich in der Natur nicht vor.
Sie sind Schöpfungen des Menschen.
(Eduard Hanslick)
„Musik ist ein Mysterium“
Zu dieser Ansicht gelangen selbst Musiker, die sich jahrzehntelang
intensiv mit dem Phänomen des Musikalischen beschäftigt haben.
Es spricht ja auch einiges dafür. Sämtliche Versuche, Analogien zu
anderen, besser fassbaren Bereichen herzustellen, verstricken sich
in Widersprüchlichkeiten. Wissenschaftliche Ansätze führen uns
zwar zu vielen interessanten Gesetzmäßigkeiten – nur nicht zum
Phänomen des Musikalischen. Vor allem mit Hilfe der Physik wird
immer wieder versucht, musikalische Problemstellungen zu lösen.
Die Existenz von Musik lässt sich jedoch nicht durch das Analysieren
von physikalischen Schallereignissen nachweisen. Denn Musik hat
ganz spezielle Eigenschaften wie: eine Melodie gefällt, ein Rhythmus
geht ins Blut, eine Harmonie löst ein angenehmes Gefühl aus –
und das sind (noch) keine physikalischen Parameter.
Der Standpunkt „Musik ist ein Mysterium“ enthält allerdings auch
einen problematischen Aspekt. Nicht für den Komponisten – ein
Komponist schreibt trotzdem geniale musikalische Werke. Nicht
für den Zuhörer – ein Zuhörer genießt trotzdem das Erklingen von
genialer Musik. Aber für den Interpreten als Vermittler zwischen
Komponist und Zuhörer. Um nämlich den Anforderungen dieses
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Vermittlers in allen Belangen gerecht zu werden, muss der Interpret
die inneren musikalischen Zusammenhänge eines Werkes bewusst
wahrnehmen können; Zusammenhänge, die sich beispielsweise
durch eine Harmonie- oder Formenlehre nicht erschließen.
Auf der Suche nach einem alternativen Ansatz, dem Interpreten
diese Zusammenhänge jenseits des Klangs bewusst werden zu lassen, wurde ich im Fachgebiet der Psychologie fündig. Denn:
Musik wird erst Musik, wenn die menschliche Wahrnehmung
einzelne physikalische Schallereignisse in einen musikalischen
Zusammenhang bringen kann.
Für das Verständnis dieser Vorgänge innerhalb der Wahrnehmung
gewinnt eine Richtung im Bereich der Psychologie an Bedeutung,
die unter dem Begriff Gestaltpsychologie zusammengefasst wird1.
1890 formulierte Christian von Ehrenfels drei gestaltpsychologische
Prinzipien, um die Eigenschaften eines Gegenstandes (z.B. Melodie,
Bild, Situation, Handlungskomplex) in der Wahrnehmung aufzuzeigen. Er nannte diese drei Phänomene Gestaltqualitäten:
1. Ganzheitlichkeit: Das Gehirn tendiert dazu, bei der Wahrnehmung einzelner Empfindungen (Reize), diese Einzelheiten zu einer
Ganzheit zusammenzufassen.
Zum Beispiel können einzelne Töne, die als Schallereignisse unser
Ohr erreichen, zu einer Melodie zusammengefasst werden.
2. Übersummativität: Ein wahrgenommener Gegenstand erhält
zusätzliche Eigenschaften, Qualitäten oder Merkmale, die
physikalisch nicht repräsentiert sind.
Die Melodie besitzt zum Beispiel einen Höhepunkt, ein Ende,
einen Modus (Dur/Moll), etc.
3. Transponierbarkeit: Wenn ein wahrgenommener Gegenstand als
Ganzes verändert wird, behält er seine Qualität.
Eine Melodie wird nach einer Transposition als gleiche Melodie
wahrgenommen, obwohl die transponierte Melodie aus ganz
1 Sergiu Celibidache beschäftigte sich neben seiner Dirigiertätigkeit intensiv mit
der Musikphänomenologie, einer musikalischen Variante der Gestaltpsychologie.
In seinen Thesen werden allerdings nur die klanglichen Aspekte berücksichtigt.
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anderen Tönen besteht. Hingegen wird dieselbe Melodie, deren
Töne nur in eine andere Reihenfolge gesetzt werden, als eine ganz
andere wahrgenommen.
Zusätzlich zu diesen drei Prinzipien, aus denen heraus
Gestaltqualitäten entstehen, existiert ein weiteres wichtiges
Phänomen, nach dessen Gesetzmäßigkeiten die Wahrnehmung
Gestaltqualitäten strukturiert, nämlich die Natürliche Tendenz:
Im menschlichen Gehirn werden Gestaltqualitäten nach dem
Phänomen der Natürlichen Tendenz wahrgenommen.
Hohe Klänge haben beispielsweise die natürliche Tendenz, lauter
zu sein als tiefe Klänge.
Der Klang ist die psychische Repräsentation für ein am menschlichen
Ohr ankommendes physikalisches Schallereignis. Gemäß dem
Phänomen der Übersummativität existieren aber noch zusätzliche
musikalische Eigenschaften, die im physikalischen Schallereignis
nicht repräsentiert sind. Wenn diese zusätzlichen musikalischen
Eigenschaften gedanklich von den Parametern des Klangs getrennt
werden, können die inneren musikalischen Zusammenhänge besser
analysiert werden. Ich nenne diesen vom Klang abgekoppelten
Unterbau Ton-Komplex.
Unter einem Ton-Komplex werden also all die Phänomene zusammengefasst, die im Klang nicht direkt zu finden sind, deren Parameter aber entscheidend werden, wenn es um das bewusste Erfassen
von musikalischen Zusammenhängen geht. Auch bei Vorgängen in
einem Ton-Komplex gilt das Prinzip der Natürlichen Tendenz.
Zum Beispiel hat ein Leitton, je nach Position im musikalischen
Kontext, die natürliche Tendenz, auf- oder abwärts zu streben.
Selbstverständlich folgen die Töne einer Komposition nicht immer
den Gesetzen der Natürlichen Tendenz. Das würde den Zuhörer
rasch ermüden. Gerade die Passagen, die gegen die Natürliche Tendenz
komponiert sind, bewirken in der menschlichen Wahrnehmung
eine besondere Aufmerksamkeit.
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Ein Interpret hat nun die Aufgabe, aus dem Notentext heraus die
Phänomene des Ton-Komplexes zu rekonstruieren und sich das
Resultat, nämlich die inneren musikalischen Zusammenhänge,
bewusst anzueignen, bevor er das Werk an den Zuhörer weiterreicht.
Ein allgemein bekanntes Beispiel aus der Gestaltpsychologie soll die
Problemstellung für den Interpreten veranschaulichen:
Der Urheber der Zeichnung in Abb.1 weiß aus eigener Erfahrung
- und die deckt sich mit dem Phänomen der Natürlichen Tendenz dass der Betrachter hier primär zwei gedrehte Quadrate sehen wird,
und nicht acht Dreiecke.
Abb.1
Nehmen wir jetzt einmal an, dass der Urheber – in Analogie zu
einem musikalischen Werk – seine Zeichnung chiffriert. In diesem
Fall kann es passieren, dass das Bild durch fehlerhaftes Dechiffrieren
dem Betrachter falsch präsentiert wird - wie z.B. in Abb.2:
Abb.2
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Abgesehen von der falschen Größe des einen Quadrates könnte
der Betrachter das richtig dechiffrierte Quadrat als vier separate
Dreiecke wahrnehmen.
Daraus folgt, dass die Wahrung der Gestalt für den Interpreten eine der
wichtigsten Verpflichtungen gegenüber dem musikalischen Werk ist.
Wie bewerkstelligt ein Interpret nun aber die Wahrung der Gestalt?
Der Komponist bedient sich unbewusst einer musikalischen
Grammatik (die im Phänomen des Ton-Komplexes verankert ist)
und notiert sein Werk nach dieser Grammatik. Wenn nun der
Interpret diese Grammatik kennt, kann er aus der Notenschrift die
musikalischen Zusammenhänge 1:1 rekonstruieren.
Hier ist wichtig festzuhalten, dass lediglich der Ton-Komplex, also
der innere musikalische Zusammenhang rekonstruiert werden kann.
Hingegen erarbeitet der Interpret die äußeren Klangparameter
(Dynamik und Klangfarbe) anhand grober Anhaltspunkte des
Komponisten auf seine ganz persönliche Art und Weise. Im Idealfall
entsteht dadurch in der Wahrnehmung des Zuhörers ein exaktes
Abbild der ursprünglichen inneren Zusammenhänge, eingebettet in
die klangliche Handschrift des Interpreten.
Ein weiteres gestaltpsychologisches Phänomen ist dafür verantwortlich, dass bei gewissen Melodieteilen oder Harmoniefolgen der
Zuhörer eine Zusammengehörigkeit empfindet, bei anderen jedoch
nicht - das Gesetz der Nähe:
Räumlich oder zeitlich nahe beieinander liegende Reize werden als
Einheit wahrgenommen.
Bei visuellen Reizen ist das Phänomen offensichtlich.
Abb.3
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In einem musikalischen Kontext ist es ebenfalls offensichtlich, dass
die Wahrnehmung schnelle Melodieverläufe als eine Einheit empfindet. Aber wie verhält es sich beispielsweise bei Akkordfolgen,
deren Noten alle den gleichen rhythmischen Wert besitzen? Sollen
all diese Akkorde auch in der Ausführung den rhythmisch gleichen
zeitlichen Abstand haben? Wenn ja, kann dann die Wahrnehmung
überhaupt noch sinnvolle musikalische Zusammenhänge orten?
Die Erfahrung zeigt, dass Musik, die korrekt nach der Notenschrift
gespielt wird (also bei deren Ausführung die notierten rhythmischen
Abstände streng eingehalten werden), dem Zuhörer oft jeglichen
musikalischen Zusammenhang verschließt.
Daraus ergibt sich für den Interpreten folgende Konsequenz:
Wie weiter oben dargelegt, entstehen musikalische Zusammenhänge
in der menschlichen Wahrnehmung automatisch durch eine
Aneinanderreihung von Schallereignissen. Andererseits entstehen
musikalische Zusammenhänge nicht automatisch, wenn der
Interpret die vom Komponisten gesetzten Notenwerte korrekt
aneinanderreiht. Denn Komponisten können Rhythmen in den
meisten Fällen nur als Näherungswerte notieren - in der Hoffnung,
dass der Interpret dann aus dem musikalischen Zusammenhang
heraus erkennt, was gemeint ist. Das bedeutet, dass die Struktur des
Ton-Komplexes entscheidet, wie ein Notenwert zu spielen ist. Oder
anders formuliert: Für den gespielten Rhythmus ist es von Interesse,
wie sich die involvierten Notenwerte gegenüber dem Phänomen
der Natürlichen Tendenz verhalten.
Um nun zu erkennen, wie der Komponist einen Notenwert meint,
orientiert sich der Interpret am musikalischen Gesetz der Nähe.
Das bedingt in der praktischen Umsetzung, dass musikalische
Zusammenhänge durch gezielte Mikroverschiebungen einzelner
Notenwerte gegenüber dem Tactus2 gesteuert werden.
2 Tactus ist mit dem musikalischen Puls gleichzusetzen. Da aber heute in der
Musiktheorie Puls uneinheitlich definiert wird, habe ich mich für den alten
Begriff entschieden.
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Die daraus resultierenden kleinen rhythmischen Asynchronitäten
zwischen den Notenwerten und dem Tactus werden von der
Wahrnehmung als organisch empfunden, wenn deren Ausführung
nach dem Phänomen der Natürlichen Tendenz erfolgt.
Der Rhythmus ist demnach mit einem flexiblen Gummiband
vergleichbar, das nur an bestimmten Stellen - je nach musikalischer
Struktur - an den Tactus gebunden wird3. Der Tactus dient dabei als
Richtschnur und bestimmt das Tempo der Komposition.
Abb.4 veranschaulicht das Verhältnis Tactus - Rhythmus - Natürliche
Tendenz anhand einer einfachen Akkordfolge4.
Mir ist bewusst, dass nach dem Betrachten dieser 4 Takte noch viel
Erklärungsbedarf besteht, aber für ein „gefühlsmäßiges Verstehen“
sollte diese Illustration für den Moment ausreichen.
TACTUS
RHYTHMUS
Abb.4
Natürliche
Tendenz
Natürliche
Tendenz
Basierend auf den hier beschriebenen Elementen und verpackt in
seine persönliche Klangvorstellung transformiert der Interpret das
Werk in Schallereignisse, die dann beim Zuhörer wieder zu einer
Wahrnehmungsgestalt werden - zur Wahrnehmungsgestalt des
Komponisten.
3 Viele Musiker verwenden hier fälschlicherweise den Begriff „Tempo Rubato“.
Laut Aussagen von Mozart oder Chopin hat „Tempo Rubato“ aber eine andere
Bedeutung.
4 Die ersten 4 Takte aus dem 2. Satz der „Appassionata“ von L. v. Beethoven
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