Bericht | Text: Katrin Moser | Fotos: Marieke Reichert Eine Welt von Tönen und Farben Wenn Musik ein Meer aus Farben ist Wenn Musik ein Meer aus Farben ist und ein Apfel eckig schmeckt, dann hat man es nicht zwangsläufig mit Drogen zu tun. Es kann auch ein anderes Phänomen dahinterstecken, die sogenannte Synästhesie. ~-Autorin Katrin Moser ist eingetaucht in eine Wahrnehmungswelt, in der Sinne zusammenspielen, die eigentlich gar nichts miteinander zu tun haben sollten. „In einen Schimmer von Blau mischen sich dunkelgrüne Schleifen, sie ziehen wie ein Nebel vorbei. Dann wird das Blau schlagartig kräftig und ausufernd und vermischt sich dann mit einem hellen Braun.“ Wenn Sabrina Lipphaus ihr Lieblingsmusikstück, die „Moldau“ von Bedrich Smetana beschreibt, käme man wohl kaum darauf, dass sie von einem Lied spricht. Die 42-Jährige hat eine ungewöhnliche Gabe, denn sie kann Töne nicht nur hören, sondern auch sehen. „Als Kind liebte ich das hellgraue Plätschern des Regens, das gelbe Krachen des Donners. Und wenn ich dann sagte: ,Schau, wie schön das aussieht', dann wurde ich korrigiert. Lange wusste ich nicht, was los ist mit mir – denn dass andere Menschen meine Wahrnehmung nicht verstehen und nachvollziehen können, das war mir schnell klar“, erzählt sie. Heute weiß sie mehr: Sie ist Synästhetin. Das Wort „Synästhesie“ wird aus dem Griechischen abgeleitet und bedeutet soviel wie „zugleich wahrnehmen“. Gemeint ist damit, dass zwei Bereiche der Wahrnehmung aus teils unerfindlichen Gründen gekoppelt sind. So erzeugen – wie bei Sabrina – Töne beispielsweise auch einen visuellen Eindruck, den nur die betreffende Person wahrnehmen kann. „Ein bisschen ist das wie eine falsche Verkabelung“, versucht die gebürtige Münsteranerin das Phänomen in Worte zu fassen. „Ich höre etwas, gleichzeitig wird aber neben dem akustischen Teil meines Gehirns auch der visuelle aktiv, sodass ich die Töne auch 8 sehen kann.“ Was im ersten Moment suspekt erscheint, betrifft immerhin knapp vier Prozent aller Menschen. Dabei sehen nicht alle Menschen mit Synästhesie unbedingt Töne in Farben. Bislang sind knapp 60 unterschiedliche Kopplungen von verschiedenen Sinnesorganen bekannt. Martin Volkach ist 36 und seit acht Jahren Synästhet. Anders als bei Sabrina, deren Synästhesie seit der Kindheit vorliegt, ist seine Synästhesie erworben. Nach einer Operation am Ohr erwachte er mit einem widerwärtigen Geschmack im Mund aus der Narkose. „Da dachte ich noch, das käme von den Medikamenten.“ Aber der schlechte Geschmack blieb, solange er sich im Krankenhaus aufhielt. „Dann konnte ich das erste Mal das Krankenhaus verlassen, draußen war ein warmer Herbsttag. Ich roch den erdigen Duft – und schmeckte ihn zugleich.“ Danach war er auf der Spur: Ob im Café, auf der Toilette, unter der Dusche – sobald er etwas roch, schmeckte er es auch. Er sprach mit den Ärzten, die zeigten sich wenig überrascht. Das könne schon mal vorkommen, in der Regel würde sich das nach einiger Zeit legen. Bei Martin Volkach legte es sich nicht. „Mir war nicht bewusst, was für eine Einschränkung das sein würde“, sagte er. In einer Parfümerie erlitt er einen Kollaps, das gleichzeitige Zusammenspiel von Geruch und Geschmack knockte ihn aus. „Man kann sich das nicht vorstellen, aber ich hatte das Gefühl, ich verliere den Verstand.“ Zwischenzeitlich hat er sich damit arrangiert, bestimmte „Hotspots“, die geruchslastig sind, meidet er. Parfümerien, Bahnhofstoiletten, volle Busse im Hochsommer. „Manche Dinge will man dann einfach nicht mehr. Da ist der Geruch schon schwer zu ertragen, beides zusammen macht es dann unmöglich, damit umzugehen.“ ging ihre musikalische Karriere am Anfang fast schief. Sabrinas Eltern schenkten ihr ein Xylophon mit farbigen Klangplatten. „Nur passten die Farben der Klangplatten nicht zu den Farben der Töne“, lacht sie heute. „Damals war das echt ein Drama, weil kein Mensch sich erklären konnte, was mich genau an diesem Xylophon gestört hat.“ Eine recht häufige andere Form der Synästhesie ist die sogenannte SequenzRaum-Synästhesie. Knapp zwölf Prozent aller Synästheten haben diese spezielle Form der Wahrnehmungskopplung, bei der Wochentage oder Monate in Form, Farbe und Anordnung zueinander wahrgenommen werden. So kann der Montag beispielsweise in ein komplexes Konstrukt aus Wochen und Monaten eingebettet sein. Ebenfalls nicht selten ist die Graphen-Farb-Synästhesie, bei der einzelne Buchstaben farbig wahrgenommen werden. Kinder mit dieser Synästhesie fallen unter Umständen in der Grundschule auf, weil sie beim Schreiben jeden Buchstaben in einer anderen Farbe – nämlich die, in der sie den Buchstaben wahrnehmen – zeichnen. Heute geht die Forschung davon aus, dass Synästhesie häufig einhergeht mit einer verbesserten Gedächtnisleistung. In Tests schnitten Synästheten im Durchschnitt besser ab als Nicht-Synästheten. Zwischenzeitlich ist sie vernetzt, hat Kontakt zu anderen Synästheten in Münster und ganz Deutschland. Ab und zu treffen sie sich und tauschen sich aus über Vor- und Nachteile der besonderen Sinneswahrnehmung. „Man erlebt die Welt anders, schöner, intensiver – glaube ich zumindest, wenn ich anderen Menschen zuhöre.“ Ein Konzert ist für sie ein Hochgenuss auf mehreren Sinnesebenen. Und ein bremsender Zug im Hauptbahnhof kann zur Tortur werden wie ein Blick in die Nachmittagssonne. Die Gene scheinen bei der Synästhesie auch eine entscheidende Rolle zu spielen. Sabrina hat einen Sohn und eine Tochter, letztere sieht Formen bei Musik und Buchstaben in Farben. Sabrina hat ihr schon früh erklärt, was es mit dieser besonderen Wahrnehmung auf sich hat. Und ist gleichzeitig auf die Suche gegangen in der eigenen Familie. Zwischenzeitlich weiß sie: Auch ein Onkel und zwei Cousinen haben miteinander gekoppelte Sinne. „Und meine Großmutter, da würde ich das auch unterstellen. Sie hat kunterbunte Bilder gemalt, wilde Formen, abstrakt, und doch scheinen diesen Bildern eine gewisse Musik innezuwohnen. Wenn ich die Bilder sehe, meine ich, die Geräusche zu hören.“ Die Forschung geht davon aus, dass es sich bei einem Großteil der Synästhesien um ein angeborenes Phänomen handelt. Nur ein kleiner Prozentsatz hat eine erworbene Synästhesie wie Martin Volkach. Und ein noch kleinerer Teil der Menschen ist in der Lage, Synästhesie bewusst zu erlernen. Dank bildgebender Verfahren weiß man heute, dass Synästheten nicht einfach unter einer speziellen Form der Halluzination leiden oder einfach nur Assoziationen zu bestimmten Reizen haben, sondern dass tatsächlich unterschiedliche Verarbeitungsbereiche im Gehirn aktiv sind. Es ist auch nichts, was in irgendeiner Form als krank definiert ist – im Gegenteil. Sabrina Lipphaus betrachtet ihre Synästhesie zwischenzeitlich als Gabe. Sie kann jeden Ton auf der Tonleiter anhand der Farbe identifizieren, Musikstücke erkennt sie an ihrer Farbkomposition. „Ich merkte als Kind, dass ich anders bin und dass es besser ist, darüber nicht zu reden. Aber ich konnte meine Gabe trotzdem nutzen.“ Sabrina lernte Klavier, Geige, Klarinette und Cello. Bei ihrem Musiklehrer galt sie als Wunderkind, denn sie benötigte keine Notenblätter. „Ich spielte einfach so lange ein Stück, bis die Farbe richtig war.“ Dabei es zu merken, synästhetisch veranlagt. „Das merkt man schon am Sprachgebrauch. Viele assoziieren zum Beispiel Farben und Temperaturen. Da gibt es ein warmes Gelb oder ein kaltes Blau. Obwohl die Farbe an sich ja keine Temperatur hat.“ Zu welchen unglaublichen Fähigkeiten die Wahrnehmungsvarianz befähigt, zeigt auch Daniel Tammet. Der Asperger-Autist nimmt Zahlen in Farben sowie in Form und Struktur wahr. In einem für ihn eigenen System befähigt ihn dieses Zusammenspiel der Sinne zu schier unglaublichen Rechenleistungen, er erkennt Primzahlen anhand ihrer Form. Bewegt er sich in der Welt der Zahlen, dann bewegt er sich zugleich in einer Welt der Farben und Formen. Sabrina Lipphaus bekam durch einen Medienbericht plötzlich einen Namen für das, was seit Kindheitstagen ihre Wahrnehmung ausmacht. „Da war eine junge Frau, die Töne in Formen wahrnahm. Ich erkannte sofort, dass es ein ähnliches Phänomen sein muss.“ Dabei, so ist sich Sabrina sicher, sind viele Menschen, ohne Fast alle Geräusche sind bei Sabrina mit Farben gekoppelt: Stimmen haben bestimmte Farben, „wenn jemand erkältet ist, wirft seine Stimmfarbe Blasen“, erzählt sie. „Die Fußgängerzone in Münster hat eine andere Klangfarbe als die Innenstadt von Köln, und unsauber eingestellte Radiosender rauschen lila. Das mag ich sehr.“ Manchmal spielt in der Münsteraner Innenstadt ein junger Mann an einem fahrbaren Klavier einige Stücke. Ein Lied mag Sabrina besonders, vor allem im Sommer. Dann vermischen sich die Farben vieler Stimmen mit den Farben des Vogelgezwitschers, und dazwischen perlen die Klänge des Klaviers. „Das ist wie ein Regen auf warmen Asphalt“, schwärmt sie. Dann bleibt sie stehen, hört und sieht zu. Und ist froh über die andere Verkabelung ihrer Sinne. # 9